Katja Chalupper*
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Eine Tendenz in Richtung des Chancenvollzugs als Konzept für die Vollzugsgestaltung war in Niedersachsen schon unter der Geltung des Strafvollzugsgesetzes von 1977 erkennbar. Die Föderalismusreform ebnete schließlich den Weg für eine rechtliche Normierung des Chancenvollzugs im Niedersächsischen Justizvollzugsgesetz. Doch was versteht man in Niedersachsen unter dem Begriff „Chancenvollzug“? Welche Gründe sprechen für dieses Vollzugskonzept? Welche sprechen dagegen? Ist der Chancenvollzug überhaupt mit den Vorgaben des BVerfG vereinbar?
A. Einleitung
„Von dem blumigen Wortgeschöpf „Chancenvollzug“ soll der Einstieg in einen harten Verwahrvollzug und intensive Disziplinierung verdeckt werden. [...] Doch deckt sich ein „Wegsperren statt Resozialisierung“ nicht mit der bestehenden Rechtslage.“ So las man 2005 eine Zusammenfassung der Kritik am Einheitlichen Niedersächsischen Vollzugskonzept in einer Gefangenenzeitung 1. Doch wie ist die bestehende Rechtslage? Ist das Konzept mit dieser wirklich unvereinbar? Maßgeblich und unumgänglich zur Beantwortung dieser Fragen sind die vom BVerfG entwickelten Maßstäbe für den Strafvollzug.
Danach ist die Resozialisierung das herausragende Ziel des Vollzugs von Freiheitsstrafen. Aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG erwächst dem Gefangenen ein Anspruch auf die Chance, sich nach Verbüßung seiner Strafe wieder in die Gesellschaft einzuordnen. Der Staat ist aufgrund des Sozialstaatsprinzips, Art. 20 I, 28 I 1 GG, zur Vor- und Fürsorge für diejenigen Gesellschaftsgruppen verpflichtet, die aufgrund von persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen oder sozialen Entfaltung behindert sind. Zu diesen Gruppen gehören auch die Gefangenen 2.
Dabei ist der Gesetzgeber zur Entwicklung eines wirksamen Resozialisierungskonzepts verpflichtet, worauf der Strafvollzug aufgebaut werden soll. Das Resozialisierungsgebot enthält keine Festlegung auf ein bestimmtes Konzept, sondern eröffnet dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum 3. Allerdings hat dieser bei der Ausgestaltung vorhandene Erkenntnisquellen, insbesondere das in der Vollzugspraxis vorhandene Erfahrungswissen, auszuschöpfen und sich am Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu orientieren. Der Strafvollzug ist vom Staat dafür so auszustatten, wie es die Realisierung des Vollzugsziels erfordert 4.
Entscheidend für die Vereinbarkeit mit der bestehenden Rechtslage ist also die Frage, ob das niedersächsische Konzept des Chancenvollzugs sich innerhalb des gewährten Gestaltungsspielraums bewegt und somit den Maßstäben des BVerfG genügen kann.
B. Entstehung, Weiterentwicklung und unterschiedliche Ausprägungen des Begriffs „Chancenvollzug“
Zunächst sollen die Entstehung des Begriffs „Chancenvollzug“, das erstmalige Aufgreifen des Begriffs in Niedersachsen sowie die weitere Entwicklung des Chancenvollzugs in Niedersachsen bis zum Erlass des NJVollzG erläutert werden.
I. Angebots- und Chancenvollzug im StVollzG
Der Ursprung des Begriffs „Chancenvollzug“ geht auf die Geltungszeit des StVollzG von 1977 zurück. Während dieser Zeit erfolgte eine grundlegende Veränderung des Behandlungsverständnisses. Zuvor war dieses therapeutisch orientiert und geprägt von der Vorstellung, dass auch mittels Zwang persönlichkeitsverändernde Maßnahmen erfolgreich durchgeführt werden können 5. Diese Vorstellung änderte sich dahingehend, dass der durch die Behandlung beabsichtigte soziale Lernprozess keinen Zwangscharakter mehr haben, sondern vielmehr ein Angebot an den Gefangenen darstellen sollte 6.
Niedergelegt wurde dies in § 4 I StVollzG, der lediglich von der Mitwirkung des Gefangenen an der Gestaltung seiner Behandlung und an der Erreichung des Vollzugsziels ausging. Die Bereitschaft des Gefangenen hierzu war zu wecken und zu fördern. Eine Mitwirkungspflicht des Gefangenen war im StVollzG also gerade nicht vorgesehen. Bei mangelnder Mitwirkungsbereitschaft konnte der Gefangene daher auch nicht disziplinarisch belangt werden. Er wurde nicht (mehr) als Objekt, sondern als Subjekt der Behandlung angesehen 7.
II. Chancenvollzug in Niedersachsen unter der Regierung von Ministerpräsident Albrecht
Eine etwas andere Interpretation des Chancenvollzugs entwickelte sich in Niedersachsen erstmals in der Legislaturperiode von Ministerpräsident Albrecht von 1978 bis 1982 8. Dessen Zielvorgabe bezüglich des Strafvollzugs lautete: Sicherheit gewährleisten, die Effektivität des Behandlungsvollzugs überprüfen und optimieren und die Entlassenenhilfe ausbauen. Zielsetzung war die Wiedereingliederung der Gefangenen und die damit verbundene Senkung der Rückfallquote 9. Bedeutend im Sinne des Chancenvollzugs nach dem niedersächsischen Begriffsverständnis war vor allem eine Vorgabe: Der Schwerpunkt der Resozialisierungsbemühungen sollte besonders bei jugendlichen Straftätern und erstbestraften Erwachsenen liegen, da bei diesen beiden Zielgruppen die Resozialisierungsbemühungen noch am ehesten Erfolg versprechend seien 10.
