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„Wir haben keinen Staat zu errichten!“

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Sarah Baukelmann*

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Mit diesem Satz plädierte ein Politiker, dessen Einwirkung wir bis heute als ein Privileg genießen dürfen, am 08. September 1948 im Parlamentarischen Rat – erst eine Woche nach deren ersten Sitzung – für die Umsetzung uns völlig selbstverständlicher Umstände: Gewaltenteilung, inklusive gegenseitiger Kontrolle, die Abschaffung der Todesstrafe, nachdem das NS-Regime über Deutschland gewütet hat, ein konstruktives Misstrauensvotum, das einen direkten Nachfolger bestimmt und keinen Leerlauf zulässt im Anschluss an die unbeständigen politischen Verhältnisse in der Weimarer Republik, und viele weitere Errungenschaften.

Wenn man an den Erlass des Grundgesetzes vom 23. Mai 1949, denkt, verbindet man diesen eher mit dem damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer oder dem Bundespräsidenten Theodor Heuss, vergisst jedoch den Oppositionsführer und ebenso wichtigen Mitarbeiter am Grundgesetz: Karl Johann Martin Heinrich Schmid. Er war insgesamt 23 Jahre im Bundestag und gehörte ab 1947 bis 1952 dem Landtag Württemberg-Hohenzollern/Baden-Württemberg an. Doch seine politischen Aktivitäten beliefen sich nicht nur auf seine gravierende Rolle in den höchsten Gremien, sondern gingen auch über den deutschen Horizont hinaus. Die Idee, auf die Schmid hinarbeitete, hieß Europa. So veröffentliche er 1949 in der Deutschen Rundschau einen Artikel unter anderen mit dem Titel „Europa als nationale Aufgabe“ 1. Bilingual von seiner französischen Mutter erzogen spielte dieses Thema schon aufgrund der eigenen Biographie für ihn eine entscheidende Schlüsselrolle. Dies nicht zuletzt wegen seiner Verwurzelung in der europäischen Kulturgeschichte, die sein konstitutives Bildungserlebnis gewesen zu sein schien 2. Sein Engagement spiegelte sich in seinen Bemühungen um die Vereinigungen der Staaten von Europa 3 durch seinen stetigen Kontakt nach Frankreich aber auch in den Osten zur Sowjetunion wider. Schmid wusste, dass unter den gegebenen politischen Verhältnissen ein Europa als dritte Kraft zwischen den Blöcken nicht mehr als eine Vision sein konnte, deren Realisierung er jedoch Schritt für Schritt den Weg ebnen wollte. Dass er, wenn er von einem vereinten Europa sprach, ein freiheitliches, ein demokratisches Europa meinte, braucht bei einem Mann, der sich der Tradition des europäischen Humanismus verbunden wusste, nicht eigens betont zu werden 4. Doch nicht allein sein Streben nach einem europäischen föderativen Bundesstaat – keinem Staatenbund 5 – und auch sein innenpolitisches Engagement ist bis heute erkennbar: sein Wirken als Verfassungsvater, der durch seine Forderung eines Katalogs zentraler Menschen- und Bürgerrechte mehr als nur einen Diskussionsvorschlag im Ausschuss am 29. April 1946 und am 28. Mai 1946 auch dem Plenum im vorbereitenden Verfassungsausschuss vorlegte, gab Anlass für die verfassungstheoretische Diskussion 6.

Carlo Schmid war neben seinen unzähligen politischen Ämtern und Aufgaben – wie vielen unbekannt – auch Jurist und Dozent an der Universität Tübingen, seiner alma mater, an dessen Wiedereröffnung er nach dem zweiten Weltkrieg beteiligt war.

Doch wie kam es dazu? Wie kam es, dass ein gebürtiger Franzose mit einer französischen Mutter, das Abitur in Deutschland absolvierte und anschließend als Soldat im Ersten Weltkrieg dienen musste?

„Im Anfang war Carlo Schmid“ 7.

Carlo Schmid wurde am 03. Dezember 1896 in Perpigna, Frankreich, geboren. Seine Mutter, Anna Erra, war Französin und sein Vater, Joseph Schmid, war Privatlehrer und Dozent an der Universität Toulouse. Kurze Zeit nach seiner Geburt siedelte die Familie nach Deutschland um und zog ab 1908 nach Stuttgart. Dort besuchte Schmid das Gymnasium und beendete es 1914 mit dem Abitur. Nach seinem Schulabschluss zog er als Soldat in den Krieg und kämpfte von 1914-1918. Anschließend begann er ein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an der Universität Tübingen, dessen Grundausbildung von 1919 bis 1921 er mit einem ausgezeichneten Ergebnis abschloss 8. Während des Referendariats legte er seine Promotion 1923 mit der Arbeit „Die Rechtsnatur der Betriebsvertretungen nach dem Betriebsrätegesetz“ ab. Er ließ sich anfänglich als Rechtsanwalt nieder und wurde bereits ein Jahr nach seinem zweiten Examen als Gerichtsassessor des Landes Württemberg einberufen. 1927 wurde er Richter am Amtsgericht und später folgte die Ernennung zum Landesgerichtsrat in Tübingen. Zu seiner juristischen Ausbildung ist wohl noch zu erwähnen, dass er Referent am Kaiser-Wilhelm Institut in Berlin war und seine Habilitation 1930 erhielt, da er über die Rechtsprechung des Internationalen Gerichts schrieb.

Einer der Gründerväter der BRD und wichtiger Mitarbeiter mit und am Grundgesetz lebte in schwierigen Zeiten. Statt sein Studium direkt nach dem Schulabschluss zu beginnen, musste er in den Krieg ziehen und für etwas kämpfen, das sich seiner Überzeugung entsprach. Er erlebte auch den zweiten Weltkrieg mit, was noch belastender für ihn gewesen sein dürfte, da er kein Sympathisant des Systems war. Er wehrte sich dagegen und versuchte sogar, Jugendliche zu mobilisieren und gründete einen „Arbeitsdienst“ in Munsingen, in dem Studenten und arbeitslose Jugendliche zusammen im Steinbruch arbeiteten, um sie präventiv vor dem Einfluss des NS Regimes zu schützen. Deshalb und aus verschiedenen anderen Gründen wurde seine Akte ab 1933 gesperrt. Schmid war gezwungen, mit dem ihm verhassten Regime zu kooperieren und trat dem Bund nationalsozialistischer Juristen bei, um einer Entlassung zu entgehen.

Aufgrund dieser Erlebnisse war es für ihn umso wichtiger, beim Aufbau der BRD mitzuwirken und diesen negativen Auswüchsen in Zukunft keinen Raum mehr zu geben. Sein Einfluss als Jurist aber gerade auch als Politiker ist für heute von unermesslichen Wert. Es war für ihn ein besonderes Anliegen, geprägt von den negativen Erfahrungen, die er machen musste, das zukünftige Leben der Menschen so zu bestimmen, dass ihnen diese Erfahrungen erspart blieben. Er sollte Recht behalten. In Europa gibt es seit 70 Jahren keinen Krieg mehr; dies war vorrangiges Ziel von Schmids Anregungen. Er war ein Visionär und träumte schon damals von einem vereinten und friedvollen Europa. Entscheidend war für ihn die Beziehung zu anderen Ländern, nach Frankreich aber ebenso in die Sowjetunion, um Frieden zu stiften. Auch wenn Schmid es nicht mehr persönlich miterlebte, wie sich Deutschland 1989 vereinte und Europa knapp zehn Jahre später folgte, so ist er doch Wegbereiter für diesen Schritt gewesen. Von manchen wird er als „Architekt des Grundgesetzes“ bezeichnet und sein Bauwerk bleibt für immer.

„Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!“ 9

Carlo Schmid nahm sich die Worte Goethes sehr zu Herzen und bleibt uns heute als „heimlicher Vater des freiheitlichen Deutschlands“ 10 in Erinnerung.

 

*Die Autorin ist Studentin der Rechtswissenschaften an der Alberts-Ludwig-Universität in Freiburg im dritten Semester.


Fußnoten:

  1. Horst Möller, Carlo Schmid und seine Politik, in: Carlo Schmid, Frankreich und Europa 1997, S. 42.
  2. Horst Möller, Carlo Schmid und seine Politik, in: Carlo Schmid, Frankreich und Europa 1997, S. 43.
  3. Horst Möller, Carlo Schmid und seine Politik, in: Carlo Schmid, Frankreich und Europa 1997, S. 50.
  4. Petra Weber, Carlo Schmid und seine Politik, in: Carlo Schmid und die Deutschland- und Ostpolitik 1997, S.32.
  5. Edgar Wolfrum, Carlo Schmid – Mitgestalter der Nachkriegsentwicklung im deutschen Südwesten, in: Deutschland, Frankreich, Europa – Frühe europapolitische Pläne Schmids 1997, S. 48.
  6. Gerhard Hischler, Carlo Schmid – Mitgestalter der Nachkriegsentwicklung im deutschen Südwesten, in: Carlo Schmid und das Grundgesetz. Der Beitrag Carlo Schmids zur Entstehung der Bundesrepublik Deutschlands 1997, S. 90.
  7. Petra Weber, Carlo Schmid 1896-1979. Eine Biographie 1996, S.191.
  8. Alfred Geisel, Carlo Schmid – Mitgestalter der Nachkriegsentwicklung im deutschen Südwesten, in: Wie Carlo Schmid in die Politik kam 1997, S. 26.
  9. Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Eine Tragödie 1808.
  10. Petra Weber, Carlo Schmid und seine Politik, in: Carlo Schmid und die Deutschland- und Ostpolitik 1997, S. 31.

Rezension zu „Öffentliches Recht“ von Prof. Dr. Jörg-Dieter Oberrath (5. Auflage 2015)

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Verlag Franz Vahlen GmbH München, 336 Seiten, 24,90 €, ISBN 978-3-8006-4907-5.

Patrick Christian Otto

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„Altbewährtes in neuer Auflage“ – mit diesen Worten könnte man die Neuauflage des Lehrbuches Öffentliches Recht von Jörg-Dieter Oberrath beschreiben. In inzwischen 5. Auflage führt der Fachhochschullehrer aus Bielefeld seine überwiegend studentische Leserschaft erneut in eindrucksvoller Weise in die Grundlagen des Öffentlichen Rechts ein. Wenngleich es sich nach den Ausführungen Oberraths im Vorwort primär an Studierende der Wirtschaftswissenschaften bzw. des Wirtschaftsrechts richtet, ist es auch für Studierende der Rechtswissenschaft geeignet, um einen ersten Zugang zum Öffentlichen Recht oder auch ein Auffrischen von schon erlerntem Stoff zu erreichen.

Oberrath baut sein Werk so auf, dass es einen Gesamtüberblick über das Öffentliche Recht verschafft und dabei auch das (für die erste juristische Prüfung eher weniger relevante) Wirtschaftsverwaltungsrecht in den Blick nimmt. Nach grundlegenden Ausführungen zum Begriff des Öffentlichen Rechts und seinen Rechtsquellen im ersten Teil, wird im zweiten Teil das Verfassungsrecht dargestellt. Dabei bemüht sich Oberrath mit wenigen, aber sehr präzisen Formulierungen einen „gesamten Ritt“ durch die Verfassung zu ermöglichen, um zumindest einmal auf alle relevanten Fragestellungen hingewiesen zu haben. Sodann geht er im dritten Teil auf die Bundesrepublik Deutschland als Teil der EU ein und führt dabei umfangreich aus, wie die Strukturen im europäischen Raum sind und auch, wie diese auf das nationale Recht einwirken. Im vierten Teil stellt Oberrath das Allgemeine Verwaltungsrecht und das Verwaltungsprozessrecht dar. Im fünften und letzten Teil wird das besondere Wirtschaftsverwaltungsrecht auf rund 80 Seiten präsentiert.

Auffällig in allen Kapiteln ist, dass Oberrath alle Unterthemen immer wieder in den europäischen und wirtschaftsverwaltungsrechtlichen Kontext einbettet. Dies führt dazu, dass dem Leser sehr anschaulich vor Augen geführt wird, in welch hohem Maße das europäische Recht inzwischen auf das nationale Recht ausstrahlt und vor allem Regelungen des öffentlichen Wirtschaftslebens tangiert. Dadurch gelingt es ihm, die wichtige Verzahnung von Theorie und Praxis darzustellen und insofern dem Leser von Anfang bis Ende der Lektüre das Gefühl zu vermitteln, dass alle Ausführungen praktische Relevanz haben und nicht nur „professorale Steckenpferde“ sind.

Ob sich für den Einzelnen eine Anschaffung des Werkes lohnt, kann individuell anhand der folgenden Vier-Fragen-Probe beantwortet werden:

A. Welche besonderen Stärken zeigt das Werk auf?

Die besonderen Stärken des Werkes sind mannigfaltig. So ist es dem Lesefluss sehr zuträglich, dass eine für Studierende sehr angemessene Sprache ohne eine sonst für professorale Werke übliche Überfrachtung mit Fachbegriffen verwendet wird. Auch das didaktische Konzept und der Duktus des Textes sorgen dafür, dass gerne weitergelesen wird und das dargestellte Wissen schnell verarbeitet werden kann. Dadurch, dass er die jeweiligen Streitstände gewissermaßen als „neutraler Dritter“ darstellt und nicht nur seine eigene Meinung in den Vordergrund rückt, ist es dem Leser auch möglich, die Argumente beider Seiten nachzuvollziehen. Zuletzt tragen auch die vielen anschaulichen Grafiken, Lernzielkontrollen und Vertiefungshinweise am Ende eines jeden Abschnitts dazu bei, dass das Lesen Freude bereitet und somit sowohl für den Leser ohne Vorkenntnisse, den Leser mit Grundkenntnissen als auch den Leser mit fortgeschritten Kenntnissen angemessen aufbereitet ist und in jedem Fall viele neue Erkenntnisse bringt.

B. Gibt es auch Schwachstellen?

Wie nahezu jedes Lehrbuch hat auch das „Öffentliche Recht“ von Oberrath seine Schwachstellen. Da er versucht, auf gerade einmal 336 Seiten große Teile des Öffentlichen Rechts darzustellen, vermag er lediglich die Grundzüge abzudecken. Um die jeweiligen Materie ganz zu durchdringen, reicht das Buch daher keinesfalls, sondern es ist vielmehr vertiefende Literatur zur Hand zu nehmen. Dies gilt in besonderem Maße für die Examensvorbereitung, bei der das Kerncurriculum der jeweiligen Landesjustizprüfungsämter weitaus mehr vorsieht, als Oberrath mit seinem Werk abdecken kann.

C. Für welche Zielgruppe ist das Werk geeignet?

Je nach Einsatzgebiet ist das Werk für alle Semester geeignet, wenngleich ein zusammenfassendes Werk aller Gebiete innerhalb der Öffentlichen Rechts im ersten Semester zu Herausforderungen führen könnte. Dort empfiehlt es sich eher, ein Werk zu wählen, welches ausschließlich den Stoff der aktuellen Semestervorlesung behandelt.

D. Wofür kann ich das Werk einsetzen?

In den ersten Studiensemestern kann das Werk etwa dazu genutzt werden, sich schon vor Beginn der neuen Vorlesungszeit in ein Gebiet einzulesen, um schon mit den ersten „Basics“ an den neuen Vorlesungsstoff herangehen zu können.

Für höhere Semester eignet sich das Buch sehr gut zum stetigen Wiederholen der Inhalte, die im Laufe des Studiums andernfalls sehr schnell aus dem Gedächtnis entweichen können. So bietet es sich auch zu Beginn des Repetitoriums an, die schon einige Semester zurückliegenden Inhalte mithilfe der leicht einprägsamen Sätze von Oberrath wieder fruchtbar zu machen.

Auch Schwerpunktstudierende im Verwaltungsrecht werden auf ihre Kosten kommen, da gerade das Wirtschaftsverwaltungsrecht hervorragend aufbereitet ist und sehr verständlich vermittelt wird.

Nach der persönlichen Beantwortung der vorstehenden Vier-Fragen-Probe tritt für den Rezensenten summa summarum folgendes Ergebnis zutage: Oberraths „Öffentliches Recht“ ist ein attraktives Lehrbuch, welches seinen mit 24,90 € durchschnittlich hohen Kaufpreis allemal rechtfertigt, sodass zum Erwerb des Buches geraten wird.

Rezension zu „Allgemeines Verwaltungsrecht“ von Prof. Dr. Steffen Detterbeck, 2015 (13. Auflage)

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C.H. Beck, 25,90 € (ISBN 978-3-406-67564-5)

Tilman Imm

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Der Allgemeine Teil des Verwaltungsrechts erfreut sich wohl weder bei Studienanfängern noch bei fortgeschrittenen Studierenden der höchsten Beliebtheit. De facto handelt es sich aber um eine Materie von besonderer Relevanz. Grundkenntnisse im Allgemeinen Verwaltungsrecht sind unerlässlich, um sich in die Teilgebiete des Besonderen Verwaltungsrechts, etwa das Polizeirecht oder das Kommunalrecht, einarbeiten zu können. Außerdem hat mit hoher Wahrscheinlichkeit zumindest eine der beiden Aufsichtsarbeiten im Öffentlichen Recht im Rahmen der Ersten Juristischen Prüfung einen verwaltungsrechtlichen Schwerpunkt. Grund genug also, dieses Rechtsgebiet nicht stiefmütterlich zu behandeln und sich bereits ab den Anfangssemestern hiermit auseinanderzusetzen.

Das Buch „Allgemeines Verwaltungsrecht“ von Steffen Detterbeck hat sich hierfür nicht umsonst zu einem der Standardwerke unter Studierenden gemausert. Es gehört der Reihe „Lernbücher Jura“ an – will also nicht Lehrbuch, sondern Lernbuch sein. Dahinter steht der Gedanke, nicht nur abstraktes Wissen zu vermitteln, sondern auch eine Anleitung zur eigenständigen und für Ausbildungszwecke entscheidenden Falllösung zu geben. Dabei ist das Buch vor allem an Studierende adressiert, die sich zum ersten Mal mit dem Allgemeinen Verwaltungsrecht beschäftigen. Allerdings ist es kein Fallbuch und es ist gerade Anfängern zu empfehlen, die Lektüre des Detterbecks mit Fällen aus anderen Quellen zu kombinieren. 1

Dieser Vermarktung wird das Buch zum einen in formaler Weise gerecht, indem es in erfreulicher Weise auf verklausulierte Sätze und den inflationären Gebrauch von Fachwörtern verzichtet. Zusätzlich zu der leicht verständlichen Sprache weist es ein ansprechendes Layout auf. So werden etwa Definitionen, Merksätze und Klausurhinweise an vielen Stellen grau hinterlegt hervorgehoben. Das gewählte Format fördert den Lesefluss und eine Vielzahl von Übersichten und Schemata erleichtern ein erstes Grundverständnis oder eine Wiederholung.

Zum anderen beschränkt sich das Buch inhaltlich auf das Wesentliche. Allerdings bedeutet dies nicht, dass es fortgeschrittenen Studierenden oder Examenskandidaten keinen Mehrwert bieten könnte. So umfasst es insgesamt knapp 700 Seiten und thematisiert dabei in sieben Kapiteln nicht nur das Verwaltungsrecht, sondern auch die Grundlagen des Staatshaftungs- und des Verwaltungsprozessrechts. Außerdem wird das Recht der öffentlichen Sachen in einem extra Kapitel thematisiert, was man in vergleichbaren Werken durchaus des Öfteren vermisst. Inhaltlich werden Schwerpunkte bei besonders prüfungsrelevanten Fragen gesetzt, sodass man in keinem Moment das Gefühl hat, Lernzeit falsch zu investieren. Positiv ist schließlich auch der eher sparsame Umgang mit Verweisen hervorzuheben: Zu wichtigen und aktuelleren Thematiken und Problemstellungen liefert das Buch ausreichend Vertiefungshinweise, hält sich aber ansonsten in angemessener Weise zurück.

Es sei jedoch auch erwähnt, dass das Buch an einigen Stellen zwar den Anforderungen der Anfangssemester entspricht, sich aber dem Umfang geschuldet auf das Nötigste beschränkt. Spätestens in der Examensvorbereitung fällt vor allem das verwaltungsprozessuale Kapitel zu oberflächlich aus und es ist anzuraten, zumindest unterstützend ein Werk zum Verwaltungsprozessrecht heranzuziehen.

Insgesamt lässt sich sagen, dass es Steffen Detterbeck mit seinem Buch zum Allgemeinen Verwaltungsrecht gelungen ist, einen Einstieg in das Verwaltungsrecht zu erleichtern und zugleich eine Möglichkeit zu bieten, bereits Erlerntes auf diesem Gebiet zu wiederholen und zu vertiefen. Für Anfänger ist das Buch uneingeschränkt empfehlenswert. Fortgeschrittene sollten dagegen auch einen Blick über den Tellerrand werfen und ein ausführlicheres Werk hinzuziehen, um kurz abgehandelte Inhalte und Problematiken zu vertiefen.


