Warum und zu welchem Zweck sollten sich Juristen mit Literatur beschäftigen?
Kristina Odenweller, M.A.
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“For it is certain that the lawyer must, like other men, for his pastime and mental ease, abandon himself now and then to the thrall of fiction.”
Mit diesen Worten beantwortet John H. Wigmore 1908 die Frage, warum Juristen sich mit Literatur beschäftigen sollten. Im Anhang an seine Überlegungen folgt eine Liste mit 100 so genannten Legal Novels, die er als besonders empfehlenswert für eben diese Beschäftigung mit Literatur bezeichnet. Als Legal Novel bezeichnet er alle Literatur, in der Prinzipien der Rechtswissenschaft eine tragende Rolle spielen. Wigmore unterteilt die ausgewählten Bücher in vier Abteilungen: Werke in denen ein juristischer Prozess eine besondere Rolle spielt; in denen typische Verhaltensweisen von Juristen portraitiert werden; in denen juristische Methoden der Strafe behandelt werden und zuletzt solche, in denen generelle rechtliche Themen die Handlung in irgendeiner Form beeinflussen.
Warum nun soll der Jurist diese Bücher lesen? Wigmore beantwortet diese Frage doppelt: Zunächst sollte der Jurist aus seiner Pflicht als cultivated man 1 lesen. Als zweites Argument nennt er die Pflicht des Rechtswissenschaftlers, sich mit der Darstellung seiner Profession in der allgemeinen Vorstellung und der Kultur zu beschäftigen. Dazu nennt er die Wirkung, die Entwicklungen des Rechtssystems auf Juristen hatten. Nur zu deutlich wird in seinen Ausführungen die um die Jahrhundertwende noch weit verbreitete Vorstellung vom Rechtsgelehrten als universal ausgebildeten Gelehrten – für Wigmore ist ein Jurist ohne Kenntnis der literarischen Klassiker, von Charles Dickens bis Victor Hugo, undenkbar. Seine Liste beinhaltet dabei Bücher, die dem zeitgenössischen Leser völlig unbekannt sind, und andere, deren Bezug zur juristischen Profession mehr als fadenscheinig wirkt – als Beispiel sei dafür die 1820 publizierte Ritterromanze „Ivenhoe“ von Sir Walter Scott genannt, deren rechtlicher Bezug sich auch auf den zweiten Blick hartnäckig verbirgt. 2
Wigmores mittlerweile über 100 Jahre alte Liste ist ohne jeden Zweifel überholt. Nach wie vor aktuell ist aber die Frage, ob die Beschäftigung mit Literatur dem Jurist und Jurastudent – auch jenseits der Lektüre von unterhaltsamer „leichter Kost“ nach langen Bibliotheksstunden – hilfreich sein kann.
Positiv beantwortet ist diese Frage seit langem in den USA. Dort hat sich ausgehend von Wigmores Überlegungen und den Gedanken von Benjamin Cardozo 3 die so gennante Law and Literature Bewegung etabliert. Die Frage nach der sinnvollen Nutzung von Literatur in der Ausbildung von Juristen nimmt darin einen weiten Raum ein. 4 Hauptsächlich soll die Literatur dazu dienen, den Horizont des angehenden oder bereits ausgebildeten Juristen zu erweitern, seine Sicht für Problemfelder zu schärfen und Möglichkeiten menschlichen Handelns vor Augen zu führen.
Aber kann und muss Literatur das leisten? Dazu zeigt sich die Law and Literature Bewegung gespalten. Während die eine Seite eine deutliche Relevanz der Literatur zum täglichen Leben und der Arbeit des Juristen sieht, 5 wünscht die andere sich eine möglichst deutliche Trennung: Literatur als „schöne Kunst“, als Selbstzweck, aber ohne Realitätsbezug. 6 In amerikanischen Law Schools ist die Erweiterung des juristischen Horizonts mithilfe der Literatur bereits Standart geworden und einige anerkannte Universitäten verlegen Zeitschriften zum Thema. 7 In Deutschland hat sich dieser Zugang noch nicht durchgesetzt. Das ist erstaunlich, denn schon lange bevor Wigmore seine One hundred Legal Novels veröffentlichte entstanden Aufsätze zur Verwandtschaft von Recht und Dichtung, der bekannteste wohl der Aufsatz „Von der Poesie im Recht“ Jacob Grimms von 1816, und wurden Generationen von Juristen anhand der Fallgeschichten des „Pitaval“ ausgebildet, einer anschaulichen Fallsammlung mitsamt Täterportraits, psychologischer Analysen und Nebenerzählungen. Mit der Verwissenschaftlichung der Rechtswissenschaft im 20. Jahrhundert geriet der „Pitaval“ aus der Mode, ersetzt durch allseits bekannte Fallsammlung knapperer Natur und ohne literarische Ansprüche.
Die hinter der Diskussion um den Wert von Literatur im Rechtsunterricht stehende Frage geht jedoch viel tiefer. Kann Literatur im Menschen etwas bewegen? Wenn in den USA legal novels als Lehrmaterial im Unterricht eingesetzt werden, scheint diese Frage – zumindest für den dortigen Kulturkreis – als mit „ja“ beantwortet. Die Literatur als Sammelbecken möglicher Handlungsoptionen und Verständniswege? Entspricht dies dem Ziel der juristischen Ausbildung?