Den Hintergrund für diese Erwägungen bildete das 1977 erstmals in Kraft getretene Strafvollzugsgesetz des Bundes, das es von den Ländern in die Praxis umzusetzen galt. In Niedersachsen galt hierbei die Leitlinie, den Strafvollzug finanziell gesehen nicht nach dem „Gießkannenprinzip“ zu versorgen, sondern hinsichtlich der Förderung Schwerpunkte bei chancenorientierten Maßnahmen zu setzen 11.
III. Weitere Entwicklung des Chancenvollzugs in Niedersachsen
Angesichts stets knapper Kassen in der öffentlichen Verwaltung und steigender Ansprüche der Bürger, fand in den 1990er Jahren eine Verwaltungsreform in Deutschland statt, von der auch der Justizvollzug nicht verschont blieb 12.
Trotz zunehmend schwierigeren und gefährlicheren Gefangenen, Überbelegung und erhöhten Sicherheitsanforderungen erforderte die Reduzierung von Personal- und Haushaltsmitteln auch im Justizvollzug mehr Management, wirtschaftliches Denken und Handeln, Kosten- und Leistungsrechnung und effizientere Organisationsstrukturen. Ziel musste sein, trotz der knappen finanziellen Mittel den behandlungswilligen und -fähigen Gefangenen Resozialisierungsangebote zu machen und die Sicherheit der Anstalt nach innen und außen zu garantieren 13.
In Niedersachsen wurde ein Arbeitsplan mit 19 Zielen und entsprechenden Maßnahmenkatalogen vorgelegt. Die Umsetzung eines chancenorientierten Betreuungsvollzugs war zentraler Aspekt der Planungen. Dieser sollte ein Angebot an diejenigen Gefangenen sein, die zur Mitwirkung am Resozialisierungsauftrag des StVollzG bereit waren. Dabei ging es um den Einsatz der begrenzten Behandlungs-, Betreuungs-, Ausbildungs- und Fortbildungsmittel speziell bei motivierten Gefangenen. Eine rein verbal geäußerte Bereitschaft zur Veränderung genügte hierfür nicht. Es wurde eine Mitwirkung durch konkretes Tun und eigenverantwortliches Handeln erwartet. Im Zuge dessen sollten auch die nach dem StVollzG zulässigen ermessensgebundenen Vergünstigungen der Vollzugsausgestaltung, die Vollzugslockerungen, nur noch mitwirkungsbereiten Gefangenen gewährt werden 14. Es sollte einen Grundkonsens über die Fragen geben, welche Angebote wann und wie oft gemacht werden, welcher aktive Beitrag von den Gefangenen erwartet wird und welche Verhaltensregeln einzuhalten sind. Zudem sollte die Frage der Wirksamkeit von resozialisierenden Maßnahmen neu erörtert werden. Denn nur wenn sowohl finanzieller als auch personeller Aufwand von Behandlungsmaßnahmen in einem akzeptablen Verhältnis zum Erfolg stehen, konnte nach damaligem Verständnis die Bevölkerung Vertrauen zu der Effizienz des Strafvollzugs fassen und würde auch nur dann zur Kostentragung bereit sein 15.
IV. Chancenvollzug im Einheitlichen Niedersächsischen Vollzugskonzept
Bereits vor Inkrafttreten der Föderalismusreform legte Niedersachsen ein umfassendes gegenteiliges Konzept zum StVollzG vor. Dieses Einheitliche Niedersächsische Vollzugskonzept 16 von 2004 stellte jedoch keinen Gesetzgebungsvorschlag sondern eine Anleitung für die Praxis zum Umgang mit dem StVollzG von 1977 dar 17.
Im Vorwort propagierte die damalige Justizministerin, bei dem Konzept gehe es auch angesichts leerer öffentlicher Kassen um die systematische Überprüfung bestehender Strukturen und vollzuglicher Konzepte und um die Schaffung landeseinheitlicher (Vollzugs-)Standards und gleicher Resozialisierungsbedingungen für alle Gefangenen. Dabei betonte sie die Erkenntnis, dass Resozialisierung kein Selbstzweck sein dürfe. Es mache keinen Sinn, Resozialisierungsmaßnahmen mit dem Füllhorn auszugießen, in der vagen Hoffnung auf Erfolg. Resozialisierung sei kein Selbstläufer, sondern sie fordere vom Gefangenen die Einsicht in die Notwendigkeit bestimmter Behandlungen und Bereitschaft zur Mitarbeit. Nur so führten die Bemühungen, Gefangene wieder in die Gesellschaft zu integrieren, zum Ziel 18.
Angesichts der Einführung einheitlicher Vollzugsstandards sollte es eine Grundversorgung für alle Gefangenen geben. Diese vollzuglichen Mindeststandards wurden durch das StVollzG vorgegeben und enthielten z.B. eine auf menschliche Bedürfnisse ausgerichtete Unterbringung während der Ruhezeit, Anstaltskleidung und –verpflegung, Einkauf, Besuche und Kommunikation, Arbeit und Ausbildung, Gesundheitsfürsorge, Hofgang und soziale Hilfe 19.
Für ausgewählte Gefangene sollte es nach dem EVK den Chancenvollzug geben, welcher aus besonderen Behandlungsprogrammen bestand. Über die Grundversorgung hinaus reichende vollzugliche Behandlungsangebote erhielten nur diejenigen Gefangenen, die einer besonderen Behandlung bedurften, die dazu fähig waren, das Angebot zu nutzen und die bereit waren, an der Erreichung des für sie in der Vollzugsplanung individuell festgelegten Vollzugsziels mitzuarbeiten 20.