Fußnoten:

  1. Siehe etwa die hilfreiche Zeitschriftenauswertung der Universität Münster zu allen Rechtsgebieten und Schwierigkeitsgraden – http://www.unirep-online.de

Ein Weiterbildungsangebot für den etwas anderen Juristen

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Erfahrungsbericht über die Zusatzbildung „Journalismus und Recht

Manuel Leidinger

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Wer die Stichworte „Jura und Journalismus“ bei google sucht, landet nach nur wenigen „clicks“ bei der Zusatzausbildung „Journalismus und Recht“, die jährlich im Frühjahr von dem Institut für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht (ITM) von Prof. Dr. Thomas Hoeren an der Uni Münster angeboten wird. Während des einwöchigen Seminars haben insgesamt 15 Teilnehmer die Möglichkeit, verschiedenste Karrierewege in den Journalismus kennenzulernen, die das Jurastudium bietet. Eingeladen sind hochkarätige Referenten, darunter Redakteure bei Tageszeitungen, Redakteure im Online-Journalismus, Pressesprecher sowie Redakteure juristischer Fachzeitschriften.

Die Zusatzausbildung richtet sich an den etwas anderen Juristen in der Ausbildung, der sich nicht nur für eine klassische Anwalts- oder Richterkarriere interessiert.

So fand sich auch in diesem Jahr in der Woche vom 16. bis 20. März 2015 ein bunt gemischter Teilnehmerkreis zusammen, angereist aus allen erdenklichen Ecken Deutschlands – vom Studenten im dritten Semester bis zum promovierten Referendar.

Den Auftakt machte zu Beginn der Woche Merle Hilbk, ehemalige freie Mitarbeiterin der Zeit und Autorin mit dem Spezialgebiet, Russland und die Ukraine.

Von Frau Hilbk gab es zunächst brauchbare Ratschläge zu möglichen Wegen in den Journalismus: über die Journalistenschule, das Volontariat, Praktika oder freie Mitarbeit bis hin zum Verfassen eigener Blogs oder Corporate Publishing.

Was muss ein Journalist mitbringen? Auf diese Frage antwortete die Journalistin und Autorin vor allem mit Wissbegierigkeit. Man müsse ein breit angelegtes Interesse an unterschiedlichsten Themengebieten haben und bereit sein, sich in diese bei Recherchen zu vertiefen.

Prof. Dr. Joachim Jahn, Redakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, ergänzte bei seinem anschließenden Vortrag: Wenn man als Jurist gerne schreibe und ein breit gefächertes Interesse an aktuellen Themen habe, lohne es sich, dieses Berufsziel zu verfolgen. Er rundete den Montagabend mit praktischen Tipps zum journalistischen Schreiben ab. Jeder Teilnehmer musste außerdem eine kurze und präzise Pressemitteilung zu dem Emmely-Urteil des Bundesarbeitsgerichts verfassen.

Praktische Tipps zum Schreiben gab es auch am Dienstag von Karin Völker, Redakteurin der Westfälischen Nachrichten. Wie schon Frau Hilbk und Herr Jahn griff sie die 6Ws (Wer?, Was?, Wann? Wo? Wie? Warum?) auf, die in keinem journalistischen Text fehlen dürfen. Der Journalist muss das Haar in der Suppe, also eine packende Einzelheit zu seinem Artikelthema, finden und daraus eine spannende Story machen, war das Fazit der Einheit.

Gleich am darauf folgenden Tag ging es schon morgens für die Workshop-Teilnehmer an das Landgericht und Amtsgericht Münster, um über die laufenden Gerichtsverhandlungen eigene Gerichtsreportagen zu verfassen. Während die einen das Haar in der Suppe bei einem medienwirksamenStrafprozess über einen stadtbekannten Kriminellen suchten, interessierten sich andere für kleinere Zivil- und Strafprozesse. Den Zeitdruck, mit welchem ein Zeitungsredakteur tagtäglich fertig werden muss, bekamen wohl alle zu spüren. Bis Punkt 14 Uhr mussten die Reportagen per E-Mail an Frau Völker geschickt werden, damit diese sie in einer Nachmittagseinheit in offener Runde besprechen konnte. Der ein oder andere ließ daher das Mittagessen in der Mensa auf dem Leonardo-Campus ausfallen und begnügte sich mit Kaffee und Keksen, womit das Lehrstuhlteam von Herrn Hoeren über die Woche hinweg mehr als reichlich versorgte. Der stressige Alltag eines Journalisten eben!

Eine zentrale Erkenntnis bei der anschließenden Besprechung der Reportagen war wohl, dass man vermeintlich dröge Gerichtsverhandlungen auch in spannenden anschaulichen Reportagen verarbeiten kann. Bei ihrem Feedback erinnerte Frau Völker daran, einen unter Juristen gängigen bürokratischen Sprachstil zu vermeiden oder dass subjektive Wertungen nicht in eine Reportage gehörten.

Von den Unterschieden zwischen der Arbeit eines Journalisten bei einer Tageszeitung und einem Redakteur bei einer juristischen Fachzeitschrift konnten sich die Teilnehmer am Donnerstag ein Bild machen. Worauf habe ich bei der Gründung einer neuen Fachzeitschrift zu achten? Welche formale und inhaltliche Gestaltung empfiehlt sich? Wie schreibe ich einen mitreißenden Abstract, der in einen juristischen Fachartikel einleitet? Brauchbare Ratschläge und Berichte gab es von Anke Zimmer-Helflich und Ruth Schrödl, Chefredakteurin und Redakteurin der Zeitschriften Multimedia und Recht sowie Zeitschrift für Datenschutz beim C.H. Beck-Verlag, die auch in den Kaffeepausen im persönlichen Gespräch gerne von ihren Berufen berichteten.

Spannend an den Vorträgen von Prof. Dr. Noogie Kaufmann, freier Journalist bei heise-online, und Friedrich Kurz, ehemaliger Redakteur bei Frontal 21, welche am Freitag den Abschluss machten, waren vor allem ihre abwechslungsreichen Lebensläufe. Beide waren vor allem durch Umwege und unerwartete Wendungen im Leben zum Journalistenberuf gelangt.

Zusammen mit den vorausgehenden Programmpunkten ließ dies hauptsächlich ein Fazit zu: Eine Karriere als Jurist in den Medien lässt sich schwer planen. Mit genügend Spaß und Leidenschaft für das Schreiben und redaktionelle Arbeiten lohne es sich aber, nach Berufswegen in den Journalismus Ausschau zu halten.

Zum Schluss wurden bei herzlichen Verabschiedungen unter den Teilnehmern Kontaktdaten ausgetauscht. Vielleicht wird man sich als der etwas andere Jurist in der Medienwelt bald wiedersehen.

Die Zusatzausbildung Journalismus und Recht wird auch im kommenden Jahr vom vom 4. bis 8. April 2016 stattfinden. Nähere Informationen zur Bewerbung sind hier zu finden.

Erfahrungsbericht über einen einjährigen Studienaufenthalt an der „University of Glasgow“ in Schottland und die Unterschiede im Jurastudium

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Sonja Bühler

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 A. Einleitung

Ein Auslandsstudium bietet eine gute Möglichkeit, wertvolle neue Lebenserfahrungen zu sammeln und sich so in persönlicher Hinsicht weiterzuentwickeln. Darüber hinaus bietet es fachlich die Gelegenheit, eine andere Rechtsordnung kennen zu lernen und insbesondere das deutsche Rechtssystem aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Der Unterschied ist besonders groß, wenn das Auslandsstudium in einem Land eines anderen Rechtskreises, wie etwa dem des Common-law verbracht wird. In diesem Beitrag möchte ich meine Erfahrungen, die ich in meinem Auslandsjahr in Glasgow gesammelt habe, wiedergeben. Dies soll sowohl in Bezug auf das Leben in Glasgow als auch auf die Unterschiede im Studium geschehen. Zum besseren Verständnis der Unterschiede werde ich dazu kurz auf das Rechtssystem in Schottland eingehen. Diesbezüglich erhebt dieser Artikel nicht den Anspruch der Vollständigkeit. Vielmehr umreißt er das Rechtssystem in Schottland lediglich um dann genauer auf solche Aspekte einzugehen, die im Hinblick auf das Studium zu Unterschieden führen.

B. Leben in Glasgow

Nach der Freude über den Studienplatz an der University of Glasgow, hatte ich sofort gegen einige Klischees anzukämpfen. Diese bezogen sich hauptsächlich auf das Wetter (Regen), den Alkohol (Whiskey) und die Haarfarbe (Ginger). Hatte ich es jedoch mit Juristen zu tun kam unweigerlich die Frage: „Die haben doch keine Gesetzestexte sondern das Common-law, oder?“. Was es damit genau auf sich hatte, sollte ich in den folgenden zehn Monaten genauer erfahren.

Glasgow ist mit ca. 500 000 Einwohnern die größte Stadt Schottlands. Die ehemalige Industriestadt hat sich in den vergangenen Jahren zu einer pulsierenden Metropole mit großem kulturellem Angebot und einer sehr lebhaften Nachtszene entwickelt. Neben dem modernen Großstadtleben findet man aber auch das traditionelle schottische Leben mit zahlreichen alten Pubs, Dudelsackmusik, Schottenröcken und traditionellem schottischen Essen, wie etwa Haggis, einem Gericht aus Schafsinnerein. Dass Schottland ein besonderes Land in Großbritannien ist, merkt man, sobald man die ersten Worte mit einem Schotten wechselt und sich fragt, ob man tatsächlich in einem englischsprachigen Land gelandet ist. Insbesondere in Glasgow wird ein sehr starker Dialekt gesprochen, das sogenannte Scots, das teilweise sogar als eigene Sprache anerkannt ist. Gerade die Tatsache, dass die Schotten sehr traditionsbewusst sind, sorgt aber für einen unvergesslichen Auslandsaufenthalt.

C. Aufbau des Studiums in Schottland

Dazu trägt auch das Studium an der wunderschönen University of Glasgow bei. Die im Jahre 1451 gegründete Universität hat einen hervorragenden Ruf und gehört zu den besten 1% weltweit 1. Das schlossähnliche Gebäude hat zudem große Ähnlichkeiten mit Hogwarts. In so einem altehrwürdigen Gebäude zu lernen und zu studieren, und in den selben Sälen Klausuren zu schreiben wie unter anderem Adam Smith einst, ist ein ganz besonderes Erlebnis.

Das Studium in Glasgow unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht zu dem in Freiburg. Das beginnt schon bei dem Aufbau des Jurastudiums. Die Jurastudierenden dort absolvieren einen Bachelor of Law (LLB) entweder in drei Jahren (ordinary) oder alternativ in vier Jahren (honours). Will man als Anwalt arbeiten, schließt sich an das Studium ein einjähriges „Diploma in Professional Legal Practice“ an, das etwa mit dem Referendariat in Deutschland vergleichbar ist.

Als Erasmus-Student besucht man hauptsächlich Vorlesungen aus den „Ordinary“-Kursen. Neben den klassischen Vorlesungen mit mehreren hundert Zuhörern, werden für Studierende im Dritten Jahr verstärkt Seminare angeboten. An diesen nehmen in der Regel nicht mehr als 40 Studierende teil. Aufgrund der Größe, aber auch aufgrund des Ablaufes erinnern diese eher an Schulunterricht. Die Seminare erfordern viel Vorbereitung und aktive Mitarbeit in Form von Referaten, Gruppen-Essays oder Unterrichtsvorbereitung. Sie bieten Anlass zu regen Diskussionen.

Am Ende des Semesters wird in jedem Kurs eine Semesterabschlussklausur geschrieben, die zusammen mit anderen bereits erbrachten Leistungen wie etwa Referaten und Essays die Endnote ergibt. Das Thema der Klausuren wird zumeist eigegrenzt und die zu schreibenden Essays sind selten länger als zehn Seiten. Dadurch kann man sich gezielt auf Klausuren vorbereiten. Auch die Benotung unterscheidet sich deutlich. Statt einer Punkteskala von 1 bis 18 reicht diese in Schottland von A (beste Note) bis E (durchgefallen). Die Professoren sind dabei nicht so sparsam mit guten Noten wie in Deutschland, sodass durchaus auch As und Bs häufig vergeben werden.

Ein weiterer Unterschied im Studium ist der persönliche Kontakt mit den Professoren. Grundsätzlich ist es immer möglich, einem Professor direkt eine Mail zu schreiben oder die Sprechstunde zu besuchen. Viele Professoren werden einfach mit dem Vornamen angeredet und gehen mit ihren Seminaren auch mal abends in den Pub. Dadurch ist der Studienalltag weniger anonym als dies in Deutschland der Fall ist.

D. Unterschiede der Rechtssysteme

In Deutschland haben wir das kontinental-europäische Rechtssystem, auch römisch-germanisches Recht genannt, das sich aus dem überlieferten und rezipierten Römischen Recht entwickelte. In England fand dagegen eine von Kontinentaleuropa unabhängige Entwicklung des Rechtssystems statt wobei sich das Common-Law entwickelte. Schottland hat jedoch nochmal ein etwas anderes Rechtssystem, das sich aus Gewohnheitsrecht, römischem Recht und kanonischem Recht sowie dem Einfluss französisch ausgebildeter Juristen entwickelte. Die Unabhängigkeit Schottlands von England trug einen entscheidenden Teil dazu bei, dass das Recht Englands, also das Common-Law, in Schottland keine Anwendung fand. Erst ab der Mitte des 18. Jahrhunderts im Zuge der Industriellen Revolution hat sich das Schottische dem Englischen Recht angenähert und ist daher heute ein Mittelweg zwischen dem Common-Law und dem kontinentaleuropäischen Civil-Law. Das „Scots Law“ unterscheidet sich daher auch heute noch in einigen Aspekten vom Englischen Recht. Ein eigenes schottisches Recht zu haben ist für die Schotten ein wichtiger Teil ihrer Identität und Eigenständigkeit.

E. Unterschiede im Studium

Die größten Unterschiede zwischen dem Studium in Deutschland und Schottland entspringen jedoch den Einflüssen des Common-Law. Das Common-Law hat den Ruf, pragmatischer und praxisorientierter zu sein, als das kontinentaleuropäische Recht. Dies ist bedingt durch die Rechtsentwicklung anhand von Präjudizien und richterlicher Rechtsfortbildung. Das bedeutet, dass sich das Common-Law auf richterliche Urteile stützt, die bereits entschieden worden sind und denen ein ähnlicher Sachverhalt zugrunde lag.

Dies hat auch Auswirkungen im Jurastudium. Anders als in Deutschland bestehen die Klausuren nicht aus dem Erstellen eines Gutachtens. Lediglich in seltenen Fällen werden kurze „case-questions“ gestellt, die die Studierenden in Schottland nicht im Gutachtenstil beantworten müssen. Häufiger sind „essay-questions“. Essays erfordern das Diskutieren, Erörtern und letztlich auch Lösen einer Rechtsfrage. Anknüpfungspunkt kann zum Beispiel ein Zitat sein, zu dem der Bearbeiter dann differenziert Stellung bezieht. Häufig wird dabei nach „Legal Advice“ gefragt, das heißt man soll eine Partei bestmöglich beraten. Dabei kommt man mit logischem Denken und einem klaren Verstand schon recht weit. Auch sind die Essays in ihrer Formulierung deutlich freier als Gutachten. Das heißt bereits im Studium zeigt sich, dass das schottische Recht praxisorientierter ist als das Deutsche.

Untermauert werden solche Essays nicht durch das Hinzuziehen von Paragraphen, sondern zumeist durch „Cases“, also richterlich entschiedene Fälle, sowie die Anwendung von in Urteilen entwickelten Maßstäben.

Für den Jurastudierenden, der aus dem Civil-Law die Klarheit und Strukturiertheit der Gesetze gewohnt ist, ist dies zunächst einmal ungewohnt.

Als Beispiel möchte ich einen in der Entscheidung Associated Provincial Picture Houses Ltd v Wednesbury Corp entwickelten Test heranziehen, der sowohl in England und Wales als auch in Schottland verwendet wird, um die fehlerfreie Anwendung von Ermessensentscheidungen durch die Verwaltung zu gewähren. Gemeint ist die „Wednesbury-Unreasonableness“. Eine Ermessensentscheidung darf danach nicht vollkommen unnachvollziehbar sein. In etwa ist der Test mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu vergleichen.

„A reasoning or decision is Wednesbury unreasonable (or irrational) if it is so unreasonable that no reasonable person acting reasonably could have made it“.

Dieser Test mag erstmal wenig verständlich wirken, insbesondere da er keine klaren Vorgaben macht, wann ein Ermessensfehler vorliegt. Vielmehr stellt er ab, ob eine Entscheidung so unvernünftig ist, dass keine vernünftig handelnde Person sie hätte treffen können. Dieser Test ist ein sehr zentraler und Kern einer jeden Verwaltungsrechtsvorlesung. An die Anwendung solcher Tests muss man sich erst gewöhnen.

Das führt dazu, das Studium sehr an Fällen orientiert ist und dass man unweigerlich viel auswendig lernen muss und vor allem die Kernaussagen vieler Urteile kennen muss. Einen Großteil der Studienzeit verbringt man daher mit lesen von Urteilen, die häufig sehr lange sind. 30 Seiten sind da keine Seltenheit. Die Unterstützung durch einen Blick in eine Gesetzessammlung ist selten möglich. Wenn es Gesetze gibt, dann sind diese nicht abschließend sondern eher fragmentarisch. Gerade wenn man an die Systematik der deutschen Gesetzestexte gewöhnt ist, fällt es schwer, sich ohne ein solches systematisches Gerüst zu orientieren und den Durchblick zu behalten. Jedoch ist dies auch einfach Gewöhnungssache und im zweiten Semester fiel mir persönlich das Studium deutlich leichter als noch im ersten Auslandssemester.

F. Fazit

Nach meiner Erfahrung weiß man nach einem Auslandsstudium das Studium in Deutschland ganz anders zu schätzen und ist deutlich motivierter. Zudem ist ein ausgeprägter Wortschatz in der Englischen Rechtsterminologie hinsichtlich der internationalen Ausrichtung von potentiellen Arbeitgebern von großem Vorteil. Der Blick auf das deutsche Studien- und Rechtssystem von außerhalb führt dazu, nicht alles als gegeben und zwingend zu betrachten. Aber auch unabhängig vom Studium gibt ein Auslandsjahr viele neue Einblicke, führt zu neuen Kontakten weltweit, lässt einen ein zunächst fremdes Land als vorübergehende Heimat erleben und ist eine schöne Unterbrechung im deutschen Studienalltag. Im Nachhinein betrachtet empfehle ich jedem, die Chance eines Auslandsstudium zu nutzen und sich auf einen Tapetenwechsel einzulassen.


Fußnoten:

  1. http://www.topuniversities.com/university-rankings/world-university-rankings /2012?page=2#sorting=rank+region=+country=+faculty=+stars=false+search=glasgo ; Rang 54.

Das ICSID-Übereinkommen – Rechtliche Auswirkungen der Kündigung

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Julia Kurth*

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A. Einführung

Im vergangenen Jahrzehnt haben vereinzelte Länder den internationalen Investitionsschutz zunehmend kritisiert. 1 Der Fokus lag hierbei auf dem „Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten“ (International Centre for Settlement of Investment Disputes, ICSID), das als Streitbeilegungsinstitution in Investitionsschutzabkommen vorgesehen war. 2 ICSID-Schiedsgerichten wurde der Vorwurf gemacht, stets eine Haltung zu Gunsten der Investoren einzunehmen. 3

Das ICSID ist eine zwischenstaatliche Institution zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten, das basierend auf dem „Übereinkommen zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Staaten und Angehörigen anderer Staaten“ (ICSID-Übereinkommen) errichtet wurde. 4 Das ICSID-Übereinkommen wurde am 18. März 1965 verabschiedet und trat am 14. Oktober 1966 in Kraft. 5 Es gründet auf dem Gedanken, dass der Beitritt zur Konvention die Investitionsbereitschaft in den beigetretenen Staaten fördert und Investitionen einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung der Länder leisten. 6

Schließlich ging am 2. Mai 2007 bei der Weltbank eine schriftliche Erklärung Boliviens ein, mit der Bolivien als erster Mitgliedstaat das ICSID-Übereinkommen kündigte. 7 Nach Maßgabe des Art. 71 des ICSID-Übereinkommens 8 wurde die Kündigung Boliviens sechs Monate später am 3. November 2007 wirksam. 9

Problematisch erwies sich die Tatsache, dass Bolivien zu dem Zeitpunkt der Kündigung nach wie vor Vertragspartei rechtskräftiger bilateraler Investitionsschutzabkommen (Bilateral Investment Treaties, BITs) war, in denen das Land seine Zustimmung erteilt hatte, dass Investoren Investitionsstreitigkeiten dem ICSID unterbreiten können. 10 Auf der Grundlage eines solchen BIT hat E.T.I. Euro Telecom International N.V. 11 am 31. Oktober 2007 und Pan American Energy LLC 12 am 12. April 2010 jeweils ein ICSID-Schiedsverfahren gegen Bolivien eingeleitet, wenngleich Bolivien das ICSID-Übereinkommen am 02. Mai 2007 und mit Wirkung zum 3. November 2007 gekündigt hatte.

