Lea Massow*, Universität Freiburg
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In vielen Ländern werden in Postkonfliktsituationen Wahrheitskommissionen eingesetzt, um die in großem Ausmaß begangenen Menschenrechtsverletzungen aufzuklären. Wie funktioniert das und was können Wahrheitskommissionen, was die Strafjustiz nicht kann?
A. Einleitung
Syrien, Ukraine, Irak – in vielen Ländern gibt es zur Zeit gewaltsame Konflikte und Menschenrechtsverletzungen. Doch was geschieht, wenn die Kämpfe beendet sind? In einer Postkonflikt-Situation, d.h. nach Beendigung eines Kriegs, Bürgerkriegs oder einer Diktatur, ist es eine große Herausforderung für die Gesellschaft eines Landes, die Verbrechen der Vergangenheit aufzuklären und aufzuarbeiten. In Deutschland wurden zu dem Zweck nach dem zweiten Weltkrieg die Nürnberger Prozesse durchgeführt. Die Aufarbeitung durch juristische Strafverfolgung ist zwar eine Möglichkeit, bietet aber auch viele Schwierigkeiten. Die organisierten Strukturen des Verbrechens und Masse an Täter/innen überfordern das nach einem Krieg oftmals geschwächte oder nicht funktionsfähige Justizwesen. 1 Außerdem kann die Strafverfolgung von Einzelpersonen die Bedürfnisse der Opfer und der Gesellschaft nach umfangreicher Aufklärung der vielschichtigen Gründe von Massengewalt in vieler Hinsicht nicht erfüllen. Deshalb wurden in vielen Ländern nicht-juristische Methoden, sogenannte „Transitional Justice“- Maßnahmen entwickelt und zur Aufarbeitung eingesetzt, die bekannteste hiervon ist die Wahrheitskommission. Wahrheitskommissionen wurden schon in über 40 Ländern in der ganzen Welt zur Untersuchung, Dokumentation und Aufarbeitung vergangener Menschenrechtsverletzungen eingesetzt. 2 Begonnen hatten Argentinien und Bolivien Anfang der 1980er Jahre, die Kommissionen einsetzten um das Schicksal von in den Militärdiktaturen verschwundenen Personen aufzuklären. Besondere Bekanntheit erreichte die Wahrheits- und Versöhnungskommission von Südafrika, die 1995-2002 zur Aufarbeitung der Apartheid tätig war. Seitdem hat sich die Anzahl der Kommissionen stetig vermehrt, allein im vergangenen Jahrzehnt haben über zwölf Staaten eine Wahrheitskommission beauftragt, darunter Marokko, Indonesien, Ecuador, Liberia und Kanada.
Dieser Artikel soll die Maßnahme „Wahrheitskommission“ vorstellen, ihre Arbeitsweise erläutern und ihre Stärken und Schwächen mit denen des Strafverfahrens vergleichen.
B. Definition
Eine international bindende Definition von Wahrheitskommission gibt es nicht. Forscherin Priscilla Hayner definiert eine Wahrheitskommission als ein Organ, das
- eine Struktur von Menschenrechtsverbrechen untersucht, die über einen längeren Zeitraum in der Vergangenheit stattfanden
- sich direkt und umfassend mit der betroffenen Bevölkerung auseinandersetzt und seine Informationen von ihren Erfahrungen sammelt mit dem Ziel einen Abschussbericht zu veröffentlichen
- ein vorübergehend eingerichtetes, unabhängiges Organ ist, und
- offiziell vom Staat bevollmächtigt oder ermächtigt worden ist. 3
C. Arbeitsweise
Die Arbeitsweise einer Wahrheitskommission sowie Art und Weise der Untersuchung variiert von Kommission zu Kommission. Sie ist von vielen Faktoren abhängig: Von den im Mandat erteilten Befugnissen, von den verfügbaren Ressourcen und den gestalterischen Entscheidungen der Mitarbeiter/innen.