Nur: Was ist das Ziel der deutschen juristischen Ausbildung? Die Produktion von Juristen mit der Fähigkeit zur Anwendung des vorhandenen Rechts, zur Auslegung der Normen und zur Weiterentwicklung des Gesetzes. Im Gegensatz dazu steht die amerikanische Ausbildung, die neben dem fähigen Juristen einen allgemein kultivierten, gebildeten Menschen zu erschaffen sucht – eine Aufgabe, der sich hierzulande die Gymnasien bereits mit höchster Begeisterung widmen.
Ergibt es also Sinn, sich als Jurist mit Literatur zu beschäftigen? Allerdings. Denn genau wie jeder Geisteswissenschaftler bedient sich der Jurist der Sprache als Medium zur Kommunikation seiner Ziele. Recht ist, reduziert auf sein wesentliches, nur eine Ansammlung von Worten auf dem Papier. Damit kann die Beschäftigung mit Literatur, die ja nichts anderes ist als der Versuch, jene Wörter in einer möglichst angenehmen und bewegenden Form aufzureihen, dem Juristen nur gut tun, genauso wie übrigens jedem anderen Angehörigen einer mit Worten arbeitenden Profession auch. Recht und Dichtung teilen das Medium der Sprache zur Mitteilung ihrer Inhalte – und sind sich damit ähnlicher, als es vielleicht auf den ersten Blick erscheint. Nicht zuletzt offenbart sich diese Ähnlichkeit auch in der Menge der so genannten „Dichterjuristen“, darunter allgemein bekannte Namen jüngster und älterer Vergangenheit – genannt seien hier als Beispiel nur Johann Wolfgang von Goethe und Juli Zeh.
Sollen Juristen deswegen nun dichten? Nicht zwangsläufig. Auch wenn Richter des amerikanischen Obersten Gerichtshofs scheinbar gerne aus Gedichten zitieren 8, steht der in Deutschland gepflegte juristische Stil dem entschieden entgegen. Dennoch schadet die Schulung des eigenen Stils an literarischen Vorbildern keineswegs, und wer viel schreibt, sollte sich ohnehin ein Gespür für Worte antrainieren. Daneben bietet die Literatur dem Juristen eine Außenansicht seiner Profession und beantwortet die Frage, wie Recht wahrgenommen werden kann, und wie das System weitergedacht wird.
Literaturkurse nach amerikanischem Vorbild wird es an deutschen Universitäten wohl nicht allzu schnell geben. Dennoch kann der Konsum von Literatur wohl jedem nur empfohlen werden – und sei es nur zur Ausbildung eines eigenen Stils. Einen Kanon vorzuschlagen kann dabei nicht Ziel dieses Artikels sein. Am Ende soll vielmehr die Aufforderung stehen, einmal über den juristischen Tellerrand hinauszuschauen in die weite Welt der Literatur, der es ganz ohne Paragraphenzeichen gelingt, Wirklichkeit abzubilden, zu beeinflussen und zu verändern. Am Ende kann nur Gewinn stehen – und sei es auch nur für den Juristen, der sich nicht als „halfbrained lawyer“ 9 bezeichnen lassen muss.
Zur Autorin: Kristina Odenweller ist Doktorandin der Germanistik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Fußnoten:
- Wigmore, One hundred legal novels, S. 27. ↩
- Vgl. Wigmore, S. 40. ↩
- Cardozo publizierte 1925 seinen wegweisenden Aufsatz „Law and Literature“, aus dem die Bewegung auch ihren Namen gewann. Cardozo, Benjamin N: Law and Literature, in: The Yale Review (4) 1925, S. 699 – 718. ↩
- Diese Fragestellung gehört dem sogannten „Law in Literature“-Zweig der Bewegung an. Dem steht die Beschäftigung mit „Law as Literature“ gegenüber, die sich hauptsächlich um die Anwendung von literarischen Methoden der Hermeneutik auf rechtliche Texte beschäftigt. Zur Einführung in die Thematik empfohlen sei der an dieser Stelle der Aufsatz „Law and Literature“ von Weisberg/Barricelli empfohlen: Weisberg, Richard/Barricelli, Jean-Pierre: Literature and Law, in: Interrelations of Literature. Hg. v. Jean-Pierre Barricelli und Joseph Gibaldi. New York 1982, S. 150 – 175. ↩
- Dazu nimmt vor allem James Body White in seinem 1973 erschienen Werk „The Legal Imagination“ Stellung, das als Stein des Anstoßes für die Verbreiterung der Law and Literature-Bewegung gilt. Vgl. White, James Boyd: The Legal Imagination. Boston 1973. ↩
- Bekanntester Vertreter dieser Richtung ist Richard Posner, Richter und Literaturprofessor, der 1988 mit „Law and Literature: A relation reargued“ ein Standartwerk der Law and Literature Bewegung vorlegte. ↩
- Einschlägig ist hier vor allem die Yale Law Review und das Cardozo Journal of Literature and Law. ↩
- Eine Auflistung der Urteile, in denen weltliche und geistliche Lyrik und Prosa nützliche Verwendung fand, ist bei Grossfeld, Bernhard: Poesie und Recht – Rechtsvergleichende Zeichenkunde. Paderborn 2005, S. 49f. uu finden. ↩
- Als „halfbrained lawyers“ bezeichnet Großfeld jene Juristen, die ohne Kreativität nur an überkommenen Denkstrukturen festhalten und sich der Rechtserfahrung „mit allen Sinne, auch mit poetischen Kräften“ verschließen. Vgl. Großfeld, S. 23. ↩