Dieser Fall wirft die Frage auf, ob ein Land seine (in einem wirksamen BIT) erteilte Zustimmung zur ICSID-Schiedsgerichtsbarkeit im Wege der Kündigung des ICSID-Übereinkommens einseitig widerrufen kann.

Anhand des folgenden Beitrags soll diese Problematik einer Klärung zugeführt werden. Von entscheidendem Gehalt erweist sich hierbei die Feststellung des regulatorischen Gehalts von Art. 72, der die Rechte und Pflichten, die sich aus einer vor Kündigungseingang erteilten Zustimmung ergeben, von einer Kündigung des ICSID-Übereinkommens unberührt lässt. Art. 72 offeriert einen Auslegungsspielraum, der sich letztlich auf die Frage auswirkt, ob und unter welchen Voraussetzungen Investoren trotz Kündigung des Übereinkommens ein ICSID-Schiedsverfahren gegen das Gastland einleiten können.

 

B. Rahmenbedingungen

Zunächst bedarf es einer Darstellung der relevanten Vorschriften sowie dessen, was „Zustimmung“ iSd Übereinkommens bedeutet. Diese Erläuterungen sollen einem besseren Verständnis der hier in Frage stehenden Problematik dienen.

I. Relevante Artikel des ICSID-Übereinkommens

Möchte ein Staat seine Zustimmung durch Kündigung des ICSID-Übereinkommens widerrufen, sind die Art. 25 Abs. 1, 71 und 72 unter gemeinsamer Betrachtung heranzuziehen.

1. Art. 25 Abs. 1

„Die Zuständigkeit des Zentrums erstreckt sich auf alle unmittelbar mit einer Investition zusammenhängenden Rechtsstreitigkeiten zwischen einem Vertragsstaat (oder einer von diesem dem Zentrum benannten Gebietskörperschaft oder staatlichen Stelle) einerseits und einem Angehörigen eines anderen Vertragsstaats andererseits, wenn die Parteien schriftlich eingewilligt haben, die Streitigkeiten dem Zentrum zu unterbreiten. Haben die Parteien ihre Zustimmung erteilt, so kann keine von ihnen sie einseitig zurücknehmen.“

(“[…] When the parties have given their consent, no party may withdraw its consent unilaterally.”)

(Art. 25 Abs. 1)

Art. 25 Abs. 1 regelt die Zuständigkeitsvoraussetzungen des ICSID-Schiedsgerichts. Voraussetzung ist, dass eine Rechtsstreitigkeit vorliegt, die unmittelbar mit einer Investition zusammenhängt (ratione materiae). Zudem muss es sich im Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung 13 bei einer Partei um einen Vertragsstaat und bei der anderen um einen Angehörigen eines Vertragsstaates handeln (ratione personae). Schließlich müssen die Verfahrensparteien schriftlich die Zuständigkeit des ICSID-Schiedsgerichts vereinbart haben.

Alleine durch die Ratifikation des ICSID-Übereinkommens sind die Mitgliedstaaten nicht automatisch bei jeder Investitionsstreitigkeit an die ICSID-Schiedsgerichtsbarkeit gebunden. 14 Die Zustimmung zum ICSID-Schiedsverfahren ist losgelöst von der Konvention und insoweit ergänzend. 15 Dies verdeutlicht die Präambel des ICSID-Übereinkommens:

“The Contracting States […] declaring that no Contracting State shall by the mere fact of its ratification, acceptance or approval of this Convention and without its consent be deemed to be under any obligation to submit any particular dispute to conciliation or arbitration […].”

Die Zustimmung der Parteien in das ICSID-Schiedsverfahren bildet damit den Grundstein für die Zuständigkeit. 16 Anerkannt ist, dass die Zustimmung in unterschiedlicher Form erfolgen kann. 17 Traditionell resultiert sie aus einer direkten Vereinbarung zwischen dem Gaststaat und dem Investor in Form einer Schiedsklausel in einem Investitionsvertrag für zukünftige Streitfälle oder eines compromis bei einem bereits entstandenen Streitfall. 18 Die Zustimmung der Verfahrensparteien erfolgt dann simultan, d.h. Gastland und Investor geben die Zustimmung zeitgleich in demselben Dokument. Daneben besteht die Möglichkeit, dass ein Vertragsstaat seine Zustimmung durch nationale Gesetze oder durch BITs bzw. andere multilaterale Abkommen erteilt. 19 Letzteres ist heutzutage der Regelfall. 20 So gilt beispielsweise nach Art. 11 Abs. 3 des BIT zwischen Deutschland und Bolivien vom 10. März 1988:

„Für den Fall, dass beide Vertragsparteien Mitglieder […des ICSID-Übereinkommens…] sind, werden Meinungsverschiedenheiten […] zwischen einer Vertragspartei und einem Investor gemäß den Regelungen dieses Übereinkommens […] dem […ICSID…] unterbreitet werden.“

Im Falle der staatlichen Zustimmung durch nationale Investitionsgesetze oder durch Investitionsschutzabkommen erklärt der Investor seine Zustimmung gesondert. Dies ist insofern gestattet, als dass die beiderseitige Zustimmung „weder in einem gemeinsamen Dokument, noch zu einem bestimmten Zeitpunkt“ 21 erteilt werden muss. 22 Die Zustimmung des Investors erfolgt dann meist indirekt durch die Einleitung eines ICSID-Schiedsverfahrens. 23 Im Fall El Paso v. Argentina führte das Tribunal zusammenfassend auf: “It is now established beyond doubt that a general reference to ICSID arbitration in a BIT can be considered as being the written consent of the State, required by Article 25 to give jurisdiction to the Centre, and that the filing of a request by the investor is considered to be the latter’s consent.24

Von besonderer Relevanz zeugt das in Art. 25 Abs. 1 verankerte Prinzip der Unwiderruflichkeit. Haben die Streitparteien ihre Zustimmung erteilt, so kann keine von ihnen sie einseitig widerrufen, Art. 25 Abs. 1 a.E. Bestätigung findet dieser Grundsatz in der Präambel der Konvention:

“[…] mutual consent by the parties to submit such disputes to conciliation or to arbitration through such facilities constitutes a binding agreement […].”

Das Prinzip der Unwiderruflichkeit knüpft an eine beiderseitig erteilte Zustimmung zur ICSID-Schiedsgerichtsbarkeit. Dementsprechend kann ein Gaststaat seine Zustimmung einseitig widerrufen, solange ein Investor die seine noch nicht erteilt hat. Broches 25 führte dazu aus: “It must, however, be remembered, that each party’s consent becomes irrevocable only after both parties have given it. Therefore […] the host State could withdraw its consent as long as the investor had not equally consented.26 Dieser Aspekt ist im Rahmen einer Kündigung des ICSID-Übereinkommens von erheblicher Bedeutung: Gewährt der Investor seine Zustimmung rechtzeitig, stellt er sicher, dass das Gastland im Falle einer Investitionsstreitigkeit an die ICSID-Schiedsgerichtsbarkeit gebunden ist. Die Möglichkeit eines ICSID-Schiedsverfahrens bleibt also von einer Kündigung des Übereinkommens unberührt.

2. Art. 71

„Jeder Vertragsstaat kann dieses Übereinkommen durch eine an dessen Verwahrstelle gerichtete Notifikation kündigen. Die Kündigung wird sechs Monate nach Eingang dieser Notifikation wirksam.“

(“Any Contracting State may denounce this Convention by written notice to the depositary of this Convention. The denunciation shall take effect six months after receipt of such notice.”)

(Art. 71 )

Art. 71 betrifft die Kündigung des ICSID-Übereinkommens. Neben dem Zeitpunkt des Wirksamwerdens, ordnet die Vorschrift die Maßnahme an, die ein Vertragsstaat vorzunehmen hat, will er aus der Konvention austreten. 27 Erforderlich ist eine schriftliche Notifikation an die Weltbank (vgl. Art. 73). Weitere Voraussetzungen gehen nicht hervor. Dementsprechend beschrieb Broches den Regelungsgehalt des Art. 71 dergestalt, dass das Recht, aus der Konvention auszutreten, bedingungslos sei und von einem Staat zu jeder Zeit ausgeübt werden könne. 28

3. Art. 72

„Eine Notifikation eines Vertragsstaates nach den Artikeln 70 und 71 berührt nicht die auf diesem Übereinkommen beruhenden Rechte und Pflichten des betreffenden Staates, einer von diesem abhängigen Gebietskörperschaft oder Stelle oder eines Angehörigen dieses Staates, die sich aus einer vor Eingang dieser Notifikation bei der Verwahrstelle erteilten Zustimmung zur Zuständigkeit des Zentrums ergeben.“

(“Notice by a Contracting State pursuant to Articles 70 or 71 shall not affect the rights or obligations under this Convention of that State or of any of its constituent subdivisions or agencies or of any national of that State arising out of consent to the jurisdiction of the Centre given by one of them before such notice was received by the depositary.”)

(Art. 72)

Art. 72 hat die Auswirkung einer Kündigung nach Art. 71 auf eine bestehende ICSID-Zustimmung zum Gegenstand. 29 Die Vorschrift soll Rechtssicherheit und den Schutz der Investoren gewährleisten. 30 Es soll vermieden werden, dass ein Staat seine Zustimmung, die er einem fremden Investor zugestanden hat, einseitig und willkürlich durch die Kündigung des Übereinkommens widerruft. 31 Insoweit ist Art. 72 Ausdruck der prinzipiellen Unwiderruflichkeit, Art. 25 Abs. 1 a.E.

Zugleich statuiert Art. 72 eine Ausnahme des Art. 25 Abs. 1: Wenngleich die Voraussetzung ratione personae mit dem Wirksamwerden der Kündigung nicht mehr erfüllt ist, gestattet Art. 72 dennoch das Aufsuchen eines ICSID-Schiedsgerichts im Falle einer Investitionsstreitigkeit.

Art. 72 fungiert schließlich als Erweiterung des Art. 71: Die Rechte und Pflichten, die sich aus der Zustimmung zur ICSID-Schiedsgerichtsbarkeit ergeben, bleiben über den Zeitpunkt des Wirksamwerdens hinaus unberührt. 32 Broches interpretierte dieses Zusammenspiel dahingehend, dass der kündigende Staat keine neuen Verpflichtungen eingehen könne, die existierenden Verpflichtungen aber in Kraft blieben (“[T]he denouncing State could not incur any new obligations but the existing obligations would remain in force“). 33

 

II. Die Zustimmung zur ICSID-Schiedsgerichtsbarkeit

Neben den relevanten Vorschriften des ICSID-Übereinkommens bedarf es einer systematischen Darstellung der ICSID-Zustimmung.

Wie aus Art. 25 Abs. 1 hervorgeht, basiert die Zuständigkeit des ICSID auf einer Vereinbarung („agreement“) zwischen dem Gastland und dem Investor. 34 In dieser willigen die Parteien schriftlich ein, Investitionsstreitigkeiten dem ICSID zu unterbreiten. Von essentiellem Gehalt ist insoweit das Element der Gegenseitigkeit („element of mutuality and reciprocity“). 35

Dies zugrunde gelegt, wird eine Analogie zum Vertragsrecht gezogen: 36 Die Zustimmung des Gastlandes wird grundsätzlich als „Angebot“ („offer“), die des Investors als „Annahme“ dieses Angebotes („acceptance of an offer“) bezeichnet. 37 Die unwiderrufliche Vereinbarung setzt insoweit einen reziproken Akt des Investors voraus, der in der schriftlichen Annahme des „Zustimmungsangebotes“ („offer of consent“) besteht. Die Schiedsvereinbarung der Parteien ist dann die „vollendete“ Zustimmung („perfected consent“). 38

Die „Executive Directors“ des ICSID-Übereinkommens haben dieses System wie folgt beschrieben:

“Nor does the Convention require that the consent of both parties be expressed in a single instrument. Thus, a host State might in its investment promotion legislation offer to submit disputes arising out of certain classes of investments to the jurisdiction of the Centre, and the investor might give his consent by accepting the offer in writing.” 39

 

C. Das Problem

Nachdem die Rahmenbedingungen erläutert wurden, kann nun auf das eigentliche Problem eingegangen werden.

I. Wortlaut des Art. 72

Wie bereits ausgeführt wurde, bestimmt Art. 72, dass die Rechte und Pflichten, die sich aus der Zustimmung zur ICSID-Schiedsgerichtsbarkeit ergeben, von einer Kündigung der Konvention gemäß Art. 71 unberührt bleiben. Wenn auch das Zusammenspiel von Art. 72 und Art. 71 auf den ersten Blick sehr klar scheint, erweist es sich bei genauerer Betrachtung problematisch.

Nach Maßgabe des Art. 42 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (WÜRV) kann die Kündigung einer Vertragspartei nur in Anwendung der Bestimmungen des Vertrages oder des WÜRV selbst erfolgen. 40 Gemäß Art. 71 des ICSID-Übereinkommens kann ein Staat die Konvention im Wege einer schriftlichen Erklärung an die Weltbank kündigen. Die Verwahrstelle teilt dann allen Vertragsstaaten die Kündigung mit. 41 Sechs Monate nach Kündigungseingang wird die Kündigung gemäß Art. 71 wirksam. Dem ist zu entnehmen, dass der kündigende Staat innerhalb der sechsmonatigen Periode stets Vertragsstaat der Konvention und damit Inhaber der auf der Konvention beruhenden Rechte und Pflichten bleibt. Mangels bestehender Auswirkungen müssten Klagen, die ein Investor vor dem Zeitpunkt des Wirksamwerdens beim ICSID einreicht, trotz Kündigung des Übereinkommens durch das Gastland in vollem Umfang von der ICSID-Schiedsgerichtsbarkeit profitieren können. Art. 71 scheint insoweit unproblematisch. Insbesondere der Zeitpunkt des Wirksamwerdens wird klar definiert.

Zieht man Art. 72 heran, wird der in Art. 71 statuierten Klarheit Abbruch getan. Der Wortlaut des Art. 72 liefert Grund zu der Annahme, dass die Schiedsvereinbarung vor Kündigungseingang zustande kommen muss. Dementsprechend könnte ein Investor seine ICSID-Zustimmung gerade nicht innerhalb der Sechsmonatsperiode des Art. 71 erteilen, wenngleich das Gastland innerhalb dieses Fortbestandszeitraumes Vertragsstaat des Übereinkommens bleibt.

Diese Kollision verdeutlicht, dass der Wortlaut des Art. 72 den Ausgangspunkt der Problematik bildet. Die Formulierung „consent…given by one of them“ kann sowohl dahingehend interpretiert werden, dass er sich auf eine Schiedsvereinbarung („perfected consent“, vgl. oben) bezieht, als auch dahingehend, dass die vor Kündigungseingang einseitig erteilte Zustimmung des Gastlandes gemeint ist. 42 Ginge man von letzterem aus, könnte die Schiedsvereinbarung auch nach Kündigungseingang herbeigeführt werden. Im erstgenannten Fall müsste der Investor seine Zustimmung vor Kündigungseingang erteilen. Im Vordergrund steht somit die Frage, zu welchem Zeitpunkt die Schiedsvereinbarung vorliegen muss, damit der Investor von Art. 72 profitiert.

Grundsätzlich ist man sich einig, dass ein Investor jederzeit nach Kündigungseingang ein ICSID-Schiedsverfahren gegen das Gastland einleiten kann, wenn er das Zustimmungsangebot des Gastlandes bereits vor Kündigungseingang angenommen und auf diesem Wege eine Schiedsvereinbarung herbeigeführt hat. 43 So, wenn ein Investitionsvertrag eine Zustimmungsklausel enthält oder ein Investor das in Gesetzen oder einem BIT erteilte Zustimmungsangebot des Gastlandes vor Kündigungseingang schriftlich annimmt. 44

Unklarheiten entstehen erst, wenn nur das Gastland seine ICSID-Zustimmung vor Kündigungseingang erklärt und der Investor die Schiedsvereinbarung innerhalb der Fortbestandsperiode gemäß Art. 71 oder gar nach Wirksamwerden der Kündigung herbeiführt. Betroffen sind folglich die Fälle staatlicher Zustimmungsangebote durch Gesetze oder BITs, die ein Investor meist durch die Einleitung eines ICSID-Schiedsverfahrens annimmt.

 

II. BITs

Am Fall Bolivien wurde bereits deutlich, dass BITs innerhalb der vorstehenden Problematik von besonderer Relevanz sind.

BITs sind völkerrechtliche Verträge, die zugunsten ausländischer Investoren geschlossen werden. 45 Sie sehen bestimmte Schutzpositionen für Investoren (u.a. das Recht auf gerechte und billige Behandlung) sowie Streitbeilegungsmechanismen bei Investitionsstreitigkeiten vor. 46

Ob das ICSID auch nach einer Kündigung des Übereinkommens zuständig ist, könnte durch ein BIT zwischen dem Gastland und dem Heimatland des Investors wesentlich beeinflusst werden.

Das ICSID-Übereinkommen und BITs sind grundsätzlich voneinander zu trennen. Die Verbindung beider Instrumentarien entsteht erst durch die in einem BIT erteilte Zustimmung zur ICSID-Schiedsgerichtsbarkeit. 47 In Abhängigkeit von der jeweiligen Schiedsklausel, verpflichten sich Staaten durch die Abgabe eines Zustimmungsangebotes, im Falle einer Investitionsstreitigkeit, ein ICSID-Schiedsverfahren durchzuführen. 48 Die Zustimmung des Staates wurde also durch Vertragsschluss erteilt. 49

Aus Art. 25 Abs. 1 a.E. folgt, dass das Gastland sein Zustimmungsangebot widerrufen kann, bevor der Investor dieses angenommen hat. Da BITs völkerrechtliche Verträge sind, erfolgt ein solcher Widerruf nur in Übereinstimmung mit dem WÜRV. Gemäß Art. 44 Abs. 1 WÜRV muss der betreffende Staat das gesamte BIT kündigen, will er seine darin erteilte Zustimmung widerrufen. Kündigt ein Vertragsstaat das ICSID-Übereinkommen, ohne zugleich das betreffende BIT zu kündigen, so konstituiert das BIT stets ein rechtsgültiges Zustimmungsangebot. 50 Der Austritt aus der ICSID-Konvention berührt schließlich nicht die Wirksamkeit von Streitbeilegungsklauseln in Investitionsschutzverträgen, 51 sodass die ICSID-Zustimmung für die Gültigkeitsdauer des BIT wirksam bleibt.

Üblicherweise beinhalten BITs sog. Nachwirkungsklauseln („survival clauses“), die hinsichtlich einer bereits getätigten Investition sicherstellen, dass die Bestimmungen eines BIT für weitere 5, 10, 15 oder sogar 20 Jahre nach Beendigung des BIT bestehen bleiben. 52 Ein Staat ist also für die vorgesehene Restlaufzeit an die Bestimmungen des BIT gebunden. 53 Lege man Art. 72 dahingehend aus, dass er die einseitig erteilte Zustimmung des Gastlandes meint, hätte dies zur Folge, dass ein Investor womöglich noch viele Jahre über die Kündigung des Übereinkommens hinaus eine Klage beim ICSID einreichen kann.

Ob ein Investor ein ICSID-Schiedsverfahren aufgrund einer rechtsgültigen Zustimmung in einem BIT trotz Kündigung gegen das Gastland einreichen kann, hängt maßgeblich von der Auslegung des Art. 72 ab.

 

D. Der regulatorische Gehalt des Art. 72

Bezüglich des regulatorischen Gehalts von Art. 72 werden drei unterschiedliche Ansichten vertreten. Diese sollen am Beispiel Boliviens verdeutlicht werden.