Die Wahrheitskommission wird durch Mandat vom Präsident oder Parlament beauftragt. In jüngerer Zeit wurden Mandate auch mehrmals in UN-geführten Friedensverhandlungen beschlossen und später von der nationalen Gesetzgebung konkretisiert. 4 Im Mandat wird die Untersuchung auf bestimmte Arten oder Zeiträume von Verbrechen beschränkt, der zeitliche Rahmen der Untersuchung vorgegeben und die Kommission zur ihrer Durchführung ermächtigt. Manchen Kommissionen wurden gewisse quasi-richterliche Befugnisse verliehen, z.B. zur Durchsuchung und Beschlagnahme oder zur Ladung von Zeugen unter Drohung von Strafe. Außerdem wird im Mandat das Budget festgelegt. Die früheren Wahrheitskommissionen wurden meist national finanziert, inzwischen stammt oft ein Großteil der Gelder von internationalen Gebern, meist ausländischen Regierungen. 5 In beiden Fällen ist die entstehende Abhängigkeit von den Geldgebern problematisch, insbesondere wenn zu Beginn der Arbeit noch nicht die volle Finanzierung bewilligt und verfügbar ist oder der Bedarf größer ist als veranschlagt. Viele Wahrheitskommissionen kämpfen mit finanziellen Engpässen.
Als nächsten Schritt werden die Mitglieder der Kommission ausgewählt und Mitarbeiter/innen angestellt. Bei der Auswahl der Kommissar/innen ist ihre Unabhängigkeit und politische Neutralität wichtig. Außerdem sollte die Kommission möglichst viele verschiedene persönliche Hintergründe mitbringen. Insbesondere wenn die früheren Konfliktlinien entlang ethnischen Gruppenzugehörigkeiten liefen, ist es für die Akzeptanz durch die Bevölkerung wichtig, dass Zugehörige jeder Gruppe vertreten sind. 6
Die Kommission richtet dann lokale Büros im Land verteilt ein oder stellt mobile Teams von Mitarbeiter/innen zusammen, die die Arbeit der Kommission bei der Bevölkerung bekannt machen, Recherchen anstellen, Betroffene ausfindig machen und die Anhörungen vorbereiten. Die Anhörungen selbst werden dann öffentlich und unter möglichst großer Beteiligung der Bevölkerung abgehalten. Die Kommission sammelt alle Aussagen und Recherchen, wertet sie aus und schreibt einen Abschlussbericht, den sie der Regierung überreicht.
Umstritten und je nach Kommission unterschiedlich ist, ob nur Opfer aussagen dürfen, oder auch Täter/innen. 7 Bei der Beteiligung von Täter/innen kann auch deren Sicht zum umfassenden Verständnis der Verbrechen beitragen. Andererseits werden verharmlosenden Darstellungen Tür und Tor geöffnet und das Aufeinandertreffen kann zur Retraumatisierung der Opfer führen.
D. Stärken und Schwächen von Wahrheitskommissionen
Im Folgenden soll ausgewertet werden, was die Wahrheitskommission als Methode im Vergleich zu Strafverfahren leisten kann und wo ihre Schwächen liegen. Dabei wird ihre Funktionalität und Effektivität in Bezug auf folgende Ziele der „Transitional Justice“ untersucht: Die Wahrheitsfindung an sich, die Erfüllung der Bedürfnisse der Opfer und Friedensförderung.
1. Wahrheitsfindung
Wahrheitskommissionen und Gerichtsverfahren unterscheiden sich bei der Wahrheitsfindung in ihrer unterschiedlichen Zielsetzung. Das Gerichtsverfahren zielt auf die Feststellung individueller Schuldigkeit ab. Dies ist eine Begrenzung in mehrerer Hinsicht:
Erstens ist der Untersuchungsgegenstand eingegrenzt durch die angeklagten Personen. Es kommen nur diejenigen Personen zur Anklage, bei denen die Beweislage zur Verurteilung für ein konkretes, gesetzlich strafbares Verbrechen ausreicht. Oftmals ist dies bei den niedrigeren Chargen eines Systems der Fall, so dass der Eindruck entstehen kann, die „kleinen“ Täter/innen würden bestraft während die großen nicht belangt werden. 8 Wenn Täter nicht mehr leben, besteht ein Verfahrenshindernis; sodass die Taten toter Täter/innen nie aufgeklärt werden. 9
Die Frage nach der Beteiligung und Schuld von Institutionen, vielleicht sogar der Justiz selbst, bleibt bei Verfahren gegen einzelne Straftäter/innen außer Acht. 10 Gerichte konzentrieren sich zudem nur auf die Schuldfrage im strafrechtlichen Sinne, wobei die komplexen, vielschichtigen Ursprünge für Massengewalt nicht analysiert werden. 11
Das Strafverfahren wird durch die Ermittlung der Fakten determiniert, die zum Beweis der Verbrechen notwendig sind. Die restriktiven Regeln des Beweisverfahrens führen dazu, dass die Informationen, die bei dem Verfahren aufgedeckt werden und zur Sprache kommen können, von vornherein beschränkt sind. 12 Politische, soziale und ökonomische Hintergründe der Gewalt gehören nicht dazu.