Besonders hervorgehoben wurde jedoch, dass Chancenvollzug gerade nicht bedeutet, dass jeder Gefangene nur einmalig eine Chance erhält. Vor allem bei der halbjährlichen Fortschreibung des Vollzugsplans wurde darauf geachtet, den Gefangenen zur Mitarbeit am Vollzugsziel zu motivieren. Derjenige, der eine Chance erfolgreich genutzt hat, qualifizierte sich damit für weitere Behandlungsangebote, sofern diese der individuellen Förderung des Gefangenen dienlich waren. Es sollte keine Anpassung des Gefangenen, sondern eine Aktivierung und Mitarbeit erreicht werden. Lediglich so waren die erheblichen Aufwendungen für die Behandlung nach Ansicht der Regierung wirtschaftlich und vollzugspolitisch vertretbar 21.
V. Chancenvollzug im NJVollzG
Im Zuge der Föderalismusreform wurden durch die Übertragung der Gesetzgebungskompetenz bezüglich des Strafvollzugs vom Bund auf die Länder 22 die Voraussetzungen geschaffen, um das Konzept des Chancenvollzugs erstmals gesetzlich zu verankern. Daraufhin erfuhr der Chancenvollzug im Niedersächsischen Justizvollzugsgesetz (NJVollzG) erstmals eine rechtliche Normierung. Neben dem Strafvollzug sind auch der Jugend- und der Untersuchungshaftvollzug mitgeregelt („Kombigesetz“) 23.
1. Chancenvollzug im Strafvollzug
Die zentrale Norm für den Chancenvollzug im Strafvollzug bildet § 6 NJVollzG. Darin wird laut Entwurfsbegründung die ständige Rechtsprechung des BVerfG aufgegriffen. Danach soll den Gefangenen die Fähigkeit und der Wille zu verantwortlicher Lebensführung vermittelt werden. Ziel ist, dass die Gefangenen lernen, sich zukünftig unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft ohne Rechtsbruch zu behaupten, sowie ihre Chancen wahrzunehmen und ihre Risiken bestehen zu können 24.
Allerdings kann die Wiedereingliederung nur gelingen, wenn die Gefangenen sich mit den Umständen auseinandersetzen, die ausschlaggebend für ihre Straffälligkeit waren. Das Erreichen des Vollzugsziels setzt die Mitwirkung der Gefangenen voraus. Daher wird ihnen in § 6 I 1 NJVollzG in Form einer Soll-Vorschrift ihre Mitwirkung dahingehend auferlegt, dass sie fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Allerdings soll diese Pflicht disziplinarisch nicht durchsetzbar sein. Dennoch soll ein Sich-Entziehen vom Mitwirkungsgebot bei den Prognoseentscheidungen nach dem NJVollzG zu berücksichtigen sein. Dabei sind vor allem die Prognose bezüglich der Verlegung in den offenen Vollzug gem. § 12 II NJVollzG und die Prognose bezüglich der Gewährung von Vollzugslockerungen nach § 13 NJVollzG relevant. Auch bei der Stellungnahme der Vollzugsbehörde im Rahmen der Strafrestaussetzung zur Bewährung gem. § 57 StGB soll eine fehlende Mitwirkungsbereitschaft Berücksichtigung finden 25.
Der Mitwirkungspflicht der Gefangenen steht gem. § 6 II 1 NJVollzG die Pflicht der Vollzugsbehörden gegenüber, Angebote der Förderung, Qualifizierung und Behandlung bereitzuhalten. Um eine Nachhaltigkeit der sozialen Integration zu erreichen, müssen bei der Auswahl der Angebote drei Faktoren berücksichtigt werden: die Gefangenen müssen das Angebot objektiv benötigen, sie müssen von ihren Fähigkeiten her in der Lage sein, das Angebot zu nutzen und sie müssen das Angebot nutzen wollen. Daran anknüpfend ist in § 6 II 2 NJVollzG festgehalten, dass die qualifizierenden und verhaltensändernden Angebote bei fehlender Mitwirkungsbereitschaft der Gefangenen beendet werden sollen 26.
2. Chancenvollzug im niedersächsischen Jugendstrafvollzug?
Die dem § 6 NJVollzG entsprechende Regelung für den Jugendstrafvollzug enthält § 114 NJVollzG. Im bewussten Unterschied zu der Soll-Vorschrift des § 6 I 1 NJVollzG enthält § 114 II NJVollzG eine ausdrücklich normierte Mitarbeitspflicht der jugendlichen Gefangenen. Damit soll nach der Entwurfsbegründung dem Erziehungsgedanken des § 114 I 1 NJVollzG in besonderer Weise Rechnung getragen werden. Konkretisiert wird diese Mitwirkungspflicht durch die Befolgung von Anordnungen, die von der Vollzugsbehörde nach den Vorschriften über die Ausgestaltung des Jugendstrafvollzugs rechtmäßig erlassen wurden. Wer gegen eine solche konkrete Anordnung verstößt, kann mit erzieherischen Maßnahmen oder Disziplinarmaßnahmen nach § 130 NJVollzG belegt werden 27.
Verstöße gegen die Mitwirkungspflicht sind zudem bei der ermessensgebundenen Entscheidung über Lockerungen und die Verlegung in den offenen Vollzug und bei der Stellungnahme der Vollzugsbehörde bezüglich der vorzeitigen Entlassung zu berücksichtigen 28.
Der entscheidende, die Ungleichbehandlung rechtfertigende Unterschied zum Erwachsenenvollzug wird in dem besonderen Erziehungsauftrag gesehen. Dieser soll spezifische Duldungs- und Mitwirkungspflichten erfordern können, die über diejenigen im Erwachsenenvollzug hinausreichen können 29.
3. Chancenvollzug in der Untersuchungshaft am Beispiel der JVA Oldenburg
Der Untersuchungshaftvollzug dient gem. § 133 NJVollzG dem Zweck, den in den gesetzlichen Haftgründen zum Ausdruck kommenden Gefahren zu begegnen. Eingriffe in die Lebensführung des Untersuchungsgefangenen, die über diese Zwecke hinausgehen, sind aufgrund der Unschuldsvermutung aus Art. 6 II EMRK unzulässig 30.