I. Meinung 1: Schiedsvereinbarung vor Kündigungseingang erforderlich

Der Ansicht Schreuers zufolge, bezieht sich Art. 72 auf die vollendete Zustimmung („perfected consent“). 54 Um von der in Art. 72 statuierten Fortgeltung profitieren zu können, müsse noch vor Eingang der Kündigungserklärung eine Schiedsvereinbarung vorliegen. 55

Diesem Verständnis zufolge könnten innerhalb der sechsmonatigen Frist und nach Wirksamkeit der Kündigung eingereichte Klagen nicht mehr der Zuständigkeit des ICSID-Schiedsgerichts unterfallen. 56 Diese Auffassung Verständnis von Art. 72 ist insoweit sehr eng gefasst und misst der sechsmonatigen Frist des Art. 71 nur wenig Bedeutung zu. 57

Schreuer stützt sich zum einen auf Art. 25 Abs. 1, der die staatliche Zustimmung nur dann unwiderruflich sein lässt, wenn der Investor durch Erklärung seiner Zustimmung eine Schiedsvereinbarung herbeigeführt hat. 58 Zum anderen genüge das bloß einseitig erteilte Zustimmungsangebot nicht den Anforderungen des Art. 72. 59 Die bloß offerierte Zustimmung des Gastlandes rufe schließlich nicht die auf dem Übereinkommen beruhenden Rechte und Pflichten hervor, die Art. 72 fordere. 60 Vielmehr handele es sich dann um Rechte oder Pflichten, die auf dem Gesetz oder dem betreffenden BIT beruhen. 61 Auch bestimme der Wortlaut des Art. 72 ausdrücklich den Eingang der Kündigungserklärung als maßgeblichen Zeitpunkt. 62

Im Fall der Kündigung Boliviens würde dieses Verständnis von Art. 72 dazu führen, dass Investoren ihre Zustimmung ab dem 2. Mai 2007 nicht mehr hätten erteilen können. Sowohl das von E.T.I. Euro Telecom International N.V. am 31. Oktober 2007, als auch das von Pan American Energy LLC am 12. April 2010 gegen Bolivien eingeleitete Verfahren würde nicht mehr der Zuständigkeit des ICSID unterfallen.

 

II. Meinung 2: Schiedsvereinbarung bis zur Wirksamkeit der Kündigung möglich

Eine weitere Auslegungsmöglichkeit besteht darin, dass die Herstellung einer Schiedsvereinbarung bis zu dem Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Kündigung möglich ist. 63 Ein Investor könnte das in einem BIT oder in Investitionsgesetzen erteilte Zustimmungsangebot des Gastlandes innerhalb der Sechsmonatsfrist des Art. 71 annehmen.

Begründet wird diese Ansicht damit, dass Art. 72 die Möglichkeit, Schiedsvereinbarungen innerhalb der Frist des Art. 71 herzustellen, gar nicht erst ausschließe oder verbiete. 64 Zwar beziehe sich Art. 72 ausdrücklich auf die Zustimmung vor Eingang der Kündigungserklärung, darin läge allerdings noch kein Verbot für den Investor, die Zustimmung des Gastlandes nach diesem Zeitpunkt anzunehmen. Art. 72 erfasse diese Situation schlichtweg nicht. Dem gegenüber regele Art. 71 ausdrücklich den Zeitraum nach Eingang der Kündigungserklärung und lege diesbezüglich fest, dass die Kündigung erst nach sechs Monaten wirksam werde. Insofern hätten Art. 71 und 72 einen unterschiedlichen Regelungsgehalt, sodass kein Anlass für eine konträre Interpretation bestünde.

Um ein ICSID-Schiedsverfahren gegen Bolivien führen zu können, hätte ein Investor die Schiedsvereinbarung vor dem 3. November 2007 herbeiführen müssen. E.T.I. Euro Telecom International N.V. hätte ihre Zustimmung deshalb rechtzeitig durch Verfahrenseinleitung am 31. Oktober 2007 erteilt.

 

III. Meinung 3: Schiedsvereinbarung auch nach Wirksamkeit möglich

Nach einer sehr weiten Auffassung genügt, dass der kündigende Staat seine Zustimmung vor Kündigungseingang erklärt hat. 65 Zustimmung iSd Art. 72 ist demzufolge als „einseitige Zustimmung“ („unilateral consent“) und nicht als Schiedsvereinbarung („arbitration agreement“) zu verstehen. 66 Ein Investor könnte folglich auch nach Wirksamwerden der Kündigung ein ICSID-Schiedsverfahren gegen das Gastland einleiten und auf diesem Wege die Schiedsvereinbarung herbeiführen.

Vertretern dieser Ansicht zufolge, konstituiere die in einem BIT oder in Gesetzen erteilte Zustimmung des Gastlandes eine „unabhängige internationale Pflicht“, mit der Folge, dass sich eine Kündigung des ICSID-Übereinkommens für die Gültigkeitsdauer der Gesetze oder des Investitionsschutzabkommens nicht auf die Investoren auswirke. 67 Der Gaststaat sei insoweit an seine einseitig erklärte Zustimmung gebunden. 68

Auch entspreche dieses Verständnis dem Wortlaut des Art. 72. 69 Die Vorschrift beziehe sich auf „consent…given by one of them“, während Art. 25 vergleichsweise die Zustimmung der “parties to the dispute“ verlange. So verdeutlicht Gaillard, dass die nicht vorhandene Beschränkung bereits die korrekte Bedeutung des Art. 72 impliziere: “had the drafters of the ICSID Convention intended to refer to a state´s “agreement to consent” rather than to its “consent,” they would have so provided”. 70

Bezüglich der Kündigung Boliviens hätten E.T.I. Euro Telecom International N.V. und Pan American Energy LLC beide rechtzeitig die Schiedsvereinbarung durch die jeweilige Einleitung des Schiedsverfahrens herbeigeführt.

 

IV. Stellungnahme

In der Geschichte der ICSID-Schiedsverfahren gibt es keinen Präzedenzfall, der in dieser Sache Rechtsklarheit verschaffen könnte. Es fragt sich, ob die Entscheidung des Generalsekretärs, sowohl den Antrag von E.T.I. Euro Telecom International N.V., als auch den von Pan American Energy LLC zu registrieren, bereits indiziert, dass die Schiedsvereinbarung der Parteien nicht vor Eingang der Kündigungserklärung vorliegen muss. Art. 36 Abs. 3 besagt jedoch, dass der Generalsekretär den Antrag eines Investors auf Einleitung eines Schiedsverfahrens (Art. 36 Abs. 1) registriert, sofern er nicht auf Grund der darin enthaltenen Angaben feststellt, dass die Streitigkeit offensichtlich nicht in die Zuständigkeit des ICSID fällt. Art. 36 Abs. 3 stellt somit klar, dass die Registrierung keine abschließende Entscheidung des Generalsekretärs bezüglich der Zuständigkeit des ICSID darstellt. 71 Vielmehr hat der Generalsekretär die Befugnis, frühzeitig solche Anträge zu selektieren, die offensichtlich nicht der Zuständigkeit des ICSID unterfallen. Die Registrierung durch den Generalsekretär stellt folglich kein ausreichendes Indiz dar.

Es war zu hoffen, dass die ICSID-Rechtsprechung im Fall E.T.I. Euro Telecom International N.V. v. Plurinational State of Bolivia oder Pan American Energy LLC v. Plurinational State of Bolivia Rechtsklarheit verschaffen würde. Jedoch wurde der Fall E.T.I. Euro Telecom International N.V. v. Plurinational State of Bolivia am 4. Oktober 2009 auf Grundlage der ICSID Arbitration Rule 44 und der Fall Pan American Energy LLC v. Plurinational State of Bolivia nunmehr am 24. Februar 2015 gemäß der ICSID Arbitration Rule 43 Abs. 1 eingestellt.

Grundsätzlich ist festzuhalten, dass in Übereinstimmung mit der ICSID-Rechtsprechung, die Interpretation auf einen Ausgleich der Parteien unter Beachtung des Grundprinzips von Treu und Glauben gerichtet sein soll. 72

Es gibt zunächst gute Gründe, die für eine restriktive Interpretation des Art. 72 und insoweit für das Erfordernis einer Schiedsvereinbarung vor Kündigungseingang sprechen. Insbesondere liefert eine kontextabhängige Interpretation Grund zu der Annahme, dass dem Gastland erst durch die Annahme des Zustimmungsangebotes durch den Investor auf dem Übereinkommen beruhende Pflichten entstehen und Art. 72 somit nur bei dem Vorliegen einer Schiedsvereinbarung einschlägig wäre. 73 Dieses Verständnis jedenfalls würde mit Art. 25 Abs. 1 konform gehen.

Dennoch kann diese auf den ersten Blick plausibel erscheinende Argumentation so nicht hingenommen werden. Zunächst lässt sich rechtlich nicht begründen, dass ein Investor innerhalb der sechsmonatigen Fortbestandsperiode des Art. 71 kein Schiedsverfahren gegen das Gastland einleiten kann. 74 Schließlich besagt Art. 71 gerade, dass die Kündigung erst nach sechs Monaten wirksam wird. Der kündigende Staat ist innerhalb dieses Zeitraumes stets Vertragsstaat der Konvention und erfüllt die Kriterien des Art. 25 Abs. 1.

Unter Berücksichtigung von Treu und Glauben sollte ein Investor darüber hinaus auch nach Wirksamwerden der Kündigung ein ICSID-Schiedsverfahren gegen das Gastland einleiten können. Ganz iS drittgenannter Ansicht und nach hier vertretenem Verständnis meint Art. 72 somit die vor Kündigungseingang erteilte Zustimmung des Gastlandes. Bringt eine ICSID-Schiedsklausel in einem BIT oder ein Investitionsgesetz die uneingeschränkte Zustimmung des Gastlandes zum Ausdruck, so konstituiert dies ein bindendes Zustimmungsangebot, 75 das von einer Kündigung des ICSID-Übereinkommens unberührt bleibt. Ein anderes Verständnis jedenfalls würde die Rechtsstabilität im internationalen Recht gefährden.

Gaillard macht zu Recht deutlich, dass nicht jede Schiedsklausel in einem BIT die uneingeschränkte Zustimmung des Gaststaates beinhaltet. 76 Dies hängt von der konkreten Schiedsklausel ab. So weist Art. 11 Abs. 3 des BIT zwischen Deutschland und Bolivien Investitionsstreitigkeiten ausdrücklich dem ICSID zu, wenn beide Vertragsparteien ICSID-Mitgliedstaaten sind: „Für den Fall, dass beide Vertragsparteien Mitglieder […des ICSID-Übereinkommens…] sind, werden Meinungsverschiedenheiten […] zwischen einer Vertragspartei und einem Investor gemäß den Regelungen dieses Übereinkommens dem [ICSID] unterbreitet werden.“ Ab dem Zeitpunkt, an dem beide Vertragsparteien Mitgliedstaaten sind, liegt hiernach eine uneingeschränkte Zustimmung vor.

Enthält ein BIT eine uneingeschränkte Zustimmung des Gastlandes, so ist diese Zustimmung unwiderruflich und rechtlich bindend, es sei denn, der Investitionsschutzvertrag sieht explizit etwas anderes vor. Die Unwiderruflichkeit der Zustimmung resultiert dann nicht aus dem ICSID-Übereinkommen, sondern aus der Bindungswirkung des BIT, die sich ihrerseits aus dem Grundsatz pacta sunt servanda (Art. 26 WÜRV) ergibt. 77

Ein solches Verständnis steht in Einklang mit Sinn und Zweck des Art. 72 sowie den entwicklungsgeschichtlichen Veränderungen im internationalen Investitionsrecht. Anfang der 1960er Jahre wurden Investitionsstreitigkeiten durch Ad-hoc Schiedsgerichte beigelegt und entsprechende Schiedsklauseln in Investitionsverträgen zwischen dem Gastland und dem Investor verankert. 78 Ausgehend davon wurde das ICSID-Übereinkommen am 18. März 1965 verabschiedet. Zweck des Art. 72 war, eine zusätzliche rechtliche Garantie für die vertraglichen Schiedsklauseln zu schaffen, sodass diese von einer späteren Kündigung des Übereinkommens durch den Gaststaat unberührt blieben. 79 Broches verdeutlichte diesen Zweck wie folgt: “if a State had consented to arbitration, for instance by entering into an arbitration clause with an investor, the subsequent denunciation of the Convention by that State would not relieve it from its obligation to go to arbitration if a dispute arose.” 80 An diesem Zweck, der primär in der Schutzfunktion für einen Investor besteht, hat sich bis heute nichts geändert. Ganz anders verhält es sich mit der rechtlichen Grundlage für die ICSID-Zustimmung. Heutzutage erteilen Staaten ihre Zustimmung regelmäßig durch Schiedsklauseln in BITs oder durch Gesetze. 81 Während die beiderseitige Zustimmung damals simultan in Investitionsverträgen erteilt wurde, erfolgt sie heute zeitversetzt und in einem anderen Instrument, meist durch einen Antrag des Investors auf Registrierung seiner Klage gegen das Gastland. Dieser Verlagerung der rechtlichen Grundlage wird Rechnung getragen, spricht man Art. 72 die Bedeutung zu, dass die einseitig erteilte Zustimmung des Gastlandes gemeint ist.

Nicht zuletzt geht dieses Verständnis auch mit Sinn und Zweck der ICSID-Konvention konform. Dieser besteht in der Bereithaltung eines stabilen rechtlichen Umfeldes. 82 Geht man davon aus, dass Art. 72 die einseitig erteilte Zustimmung meint, so wird verhindert, dass sich das Gastland willkürlich durch den rechtzeitigen Austritt aus dem Übereinkommen einem ICSID-Schiedsverfahren entziehen kann.

Damit einhergehend verschafft die hier vertretene Auffassung Rechtssicherheit. Investitionsschutzabkommen sind grundsätzlich auf die Förderung der Investitionsbereitschaft von ausländischen Investoren gerichtet und zu diesem Zweck auch darauf, Investoren mit zusätzlichen rechtlichen Garantie auszustatten. 83 Dazu gehört die Möglichkeit, Zugang zu einem Gericht außerhalb des Einflussbereichs des Gastlandes zu haben. 84 Investitionsgesetze dienen gleichermaßen als Anreiz für ausländische Investoren. 85 Die in einem BIT oder nationalen Gesetz erteilte Zustimmung zur ICSID-Schiedsgerichtsbarkeit stellt folglich eine grundlegende Bedingung für das Tätigen von Investitionen dar. Es würde gegen den Grundsatz von Treu und Glauben sprechen, erkenne man Investoren die Möglichkeit eines ICSID-Schiedsverfahrens durch die staatliche Kündigung des Übereinkommens ab.

Auch der Wortlaut des Art. 72 stimmt mit dem angenommen Verständnis überein. Gaillard sagt zu Recht, die Verfasser des Übereinkommens hätten es deutlich gemacht, wenn Art. 72 eine Schiedsvereinbarung verlange. 86 Schließlich bringt das Übereinkommen an anderen Stellen deutlich zum Ausdruck, dass es eine Schiedsvereinbarung meint. So lautet es in Art. 25 Abs. 1 „the parties to the dispute consent”. Auch Art. 26 bezieht sich auf „consent of the parties“. Der Zusatz „the parties“ wäre überflüssig, würde Zustimmung im Sinne des Übereinkommens grundsätzlich eine Schiedsvereinbarung meinen. In Art. 72 meint „consent…given by one of them“ die Zustimmung des betreffenden Staates, einer von diesem abhängigen Gebietskörperschaft oder Stelle oder eines Angehörigen dieses Staates. 87 Der Terminus „given by one of them“ nimmt also Bezug auf den Personenkatalog des Art. 72.

Im Ergebnis ist festzuhalten, dass drittgenannte Ansicht zutreffend ist. Die in einem BIT oder in Gesetzen erteilte Zustimmung ist eine „unabhängige internationale Pflicht“ (vgl. oben). Art. 72 meint also die einseitig erteilte Zustimmung des Gastlandes, die auch nach der Kündigung bestehen bleibt. Dem sollte auch nicht entgegenstehen, dass das Gastland mit dem Wirksamwerden der Kündigung nicht mehr Vertragsstaat ist, die ICSID-Regeln aber dennoch Anwendung finden. Dies ist als Nebenfolge hinzunehmen. 88

 

E. „consent“ in Art. 72 als einseitige Zustimmung des Gastlandes: Ein Verständnis zu Gunsten des Investors?

Das hier angenommene Verständnis von Art. 72 ist investorenfreundlich. Liegt eine uneingeschränkte Zustimmung im oben beschriebenen Sinne vor, so stellt dieses ein bindendes Angebot dar, das der Investor so lange annehmen kann, wie diese Zustimmung wirksam besteht. Im Falle einer staatlichen Zustimmung durch eine Schiedsklausel in einem BIT kann es sein, dass ein Staat aufgrund einer Nachwirkungsklausel bis zu 20 Jahre nach der Beendigung des BIT an sein Zustimmungsangebot gebunden ist.

Dieses Verständnis könnte dem Grundsatz, dass die Interpretation auf einen Ausgleich der Parteien gerichtet sein muss, widersprechen. Dies würde allerdings voraussetzen, dass die Interessen des Gastlandes nicht ausreichend berücksichtigt wurden.

Ein Staat ist grundsätzlich nicht dazu verpflichtet, eine uneingeschränkte Zustimmung zur ICSID-Schiedsgerichtsbarkeit zu erteilen. Vielmehr können sich Staaten in unterschiedlichem Umfang verpflichten. 89 So können die Vertragsparteien eines BIT auch nur ihre Absicht erklären, dass zu einem späteren Zeitpunkt der ICSID-Schiedsgerichtsbarkeit zugestimmt wird. 90 Das BIT zwischen Bolivien und Großbritannien enthält in Art. 8 Abs. 2 eine solche Schiedsklausel: “Where the dispute is referred to international arbitration, the investor and the Contracting Party […] may agree to refer the dispute either to [ICSID, ICC or ad hoc arbitration under the UNCITRAL Rules]”. Die Schiedsvereinbarung zwischen dem Investor und Gastland erfolgt dann erst später. Das BIT ordnet eine solche Schiedsvereinbarung vielmehr nur an. 91

Die Staaten können also selbst die Bedingungen der ICSID-Zustimmung festlegen. Das gilt nicht nur in Bezug auf Schiedsklauseln in BITs, sondern ebenso für inländische Investitionsgesetze, bei deren Ausgestaltung ein Staat gleichermaßen frei ist.

Dies zugrunde gelegt, wurden die Parteien bei der Auslegung von Art. 72 ausgleichend berücksichtigt. Unter dem Aspekt, dass Staaten die Erteilung ihrer Zustimmung konditionieren können, scheint es umso zutreffender, von der einseitig erteilten Zustimmung des Gastlandes in Art. 72 auszugehen.

 

F. Mögliche Schutzmaßnahmen

Das zuletzt Gesagte indiziert bereits, dass der hier in Frage stehenden Problematik durchaus Schutzmaßnahmen gegenüberstehen. Dies gilt sowohl auf Seiten der Staaten, als auch auf Seiten der Investoren.

Durch das frühzeitige Herbeiführen einer Schiedsvereinbarung kann ein Investor sicherzustellen, dass eine Kündigung des ICSID-Übereinkommens nicht die Möglichkeit eines ICSID-Schiedsverfahrens gegen das Gastland berührt. 92 Schon vor dem Entstehen einer Investitionsstreitigkeit kann er vorsorglich das in einem BIT oder Investitionsgesetz enthaltene Zustimmungsangebot des Gastlandes annehmen. Es entstände eine wirksame Schiedsvereinbarung, die gemäß Art. 25 Abs. 1 unwiderruflich wäre und unweigerlich unter die Wirkung des Art. 72 fiele.

Die Staaten könnten zunächst eine Änderung des Übereinkommens nach Art. 65 avancieren. Diese wäre in Anbetracht der zahlreichen Mitgliedstaaten und der gegenüberstehenden Interessen allerdings schwer umzusetzen.

Denkbar wäre außerdem eine Anapassung der relevanten Bestimmungen in BITs. 93 Wie vorab erläutert, können Staaten auch nur ihre Absicht erklären, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt der ICSID-Schiedsgerichtsbarkeit zustimmen werden. Das BIT ordnet in diesem Sinne eine Schiedsvereinbarung an. 94

Daneben besteht die Möglichkeit, dass die Staaten ihre Zustimmung bezüglich der ICSID-Mitgliedschaft konditionieren. 95 So können sie bedingen, dass die ICSID-Zustimmung nur rechtsgültig ist, wenn die betreffenden Vertragsparteien aktuell Vertragsstaaten des ICSID-Übereinkommens sind. 96 Dementsprechend enthält Art. XIII des BIT zwischen Kanada und Ecuador unter 4. den Zusatz “[…] provided, that both the disputing Contracting Party and the Contracting Party of the investor are parties to the ICSID Convention […]”. Konsequenz einer solchen Formulierung ist, dass das Zustimmungsangebot mit der Kündigung des ICSID-Übereinkommens seine Wirksamkeit verliert. Schließlich ist der kündigende Staat mit dem Wirksamwerden seiner Kündigung nicht mehr Vertragsstaat der Konvention. 97

Schließlich können die Staaten eine vorsorgliche Zustimmung des Investors vermeiden, indem sie neben dem ICSID als Schiedsinstitution alternative Streitbeilegungsverfahren (UNCITRAL, ICC, ad hoc Schiedsgerichtsbarkeit) in ihre BITs integrieren. 98 Auf diese Weise wird den Investoren eine Garantie eingeräumt, die sie hinsichtlich einer vorsorglichen ICSID-Zustimmung entmutigen.