Wahrheitskommissionen hingegen sind mit dem Ziel eingerichtet worden, gerade diese Hintergründe sowie die Struktur der Verbrechen zu untersuchen, zu dokumentieren und zu verbreiten. Dabei sind sie frei in ihrer Ermittlungstiefe und können selbst entscheiden, wie sie ihre Ressourcen auf die Fälle verteilen. 13 Sie können außerdem Verantwortlichkeiten besser differenzieren, da sie nicht an die Alternativen von Verurteilung oder Freispruch gebunden sind. 14 Sie müssen auch keine absoluten Beweise liefern, sondern können bereits starke Vermutungen, bruchstückhafte oder widersprüchliche Erkenntnisse oder solche ohne Namen oder genaue Zuordnung veröffentlichen, um wenigstens teilweise die Wahrheit zu erhellen. 15 Diese Fülle und Breite der Ermittlungen ermöglichen besseres Verständnis von komplexen Zusammenhängen und Verbrechensmustern.
Wahrheitskommissionen haben aber auch Schwierigkeiten bei der Wahrheitsfindung. Typischerweise leiden sie unter zu geringer Finanzierung und verbunden mit der engen Zeitbegrenzung sind ihre Kapazitäten zu umfangreichen Untersuchungen oft sehr begrenzt. 16 Sie können meist in nur einem kleinen Teil der Fälle überhaupt individuelle Ermittlungen anstellen. 17 Außerdem sagen die Personen vor der Wahrheitskommission oft nicht die volle Wahrheit oder haben Erinnerungslücken. 18 Daher ist es für Wahrheitskommissionen oft schwieriger, die Wahrheit über spezifische Ereignisse herauszufinden.
2. Bedürfnisse der Opfer
Im Laufe der Zeit sind die Bedürfnisse der Opfer sowie ihre Partizipation zu einem normativen Fokus von Transitional Justice geworden, an dem sich Auswahl und Durchführung der Maßnahmen orientieren sollen. 19 Die Heilung und Rehabilitation der Opfer ist ein komplexer, langandauernder und subjektiver Prozess, zu dem Transitional Justice Maßnahmen natürlich nur in begrenztem Maße beitragen können. 20. Neben dem bereits behandelten Bedürfnis, die Wahrheit zu erfahren, gehören zu den wichtigsten Bedürfnissen der Opfer: Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit um ihre Geschichte zu erzählen, die öffentliche Anerkennung der Wahrheit, Vergeltung durch Bestrafung der Schuldigen und Entschädigungen. 21
a.) Öffentliche Aufmerksamkeit
Opfer haben oft das dringende Bedürfnis, ihre Geschichte zu erzählen und von der Öffentlichkeit gehört zu werden. 22 Dies ist besonders wichtig, wenn das eigene Schicksal bisher ausgeblendet oder totgeschwiegen wurde. 23 Dass ihm zugehört wird, ist eine Wertschätzung des Opfers und seiner Erfahrungen und trägt zu seiner Rehabilitation bei.