Der Untersuchungshaftvollzug zielt also nicht auf Resozialisierung ab. Eine Mitwirkungspflicht wie in § 6 NJVollzG kann den Untersuchungsgefangenen nicht auferlegt werden. Daraus könnte man schließen, dass der Chancenvollzug in der Untersuchungshaft keine Entfaltungsmöglichkeit findet. Am Beispiel der JVA Oldenburg zeigt sich, dass diese Annahme ein Trugschluss ist.
Als Basis für eine freundliche und saubere Anstalt diente dort die Einführung eines Dienstleistungssystems, das als „Service“ bezeichnet wird. Alle Gefangenen können sich daran beteiligen. Wer sich und den Haftraum sauber hält und daran mitwirkt, dass die Wohngruppen, Flure und Gemeinschaftseinrichtungen ordentlich und sauber sind, wird belohnt. Wer dagegen verstößt, verliert den Service. Dabei sind alle Bediensteten des allgemeinen Vollzugsdiensts selbstständig zur Entscheidung darüber befugt, den Service zu gewähren oder zu entziehen 31.
Nach Aussagen des Leiters, Gerd Koop, hat sich dieses Servicesystem bewährt, denn die Gefangenen haben ein Interesse daran, den Service nicht zu verlieren. Sobald ein Haftraum unaufgeräumt oder ein Bett nicht gemacht ist, erfolgt eine Ermahnung durch den diensthabenden Beamten. Ändert sich daraufhin nichts, wird der Kabeleinzelanschluss ohne Diskussion abgeschaltet und die Haftraumtüre verschlossen. Daraufhin ist der Haftraum in weniger als einer Stunde wieder sauber 32.
Sauberkeit, Ordnung, Disziplin und Gewaltfreiheit werden durch großzügige Vollzugsgestaltung belohnt. Im Ergebnis ist das Gefängnis sauber und Disziplinschwierigkeiten sowie Drogenkonsum konnten minimiert werden. Der Chancenvollzug hat in Niedersachsen also auch im Untersuchungshaftvollzug Einlass gefunden 33.
C. Positive Aspekte des Chancenvollzugs
Im Folgenden sollen nun zunächst die positiven Aspekte des Chancenvollzugs erläutert werden.
I. Subjektstellung, Autonomie des Gefangenen
Für das Prinzip des Chancenvollzugs jedenfalls im Strafvollzug spricht die Anerkennung der Gefangenen als „selbstbewusste, freie und zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabte Persönlichkeiten“. Dies entspricht dem dem Grundgesetz zugrunde liegenden Menschenbild, welches auch für die Gefangenen gilt. Damit einher geht die Akzeptanz der autonomen Entscheidung des Gefangenen für oder gegen seine Mitwirkung bei der Erreichung des Vollzugsziels. Diese Entscheidung begrenzt die Einwirkungsmöglichkeiten des Strafvollzugs auf natürliche Weise 34.
II. Mitwirkung wichtig für Erreichung des Vollzugsziels
Es kann dabei als angemessen erachtet werden, den mitarbeitsbereiten Gefangenen gewisse Vergünstigungen zukommen zu lassen, da die Mitwirkung an der Erreichung des Vollzugsziels ein wichtiger Baustein ist, ohne den eine erfolgreiche Resozialisierung nicht gelingen kann. Für eine soziale Integration des Gefangenen ist es wichtig, dass er sich mit den Umständen auseinandersetzt, die zu der Straftat geführt haben. Daher werden der Wille des Gefangenen zur Mitarbeit und seine Eigenverantwortung betont 35.
III. Gewährung von Vorteilen stärkt Motivation
Das Modell, den mitarbeitsbereiten Gefangenen Vorteile zu gewähren, erscheint im Vergleich zu dem Modell, die beständig nicht mitarbeitsbereiten Gefangenen zu bestrafen oder ihnen Disziplinarmaßnahmen aufzuerlegen, auch vorzugswürdig. Denn dies würde den Druck im Strafvollzug zusätzlich erhöhen und vielfach (gewaltsamen) Widerstand hervorrufen. Erfahrungsgemäß stärkt die Gewährung von Vorteilen die Motivation zu einem bestimmten Verhalten mehr als der Versuch, das gewünschte Verhalten zu erzwingen 36.
IV. Positives Klima in den Anstalten
Zudem sorgt der Chancenvollzug in der Praxis für saubere Anstalten, in denen Disziplin und Ordnung herrscht und die weitgehend frei von Gewalt oder Suchtmittelgebrauch sind (s.o.). Nach der Beschreibung des Leiters der JVA Oldenburg erscheint der Chancenvollzug als eine „win-win-Situation“, die sowohl den Gefängnisalltag der (Untersuchungs-)Häftlinge angenehmer gestaltet als auch die Arbeit der JVA-Bediensteten erleichtert und somit zu einem insgesamt angenehmeren Klima in der JVA beiträgt.
V. Ökonomie
Einen weiteren Vorteil sehen die Befürworter in der Ökonomie dieses Konzepts. Angesichts stets knapper Haushaltskassen wurde bereits früh festgestellt, dass eine Verteilung der zur Verfügung stehenden Mittel nach dem „Gießkannenprinzip“ nicht effizient ist, sondern stattdessen eine Schwerpunktbildung dort stattfinden sollte, wo die Resozialisierung noch am meisten Erfolg versprechend scheint 37. Dieses Argument ist nicht von der Hand zu weisen. Bei Gefangenen, die eine ablehnende Haltung gegenüber den ihnen angebotenen Maßnahmen zeigen oder diese sogar bewusst und gewollt durch die Verweigerung ihrer Mitarbeit scheitern lassen, könnte das Anbieten und Durchführen der zum Teil sehr kostenintensiven Behandlungsmaßnahmen als bloße Verschwendung erachtet werden. Dabei bildet die Ökonomie des Chancenvollzugs in der Praxis oft das Hauptargument der Befürworter 38.