Entsprechendes gilt für die Zustimmung in Investitionsgesetzen.

 

G. Resümee

Der Beitrag hat sich mit der Kündigung des ICSID-Übereinkommens auseinandergesetzt. Wesentlich war die Feststellung des regulatorischen Gehalts von Art. 72. Dies war maßgeblich für die Frage, ob ein Investor auch nach Kündigungseingang ein ICSID-Schiedsverfahren gegen das Gastland einleiten kann.

Die Autorin ist der Auffassung, dass “consent…given by one of them“ die vor Kündigungseingang erteilte Zustimmung des Gastlandes meint. Die konkrete Schiedsklausel in einem BIT oder das einschlägige Investitionsgesetz sind hierbei zu berücksichtigen. Insbesondere kann die hierin erteilte Zustimmung des Staates mit Einschränkungen versehen sein. Liegt dem Wortlaut nach eine uneingeschränkte Zustimmung vor, kann der Investor auch nach Wirksamkeit der Kündigung ein Schiedsverfahren gegen das Gastland einleiten.

Ob sich dieses Verständnis letzten Endes durchringen kann, ist nicht abzusehen. Die Kündigung des ICSID-Übereinkommens durch Bolivien hat jedenfalls deutlich gemacht, dass ein praktisches Bedürfnis an der Feststellung des regulatorischen Gehaltes von Art. 72 besteht. Das gilt umso mehr, da auch Ecuador 99 und Venezuela 100 das ICSID-Übereinkommen gekündigt haben. Gegen beide Länder haben Investoren ebenfalls nach Kündigungseingang und nach Wirksamwerden der Kündigung ICSID-Schiedsverfahren eingeleitet. 101 Auch Argentinien hat nunmehr öffentlich die Absicht bekundet, das ICSID-Übereinkommen kündigen zu wollen. 102

Wegen der zunehmenden Ablehnung des ICSID-Streitbeilegungsverfahrens ist zu hoffen, dass eine konsequente ICSID-Rechtsprechung in der vorstehenden Problematik Rechtsklarheit verschafft. Es betrifft schließlich die rechtlichen Rahmenbedingungen im internationalen Investitionsrecht.

 

*Die Autorin studiert im siebten Semester Rechtswissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg mit dem Schwerpunkt „Handel und Wirtschaft“. Der Artikel beruht auf einer im März 2015 erstellten Seminararbeit zu dem Thema „Auswirkung des Widerrufs der Zustimmung zur Schiedsgerichtsbarkeit“ im Rahmen des von Prof. Dr. Yuanshi Bu geleiteten Seminars „Ausgewählte Fragen des Investitionsrechts“.


Fußnoten:

  1. Kläsener, Amy C.: „Zunehmende Verunsicherung ausländischer Investoren im Hinblick auf den Schutz ihrer Investitionen in Lateinamerika“, Shearman & Sterling LLP Client Publications, 22. Juli 2008, unter: http://www.shearman.com/~/media/Files/NewsInsights/Publications/2008/07/Increasing-Uncertainty-of-Foreign-Investors-Rega__/Files/View-Full-Text/FileAttachment/IA_072208.pdf (abgerufen am 20. März 2015), S. 3.
  2. Kläsener, Amy C.: „Zunehmende Verunsicherung ausländischer Investoren im Hinblick auf den Schutz ihrer Investitionen in Lateinamerika“, Shearman & Sterling LLP Client Publications, 22. Juli 2008, unter: http://www.shearman.com/~/media/Files/NewsInsights/Publications/2008/07/Increasing-Uncertainty-of-Foreign-Investors-Rega__/Files/View-Full-Text/FileAttachment/IA_072208.pdf (abgerufen am 20. März 2015), S. 3.
  3. Kläsener, Amy C.: „Zunehmende Verunsicherung ausländischer Investoren im Hinblick auf den Schutz ihrer Investitionen in Lateinamerika“, Shearman & Sterling LLP Client Publications, 22. Juli 2008, unter: http://www.shearman.com/~/media/Files/NewsInsights/Publications/2008/07/Increasing-Uncertainty-of-Foreign-Investors-Rega__/Files/View-Full-Text/FileAttachment/IA_072208.pdf (abgerufen am 20. März 2015), S. 3; Cabrera Diaz, Fernando: “Bolivia expounds on reasons for withdrawing from ICSID arbitration system”, Investment Treaty News, 27. Mai 2007, 7. Abschnitt, unter: http://www.iisd.org/pdf/2007/itn_may27_2007.pdf (abgerufen am 20.03.2015).
  4. Schreuer, Christoph: “International Centre for Settlement of Investment Disputes (ICSID)”, unter: http://www.univie.ac.at/intlaw/wordpress/pdf/100_icsid_epil.pdf (abgerufen am 03.12.2015), S. 1.
  5. “ICSID CONVENTION, REGULATIONS AND RULES“, unter: https://icsid.worldbank.org/ICSID/StaticFiles/basicdoc/CRR_English-final.pdf (abgerufen am 03.12.2015), S. 5.
  6. Griebel, Jörn, Internationales Investitionsrecht, München 2008, S. 116; siehe hierzu Report of the Executive Directors on the Convention on the Settlement of Investment Disputes Between States and Nationals of Other States (18. März 1965), Ziffern 9, 12, 13.
  7. ICSID News Release vom 16. Mai 2007.
  8. Im Folgenden sind Artikel ohne Bezeichnung solche des ICSID-Übereinkommens.
  9. ICSID News Release vom 16. Mai 2007.
  10. Garibaldi, Oscar M.: “ON THE DENUNCIATION OF THE ICSID CONVENTION, CONSENT TO ICSID JURISDICTION, AND THE LIMITS OF CONTRACT ANALOGY”, INTERNATIONAL INVESTMENT LAW FOR THE 21ST CENTURY, New York 2009, S. 252; Schnabl, Marco E./ Bédard, Julie: “The wrong kind of ‘interesting’”, The National Law Journal, 30. Juli 2007, unter: http://www.skadden.com/sites/default/files/publications/Publications1298_0.pdf (abgerufen am 20.03.2015).
  11. E.T.I. Euro Telecom International N.V. v. Plurinational State of Bolivia (ICSID Case No. ARB/07/28).
  12. Pan American Energy LLC v. Plurinational State of Bolvia (ICSID Case No. ARB/10/8).
  13. Broches, Aron, CONVENTION ON THE SETTLEMENT OF INVESTMENT DISPUTES BETWEEN STATES AND NATIONALS OF OTHER STATES OF 1965 EXPLANATORY NOTES AND SURVEY OF ITS APPLICATION, YEARBOOK COMMERCIAL ARBITRATION VOL. XVIII – 1993, S. 642.
  14. Kownacki, Nicolle E.: “PROSPECTS FOR ICSID ARBITRATION IN POST-DENUNCIATION COUNTRIES: AN ‘UPDATED’ APPROACH”, UCLA Journal of International Law and Foreign Affairs 2010, Vol. 15, S. 536; Lörcher, Torsten: „ICSID-Schiedsgerichtsbarkeit”, SchiedsVZ 2005, S. 13 f.
  15. Fouret, Julien: “Denunciation of the Washington Convention and Non-Contractual Investment Arbitration: “Manufacturing Consent” to ICSID Arbitration?”, Journal of International Arbitration 2008, Vol. 25, S. 73.
  16. “cornerstone of jurisdiction”: Report of the Executive Directors on the Convention on the Settlement of Investment Disputes Between States and Nationals of Other States (18. März 1965), Ziffer 23; Porterfield, Matthew C.: “Aron Broches and the Withdrawal of Unilateral Offers of Consent to Investor-State Arbitration”, Investment Treaty News, 11. August 2014, unter: http://www.iisd.org/itn/2014/08/11/aron-broches-and-the-withdrawal-of-unilateral-offers-of-consent-to-investor-state-arbitration/ (abgerufen am 20.03.2015).
  17. Tietje, Christian/ Nowrot, Karsten/ Wackernagel, Clemens: “Once and Forever? The Legal Effects of a Denunciation of ICSID”, Beiträge zum Transnationalen Wirtschaftsrecht, März 2008, Heft 74, S. 7.
  18. Schreuer, Christoph H., THE ICSID CONVENTION: A COMMENTARY, 2. Auflage, New York 2009, Art. 25 Rn. 382; Report of the Executive Directors on the Convention on the Settlement of Investment Disputes Between States and Nationals of Other States (18. März 1965), Ziffer 24.
  19. Lörcher, Torsten: „ICSID-Schiedsgerichtsbarkeit”, SchiedsVZ 2005, S. 14; Griebel, Jörn, Internationales Investitionsrecht, München 2008, S. 124 f.
  20. Schreuer, Christoph H., THE ICSID CONVENTION: A COMMENTARY, 2. Auflage, New York 2009, Art. 25 Rn. 428; Griebel, Jörn, Internationales Investitionsrecht, München 2008, S. 124.
  21. Griebel, Jörn, Internationales Investitionsrecht, München 2008, S. 124.
  22. Vgl. Broches, Aron, CONVENTION ON THE SETTLEMENT OF INVESTMENT DISPUTES BETWEEN STATES AND NATIONALS OF OTHER STATES OF 1965 EXPLANATORY NOTES AND SURVEY OF ITS APPLICATION, YEARBOOK COMMERCIAL ARBITRATION VOL. XVIII – 1993, S. 643.
  23. Schreuer, Christoph H., THE ICSID CONVENTION: A COMMENTARY, 2. Auflage, New York 2009, Art. 25 Rn. 448 f.
  24. El Paso v. Argentina, Decision on Jurisdiction, 27. April 2006, para. 35.
  25. “the ICSID Convention’s principal architect“: Schreuer, Christoph H., THE ICSID CONVENTION: A COMMENTARY, 2. Auflage, New York 2009, Preamble Rn. 2.
  26. Broches zitiert in Tietje, Christian/ Nowrot, Karsten/ Wackernagel, Clemens: “Once and Forever? The Legal Effects of a Denunciation of ICSID”, Beiträge zum Transnationalen Wirtschaftsrecht, März 2008, Heft 74, S. 26.
  27. Tejera, Victorino J.: “UNRAVELING ICSID’S DENUNCIATION: UNDERSTANDING THE INTERACTION BETWEEN ARTICLES 71 AND 72 OF THE ICSID CONVENTION”, ILSA Journal of International & Comparative Law 2014, Vol. 20, S. 427.
  28. Broches zitiert in Schreuer, Christoph H., THE ICSID CONVENTION: A COMMENTARY, 2. Auflage, New York 2009, Art. 71 Rn. 1.
  29. Garibaldi, Oscar M.: “ON THE DENUNCIATION OF THE ICSID CONVENTION, CONSENT TO ICSID JURISDICTION, AND THE LIMITS OF CONTRACT ANALOGY”, INTERNATIONAL INVESTMENT LAW FOR THE 21ST CENTURY, New York 2009, S. 253.
  30. Fouret, Julien: “Denunciation of the Washington Convention and Non-Contractual Investment Arbitration: “Manufacturing Consent” to ICSID Arbitration?”, Journal of International Arbitration 2008, Vol. 25, S. 74 f.
  31. Schreuer, Christoph H., THE ICSID CONVENTION: A COMMENTARY, 2. Auflage, New York 2009, Art. 72 Rn. 2; Fouret, Julien: “Denunciation of the Washington Convention and Non-Contractual Investment Arbitration: “Manufacturing Consent” to ICSID Arbitration?”, Journal of International Arbitration 2008, Vol. 25, S. 75.
  32. Schreuer, Christoph H.: “Denunciation of the ICSID Convention and Consent to Arbitration”, The Backlash against Investment Arbitration: Perceptions and Reality, Alphen aan den Rijn 2010, S. 355.
  33. Broches zitiert in Fouret, Julien: “Denunciation of the Washington Convention and Non-Contractual Investment Arbitration: “Manufacturing Consent” to ICSID Arbitration?”, Journal of International Arbitration 2008, Vol. 25, S. 75.
  34. Montanes, Marco Tulio: “INTRODUCTORY NOTE TO BOLIVIA’S DENUNCIATION OF THE CONVENTION ON THE SETTLEMENT OF INVESTMENT DISPUTES BETWEEN STATES AND NATIONALS OF OTHER STATES”, International Legal Materials, September 2007, Vol. 46, S. 969.
  35. Alschner, Wolfgang/ Berdajs, Ana/ Lanovoy, Vladyslav: “Legal basis and effect of denunciation under international investment agreements”, unter: http://graduateinstitute.ch/files/live/sites/iheid/files/sites/ctei/shared/CTEI/Law%20Clinic/UNCTAD%20-%20International%20Investment%20Treaties%20Denunciations%20%28final%20-%20June%29.pdf

    (abgerufen am 20.03.2015), S. 12; Schreuer, Christoph H.: “Denunciation of the ICSID Convention and Consent to Arbitration”, The Backlash against Investment Arbitration: Perceptions and Reality, Alphen aan den Rijn 2010, S. 356.

  36. Alschner, Wolfgang/ Berdajs, Ana/ Lanovoy, Vladyslav: “Legal basis and effect of denunciation under international investment agreements”, unter: http://graduateinstitute.ch/files/live/sites/iheid/files/sites/ctei/shared/CTEI/Law%20Clinic/UNCTAD%20-%20International%20Investment%20Treaties%20Denunciations%20%28final%20-%20June%29.pdf

    (abgerufen am 20.03.2015), S. 12.

  37. Alschner, Wolfgang/ Berdajs, Ana/ Lanovoy, Vladyslav: “Legal basis and effect of denunciation under international investment agreements”, unter: http://graduateinstitute.ch/files/live/sites/iheid/files/sites/ctei/shared/CTEI/Law%20Clinic/UNCTAD%20-%20International%20Investment%20Treaties%20Denunciations%20%28final%20-%20June%29.pdf

    (abgerufen am 20.03.2015), S. 12; Nolan, Michael/ Sourgens, F.G.: “The Interplay Between State Consent to ICSID Arbitration and Denunciation of the ICSID Convention: The (Possible) Venezuela Case Study”, Transnational Dispute Management, September 2007, S. 17; Schnabl, Marco E./ Bédard, Julie: “The wrong kind of ‘interesting’”, The National Law Journal, 30. Juli 2007, unter: http://www.skadden.com/sites/default/files/publications/Publications1298_0.pdf (abgerufen am 20.03.2015).

  38. Alschner, Wolfgang/ Berdajs, Ana/ Lanovoy, Vladyslav: “Legal basis and effect of denunciation under international investment agreements”, unter: http://graduateinstitute.ch/files/live/sites/iheid/files/sites/ctei/shared/CTEI/Law%20Clinic/UNCTAD%20-%20International%20Investment%20Treaties%20Denunciations%20%28final%20-%20June%29.pdf

    (abgerufen am 20.03.2015), S. 12.

  39. Report of the Executive Directors on the Convention on the Settlement of Investment Disputes Between States and Nationals of Other States (18. März 1965), Ziffer 24.
  40. Das WÜRV bezieht sich nur auf solche Verträge, die erst nach seinem Inkrafttreten verabschiedet wurden (Art. 4 WÜRV). Da das WÜRV am 27. Januar 1980 in Kraft trat, das ICSID-Übereinkommen jedoch bereits am 14. Oktober 1966, findet das WÜRV grundsätzlich keine Anwendung auf das ICSID-Übereinkommen. Nichtsdestotrotz wird das WÜRV allgemein als Kodifikation des Völkergewohnheitsrechts angesehen und dient deshalb als Anleitung für die Auslegung der ICSID-Bestimmungen (vgl. Sempra Energy International v. The Argentine Republic, (ICSID Case No. ARB/02/16), Decision on Jurisdiction, 11. Mai 2005, para. 141; National Grid plc v. The Argentine Republic, UNCITRAL, Decision on Jurisdiction, 20. Juni 2006, para. 51).
  41. Art. 75 ICSID-Übereinkommen.
  42. vgl. Ripinsky, Sergey: “DENUNCIATION OF THE ICSID CONVENTION AND BITS: IMPACT ON INVESTOR STATE CLAIMS”, IIA ISSUES NOTE No. 2, Dezember 2010, unter: http://unctad.org/en/Docs/webdiaeia20106_en.pdf (abgerufen am 20.03.2015), S. 5.
  43. Garibaldi, Oscar M.: “ON THE DENUNCIATION OF THE ICSID CONVENTION, CONSENT TO ICSID JURISDICTION, AND THE LIMITS OF CONTRACT ANALOGY”, INTERNATIONAL INVESTMENT LAW FOR THE 21ST CENTURY, New York 2009, S. 260.
  44. Schreuer, Christoph H., THE ICSID CONVENTION: A COMMENTARY, 2. Auflage, New York 2009, Art. 72 Rn. 4.
  45. Griebel, Jörn, Internationales Investitionsrecht, München 2008, S. 39.
  46. Griebel, Jörn, Internationales Investitionsrecht, München 2008, S. 59.
  47. Alschner, Wolfgang/ Berdajs, Ana/ Lanovoy, Vladyslav: “Legal basis and effect of denunciation under international investment agreements”, unter: http://graduateinstitute.ch/files/live/sites/iheid/files/sites/ctei/shared/CTEI/Law%20Clinic/UNCTAD%20-%20International%20Investment%20Treaties%20Denunciations%20%28final%20-%20June%29.pdf

    (abgerufen am 20.03.2015), S. 35.

  48. Kläsener, Amy C.: „Zunehmende Verunsicherung ausländischer Investoren im Hinblick auf den Schutz ihrer Investitionen in Lateinamerika“, Shearman & Sterling LLP Client Publications, 22. Juli 2008, unter: http://www.shearman.com/~/media/Files/NewsInsights/Publications/2008/07/Increasing-Uncertainty-of-Foreign-Investors-Rega__/Files/View-Full-Text/FileAttachment/IA_072208.pdf (abgerufen am 20. März 2015), S. 4.
  49. Kläsener, Amy C.: „Zunehmende Verunsicherung ausländischer Investoren im Hinblick auf den Schutz ihrer Investitionen in Lateinamerika“, Shearman & Sterling LLP Client Publications, 22. Juli 2008, unter: http://www.shearman.com/~/media/Files/NewsInsights/Publications/2008/07/Increasing-Uncertainty-of-Foreign-Investors-Rega__/Files/View-Full-Text/FileAttachment/IA_072208.pdf (abgerufen am 20. März 2015), S. 4.
  50. Schnabl, Marco E./ Bédard, Julie: “The wrong kind of ‘interesting’”, The National Law Journal, 30. Juli 2007, unter: http://www.skadden.com/sites/default/files/publications/Publications1298_0.pdf (abgerufen am 20.03.2015).
  51. „Auswirkungen für deutsche und österreichische Investoren im Falle des Austritts Argentiniens aus dem internationalen

    Investitionsschutzregime“, Hogan Lovells Newsflash vom 8. Februar 2013, unter: http://www.hoganlovells.com/files/Publication/90770c3d-e827-47fb-a926-7f863af7289b/Presentation/PublicationAttachment/5b301561-94f8-4b78-bccd-8401b0a3d075/Argentinien_Austritt_ICSID%20.pdf (abgerufen am 20.03.2015), S. 3.