Indem die Strafjustiz ihre Legitimation aus dem Strafanspruch der Gesellschaft statt der Opfer bezieht, hat die Opfersicht in Gerichtsverfahren traditionell wenig Relevanz. 24 Opfer können grundsätzlich nur die Funktion eines Zeugen haben und kommen als solche lediglich zu Wort, wenn es zum Nachweis bestimmter Elemente der Tat notwendig ist. 25 Diese Funktionalisierung statt einer aktiven Rolle kann zu Gefühlen von Ausgrenzung und Ohnmacht des Opfers führen. 26 Außerdem sind die Opfer bei Zeugenaussagen ständigen Unterbrechungen, Kreuzverhören und einer grundsätzlichen Skepsis der Justiz ausgesetzt. 27 Die zunehmende Beteiligung als Nebenkläger/innen ist zwar ein Schritt zu mehr Einfluss der Opfer auf das Verfahren, 28 bewegt sich allerdings in einem sehr begrenzten verfahrensrechtlichen Rahmen. 29 Im Strafverfahren ist folglich wenig Raum für die Opfer, ihre Geschichte zu erzählen und gehört zu werden.
Wahrheitskommissionen hingegen sind nicht durch Prozessrecht gebunden und bieten den Opfern eine zentrale Rolle. Ihre Aussagen sind meistens von elementarer Bedeutung als erste Informationsquelle der Wahrheitskommission. 30 Der Vorgang der öffentlichen Anhörungen bietet den Opfern eine Plattform, ihre Geschichte ununterbrochen darzustellen. In Marokko hatte es sich die Kommission zum Grundsatz gemacht, dem Opfer keine Fragen zu stellen, sondern nur zuzuhören. 31 Oft ist es das erste Mal, dass das Opfer seine Erlebnisse vor einem größeren Publikum erzählt. Dies kann Erleichterung nach Jahren des Schweigens oder Unterdrückung von der Regierung bringen und hat oft einen bestärkenden oder kathartischen Effekt. 32
Es besteht aber auch die Gefahr von negativen Auswirkungen auf das Opfer. Um möglichst viele Informationen zu sammeln, fordern die Wahrheitskommissionen oft eine Schilderung in genauen Einzelheiten. 33 Dies kann Druck auf das Opfer ausüben, der Ärger wiederaufleben lässt und zu posttraumatischem Stress führt. 34 Zu beachten ist, dass jedes Opfer auf die Anhörung vor einer Wahrheitskommission unterschiedlich reagiert und sie deshalb keinesfalls eine einheitliche psychotherapeutische Maßnahme für alle Opfer darstellt. 35 Zu einer wünschenswerten psychotherapeutischen Begleitung der Opfer durch die Kommission gab es bisher nur wenige Ansätze. 36
b.) Anerkennung
Ein wichtiges Bedürfnis der Opfer ist, dass die Wahrheit öffentlich gemacht und von offizieller Seite anerkannt wird. 37 Dadurch wird oftmals bisherigen Leugnungen der Geschichte entgegengetreten. Die Anerkennung fördert die Rehabilitierung, d.h. Wiederherstellung der Würde der Opfer.
Strafurteile bringen die Wahrheit über einzelne Fälle ans Licht und können so falsche Versionen entkräften. Allerdings kann es aus Verfahrensgründen statt zu einer Verurteilung zu Freisprüchen oder Einstellungen kommen. Dann entsteht der gegenteilige Effekt: Das Leid des Opfers wird nicht anerkannt. Das kann dazu führen, dass sich das Opfer ungerecht behandelt und vom Staat nicht angenommen fühlt.
Anders ist es bei Wahrheitskommissionen: Opfer berichten, dass sie bereits die Aussage vor der Wahrheitskommission als eine Anerkennung ihrer Geschichte als „Teil des Mosaiks der Geschichte des Landes“ empfunden haben. 38 Im Abschlussbericht stellt die Wahrheitskommission dann die begangenen Menschenrechtsverletzungen dar. Dies ist ein gewisses Maß an offizieller Anerkennung der Erfahrungen der Opfer. Noch wirkungsvoller ist die Anerkennung, wenn der Bericht die Regierung zu einer umfassenden öffentlichen Entschuldigung veranlasst, wie z.B. in Peru und Chile. Einmal gab er auch schon den Anstoß zu einem Eingeständnis einer ausländischen Regierung: Kurz nach der Veröffentlichung des Berichts der Wahrheitskommission in Guatemala gab der damalige US-Präsident Clinton zu, die Unterstützung der Militärkräfte durch die USA sei falsch gewesen. 39 Eine ernst gemeinte offizielle Entschuldigung fördert die Rehabilitierung der Opfer.