VI. Sicherheitsgewinn und Rückfallminimierung
Zwei weitere wesentliche Punkte liegen aus Sicht der Befürworter im Sicherheitsgewinn und der Rückfallminimierung. Indem Vollzugslockerungen nur noch gezielt den durch ihre Mitarbeitsbereitschaft positiv auffallenden Gefangenen gewährt werden, wird die Zahl der Missbrauchsfälle gesenkt und die Sicherheit erhöht. Dies wiederum führt zu einer höheren Akzeptanz des Strafvollzugs in der Bevölkerung, wodurch die Gefangenen nach ihrer Entlassung besser wieder in die Gesellschaft aufgenommen werden. Durch die Konzentration der Resozialisierungsbemühungen bei den mitarbeitsbereiten Gefangenen werden zudem deren im Vergleich zu anderen Gefangenen besser stehenden Resozialisierungschancen erhöht. Dies führt insgesamt zu einer Minderung der Rückfälligkeitsrate 39.
VII. Notwendigkeit einer Mitwirkungspflicht im Jugendstrafvollzug
Hinsichtlich der Mitwirkungspflicht im Jugendstrafvollzug wird angeführt, dass dadurch eine Stärkung der Rolle des Gefangenen als Subjekt stattfindet und so zugleich seine aktive Rolle im gesamten Vollzugsverlauf betont wird. Dabei ist die aktive Rolle Berechtigung und Verpflichtung zugleich. Der Jugendliche kann sich daher nicht, wie dies häufig der Fall ist, auf eine rein passive Rolle zurückziehen. Er ist stattdessen durch Fordern zu fördern 40.
Die mit der Mitwirkungspflicht verbundene Einschränkung der Entscheidungsautonomie beruht auf der vorangegangenen Fehlentwicklung des Jugendlichen. Daran wird erkennbar, dass der Jugendliche seine eigenen Interessen nicht richtig wahrnimmt und zunächst zu einer verantwortlichen Entscheidung hingeführt werden muss. Dabei beruhen Widerstand und Unlust oft auf eingeschliffenen Verhaltensweisen, die der Lebensbewältigung dienen. Durch die Mitwirkungspflicht, die den Gefangenen intensiv und unausweichlich in Anspruch nimmt, sollen diese Verhaltensmuster schrittweise abgebaut und bewältigt werden. Es ist zwar Aufgabe der Vollzugsbehörde eine solche Mitwirkungsbereitschaft zu wecken und zu fördern, jedoch bedarf es nach den Erfahrungen aus der Praxis des Jugendstrafvollzugs einer gesetzlich normierten Mitwirkungspflicht 41.
D. Negative Aspekte des Chancenvollzugs
Allerdings gibt es auch gewichtige Gründe, die gegen den Chancenvollzug sprechen.
I. Voraussetzung einer bestehenden Motivation
Problematisch am Chancenvollzug ist schon der Grundgedanke, der der Gewährung von Behandlungsmaßnahmen nach diesem Konzept zugrunde liegt. Im StVollzG war als entscheidendes Kriterium der Interventionsbedarf im Einzelfall vorgesehen. Nach dem Prinzip des Chancenvollzugs werden Resozialisierungsangebote nun hingegen von der Mitwirkungsbereitschaft des Gefangenen abhängig gemacht. Es wird eine bereits bestehende Motivation zur Veränderung beim Gefangenen vorausgesetzt 42. Dabei wird übersehen, dass viele Gefangene aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur zunächst einer dauerhaften Motivation bedürfen oder Grundfertigkeiten erlernen müssen, um den Anforderungen der Arbeit oder Ausbildung standhalten zu können. Dementsprechend ist sowohl in § 4 I 2 StVollzG als auch in § 6 I 2 NJVollzG die Pflicht der Anstalten zur Weckung und Förderung der Mitwirkungsbereitschaft normiert. Der Gedanke des Chancenvollzugs ist hiermit nicht vereinbar. Die Gewährung von Chancen sollte von der Bedürftigkeit und Fähigkeit des jeweiligen Gefangenen abhängig gemacht werden und nicht davon, ob dieser eine Chance nutzt oder nicht 43.
II. Gefahr von Willkür
In Zusammenhang damit steht auch der nächste Kritikpunkt. Wird bei der Gewährung von Behandlungsmaßnahmen, wie nach dem StVollzG vorgesehen, auf die Bedürftigkeit abgestellt, ist dies eine objektiv nachprüfbare Größe. Bei dem im Chancenvollzug vorgesehenen Kriterium der Mitarbeitsbereitschaft besteht ein erheblicher Beurteilungsspielraum und daher die Gefahr von Willkür. Im NJVollzG sind eindeutige Voraussetzungen für das Kriterium der Mitwirkungsbereitschaft nicht vorhanden. Vermutlich sollen diesbezügliche Festlegungen der jeweiligen JVA überlassen werden 44.
Dies begründet eine erhebliche Definitionsmacht der JVA. Schon zu Beginn des Vollzugs hat eine Entscheidung stattzufinden, welcher Gruppe der Gefangene angehört. Da zur Vorbereitung der Aufstellung und Fortschreibung des Vollzugsplans Konferenzen abgehalten werden, an denen nach § 9 IV NJVollzG nur die nach Auffassung der Vollzugsbehörde an der Vollzugsgestaltung maßgeblich Beteiligten teilnehmen, sind sowohl der Gefangene als auch sein Verteidiger von jeglicher Einflussnahme ausgeschlossen 45.
Diese Definitionsmacht zieht sich aufgrund vieler Entscheidungen, bei denen ein Beurteilungs- oder Ermessensspielraum der Vollzugsbehörde besteht, durch den ganzen Vollzugsverlauf. Angesichts der enormen Tragweite solcher Entscheidungen für den Gefangenen und der möglicherweise mangelnden Objektivität der Vollzugsbehörde scheint dies wenig sinnvoll. Die Gewährung oder Versagung von Behandlungsmaßnahmen können von persönlichen Sympathien oder Antipathien beeinflusst werden 46.