  52. Ripinsky, Sergey: “DENUNCIATION OF THE ICSID CONVENTION AND BITS: IMPACT ON INVESTOR STATE CLAIMS”, IIA ISSUES NOTE No. 2, Dezember 2010, unter: http://unctad.org/en/Docs/webdiaeia20106_en.pdf (abgerufen am 20.03.2015), S. 3; Alschner, Wolfgang/ Berdajs, Ana/ Lanovoy, Vladyslav: “Legal basis and effect of denunciation under international investment agreements”, unter: http://graduateinstitute.ch/files/live/sites/iheid/files/sites/ctei/shared/CTEI/Law%20Clinic/UNCTAD%20-%20International%20Investment%20Treaties%20Denunciations%20%28final%20-%20June%29.pdf (abgerufen am 20.03.2015), S. 32.
  53. Alschner, Wolfgang/ Berdajs, Ana/ Lanovoy, Vladyslav: “Legal basis and effect of denunciation under international investment agreements”, unter: http://graduateinstitute.ch/files/live/sites/iheid/files/sites/ctei/shared/CTEI/Law%20Clinic/UNCTAD%20-%20International%20Investment%20Treaties%20Denunciations%20%28final%20-%20June%29.pdf (abgerufen am 20.03.2015), S. 45.
  54. Schreuer, Christoph H., THE ICSID CONVENTION: A COMMENTARY, 2. Auflage, New York 2009, Art. 72 Rn. 5.
  55. Schreuer, Christoph H., THE ICSID CONVENTION: A COMMENTARY, 2. Auflage, New York 2009, Art. 72 Rn. 6.
  56. vgl. Schnabl, Marco E./ Bédard, Julie: “The wrong kind of ‘interesting’”, The National Law Journal, 30. Juli 2007, unter: http://www.skadden.com/sites/default/files/publications/Publications1298_0.pdf (abgerufen am 20.03.2015).
  57. vgl. Schnabl, Marco E./ Bédard, Julie: “The wrong kind of ‘interesting’”, The National Law Journal, 30. Juli 2007, unter: http://www.skadden.com/sites/default/files/publications/Publications1298_0.pdf (abgerufen am 20.03.2015).
  58. Schreuer, Christoph H.: “Denunciation of the ICSID Convention and Consent to Arbitration”, The Backlash against Investment Arbitration: Perceptions and Reality, Alphen aan den Rijn 2010, S. 362; Mezgravis, Andrés A.: “Denunciation of the ICSID Convention and the Easy Path”, The Arbitration Review of the Americas 2015, unter: http://globalarbitrationreview.com/reviews/66/sections/230/chapters/2676/venezuela/ (abgerufen am 20.03.2015); Art. 25 Abs. 1 a.E.
  59. Schreuer, Christoph H., THE ICSID CONVENTION: A COMMENTARY, 2. Auflage, New York 2009, Art. 72 Rn. 6.
  60. Schreuer, Christoph H., THE ICSID CONVENTION: A COMMENTARY, 2. Auflage, New York 2009, Art. 72 Rn. 5.
  61. Schreuer, Christoph H: “Denunciation of the ICSID Convention and Consent to Arbitration”, The Backlash against Investment Arbitration: Perceptions and Reality, Alphen aan den Rijn 2010, S. 365; ders. in THE ICSID CONVENTION: A COMMENTARY, 2. Auflage, New York 2009, Art. 72 Rn. 5.
  62. Schreuer, Christoph H., THE ICSID CONVENTION: A COMMENTARY, 2. Auflage, New York 2009, Art. 72 Rn. 6.
  63. vgl. Tietje, Christian/ Nowrot, Karsten/ Wackernagel, Clemens: “Once and Forever? The Legal Effects of a Denunciation of ICSID”, Beiträge zum Transnationalen Wirtschaftsrecht, März 2008, Heft 74, S. 8; Tejera, Victorino J.: “UNRAVELING ICSID’S DENUNCIATION: UNDERSTANDING THE INTERACTION BETWEEN ARTICLES 71 AND 72 OF THE ICSID CONVENTION”, ILSA Journal of International & Comparative Law 2014, Vol. 20, S. 423 f.
  64. Tejera, Victorino J.: “UNRAVELING ICSID’S DENUNCIATION: UNDERSTANDING THE INTERACTION BETWEEN ARTICLES 71 AND 72 OF THE ICSID CONVENTION”, ILSA Journal of International & Comparative Law 2014, Vol. 20, S. 432 f.
  65. Gaillard, Emmanuel: “The Denunciation of the ICSID Convention”, New York Law Journal, 26. Juni 2007, unter: http://www.shearman.com/~/media/Files/NewsInsights/Publications/2007/06/The-Denunciation-of-the-ICSID-Convention/Files/IA_NYLJ-Denunciation-ICSID-Convention_040308_17/FileAttachment/IA_NYLJ-Denunciation-ICSID-Convention_040308_17.pdf

    (abgerufen am 20.03.2015); Tietje, Christian/ Nowrot, Karsten/ Wackernagel, Clemens: “Once and Forever? The Legal Effects of a Denunciation of ICSID”, Beiträge zum Transnationalen Wirtschaftsrecht, März 2008, Heft 74, S. 22; Garibaldi, Oscar M.: “ON THE DENUNCIATION OF THE ICSID CONVENTION, CONSENT TO ICSID JURISDICTION, AND THE LIMITS OF CONTRACT ANALOGY”, INTERNATIONAL INVESTMENT LAW FOR THE 21ST CENTURY, New York 2009, S. 269; Nolan, Michael/ Sourgens, F.G.: “The Interplay Between State Consent to ICSID Arbitration and Denunciation of the ICSID Convention: The (Possible) Venezuela Case Study”, Transnational Dispute Management, September 2007, S. 3.

  66. Tietje, Christian/ Nowrot, Karsten/ Wackernagel, Clemens: “Once and Forever? The Legal Effects of a Denunciation of ICSID”, Beiträge zum Transnationalen Wirtschaftsrecht, März 2008, Heft 74, S. 9; Gaillard, Emmanuel: “The Denunciation of the ICSID Convention”, New York Law Journal, 26. Juni 2007, unter: http://www.shearman.com/~/media/Files/NewsInsights/Publications/2007/06/The-Denunciation-of-the-ICSID-Convention/Files/IA_NYLJ-Denunciation-ICSID-Convention_040308_17/FileAttachment/IA_NYLJ-Denunciation-ICSID-Convention_040308_17.pdf (abgerufen am 20.03.2015).
  67. Nolan, Michael/ Sourgens, F.G.: “The Interplay Between State Consent to ICSID Arbitration and Denunciation of the ICSID Convention: The (Possible) Venezuela Case Study”, Transnational Dispute Management, September 2007, S. 37 f.
  68. vgl. Alschner, Wolfgang/ Berdajs, Ana/ Lanovoy, Vladyslav: “Legal basis and effect of denunciation under international investment agreements”, unter: http://graduateinstitute.ch/files/live/sites/iheid/files/sites/ctei/shared/CTEI/Law%20Clinic/UNCTAD%20-%20International%20Investment%20Treaties%20Denunciations%20%28final%20-%20June%29.pdf (abgerufen am 20.03.2015), S. 20.
  69. Alschner, Wolfgang/ Berdajs, Ana/ Lanovoy, Vladyslav: “Legal basis and effect of denunciation under international investment agreements”, unter: http://graduateinstitute.ch/files/live/sites/iheid/files/sites/ctei/shared/CTEI/Law%20Clinic/UNCTAD%20-%20International%20Investment%20Treaties%20Denunciations%20%28final%20-%20June%29.pdf (abgerufen am 20.03.2015), S. 19.
  70. Gaillard, Emmanuel: “The Denunciation of the ICSID Convention”, New York Law Journal, 26. Juni 2007, unter: http://www.shearman.com/~/media/Files/NewsInsights/Publications/2007/06/The-Denunciation-of-the-ICSID-Convention/Files/IA_NYLJ-Denunciation-ICSID-Convention_040308_17/FileAttachment/IA_NYLJ-Denunciation-ICSID-Convention_040308_17.pdf (abgerufen am 20.03.2015).
  71. Broches, Aron: THE CONVENTION ON THE SETTLEMENT OF INVESTMENT DISPUTES BETWEEN STATES AND NATIONALS OF OTHER STATES, RECUEIL DES COURS 136 (1973), S. 368.
  72. Azurix Corp. v. The Argentine Republic (ICSID Case No. ARB/01/12), Award, 14. Juli 2006, para. 307; Ceskoslovenska Obchodni Banka, A.S. v. The Slovak Republic (ICSID Case No. ARB/97/4), Decision of the Tribunal on Objections to Jurisdiction, 24. Mai 1999, para. 34.
  73. vgl. Tietje, Christian/ Nowrot, Karsten/ Wackernagel, Clemens: “Once and Forever? The Legal Effects of a Denunciation of ICSID”, Beiträge zum Transnationalen Wirtschaftsrecht, März 2008, Heft 74, S. 14.
  74. So jedenfalls die Ansicht Schreuers.
  75. So auch Tietje, Christian/ Nowrot, Karsten/ Wackernagel, Clemens: “Once and Forever? The Legal Effects of a Denunciation of ICSID”, Beiträge zum Transnationalen Wirtschaftsrecht, März 2008, Heft 74, S. 22.
  76. vgl. Gaillard, Emmanuel: “The Denunciation of the ICSID Convention”, New York Law Journal, 26. Juni 2007, unter: http://www.shearman.com/~/media/Files/NewsInsights/Publications/2007/06/The-Denunciation-of-the-ICSID-Convention/Files/IA_NYLJ-Denunciation-ICSID-Convention_040308_17/FileAttachment/IA_NYLJ-Denunciation-ICSID-Convention_040308_17.pdf (abgerufen am 20.03.2015).
  77. So auch Garibaldi, Oscar M.: “ON THE DENUNCIATION OF THE ICSID CONVENTION, CONSENT TO ICSID JURISDICTION, AND THE LIMITS OF CONTRACT ANALOGY”, INTERNATIONAL INVESTMENT LAW FOR THE 21ST CENTURY, New York 2009, S. 269.
  78. Tietje, Christian/ Nowrot, Karsten/ Wackernagel, Clemens: “Once and Forever? The Legal Effects of a Denunciation of ICSID”, Beiträge zum Transnationalen Wirtschaftsrecht, März 2008, Heft 74, S. 15.
  79. Alschner, Wolfgang/ Berdajs, Ana/ Lanovoy, Vladyslav: “Legal basis and effect of denunciation under international investment agreements”, unter: http://graduateinstitute.ch/files/live/sites/iheid/files/sites/ctei/shared/CTEI/Law%20Clinic/UNCTAD%20-%20International%20Investment%20Treaties%20Denunciations%20%28final%20-%20June%29.pdf (abgerufen am 20.03.2015), S. 27.
  80. Broches zitiert in Fouret, Julien: “Denunciation of the Washington Convention and Non-Contractual Investment Arbitration: “Manufacturing Consent” to ICSID Arbitration?”, Journal of International Arbitration 2008, Vol. 25, S. 75.
  81. Nolan, Michael/ Sourgens, F.G.: “The Interplay Between State Consent to ICSID Arbitration and Denunciation of the ICSID Convention: The (Possible) Venezuela Case Study”, Transnational Dispute Management, September 2007, S. 27.
  82. Tietje, Christian/ Nowrot, Karsten/ Wackernagel, Clemens: “Once and Forever? The Legal Effects of a Denunciation of ICSID”, Beiträge zum Transnationalen Wirtschaftsrecht, März 2008, Heft 74, S. 21 f.
  83. Tietje, Christian/ Nowrot, Karsten/ Wackernagel, Clemens: “Once and Forever? The Legal Effects of a Denunciation of ICSID”, Beiträge zum Transnationalen Wirtschaftsrecht, März 2008, Heft 74, S. 23.
  84. Wälde zitiert in Tietje, Christian/ Nowrot, Karsten/ Wackernagel, Clemens: “Once and Forever? The Legal Effects of a Denunciation of ICSID”, Beiträge zum Transnationalen Wirtschaftsrecht, März 2008, Heft 74, S. 24.
  85. Garibaldi, Oscar M.: “ON THE DENUNCIATION OF THE ICSID CONVENTION, CONSENT TO ICSID JURISDICTION, AND THE LIMITS OF CONTRACT ANALOGY”, INTERNATIONAL INVESTMENT LAW FOR THE 21ST CENTURY, New York 2009, S. 267.
  86. Gaillard, Emmanuel: “The Denunciation of the ICSID Convention”, New York Law Journal, 26. Juni 2007, unter: http://www.shearman.com/~/media/Files/NewsInsights/Publications/2007/06/The-Denunciation-of-the-ICSID-Convention/Files/IA_NYLJ-Denunciation-ICSID-Convention_040308_17/FileAttachment/IA_NYLJ-Denunciation-ICSID-Convention_040308_17.pdf (abgerufen am 20.03.2015).
  87. Garibaldi, Oscar M.: “ON THE DENUNCIATION OF THE ICSID CONVENTION, CONSENT TO ICSID JURISDICTION, AND THE LIMITS OF CONTRACT ANALOGY”, INTERNATIONAL INVESTMENT LAW FOR THE 21ST CENTURY, New York 2009, S. 258.
  88. So auch Stephkohn, Erich, Welche Rechtsfolgen hat die Kündigung des ICSID-Übereinkommens für deutsche Investoren, Norderstedt 2007, S. 8.
  89. Alschner, Wolfgang/ Berdajs, Ana/ Lanovoy, Vladyslav: “Legal basis and effect of denunciation under international investment agreements”, unter: http://graduateinstitute.ch/files/live/sites/iheid/files/sites/ctei/shared/CTEI/Law%20Clinic/UNCTAD%20-%20International%20Investment%20Treaties%20Denunciations%20%28final%20-%20June%29.pdf (abgerufen am 20.03.2015), S. 40.
  90. Kläsener, Amy C.: „Zunehmende Verunsicherung ausländischer Investoren im Hinblick auf den Schutz ihrer Investitionen in Lateinamerika“, Shearman & Sterling LLP Client Publications, 22. Juli 2008, unter: http://www.shearman.com/~/media/Files/NewsInsights/Publications/2008/07/Increasing-Uncertainty-of-Foreign-Investors-Rega__/Files/View-Full-Text/FileAttachment/IA_072208.pdf (abgerufen am 20.03.2015), S. 4 f.; Ripinsky, Sergey: “DENUNCIATION OF THE ICSID CONVENTION AND BITS: IMPACT ON INVESTOR STATE CLAIMS”, IIA ISSUES NOTE No. 2, Dezember 2010, unter: http://unctad.org/en/Docs/webdiaeia20106_en.pdf (abgerufen am 20.03.2015), S. 7.
  91. Alschner, Wolfgang/ Berdajs, Ana/ Lanovoy, Vladyslav: “Legal basis and effect of denunciation under international investment agreements”, unter: http://graduateinstitute.ch/files/live/sites/iheid/files/sites/ctei/shared/CTEI/Law%20Clinic/UNCTAD%20-%20International%20Investment%20Treaties%20Denunciations%20%28final%20-%20June%29.pdf (abgerufen am 20.03.2015), S. 41.
  92. Alschner, Wolfgang/ Berdajs, Ana/ Lanovoy, Vladyslav: “Legal basis and effect of denunciation under international investment agreements”, unter: http://graduateinstitute.ch/files/live/sites/iheid/files/sites/ctei/shared/CTEI/Law%20Clinic/UNCTAD%20-%20International%20Investment%20Treaties%20Denunciations%20%28final%20-%20June%29.pdf (abgerufen am 20.03.2015), S. 13.
  93. Ripinsky, Sergey: “DENUNCIATION OF THE ICSID CONVENTION AND BITS: IMPACT ON INVESTOR STATE CLAIMS”, IIA ISSUES NOTE No. 2, Dezember 2010, unter: http://unctad.org/en/Docs/webdiaeia20106_en.pdf (abgerufen am 20.03.2015), S. 7.
  94. Alschner, Wolfgang/ Berdajs, Ana/ Lanovoy, Vladyslav: “Legal basis and effect of denunciation under international investment agreements”, unter: http://graduateinstitute.ch/files/live/sites/iheid/files/sites/ctei/shared/CTEI/Law%20Clinic/UNCTAD%20-%20International%20Investment%20Treaties%20Denunciations%20%28final%20-%20June%29.pdf (abgerufen am 20.03.2015), S. 41.
  95. Alschner, Wolfgang/ Berdajs, Ana/ Lanovoy, Vladyslav: “Legal basis and effect of denunciation under international investment agreements”, unter: http://graduateinstitute.ch/files/live/sites/iheid/files/sites/ctei/shared/CTEI/Law%20Clinic/UNCTAD%20-%20International%20Investment%20Treaties%20Denunciations%20%28final%20-%20June%29.pdf (abgerufen am 20.03.2015), S. 41.
  96. Ripinsky, Sergey: “DENUNCIATION OF THE ICSID CONVENTION AND BITS: IMPACT ON INVESTOR STATE CLAIMS”, IIA ISSUES NOTE No. 2, Dezember 2010, unter: http://unctad.org/en/Docs/webdiaeia20106_en.pdf (abgerufen am 20.03.2015), S. 7.
  97. Tietje, Christian/ Nowrot, Karsten/ Wackernagel, Clemens: “Once and Forever? The Legal Effects of a Denunciation of ICSID”, Beiträge zum Transnationalen Wirtschaftsrecht, März 2008, Heft 74, S. 6.
  98. Alschner, Wolfgang/ Berdajs, Ana/ Lanovoy, Vladyslav: “Legal basis and effect of denunciation under international investment agreements”, unter: http://graduateinstitute.ch/files/live/sites/iheid/files/sites/ctei/shared/CTEI/Law%20Clinic/UNCTAD%20-%20International%20Investment%20Treaties%20Denunciations%20%28final%20-%20June%29.pdf (abgerufen am 20.03.2015), S. 52.
  99. ICSID News Release vom 9. Juli 2009.
  100. ICSID News Release vom 26. Januar 2012.
  101. vgl. Corporación Quiport S.A. and others v. Republic of Ecuador (ICSID Case No. ARB/09/23); Valle Verde Sociedad Financiera S.L. v. Bolivarian Republic of Venezuela (ICSID Case No. ARB/12/18); Highbury International AVV, Compañía Minera de Bajo Caroní AVV, and Ramstein Trading Inc. v. Bolivarian Republic of Venezuela (ICSID Case No. ARB/14/10).
  102. Lopez, Oscar: “Smart Move: Argentina to Leave the ICSID”, Cornell International Law Journal Online 2013, unter: http://cornellilj.org/smart-move-argentina-to-leave-the-icsid/ (abgerufen am 20.03.2015); siehe “Argentina in the process of quitting from World Bank investment disputes centre”, Merco Press, 31. Januar 2013, unter: http://en.mercopress.com/2013/01/31/argentina-in-the-process-of-quitting-from-world-bank-investment-disputes-centre (abgerufen am 20.03.2015).

Does the Transatlantic Trade and Investment Partnership agreement violate the fundamental principles of the World Trade Organization?

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Ifigenia Herrera Temesio*

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The current negotiations regarding the Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) between the European Union and the United States has hardly escaped anyone in its controversy and scope. The agreement is primarily dedicated to increasing jobs and growth for both parties’ economic areas by attempting to reduce the already low transatlantic tariff barriers (averaging on 5-7 per cent 1) existing and ultimately removing them 2.

At the time of writing the negotiations are still taking place and there is no definite consensus. The potential agreement has been contested by various member states to the European Union and their people. Much debate revolves the negotiations, a debate greatly surrounding the controversial Investor-State Dispute Settlement proposal but which is outwith the scope of this article as we attempt to highlight a lesser-known issue, the legality of the TTIP under world trade law. We therefore focus on the trade of goods and the impact such a massive Free Trade Agreement (FTA) could have on world trade.

 

The principles of the world trade order

The World Trade Organization (WTO) is a unifying trade organisation providing legal ground rules for international trade widely adhered to by its 160 members and 24 observers, thus its organisational framework is universal in nature and with it its legal influence on international trade 3.

A core principle of world trade is the “Most Favoured Nation”-principle 4, a principle stemming from the origins of the multilateral trade foundation, the General Agreement on Trade and Tariffs 1947.Under Article I:1 of the GATT 1994, there is an inherent emphasis on every member state to accept a single undertaking of the provisions of the agreement, its main focus being to provide a multilateral agreement on profitable liberalised trade for all parties involved. Under the multilateral trading system the ‘Most Favoured Nation’-principle is an obligation undertaken by all members to the WTO in which the contracting parties treat every member in a non-discriminatory manner. This means that a standardised MFN-tariff is imposed on all imports from members of the WTO 5 and is subject to any preferential tariffs originating from Preferential Trade Agreements.

“Th[e] object and purpose [of Article I] is to prohibit discrimination among like products originating in or destined for different countries. The prohibition of discrimination in Article I:1 also serves as an incentive for concessions, negotiated reciprocally, to be extended to all other Members on an MFN basis 6.”

Exceptions to Article I:1

“Notwithstanding the provisions of Article I of the General Agreement, contracting parties may accord differential and more favourable treatment to developing countries, without according such treatment to other contracting parties.” 7

Under GATT 1947, and subsequently GATT 1994, exceptions to the MFN-principle are promoted in cases where Regional Trade Agreements could play an important role in expanding liberalisation of trade and increased development. One of which is the “Enabling Clause” 8 where the contracting parties are to attempt to favourably treat trade from developing countries. This could take numerous forms such as preferential tariff treatments in accordance with the Generalized System of Preferences (GSP) or regional arrangements to eliminate tariffs. In particular, the European Union has devised the so-called ‘Everything But Arms’-arrangement in which Least Developed Countries party to it incur no barriers when exporting to the EU 9. Furthermore, incorporated exceptions to the MFN-principle are found under Article XXIV of GATT 1994. Under Article XXVI, the contracting parties have the right to form customs unions and free-trade areas with another Member State as long as they adhere to the economic reasoning 10 presented in the concluding sentences of both paragraph (a) and (b) 11.