c.) Vergeltung
Eine empirische Studie zeigt, dass die Mehrheit der Opfer eine Strafverfolgung der Täter/innen fordert. 40 Strafverfolgung erfüllt retributive Gerechtigkeit, d.h. sie ist auf Vergeltung ausgerichtet. Als nichtgerichtliche Organe können Wahrheitskommissionen keine strafrechtliche Schuld feststellen oder Strafen verhängen. Sie können lediglich die Befugnis haben, Namen und Verantwortlichkeiten benennen, was zumindest zu einer Exponierung der Schuldigen führt. Zu Erfüllung des Bedürfnisses nach retributiver Gerechtigkeit in Form einer Strafe ist jedoch nur die Justiz fähig und geeignet.
d.) Entschädigung
Schließlich fordern viele Opfer eine Entschädigung. Oftmals hat das erlittene Unrecht neben den psychischen auch spürbar materielle Folgen (z.B. Erwerbsunfähigkeit, Krankheit, Zerstörung des Eigentums/Wohnraums). 41 Ein Recht auf staatliche Reparationszahlungen ist inzwischen völkerrechtlich anerkannt. 42
In den meisten Rechtsordnungen des „civil law“ können Opfer sich durch ein Adhäsionsverfahren eine Entschädigungsforderung an das Strafverfahren anhängen. 43 Strafverfahren können daher, sofern erfolgreich, gute Voraussetzungen für Entschädigungszahlungen bieten.
Wahrheitskommissionen können im Abschlussbericht Entschädigungszahlungen für die von ihnen identifizierten Opfer empfehlen. In manchen Fällen (z.B. Chile) wurden die Empfehlungen vollständig umgesetzt, oftmals jedoch nicht. Auch wenn sie nicht umgesetzt werden, können sie ein Fixpunkt für Opferanwälte sein. 44 Letztlich können Wahrheitskommissionen aber nur den Weg für Entschädigungen bereiten und die Empfänger identifizieren, die tatsächliche Zahlung bleibt vom politischen Willen der Regierung abhängig. Nur in Marokko hatte die Wahrheitskommission selbst die Befugnis, Entschädigungen direkt zu vergeben. 45
3. Friedensförderung
Mit Friedensförderung ist die Förderung von „positivem Frieden“ gemeint, also nicht lediglich die Abwesenheit von Krieg, sondern der Aufbau eines demokratischen Rechtsstaats, der von der gesamten Gesellschaft getragen wird und dadurch dauerhaft Frieden zu garantieren fähig ist. Untersucht wird, inwiefern Wahrheitskommissionen im Vergleich zu Gerichten die Rechtsstaatlichkeit und die gesellschaftliche Versöhnung fördern können.
a.) Rechtstaatlichkeitskultur
Für die Schaffung einer Kultur der Rechtsstaatlichkeit sind das Vertrauen der Gesellschaft in die staatlichen Institutionen und ihre Repräsentanten sowie die (Wieder-)Herstellung allgemeinen Respekts für die Rechtsordnung und insbesondere für die Menschenrechte unabdingbar. 46
Die gerichtliche Aufarbeitung kann positive Auswirkungen auf die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit haben. In der Erfüllung von internationalen Verpflichtungen zur strafrechtlichen Ahndung von Völkerrechtsverbrechen manifestiert sich ein grundsätzliches Bekenntnis zu rechtsstaatlichen Standards. 47 Außerdem bekräftigen Gerichtsverfahren die Verantwortlichkeit der Regierung sowie die Gleichheit aller vor dem Gesetz. 48 Mit einer unparteilichen Rechtsprechung wird der Bevölkerung ein gewaltfreier Weg zur Konfliktlösung aufgezeigt. 49 Dies alles setzt aber voraus, dass die Gerichte bereits relativ unabhängig und rechtsstaatlich agieren. Wenn die alten Eliten noch Einfluss auf die Justiz behalten oder die staatlichen Institutionen zu schwach sind, verringern die Verfahren die Glaubwürdigkeit der Justiz bei der Bevölkerung.