III. Anpassungsdruck
Durch dieses Machtgefälle entsteht ein massiver Anpassungsdruck aufseiten des Gefangenen. Es ist für ihn im Chancenvollzug von enormer Bedeutung, von vorneherein nicht in die Kategorie des therapieunwilligen, unmotivierten und lockerungsungeeigneten Gefangenen zu fallen oder aus dieser Kategorie wieder herauszukommen. Hierfür genügt jedoch nicht allein die verbale Äußerung einer Veränderungsbereitschaft. Erwartet wird eine unbedingte Gefolgschaft, mit der eine vollständige Akzeptanz der Zuschreibungen des Urteils und eine Anerkennung der Therapie- und Hilfsbedürftigkeit einhergehen. Bei fehlender Veränderungsbereitschaft wird gerade nicht auf die sukzessive Herbeiführung einer solchen hingewirkt, sondern diese wird als Kriterium für eine Versagung der Aufnahme oder Fortsetzung einer Therapie sowie einer Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt genutzt. Zudem wird der Gefangene mangels positiver Prognose im geschlossenen Vollzug bleiben, keine Vollzugslockerungen erhalten und die JVA wird negativ zur Strafrestaussetzung auf Bewährung Stellung nehmen. Die Konsequenz daraus ist, dass gerade problematische Fälle untherapiert aus der Haft entlassen werden. Der durch die Versagung von Lockerungen und die negative Stellungnahme bezüglich vorzeitiger Entlassung bezweckte Schutz der Gesellschaft wird dadurch nicht erreicht. Denn eine Reduzierung des Rückfallrisikos kann nur durch therapeutische Behandlungsmaßnahmen erreicht werden 47.
IV. Verfestigung devianter Verhaltensweisen
Zudem ist aus kriminologischer Sicht hinlänglich bekannt, dass die eilfertige Übernahme des dem Gefangenen zugeschriebenen Stigmas bei diesem wiederum negative Folgen hervorrufen kann. Es kann zu einem Rückkoppelungsmechanismus der erzwungenen Beichte kommen. Durch die Verinnerlichung der Unterwerfung aufseiten des Täters können die devianten Verhaltensweisen verfestigt und gestärkt werden. Es besteht die Gefahr der Übernahme der dem Gefangenen zugeschriebenen Rolle in sein Selbstbild. Daraus folgen Aufschaukelungsprozesse, aufgrund derer der Gefangene letztendlich das Attribut des Abweichenden durch weitere Taten verwirklicht, mithin rückfällig wird 48.
V. Vollzugslockerungen als Hafterleichterung
Die Vollzugslockerungen, die nach dem StVollzG noch als wesentliche Behandlungsmaßnahmen konzipiert waren, werden im Chancenvollzug zu bloßen Hafterleichterungen und Vergünstigen in der Vollzugsgestaltung umgemünzt. Dadurch findet in gewissem Maße eine Rückkehr in einen Stufenstrafvollzug statt, in dem der Gefangene durch angepasstes Verhalten Vergünstigungen erlangen kann. Von diesem Modell hatte sich das StVollzG jedoch bewusst abgewandt, um eine Einengung der Behandlungsmöglichkeiten zu verhindern 49.
VI. Informelle und apokryphe Disziplinarmaßnahmen
Umgekehrt kann die Versagung von Lockerungen im Chancenvollzug als informelle Disziplinarmaßnahme genutzt werden. Darunter versteht man eine Maßnahme, die offiziell weder als Disziplinarmaßnahme noch als Hausstrafe bezeichnet wird und zumeist auch nicht primär der Disziplinierung dient, die aber sekundär als nicht unerwünschte Nebenfolge eine disziplinierende Wirkung entfaltet. Als nicht unerwünschte Nebenfolge kommt der Versagung von Vollzugslockerungen im Chancenvollzug insofern eine disziplinierende Bedeutung bei, als dass eine Anpassung an die von der Anstalt gewünschten Verhaltensweisen erfolgen soll. Die Versagung kann als informelle Disziplinierung bezeichnet werden 50.
Zudem wird der oben beschriebene Serviceentzug als apokryphe Disziplinarmaßnahme erachtet. Darunter versteht man eine negativ sanktionierende vollzugliche Maßnahme, die wie eine förmliche Disziplinarmaßnahme aufgrund eines oft nicht näher bestimmten „Fehlverhaltens“ angeordnet wird, die aber entweder nicht als solche Sanktion im Katalog des jeweiligen Vollzugsgesetzes normiert ist oder bezüglich der keine aus dem Gesetz ableitbare Pflicht besteht, gegen die verstoßen worden sein könnte. Im Strafvollzug des NJVollzG besteht keine disziplinarbewehrte Mitwirkungspflicht der Gefangenen (s.o.). Durch das im Chancenvollzug etablierte Servicesystem ist eine solche auch gar nicht notwendig. Denn der Gefangene diszipliniert sich durch sein Verhalten quasi selbst, indem er sich durch mangelnde Mitwirkungsbereitschaft selbst von den Serviceangeboten ausschließt. Schließlich kennt er die Voraussetzungen, unter denen ihm der Service gewährt wird und kann sich entsprechend verhalten (rational choice). Formelle Disziplinarmaßnahmen werden in einem solchen System nahezu entbehrlich 51.
VII. Verfassungsrechtlicher Anspruch auf Resozialisierung
Wie bereits oben erläutert besteht ein grundrechtlicher Anspruch des Gefangenen auf Resozialisierung. Dieser dient zugleich dem Schutz der Gesellschaft und besteht vor allem unabhängig davon, ob der Gefangene sich zur Einhaltung gewisser „Spielregeln“ bereit erklärt. Im Chancenvollzug sollen die zunächst nicht mitarbeitsbereiten Gefangenen jedoch von den Resozialisierungsmaßnahmen ausgenommen werden. Die Versagung von Resozialisierungsmaßnahmen, wie sie nach dem Chancenvollzug vorgesehen ist, begegnet somit auch verfassungsrechtlichen Bedenken 52.