Proliferation of regionalism

Recently there has been a proliferation of regionalism within the multilateral trading system, meaning an increasing number of Preferential Trade Agreements (PTA). Richard E. Baldwin argues a ‘domino theory of regionalism’ 12 claiming that the creation of PTAs causing trade diversion instigate a ‘pressure for inclusion’ 13 that increases depending on the size of the block, however the block depends upon how many nations join it 14. If the PTA is open to inclusion, regionalism will expand in a multilateral order, whilst if it were confined to its members it would cause unhappy non-members to seek to create their own PTAs in response 15.

It is however claimed that PTAs can have beneficial impacts on the multilateral trading system and the liberalisation of trade. Another favourable position for the creation of PTAs is the ability to undertake and develop concrete regulation regarding sensitive issues for which the multilateral trading system cannot form a consensus 16. However PTAs established between developed and developing countries entail larger systemic implications to the multilateral trading system by diverging trade and forcing the developing country to adhere to the regulatory framework of the developed country. It also refers to the distortion of trade these preferences cause, as it requires much energy to optimise trade and minimise costs in adherence to the numerous rules currently in place by countries entering into various PTAs 17.

The rules are ambiguous in nature and unsurprisingly so, in the modern age the production of goods rarely originates in one geographic area, but rather different components are acquired and assembled across the ‘global supply chain’. Such ambiguity in the rules may therefore serve the purpose of imposing barriers to trade outwith the tariff scheme collectively known as non-tariff barriers. This could be seen as a measure to reduce the costs of free trade by imposing strict rules of origin, and as Mr. Jagdish Bhagwati noted: “they take away with one hand what they give with the other18. By removing the barriers to trade for transatlantic trade there will be a more substantial onus on third parties to adhere to non-tariff barriers not accounted for under WTO rules, thus increasing the scope of arbitrary notions such as “rules of origins” which would be beneficial to the signatories of TTIP but detrimental to third parties.

Discriminatory nature of the Transatlantic Trade and Investment Partnership

We can see that the proposed TTIP agreement adheres to all of the requirements presented by the WTO for the exception to the MFN-principle under Article XXIV:5(b). Thus it is not in jure in violation of the principles of the WTO, as imposing non-tariff barriers to trade does not constitute a violation of the MFN principle but does distort trade substantially. Due to the magnitude of the economic and market powers of the parties to TTIP it has a substantial universal impact. Moreover, it was observed by the Appellate Body in the Canada-Autos case:

“…We observe that Article I:1 does not cover only ‘in law’, or de jure, discrimination. As several GATT panel reports confirmed, Article I:1 covers also ‘in fact’, or de facto, discrimination” 19.

We therefore must look to the potential de facto discrimination imposed by such a large FTA and the consequences it would have on the multilateral trading system of today. Most notably it would be the increased non-tariff barriers 20. These account for the most “profitable” and discriminatory aspects of international trade and also affect free trade and the multilateral trading system the most due to its arbitrary nature. It must in some way be more beneficial to trade with one’s FTA party than to trade with third parties, thus it is natural for any FTA or PTA to include non-tariff barriers to trade. The obligations imposed under Article XXIV:5 for the creation of customs unions and free-trade areas allow no scope for interpretation when referring to tariff barriers to trade, a customs union or a free-trade agreement should not impose detrimental tariffs on non-members to the agreement, but a non-tariff barrier is not accounted for 21.

Due to the already low level of tariff barriers in place between the parties, the direct increase in GDP growth from merely eliminating tariffs would not be substantial – only 0.1 per cent within the EU and 0.15 per cent for the US 22. It is however the elimination of non-tariff measures and harmonisation of regulatory framework that would have the more prominent increase to real per capita income 23 to all member states to the EU and US.

It would thus influence countries that predominantly export to either the EU or US by a loss in market share, a natural effect to the elimination of bilateral tariffs 24.

“The goal will be to eliminate duties and other restrictions for trade in goods. Freeing up commercial services, providing the highest possible protection, certainty and level playing field for European investors in the US, and increasing access to American public procurement markets are also objectives. Removing unnecessary regulatory constraints on trade is a key issue for the EU, as are obtaining stronger protection of European Geographical Indications, facilitating customs formalities and addressing competition rules.” 25

There are strong incentives on both sides to the agreement to attempt to eliminate NTBs such as ‘behind-the-border’ obstacles by reducing the unnecessary costs they pose, furthermore the harmonisation of rules of origins would be vital in order for the spill-over effects below to materialise. Moreover the adherence to global challenges and the promotion of regular dialogue of trade defence measures shows an acknowledgement of the importance this potential TTIP would have globally, and it is important that both parties address these issues.

Bilateral agreements extend so-called spill-over effects upon third parties as a result of bilateral liberalisation of trade, they either take the form of direct spill-overs or indirect spill-overs. Below are the most probable scenarios to the TTIP spill-over effects:

Due to the magnitude of this FTA the indirect spill-over effects of TTIP would cause parties wishing to continue trade with the EU and US to adhere to these common standards allowing them to become global in nature. This would allow for reduced non-tariff barriers such as adherence to regulations and export/import standards as the standard of trade would essentially be the same. However, this also allows for the introduction of more arbitrary non-tariff barriers or for “rules of origins” to be of stricter nature. The purpose of an FTA or any other regional agreement is to exclude third parties and benefit the signatories, no matter how much a country adheres to the rules set out in TTIP they would still be considered a third party to the agreement and thus subject to strict non-tariff barriers which would benefit the signatories and their mutual trade.

However these indirect spill-over effects are subject to assumptions made in regards to the rest of the world’s ability to streamline these standards in order to allow them to truly become global in nature. Such a possible scenario would reduce the impact of the trade diversion generated by the tariff liberalisation between the TTIP parties 26. As a result of negotiations for such harmonisation, traders within the EU and US would have marginally larger capital and technological advances to internalise these modifications, and as current negotiations between the parties are subject to public consultation of key market actors 27 they would have an active say in the matter, an opportunity not extended to third parties.

Thus the scenario in which the EU and US act as regulatory hegemon is a highly possible one that would propose a potential coercive nature as countries wishing to continue trade with the EU and US would have no other choice but to internalise these common standards and divert their operational focus to adhering to these changes. It would be of particular difficulty to LDCs lacking the capital for such modifications. However, upon the effects of the initial ‘hurdle’, the trade costs for these countries should be marginally less due to the assumed GSP adherence of TTIP in which they would continue to enjoy low or zero tariff and quota-barriers 28 and non-tariff barrier-costs such as regulatory adherence would be decreased.

Furthermore, based on the CEPR-report the rest of the world would see an increase in GDP with a 20 per cent spill-over effect from TTIP by 2027 29, notably ASEAN countries would benefit largely from a drop in global trading costs as a result of the indirect spill-over effects. Such a positive increase in worldwide GDP growth correlates with the objectives of the multilateral trading system in which there is scope for regional preference to be extended bilaterally in favour of multilateral trade creation and multilateral welfare increase. 30

However figures established by the OECD suggest the GDP increase for High Income Countries would amount to €36 billion as opposed to the €2.4 billion in GDP increase Low Income Countries would achieve through the same agreement 31. The Commission is emphasising the importance of the global reach of the TTIP agreement, claiming the global impacts to economic growth will be substantial enough to justify its fulfilment and the trade diversion it would generate. However as we can see it is not the developing countries but the already developed high-income countries that will benefit, primarily the EU and the US. An elimination of tariff barriers between the parties to the TTIP will result in a loss in market share for the immediate trading partners currently trading with the EU and US as is the nature of any regional agreement. However many of these countries constitute neighbouring countries that belong to the high-income country list 32, these countries have the operational means to respond to harmonised standards between the EU and US, it is also probable that they do already meet these standards today, which would significantly reduce the impact posed by the harmonised standards under TTIP. Furthermore, what is considered the solution to this problem is distributing a mere €2.4 billion between 84 countries 33 that will suffer the consequences to their own economies to a much larger extent than the 73 high-income countries that will find it easy to restructure their trade in order to adhere to the TTIP rules due primarily to the difference in capital and technological advances. It is disproportionate that the GDP increase for developing countries is as low as it is when it is these countries that suffer the consequences of the TTIP. What can be established is that TTIP indeed is an agreement to benefit the already developed countries, increasing growth, and within the ambit of the agreement, jobs too.

It looks probable that TTIP would make the EU and US regulatory hegemons for the world trade common standards to trade as a result of the indirect spill-over effects caused by the magnitude of the FTA. Thus we would be shifting regulatory powers from an outstanding third party like the WTO onto two large market actors of world trade that combined account for almost half of the trade and capital of the world. What proves problematic in this scenario is the inherent nature of both parties to deal primarily with their own economic growth and secondly with their global responsibilities, if TTIP would to become a reality the common regulatory frameworks the rest of the world would have to adhere to would naturally be beneficial to these parties.

Upon the harmonisation of regulatory structures between the parties, trading parties wishing to continue such trade would require to adhere to the framework set out in TTIP. Due to the compelling nature of this agreement and the substantial market power both parties hold in the multilateral trading system it is inevitable that the large majority of countries in direct trade with one or both of the parties would have to adhere to the provisions established by the two parties in order to continue the trade. These parties hold such large market power that no trading partner would be able to desist trading with one or the other.

We thus conclude that the proposed TTIP does not in jure violate the fundamental principles of the WTO of liberalised trade in a multilateral trading system as it adheres to Article XXIV:5(b) of GATT 1994 serving as an exception to the MFN-principles under Article I:1. Moreover, the WTO order does not only cover in jure discrimination but also de facto discrimination, we therefore addressed whether TTIP would be de facto in violation of WTO principles.

The implications of full elimination of tariff barriers between them would benefit them slightly, but it is the potential elimination of numerous non-tariff barriers and the harmonisation of regulatory framework that pose the significant economic growth to be achieved through TTIP. These same non-tariff barriers would have to be imposed on third parties and stricter more arbitrary rules implemented so as to not divert trade from the parties of the TTIP. We have left an era where only tariffs and quotas were the main source of barriers to trade, today in a highly globalised society where technological advances are high and disproportionate welfare distribution is prevalent non-tariff barriers are the real source of trade discrimination and due to the lack of legally binding rules regarding these measures they may be as arbitrary as can be. These barriers are stifling the growth of less developed countries but are allowed as tariffs and quotas are kept low or mostly not applied at all. However when it comes to the reality of exports and imports more often than not these countries will face barriers not accounted for by the world trade order that affect the multilateral trading system and with it free trade.

We therefore conclude that the TTIP convey many de facto discriminatory aspects, not least its coercive force would divert trade from LDCs and force them to adhere to their rules, rules and standards which would inherently be beneficial to the parties to TTIP but do not necessarily have to be beneficial to any third parties. It is the opinion of this essay that the proposed TTIP agreement is de facto in violation of the fundamental principles of the WTO due to the great possibility of hegemonic powers both the EU and US stand to gain as an indirect result of an in jure FTA. There would be a shift from a multilateral trading order overseen by an external party to regulations imposed indirectly by parties whose priority is self-interest and not the welfare of all the members of the WTO.

 

*The author is a member of the University of Glasgow.


Fußnoten:

  1. A Transatlantic Zero Agreement: Estimating the Gains from Transatlantic Free Trade in Goods, ECIPE Occasional Paper No.4/2010 p.2.
  2. European Commission MEMO/13/564 – Member States endorse EU-US trade and investment negotiations (June, 2013), p.1.
  3. Marrakesh Agreement Establishing the World Trade Organization 1994, Article XXV, Annex A – WTO Membership
  4. Article I:1 GATT 1994. With respect to customs duties and charges of any kind imposed on or in connection with importation or exportation or imposed on the international transfer of payments for imports or exports, and with respect to the method of levying such duties and charges, and with respect to all rules and formalities in connection with importation and exportation, and with respect to all matters referred to in paragraphs 2 and 4 of Article III, any advantage, favour, privilege or immunity granted by any contracting party to any product originating in or destined for any other country shall be accorded immediately and unconditionally to the like product originating in or destined for the territories of all other contracting parties.
  5. World Bank, WITS on MFN-Tariff. http://wits.worldbank.org/wits/wits/witshelp/Content/Data_Retrieval/P/Intro/C2.Types_of_Tariffs.htm
  6. Appellate Body Report on Canada – Autos, para. 84.
  7. Differential and More Favourable Treatment Reciprocity and Fuller Participation of Developing Countries, Decision of 28 November 1979 (L/4903), para. 1.
  8. Ibid.
  9. The arrangement involves full duty free and quota free access to the European Union for all exports originating from the 49 benefiting parties excluding arms and armaments. European Commission, ‘Everything But Arms- Who benefits?’ (2013) http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2013/april/tradoc_150983.pdf
  10. Appellate Body Report on Turkey – Textiles, para 55.
  11. XXIV:5, GATT 1994, Accordingly, the provisions of this Agreement shall not prevent, as between the territories of contracting parties, the formation of a customs union or of a free-trade area or the adoption of an interim agreement necessary for the formation of a customs union or of a free- trade area; Provided that: (a) With respect to a customs union, or an interim agreement leading to a formation of a customs union, the duties and other regulations of commerce imposed at the institution of any such union or interim agreement in respect of trade with contracting parties not parties to such union or agreement shall not on the whole be higher or more restrictive than the general incidence of the duties and regulations of commerce applicable in the constituent territories prior to the formation of such union or the adoption of such interim agreement, as the case may be; (b) With respect to a free-trade area, or an interim agreement leading to the formation of a free-trade area, the duties and other regulations of commerce maintained in each if the constituent territories and applicable at the formation of such free-trade area or the adoption of such interim agreement to the trade of contracting parties not included in such area or not parties to such agreement shall not be higher or more restrictive than the corresponding duties and other regulations of commerce existing in the same constituent territories prior to the formation of the free-trade area, or interim agreement as the case may be; and (c) Any interim agreement referred to in sub-paragraphs (a) and (b) shall include a plan and schedule for the formation of such a customs union or of such a free-trade area within a reasonable length of time.
  12. Richard E. Baldwin, The Causes of Regionalism (1997) p.877
  13. Lawrence, R. (1996), Regionalism, Multilateralism and Deeper Integration (Washington:

    Brookings Institute)

  14. Richard E. Baldwin 1997, The Causes of Regionalism p.878
  15. ibid.
  16. Michael J. Ferrantino, Policy Anchors: Do Free Trade Agreements and WTO Accessions Serve as Vehicles for Developing-country Policy Reform: Do Free Trade Agreements and WTO Accessions Serve as Vehicles for Developing-country Policy Reform? Palgrave Macmillan (2010)
  17. Luis Abugattas Majluf, Swimming in the Spaghetti Bowl: Challenges for Developing Countries under New Regionalism, UNCTAD Policy issues in international trade and commodities, study series no.52 p.5
  18. ibid. p.69
  19. Appellate Body Report on Canada-Autos para. 78.
  20. “Non-tariff barriers comprise all measures other than tariffs that restrict or otherwise distort trade flows”. OECD Trade Policy Study– Looking Beyond Tariff Barriers: The role of non-tariff barriers in world trade (2005) p.11
  21. Article XXIV GATT 1994
  22. A Transatlantic Zero Agreement: Estimating the Gains from Transatlantic Free Trade in Goods, ECIPE Occasional Paper No. 4/2010 p.2.
  23. Transatlantic Free Trade: Winners, Losers and Necessary Accompanying Measures 19 Law & Bus. Rev. Am. 445 (2013), p.481
  24. Joseph Francois, Miriam Manchin, Hanna Norberg, Olga Pindyuk, Patrick Tomberger, Reducing Trans-Atlantic Barriers to Trade and Investment, TRADE10/A2/A16, Centre for Economic Policy Research (2013) p.28
  25. European Commission MEMO/13/564 – Member States endorse EU-US trade and investment negotiations (June, 2013), p.2.
  26. Joseph Francois et. al, Reducing Trans-Atlantic Barriers to Trade and Investment (2013) p.86
  27. TTIP Round 8 – final day press conference, comments by EU Chief Negotiator Ignacio Garcia Barcero, Brussels, 5 February 2015
  28. Assumption made based on the objective by TTIP negotiators to continue adhering to the global responsibilities undertaken both on EU and US level.
  29. Joseph Francois et. al, Reducing Trans-Atlantic Barriers to Trade and Investment (2013) p.84, table 41
  30. The objectives of Art. XXIV GATT 1994
  31. European Commission, The Transatlantic Trade and Investment Partnership – The Economic Analysis Explained, (2013) p.10
  32. The World Bank list of high income economies – http://data.worldbank.org/about/country-and-lending-groups#High_income (3/3/2015)
  33. The World Bank list of low income economies – http://data.worldbank.org/about/country-and-lending-groups#Low_income (3/3/2015)

3/2015 – Internationale Stimmen zum Recht

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(Die gesamte Ausgabe als PDF herunterladen)

#vernetzt #grenzenlos – in Zeiten von Instagram, Facebook und Twitter darf sich auch eine studentische rechtswissenschaftliche Zeitschrift der neuen Dimension des internationalen Miteinanders und seiner Sprachlichkeit nicht verwehren. Dass dies sich auch rechtlich bemerkbar macht und gerade das internationale Privat- und Wirtschaftsrecht, das Europarecht und Völkerrecht an besonderer Relevanz gewinnt, versteht sich von selbst. Vernetzt und grenzenlos sein bekommt dabei eine eigenartig zwiespältige Bedeutung. Sind wir ins Netz gegangen und alle Grenzen los? Oder profitieren vielleicht gerade die jungen Generationen von zunehmender Weltoffenheit, globalem Austausch und Transparenz?
Viele Fragen bleiben offen. Die Advents-Ausgabe von Freilaw möchte einigen internationalen Stimmen zum Recht eine Plattform bieten. Sie darf gerne unter dem #Freilaw im großen WorldWideWeb verbreitet werden…
Der erste Beitrag von Julia Kurth befasst sich mit den rechtlichen Auswirkungen einer Kündigung des ICSID-Übereinkommens. Von Belang ist insbesondere die Diskrepanz zwischen einer Kündigung des Übereinkommens einerseits und einer bestehenden ICSID-Zustimmung in einem Investitionsschutzabkommen andererseits.
Für Internationalität in mehrfacher Hinsicht sorgt der englischsprachige Beitrag von Ifigenia Herrera Temesio, einer Studentin aus Glasgow, über das Verhältnis von TTIP zu den Grundsätzen der Welthandelsorganisation (WTO) und möglicher Verstöße dagegen.
Sonja Bühler berichtet über ihr einjähriges Auslandsstudium an der University of Glasgow und geht dabei auf die Unterschiede im Rechtssystem und die daraus resultierenden Unterschiede im Studium ein.
Für (angehende) Juristen, die den Weg in den Journalismus suchen, schreibt Manuel Leidinger seinem Bericht über das Seminar „Journalismus und Recht“ in Münster.
Ergänzt wird die Ausgabe mit zwei Rezensionen zu Lehrbüchern des Öffentlichen Rechts. Tilman Imm hat die Neuauflage des „Allgemeinen Verwaltungsrechts“ von Prof. Dr. Steffen Detterbeck genauer unter die Lupe genommen. Patrick Otto setzt sich in seinem Beitrag mit dem „Öffentlichen Recht“ von Prof. Dr. Jörg-Dierer Oberrath auseinander.
Historischer Jurist ist in dieser Ausgabe ein Vater unserer Verfassung: Carlo Schmid. Über sein Leben und Wirken erzählt Sarah Baukelmann und rundet diese Ausgabe ab.

Viel Spaß beim Lesen!


Straftäter Unternehmen? – Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen nach §§ 1-3 des Entwurfs eines Verbandsstrafgesetzbuchs (VerbStrG-E)

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Am 18. September 2013 hat die Landesregierung Nordrhein-Westfalens den „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden“ vorgestellt, der von den Justizministerinnen und -ministern der anderen Länder begrüßt wurde. Ansonsten ist der Entwurf aber auf herbe Kritik und – vor allem in der Wirtschaft – auf Ablehnung gestoßen. Ein Teil des Entwurfs und die diesbezügliche Kritik sollen hier nun näher beleuchtet werden.