Wahrheitskommissionen stärken die Rechtsstaatlichkeitskultur, indem sie öffentlich auf Menschenrechtsverletzungen hinweisen und die verantwortlichen Institutionen und manchmal Individuen benennen. 50 Oft stellen sie in ihren Berichten die Justiz für ihre Inaktivität oder Komplizenschaft an den Pranger. 51 Empfehlungen der Wahrheitskommissionen beinhalten häufig Reformvorschläge für Militär, Polizei und Justizwesen. 52 Dazu gehört auch die Entlassung belastete Funktionsträger. Die Umsetzung der Reformvorschläge hängt jedoch weiterhin vom politischen Willen der Regierung ab und ist in vielen Fällen mangelhaft. 53 Dieser Widerspruch zwischen den Empfehlungen und ihrer Umsetzung können bei der Bevölkerung zu Kritik und Desillusion führen. 54
An Wahrheitskommissionen wird kritisiert, dass sie durch ihren Fokus auf strukturelle Ursachen der Gewalt statt individueller Verantwortlichkeit eine Kultur der Straflosigkeit fördern. 55 Durch die Ermittlung der Wahrheitskommission werden aber in vielen Fällen Täter/innen sowie ihre Familien und ihr Umfeld zum ersten Mal mit ihrem Tun konfrontiert. 56 Zudem kann die Nennung von Namen im Abschlussbericht zu einem gewissen Maß individueller Verantwortlichkeit führen.
b.) Gesellschaftliche Versöhnung
Bei Strafverfahren hat die Gesellschaft eine rein beobachtende Funktion. Im Gerichtssaal wird durch den Verfahrensablauf eine gegnerische Atmosphäre hergestellt, die eher zur Aufheizung denn zur Versöhnung beiträgt. Außerdem kann durch die Fokussierung auf einige wenige Straftäter/innen ein „Sündenbock-Effekt“ hervorrufen, 57 der die Abgrenzung der Bevölkerung von den Täter/innen in den Vordergrund stellt, statt die Aufarbeitung als eine gemeinsame Aufgabe aller zu begreifen. 58
Im Gegensatz dazu nennen sich viele Wahrheitskommissionen „Wahrheits- und Versöhnungskommissionen“, fühlen sich also der Versöhnung als Ziel gleichermaßen verpflichtet. Dabei gehen die meisten von der Annahme aus, dass Wahrheitsfindung automatisch zu Versöhnung führt. Wahrheitskommissionen können aber auf kurzfristige Sicht durchaus zu sozialen Spaltungen führen, wenn die begangene Gewalt und die Verantwortlichkeits- und Schuldfragen öffentlich diskutiert werden. 59 Auf lange Sicht kann sie jedoch auf verschiedene Weise zur Überwindung der tiefen emotionalen Verfeindung zwischen den ehemaligen Konfliktparteien beitragen.
Wichtig für die Versöhnung ist die Erstellung eines gemeinsamen nationalen Geschichtsbilds, damit die Gesellschaft ein gemeinsames Bewusstsein für das Geschehene erhält. Wahrheitskommissionen können durch die Sammlung, Analyse und Dokumentation der Vorgänge einen ersten Schritt für ein solches Bewusstsein leisten, indem ihr Bericht eine Quelle für öffentliche Bildung und Aufklärung ist. 60 Damit dient sie auch der Entschärfung von potentiellen Konfliktherden, zum Beispiel durch Verhinderung der Entstehung bzw. dem Fortbestand von gefährlichen Mythen. 61 Prominentes deutsches Beispiel für die Explosivität eines Mythos ist die sog. Dolchstoßlegende nach dem ersten Weltkrieg.