VIII. Abkehr vom Resozialisierungsvollzug, Ausbau von Repressionen und Einsparungen
Insgesamt wird kritisiert, dass durch das Konzept des Chancenvollzugs eine Abkehr vom Resozialisierungsvollzug stattfindet, die schlimmstenfalls einen reinen Verwahrvollzug ermöglicht 53. Eine Klassifizierung der Gefangenen als nicht resozialisierungsbereit oder –fähig und die damit verbundene Reduzierung auf eine Grundversorgung ohne Resozialisierungsangebote kann nicht mehr als Resozialisierungsvollzug bezeichnet werden. In diesem Fall handelt es sich nur noch um eine sichere Unterbringung der Gefangenen unter mehr oder minder menschenwürdigen Umständen. Realistisch betrachtet stellt eine Vollzugsgestaltung, wie sie nach dem Konzept des Chancenvollzugs vorgesehen ist, damit jedenfalls die Vorstufe oder sogar schon den Einstieg in einen Sicherheits- oder Verwahrvollzug dar 54. Angesichts der knapp bemessenen Finanzmittel ist nämlich trotz der normierten Pflicht zur Weckung und Förderung der Mitarbeitsbereitschaft in Zeiten der wirtschaftlichen Eigenverantwortung nicht von erweiterten und nachhaltigen Bemühungen der Vollzugsbehörde auszugehen 55.
Die Kritik geht sogar so weit, dass es unter dem Deckmantel der wissenschaftlichen Begründung in der Sache lediglich um den Ausbau von Repressionen und Einsparungen gehen soll 56. Insoweit wird der Chancenvollzug der Forderung des BVerfG nicht gerecht, den Strafvollzug mit den erforderlichen personellen und finanziellen Mitteln auszustatten, die zur Erreichung des Vollzugsziels nötig sind. Übersehen wird zudem, dass die Kosten eines qualitativ hochwertigen Resozialisierungsvollzugs letztlich geringer sind als diejenigen, die aufgrund eines resozialisierungsschädlichen Chancenvollzugkonzepts bei erneuter Rückfälligkeit entstehen 57.
IX. Pädagogische Aspekte im Jugendstrafvollzug
Bezüglich der Mitwirkungspflicht im Jugendstrafvollzug werden zudem pädagogische Bedenken geäußert. Problematisch ist aus erziehungswissenschaftlicher Sicht der Zwangscharakter dieser Pflicht. Erziehungs- und Behandlungsmaßnahmen können nur nachhaltig erfolgreich sein, wenn die Teilnahme auf freiwilliger Basis erfolgt. Zwang bewirkt in vielen Fällen lediglich eine innere Abwehrhaltung und oberflächliche Anpassungsstrategien, um Sanktionen zu vermeiden und Vergünstigungen zu erhalten, ohne sich wirklich auf die Maßnahme einzulassen. Dadurch kann die ablehnende Haltung sogar verstärkt werden und es kommt zu einer „Scheinresozialisierung“. Im schlechtesten Fall ist der Lerneffekt durch das Verhalten der Vollzugsbehörde für den Jugendlichen sogar, dass Menschen durch äußeren Zwang gefügig gemacht werden können. Zudem bereitet eine solche Unterwerfungsmentalität ungenügend auf eine Bewältigung des Lebens in Freiheit vor. Die Einhaltung von Normen kann nur durch eigene Überzeugung und Verarbeitung verinnerlicht werden. Aus pädagogischer Sicht ist eine Mitwirkungspflicht im Jugendstrafvollzug daher abzulehnen 58.
E. Fazit
Insgesamt gesehen können die positiven Aspekte des Chancenvollzugs verglichen mit den negativen nicht überzeugen. Das Hauptargument der Befürworter, die Ökonomie, geht fehl, da der Chancenvollzug wie aufgezeigt nur bei oberflächlicher Betrachtung das kostengünstigere Vollzugskonzept darstellt. Denn der Sicherheitsgewinn und vor allem die Minimierung des Rückfallrisikos erweisen sich bei genauerem Hinsehen als Trugschluss. Die devianten Verhaltensweisen werden durch die erzwungene Anpassung unter Umständen sogar verstärkt und dadurch das Rückfallrisiko erhöht. Dies widerspricht dem Vollzugsziel der Resozialisierung. Auch der Schutz der Allgemeinheit wird dadurch konterkariert.
Sauberkeit und Ordnung in den Anstalten sowie die Mitwirkung als wichtiger Baustein der Resozialisierung werden im Chancenvollzug lediglich durch informelle und apokryphe Disziplinarmaßnahmen erreicht. Im Jugendstrafvollzug ist sogar eine aus pädagogischer Sicht bedenkliche disziplinarbewehrte Mitwirkungspflicht vorgesehen. Damit einher geht ein immenser Anpassungsdruck auf die Gefangenen, die trotz allem bei vielen vollzuglichen Entscheidungen der Gefahr von Willkür durch die Vollzugsbehörden ausgesetzt sind.
Als überzeugendstes Argument für den Chancenvollzug erscheint noch die Subjektstellung und Achtung der Autonomie des Gefangenen. Dem steht auf der anderen Seite jedoch der verfassungsrechtlich verankerte Resozialisierungsanspruch eines jeden Gefangenen gegenüber, der gerade nicht an irgendwelche Bedingungen und erst recht nicht an eine bereits bestehende Motivation zur Veränderung geknüpft ist.
Daher findet durch den Chancenvollzug letztendlich eine verdeckte Abkehr vom Resozialisierungsvollzug statt. Verfassungsrechtlich gesehen erscheint dies als eine eher bedenkliche Entwicklung des Strafvollzugs.