Außerdem können Wahrheitskommissionen durch ihre Öffentlichkeitsarbeit zu einer neuen Bildersprache und Symbolik beitragen. 62 Dadurch kann Vorurteilen zwischen Gruppen entgegengewirkt und neue Arten der Interpretation der Vergangenheit angeboten werden. Prominentes Beispiel sind die Reden von Erzbischof Desmond Tutu, dem Vorsitzenden der Südafrika-Wahrheitskommission, der von einer „Regenbogennation“ sprach und das Gedächtnis von Opfern zelebrierte, indem er sie als neue Heldenfiguren darstellte.
Der Versöhnungsprozess hängt auch eng zusammen mit dem wachsenden Gefühl von nationaler Identität und gemeinsamer Bürgerschaft. 63 Die Arbeit einer Wahrheitskommission ist ein nationales Projekt, das idealerweise die verschiedenen Akteure und Schichten der Gesellschaft einbindet. 64 Es handelt sich um ein gemeinsames Erlebnis, das zur Identitätsstiftung und dem Empfinden als einer „Schicksalsgemeinschaft“ beitragen kann. 65
E. Resümee
Wie dargelegt wurde, können Wahrheitskommissionen starke positive Auswirkungen auf die Bedürfnisse einer Gesellschaft in einer Postkonfliktsituation haben. Im Vergleich zu Gerichtsverfahren stechen sie insbesondere durch ihre Analyse von politischen und sozialen Hintergründen der Gewalttaten, ihre die ganze Gesellschaft einbindende Herangehensweise sowie ihre besondere Aufmerksamkeit gegenüber den Opfern hervor. Es zeigt sich also, dass die Wahrheitskommission keineswegs eine „schwache Alternative“ zur Strafjustiz ist, die nur eine Berechtigung hat, wenn die Strafverfolgung nicht durchführbar ist, 66 sondern dass sie die Aufarbeitung der Vergangenheit auf eine ganz andere Art und Weise fördert als die Strafjustiz. Es handelt sich bei den beiden Maßnahmen daher nicht um sich ausschließende Alternativen. Wahrheitskommissionen können zusätzlich zum Strafverfahren eingerichtet werden, sie können den Weg für zukünftige Strafverfahren bahnen, und sogar mit Gerichten zusammenarbeiten. 67 Eine Kombination der Maßnahmen kann ihre Stärken addieren und ihre Schwächen ausgleichen, und dadurch eine weitgefächerte Wirkung hervorrufen. Eine solche planvolle Kombination von Wahrheitskommission und Strafjustiz wurde, obwohl vielfach gefordert, bisher erst in ganz wenigen Fällen versucht.
Auch sonst gibt es noch viel Handlungsbedarf, um den Schwierigkeiten von Wahrheitskommissionen zu begegnen und ihr volles Potential auszuschöpfen. Schädlichen Auswirkungen wie der Retraumatisierung von Opfern muss durch ihre psychotherapeutische Begleitung entgegengewirkt werden. Bessere Finanzierung ist in den meisten Fällen zur Erhöhung ihrer Effektivität notwendig. Zur Auswertung des Erfolgs einer Wahrheitskommission bedarf es außerdem vermehrt unabhängiger empirischer Forschung. Die betreffenden Staaten müssen auf die wachsende Menge an Erfahrungen mit dieser Maßnahme zugreifen können, um Fehler von vornherein zu vermeiden und mit Schwierigkeiten in der Durchführung besser umzugehen.
In der internationalen Gemeinschaft verdient die Wahrheitskommission als einzigartige Methode der Vergangenheitsbewältigung mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung. Sie muss dabei aber auch als genuin nationale Maßnahme respektiert und darf nicht erzwungen werden. Gerade im Hinblick auf das politische Veränderungspotential durch Umsetzung der Empfehlungen und Reformvorschläge ist es wichtig, dass die Einrichtung der Kommission vom politischen Willen des Staates zur Aufarbeitung getragen wird.
* Dieser Artikel beruht auf der im August 2013 von der Autorin erstellten Seminararbeit „Wahrheits- und Versöhnungskommissionen“ im Rahmen des kriminologischen Seminars „Transitional Justice – Gesellschaftliche Transformationsprozesse, Gerechtigkeit und die Rolle des Strafrechts“ bei Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Jörg Albrecht.
Fußnoten:
- Pasternak, Wahrheitskommissionen (2003), S. 23 ff. ↩
- Eine umfangreiche Übersicht über die Länder und ihre Wahrheitskommissionen findet sich in Hayner, Unspeakable truths (2011), S. 256 f. ↩
- Hayner, Unspeakable truths, S.11 f. ↩
- Hayner, S. 211. ↩
- Hayner, S. 217. ↩
- Pasternak, S. 54. ↩
- Gonzales/Varney (Hsrg.), Truth Seeking – Elements of creating an effective truth commission (2013), Chapter 6, S. 38. ↩
- Pasternak, S.25. ↩
- Pasternak, S.25. ↩
- Olson, Mechanisms complementing prosecution (2002), in: International Review of the Red Cross, Vol. 84 Nr.845, S.173, 175 ↩
- Bisset, Truth commissions and criminal courts (2012), S.34. ↩
- Olson, S. 175. ↩
- Pasternak, S.29 f. ↩
- Pasternak, S.30. ↩
- Pasternak, S.30. ↩
- Bisset, S.34. ↩
- Freeman, S. 76. ↩
- Bisset, S. 35. ↩
- Bonacker, Globale Opferschaft : Zum Charisma des Opfers in Transitional Justice Prozessen, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 19. Jhg. (2012), Heft 1, S.5, 6. ↩
- Bisset, S. 38. ↩
- Pasternak, S.10 ff. ↩
- Hayner, S. 147 ff. ↩
- Pasternak, S.14. ↩
- Bisset, S. 37. ↩
- Bisset, S.37. ↩
- Bisset, S.37. ↩
- Freeman, S.82. ↩
- Bonacker, S. 13. ↩
- Bisset, S. 37. ↩
- Bisset, S. 37 f. ↩
- Freeman, Truth commissions and procedural fairness, (2006), S.82 Fn. 363. ↩
- Olson, S.177. ↩
- Olson, S.177. ↩
- Brahm, Uncovering the truth : Examining Truth Comission Sucess and Impact, in: International Studies Perspectives (2007)Vol.8, S.16, 20 ↩
- Hamber/Wilson, Symbolic closure through memory, reparation and revenge in post-conflict societies, in: Journal of Human Rights, Vol. 1, Nr.1 (2002), S. 35, 36. ↩
- Olson, S. 77. ↩
- Pasternak, S.11 ff. ↩
- Pasternak, S.13. ↩
- Freeman, S.80 Fn.352. ↩
- Kiza/Rathgeber/Rhone, Victims of war: an empirical study on war- victimization and victims’ attitudes towards addressing atrocities (2006), S.97. ↩
- Pasternak, S. 15. ↩
- Bonacker, S.13. ↩
- Freeman, S.79. ↩
- Freeman, S.80. ↩
- Freeman, S.80. ↩
- Pasternak, S. 17. ↩
- Weiffen, Der vergessene Faktor- zum Einfluss von Transitional Justice auf die Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit in Demokratisierungsprozessen, in: Zeitschrift für vergleichende Politikwissenschaft (2011) S. 51, 53. ↩
- Weiffen, S. 54. ↩
- Weiffen, S. 54. ↩
- Weiffen, S. 55. ↩
- Weiffen, S. 55. ↩
- Brahm, Uncovering the truth, S.25. ↩
- Hayner, S. 193. ↩
- Chapman, Approaches to Studying Reconciliation, in: Assessing the impact of Transitional Justice (2009), S.143, 159. ↩
- Weiffen, S. 55. ↩
- Pasternak, S. 34. ↩
- Pasternak, S.26. ↩
- Olson, S.175. ↩
- Chapman, S. 158. ↩
- Chapman, S. 159. ↩
- Paternak, S. 19. ↩
- Chapman, S. 163. ↩
- Chapman, S. 153 . ↩
- Bacher, Der Beitrag von Wahrheitskommissionen zur Friedenskonsolidierung und dauerhaften Versöhnung (2004), S. 79. ↩
- Chapman, S. 159. ↩
- Freeman, S. 83 f. ↩
- Freeman, S. 83. ↩