* Die Autorin studiert derzeit Rechtswissenschaften im 7. Semester an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und befindet sich in der Examensvorbereitung. Der Artikel beruht auf einer im September 2014 erstellten Seminararbeit zu dem Thema „Das niedersächsische Konzept des Chancenvollzugs“.
Fußnoten:
- Feest StV 2008, 553, 554. ↩
- BVerfG NJW 1973, 1226, 1231; Feest/Lesting/Bung/Feest vor § 2 Rn. 3. ↩
- BVerfG NJW 1998, 3337 f. ↩
- BVerfG NJW 2006, 2093, 2097; BVerfG NJW 1976, 37, 38. ↩
- Krüger, Systeme und Konzepte des progressiven Strafvollzugs 2011, S. 290; Kunz ZStW 101, 75, 85. ↩
- Krüger, Systeme und Konzepte des progressiven Strafvollzugs 2011, S. 290; Feest/Lesting/Bung/Feest vor § 2 Rn. 20. ↩
- Arloth 3. Auflage § 4 StVollzG Rn. 2. ↩
- Krüger, Systeme und Konzepte des progressiven Strafvollzugs 2011, S. 291; Schwind FS-Amelung 2009, 763, 767. ↩
- Regierungserklärung in der Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 28. Juni 1978, Beilage zum Niedersächsischen Ministerialblatt Nr. 30 vom 13. Juli 1978, S. XIV. ↩
- Regierungserklärung in der Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 28. Juni 1978, Beilage zum Niedersächsischen Ministerialblatt Nr. 30 vom 13. Juli 1978, S. XIV. ↩
- Schwind FS-Amelung 2009, 763, 767 f. ↩
- Steinhilper FS-Böhm 1999, 177. ↩
- Steinhilper FS-Böhm 1999, 177, 178. ↩
- Steinhilper FS-Böhm 1999, 177, 185. ↩
- Steinhilper FS-Böhm 1999, 177, 186. ↩
- Im Folgenden als EVK bezeichnet. ↩
- Feest StV 2008, 553, 554. ↩
- EVK, S. 3. ↩
- EVK, S. 36 f.; Feest StV 2008, 553, 554. ↩
- EVK, S. 38; Köhne KritV 2013, 115, 116. ↩
- EVK, S. 39 f. ↩
- Laubenthal, Strafvollzug 2011, Rn. 132. ↩
- Schwind FS-Amelung 2009, 763, 764, 774. ↩
- LT-Drs. 15-3565, S. 88; BVerfG NJW 1973, 1226, 1231. ↩
- LT-Drs. 15-3565, S. 88. ↩
- LT-Drs. 15-3565, S. 88. ↩
- LT-Drs. 15-3565, S. 160. ↩
- vgl. Kühl, Die gesetzliche Reform des Jugendstrafvollzugs in Deutschland im Licht der European Rules for Juvenile Offenders Subject to Sanctions or Measures (ERJOSSM) 2011, S. 137; Arloth 2. Auflage § 114 NJVollzG Rn. 4. ↩
- Arloth GA 2008, 129, 137. ↩
- Kaiser/Schöch, Strafvollzug 2002, § 5 Rn. 109. ↩
- Flügge/Maelicke/Preusker/Koop, Das Gefängnis als lernende Organisation 2001, S. 186. ↩
- Flügge/Maelicke/Preusker/Koop, Das Gefängnis als lernende Organisation 2001, S. 187. ↩
- Steinhilper FS-Schwind 2006, 687. ↩
- LT-Drs. 15-3565, S. 69. ↩
- LT-Drs. 15-3565, S. 88 f. ↩
- Köhne KritV 2013, 115, 117 f. ↩
- Schwind ZfStrVo 1988, 259, 261. ↩
- Köhne KritV 2013, 115, 118. ↩
- Kühl, Die gesetzliche Reform des Jugendstrafvollzugs in Deutschland im Licht der European Rules for Juvenile Offenders Subject to Sanctions or Measures (ERJOSSM) 2011, S. 330. ↩
- Schwirzer, Jugendstrafvollzug für das 21. Jahrhundert? 2008, S. 69. ↩
- Kühl, Die gesetzliche Reform des Jugendstrafvollzugs in Deutschland im Licht der European Rules for Juvenile Offenders Subject to Sanctions or Measures (ERJOSSM) 2011, S. 319 f. ↩
- Schneider ZfStrVo 2004, 139. ↩
- Herrfahrdt FS-Seebode 2008, 469, 473; Köhne KritV 2013, 115, 118. ↩
- Herrfahrdt FS-Seebode 2008, 469, 473; Köhne KritV 2013, 115, 118. ↩
- vgl. Schneider ZfStrVo 2004, 139, 140. ↩
- Herrfahrdt FS-Seebode 2008, 469, 473; Köhne KritV 2013, 115, 119. ↩
- Schneider ZfStrVo 2004, 139, 140 f. ↩
- Schneider ZfStrVo 2004, 139, 141. ↩
- Schneider ZfStrVo 2004, 139, 141. ↩
- vgl. Walter NK 2005, 130, 131 f. ↩
- vgl. Walter NK 2005, 130, 131, 133. ↩
- Köhne KritV 2013, 115, 118. ↩
- Köhne KritV 2013, 115, 119. ↩
- Köhne KritV 2013, 115, 119. ↩
- Krüger, Systeme und Konzepte des progressiven Strafvollzugs 2011, S. 331. ↩
- Alex StV 2006, 726, 727. ↩
- Krüger, Systeme und Konzepte des progressiven Strafvollzugs 2011, S. 334 f. ↩
- Krüger, Systeme und Konzepte des progressiven Strafvollzugs 2011, S. 320 f.; Kühl, Die gesetzliche Reform des Jugendstrafvollzugs in Deutschland im Licht der European Rules for Juvenile Offenders Subject to Sanctions or Measures (ERJOSSM) 2011, S. 97. ↩