A. Einführung

„Wenn Leute von einer Burg ausreiten und Schaden anrichten, sie aber innerhalb eines Tages und einer Nacht nicht auf die Burg zurückkehren und auch das Raubgut nicht vor oder in die Burg gelangt, dann ist die Burg an dem Verbrechen unschuldig. Kommen aber die Räuber in die Burg zurück und das geraubte Gut davor oder mit hinein, dann ist die Burg an dem Verbrechen mitschuldig.“ 1

(Eike v. Repgow – Der Sachsenspiegel, Landrecht, Zweites Buch Art.72)

Es erstaunt, dass die Frage nach der Strafbarkeit von Verbänden 2 ein schon seit so langer Zeit gesellschaftlich und juristisch relevantes Thema ist. Dass sich gerade in Zeiten von „FIFA-Korruption“ und „VW-Abgasmanipulation“ wieder mit dieser Materie auseinandergesetzt wird, ist nicht verwunderlich. Denn wenn bei solchen – zu Lasten von Mensch, Umwelt und Wirtschaft – aus Unternehmen heraus begangenen Verbrechen die Belangung einzelner Mitarbeiter aufgrund komplexer, global vernetzter Strukturen und arbeitsteiliger Vorgänge stets schwieriger wird, 3 vernimmt man immer wieder den Vorwurf: „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen!“. Eben diesem will der Justizminister Nordrhein-Westfalens, Thomas Kutschaty, mit dem „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden“ 4 entgegenwirken. 5

Dieser Aufsatz soll nun die §§ 1-3 des Entwurfs in den Blick nehmen, d.h. deren Systematik und Regelungsinhalt, die hieran geübte Kritik und eventuelle Verbesserungsvorschläge darstellen. Schwerpunkt bildet dabei die Frage nach dem Haftungsprinzip, d.h. unter welchen Voraussetzungen ein Unternehmen zu bestrafen ist.

Zuvor soll allerdings ein kurzer Abriss davon gegeben werden, inwieweit es mit Blick auf die Dogmatik des deutschen Strafrechts möglich ist, Unternehmen strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.

B. Grundprobleme eines Unternehmensstrafrechts ieS

Da das zu diesem Thema bereits „angehäufte Forschungsgebirge“ 6 hier nicht zu erklimmen wäre, sollen im Folgenenden die dogmatischen Grundprobleme und deren Lösungsmöglichkeiten nur skizziert werden.

I. Normadressateneigenschaft

Zunächst stellt sich die Frage, ob Unternehmen Adressaten strafrechtlicher Normen sein können. Erforderlich wäre hierfür die Fähigkeit, die aus der Norm resultierenden Pflichten zu verstehen und zu erfüllen. 7

Die Adressateneigenschaft wird wie folgt begründet: Als Kehrseite der Freiheit, am Sozial- und Wirtschaftsleben teilnehmen zu können, treffe das Unternehmen eine originäre Verpflichtung, bei Ausübung seiner Freiheit keine Rechtsgüter zu verletzen. 8 Diese Pflicht sei inhaltlich aber gerade nicht deckungsgleich mit den Verpflichtungen der einzelnen Mitarbeiter, könne also nicht vollständig durch diese erfüllt werden. 9

Eine solche Deutung liege auch § 14 StGB zugrunde, denn dieser setze voraus, dass der Normbefehl an sich an den Verband adressiert ist. 10

II. Handlungsfähigkeit

Problematischer ist die Handlungsfähigkeit von Verbänden. Eine Handlung im strafrechtlichen Sinn kann – theorieübergreifend 11 – nur ein menschliches, vom Willen getragenes Verhalten sein. 12 Aufgrund mangelnder „psychisch-geistige[r] Substanz“ 13 könne ein Unternehmen demnach nicht selbst handeln. Dass ein solcher Schluss zunächst logisch erscheint, bedeutet jedoch keineswegs dessen Endgültigkeit. Vielmehr wird die Handlungsfähigkeit von Verbänden auf zwei Arten hergeleitet:

1. Zurechnungsmodell

Eine Ansicht argumentiert, dem Unternehmen seien die Handlungen ihrer Vertreter und Organe zuzurechnen. 14 Hierfür spreche, dass dem Strafrecht ein solches Vorgehen – v.a. im Rahmen der Mittäterschaft nach § 25 II StGB – keineswegs fremd sei, 15 auch wenn hier an eine natürliche Handlung angeknüpft werde. 16 Letzteres ist gerade das, was die Zurechenbarkeit grundsätzlich voraussetzt: „einen tragfähigen Zurechnungsgrund“ 17. Ein solcher wird hinsichtlich des Verbands wiederum unterschiedlich begründet:

a) Identifikation

Einerseits ließe sich argumentieren, Unternehmen müssten sich das Verhalten derjenigen Personen zurechnen – sich also mit ihnen identifizieren – lassen, durch die sie überhaupt erst tätig werden können. 18

b) Organisationsmangel

Andererseits wird das „Prinzip des Organisationsmangels“ 19 angeführt: Die Zurechnung erfolge, „weil und soweit der Verband durch seine Organe oder Vertreter Vorsorgemaßnahmen zu treffen unterlassen hat, die erforderlich sind, um einen ordentlichen […] Geschäftsbetrieb zu gewähren.“ 20

2. Modell originärer Verbandshandlungsfähigkeit

Andere meinen, dass es des „Umwegs“ über die Zurechnung gar nicht bedürfe, der Verband also selbst handlungsfähig sei. 21 Auch hierbei werden unterschiedliche Ansätze vertreten:

a) Normadressateneigenschaft

Einer Ansicht nach folge die Handlungsfähigkeit eines Verbands bereits aus seiner Subjektsstellung in der sozialen Realität und seiner Normadressateneigenschaft. 22 Denn wen Rechtspflichten träfen, der könne diese nicht nur erfüllen, sondern eben auch verletzen. 23

b) Systemtheoretisches Modell

Eine weitere Auffassung stellt auf den Systemgedanken ab: Das delinquente Verhalten einer natürlichen Person unterscheide sich nicht wesentlich von dem eines Verbands: Jeweils gehe es um das „Verhalten eines Systems, das als Sinnausdruck verstanden werden kann und damit eine strafrechtliche Bewertung ermöglicht und erfordert.“ 24

III. Schuldfähigkeit

Das Hauptproblem stellt sich sodann im Rahmen der Schuld: Der Grundsatz nulla poena sine culpa ist im Rechtsstaatsprinzip verfassungsrechtlich verankert. 25 Grundlage dieses Prinzips ist die Annahme, dass „der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden.“ 26 Eine solche Fähigkeit besäßen Verbände aber gerade nicht. 27

Auch dies scheint auf den ersten Blick unverrückbar, bedarf aber noch eines zweiten Blickes, der wiederum an die beiden – bereits bei der Handlungsfähigkeit dargestellten – Modelle anknüpft:

1. Zurechnungsmodell

Eine Ansicht meint, man könne dem Unternehmen das Verschulden der für es handelnden natürlichen Personen zurechnen. 28 Gestützt wird dies wiederum auf die oben dargelegten Zurechnungsgründe: Zugerechnet werde nur weil und soweit es um „die schuldhafte Verhaltensweise eines funktional tätigen Unternehmensrepräsentanten [geht], in der die kollektive Unternehmensschuld zum Ausdruck kommt.“ 29

2. Modell originärer Verbandsschuld

Demgegenüber entwickelt eine andere Auffassung eine originäre Verbandsschuld:

Der Grundsatz nulla poena sine culpa fußt in der verfassungsmäßig verankerten Menschenwürde. 30 Da diese einem Unternehmen gar nicht zukomme, könne auch das Schuldprinzip dessen Strafbarkeit nur auf andere Art als bei Menschen begrenzen. 31 Das Schuldprinzip sei eben „weder anthropologisch noch sachlogisch begründet, sondern normativ und funktional. E[s] soll gewährleisten, dass Strafe nur verhängt wird, wenn dies vor den Sinn- und Zweckzuschreibungen der Strafe gerechtfertigt werden kann.“ 32

Insofern lasse sich – im Rahmen einer „zweiten strafrechtlichen Spur“ 33 – originäres Verbandsverschulden als sozialer „Vorwurf mangelnder Richtigkeit im Sinne […] einer defizitären Organisationsstruktur“ 34 verstehen. 35 Ähnlich wie bei § 323a StGB gehe es um ein Vorverschulden, durch das eine individuelle Straftat ermöglicht wird. 36

IV. Straffähigkeit

Eng mit der Schuld ist die Frage der Straffähigkeit verknüpft. Eine solche wird Unternehmen mit Verweis darauf, diese hätten nun einmal – mit den Worten Edward Thurlows gesprochen – „no soul to be damned, and no body to be kicked37, aberkannt. 38 Auch seien sie nicht zur Einsicht in begangenes Unrecht fähig. 39

Geht man jedoch davon aus, dass ein Verband soziale Realität und schuldfähig sei, so folgt bereits daraus, dass er durch Einschränkung seiner Rechtsgüter auch ansprechbar ist. 40 Ein Unternehmen sei durch seine Mitglieder und Organe ein „mit Leben erfülltes Gebilde“ 41, sodass eine Sanktion durchaus zu Reaktionen innerhalb dieses Gebildes führen könne. 42 Weshalb eine Verbandsstrafe nicht auch auf andere Verbände abschreckend wirken, den betroffenen Verband „bessern“ und die Allgemeinheit in ihrer Normtreue bestärken könne, sei jedenfalls nicht ersichtlich. 43 Auch ließe sich ein retributiver Ansatz begründen: Wenn der Verband die ihn selbst – als Kehrseite seiner Freiheit, am Markt zu agieren – treffende Pflicht verletze, müsse er sich gefallen lassen, dass auf seine Kosten die Unauflöslichkeit des Zusammenhangs von Freiheitsgenuss und Pflichterfüllung demonstriert werde. 44

V. Bestrafung Unschuldiger

Eine solche Straffähigkeitsbegründung wirft allerdings ein Folgeproblem auf: Die Sanktionierung eines Verbands treffe letztlich Anteilseigner und Arbeitnehmer – also i.d.R. Unschuldige – und sei demnach eine Kollektivstrafe. 45 Das Argument, dies sei bei der Familie eines bestraften Täters nicht anders, 46 verfange insoweit nicht, als dass es ja – jedenfalls hinsichtlich der Anteilseigner – gerade darauf ankomme, die hinter dem Verband stehenden Individuen zu treffen und so unternehmerische Veränderungen zu bewirken. 47

Dennoch sei die „motivierende Betroffenheit“ 48 nicht dasselbe wie eine Bestrafung Dritter: Das soziale System “Verband“ entstehe nun einmal erst durch seine Mitglieder – auch wenn es am Ende mehr als deren bloße Summe sei; bei Betrachtung der Verbandsstrafe könne man dann aber diese „mediatisierten Personen“ 49 – die v.a. als Anteilseigner nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Unternehmensleitung besäßen – nicht einfach aus ihrer das System “Verband“ konstituierenden Rolle herauslösen. 50

VI. Zwischenfazit

Es wäre verfehlt, hier zu versuchen, den Streit zwischen Kritikern und Befürwortern eines Verbandsstrafrechts zu entscheiden. Es steht außer Frage, dass in einem Unternehmen – selbst wenn man es noch so systemtheoretisch betrachtet – faktisch nur Menschen bestimmen und organisieren können. 51 Auch leuchtet es unmittelbar ein, dass die Zurechnung fremder Handlungen oder Schuld eben nicht dasselbe wie eigene Handlungen oder Schuld ist. 52

Allerdings überrascht es nicht, wenn sich mit den ausschließlich auf Einzelpersonen zugeschnittenen Dogmen hinsichtlich Handlungs- und Schuldfähigkeit eben auch nur für Einzelpersonen sinnvolle Ergebnisse erzielen lassen. 53

Die sich entgegenlaufenden Ansichten scheinen sich auf unterschiedlichen Ebenen zu befinden bzw. von verschiedenen Wirklichkeiten (v.a. im Hinblick auf das Wesen der Strafe 54) auszugehen: Während die Kritiker einer Verbandsstrafe eisern an den deutschen strafrechtlichen Grundlinien, die aber eben für das Individualstrafrecht etabliert wurden, festhalten wollen, versuchen die Befürworter, diese Grundlinien für die Errichtung eines Verbandsstrafrechts fruchtbar zu machen.

Letztlich sollte die Entscheidung dem Gesetzgeber in den Schranken der Verfassung überlassen bleiben. Dies gilt unabhängig davon, dass internationale Vorgaben noch kein Unternehmensstrafrecht fordern 55 und auch unabhängig von der Frage, ob die bisherige Rechtslage den internationalen Anforderungen genügt. 56 Denn eine direkt an das Unternehmen adressierte Strafnorm und das bei Verstoß hiergegen drohende Unwerturteil würden anders als die – eher ermahnend verstandene und „denselben Namen […] wie ein Alltagsvergehen im Straßenverkehr“ 57 tragende – Geldbuße im Rahmen des Ordnungswidrigkeitenrechts zu einer Rufbeeinträchtigung und damit auch zu anderen Reaktionen im Verband geeignet sein. 58 Letztlich ist es nun einmal „Sache des demokratisch legitimierten Gesetzgebers […] Strafnormen gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen,“ 59 denn „[k]eine Rechtstradition ist Selbstzweck [,d]as Recht muss [vielmehr] den Menschen dienen.“ 60

Zu fordern ist aber ein überzeugender, in sich schlüssiger und mit dem Strafrecht weitestgehend harmonisierender Rechtsetzungsakt. Inwiefern ein solcher mit dem NRW-Entwurf gegeben ist, soll nun im zweiten Teil untersucht werden.

C. §§ 1-3 VerbStrG-E

Im Folgenden soll dargestellt werden, inwiefern Unternehmen nach §§ 1-3 VerbStrG-E verantwortlich wären, wobei besonderes Augenmerk auf Systematik, Regelungsinhalt, geübte Kritik und eventuelle Verbesserungsvorschläge gerichtet wird.

I. Persönlicher Anwendungsbereich

Sanktionsfähige Verbände sind nach § 1 I VerbStrG-E „juristische Personen, nicht rechtsfähige Vereine und rechtsfähige Personengesellschaften des privaten und öffentlichen Rechts“.

1. Unternehmensträger

Bereits hieran wird deutlich, dass der Entwurf anders als sein Titel vermuten lässt, nicht die Verantwortlichkeit von Unternehmen, sondern die der Unternehmensträger – d.h. der hinter dem Unternehmen stehenden Zivilrechtssubjekte – regelt. 61 Vom Wortlaut des § 1 I VerbStrG-E nicht erfasst ist eine natürliche Person als Unternehmensträger, also ein Einzelunternehmen. 62 Ansonsten könnte der Kaufmann sowohl über das Individualstrafrecht als auch über das Verbandsstrafrecht sanktioniert werden. 63 Ferner müsste bei Zuwiderhandlungen seiner Mitarbeiter die Strafe – mangels Rechtsfähigkeit seines Unternehmens – unmittelbar gegen ihn verhängt werden, was dem Schuldgrundsatz widerspräche. 64

Demgegenüber fällt eine „Ein-Mann-GmbH“, die aus einem Alleingesellschafter besteht, der gleichzeitig Geschäftsführer sein kann, 65 als juristische Person in den Anwendungsbereich; 66 obwohl auch sie faktisch kein „Verband“ ist. 67

Eine solche Unterscheidung ist angesichts der Tatsache, dass in beiden Fällen eine Person die Geschäfte leitet und auch die Probleme der Doppelstrafe und der Verantwortlichkeit für fremde Schuld auftreten 68, unangebracht. Dass die verschiedenen zivilrechtlichen Konstruktionen als Begründung herangezogen werden könnten, scheint bei einer auf die „systemischen Risiken“ 69 abstellenden Entwurfsbegründung fernliegend, da allein durch die Form des Rechtsträgers noch nichts über die soziale Struktur des Unternehmens gesagt ist. 70

Es sollte folglich überdacht werden, ob allein die Anknüpfung an die zivilrechtliche Konstruktion des Unternehmensträgers sinnvoll ist.

2. Ideelle Vereine

§ 1 I VerbStrG-E bezieht sämtliche – auch nicht rechtsfähige – Vereine ein. Kritisiert wird hieran, dass dadurch das gesamte ideelle Vereinswesen Sanktionen fürchten müsste oder gezwungen wäre, aufwendige Compliance-Strukturen zu etablieren. 71

Allerdings können Vereine auch bei nicht wirtschaftlicher Ausrichtung über beachtliches Vermögen verfügen und bedeutende wirtschaftliche Tätigkeit entfalten (zB Gewerkschaften, größere Sportvereine). 72 Zudem sind bestimmte Verhaltensweisen in diesem Bereich ebenso strafwürdig wie Kriminalität in Wirtschaftsunternehmen (zB Spendenveruntreuung). 73 Hinsichtlich des Gleichheitsgrundsatzes wäre es also nicht angebracht, einzelne Rechtsformen auszuklammern, was vielmehr auch nicht von § 30 OWiG vorgesehen ist. 74

3. Verbände des öffentlichen Rechts

Nach § 1 I VerbStrG-E sind ausdrücklich auch Verbände des öffentlichen Rechts erfasst, soweit sie nicht hoheitliche Befugnisse wahrnehmen (vgl. § 1 II 1 VerbStrG-E). Hiermit soll „auf die Freiheit der Formenwahl im Rahmen der staatlichen Daseinsvorsorge“ 75 reagiert werden.

Eine Ansicht empfindet diese Einbeziehung mit Blick auf Gebietskörperschaften als zu weitgehend; 76 eine andere hingegen kritisiert, dass es inkonsequent sei, hoheitliches Handeln von der Strafbarkeit auszunehmen, weil dies auch nicht für individuelle Hoheitsträger im Rahmen der §§ 331 ff. StGB vorgesehen sei. 77 Bei dieser Frage sind die europäischen und internationalen Vorgaben entscheidend:

Laut Entwurfsbegründung 78 orientiert sich § 1 II 1 VerbStrG-E an Art. 1 lit. d des Zweiten Protokolls zur PIF-Konvention 79, an das wiederum weitere europäische Regelungen angelehnt sind. 80

Hiernach soll jedes Rechtssubjekt „mit Ausnahme von Staaten oder sonstigen Körperschaften des öffentlichen Rechts in der Ausübung ihrer hoheitlichen Rechte“ erfasst sein. Die grundsätzliche Einbeziehung von Verbänden des öffentlichen Rechts ist also europarechtlich gefordert. Was unter der Ausübung hoheitlicher Rechte zu verstehen ist, wurde vom EuGH noch nicht abschließend entschieden. 81

Es existieren allerdings auch einige Abkommen, die keine explizite Regelung für Hoheitshandeln vorsehen. 82 Ob hieraus die Pflicht resultiert, sämtliche Verbände des öffentlichen Rechts miteinzubeziehen, ist fraglich und kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Es wäre jedoch kaum zu verstehen, weshalb die Befolgung der Vorgaben des als Vorbild dienenden Zweiten Protokolls zur PIF-Konvention nicht ausreichen sollte.

II. Zugrundeliegendes Modell der Verbandsstraftaten

Kernvorschrift des Gesetzesentwurfs bildet § 2 VerbStrG-E, in dessen Abs. 1 und 2 die Tatbestände geregelt sind. Laut Entwurfsbegründung werde hierbei kein Zurechnungsmodell zugrunde gelegt, 83 vielmehr gehe es darum, originäre Verbandsschuld zu sanktionieren, die darin bestehe, „dass der Verband sich eine derart unzureichende Organisation gibt, dass kriminelles Verhalten geduldet, begünstigt oder gar provoziert wird.“ 84

1. § 2 I VerbStrG-E

Nach Abs. 1 macht sich ein Verband strafbar, wenn „durch einen Entscheidungsträger in Wahrnehmung der Angelegenheiten eines Verbandes vorsätzlich oder fahrlässig eine verbandsbezogene Zuwiderhandlung begangen worden“ ist. Dem Verband wird vorgeworfen, die Personen, die besonders großen Einfluss auf die Verbandskultur hätten, nicht ausreichend sorgfältig ausgewählt bzw. deren Aufgabenzuschnitt nicht überlegt genug bestimmt zu haben. 85

Problematisch sei, dass der Wortlaut des § 2 I VerbStrG-E einen solchen Vorwurf nicht erkennen lasse und dadurch den Eindruck einer Zurechnungsnorm vermittle. 86 Vorgeschlagen wird daher, in Anlehnung an Art. 102 I SchweizerStGB den Tatbestand des § 2 I VerbStrG-E davon abhängig zu machen, dass die „Tat wegen mangelhafter Organisation des Unternehmens keiner bestimmten natürlichen Person zugerechnet werden“ kann. 87 Eine solche Subsidiaritätshaftung des Unternehmens will der Gesetzesentwurf aber gerade nicht statuieren. 88

Andere favorisieren deshalb, § 2 I VerbStrG-E entweder um ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des Organisationsmangels oder um den Zusatz „wenn aufgrund von organisatorischen Mängeln […]“ zu ergänzen. 89 Allerdings führt eine solche Erweiterung dazu, dass die organisatorischen Defizite nachzuweisen wären, was wiederum dem Entwurf entgegenliefe, der diese durch eine verbandsbezogene Zuwiderhandlung seitens eines Entscheidungsträgers für bewiesen ansieht. 90 Letztlich geht es also um Beweisfragen, die später geklärt werden sollen.

Einer Umformulierung bedarf es nicht; ein Zurechnungsmodell kommt gar nicht in Betracht, weil – anders als bei § 30 OWiG – nicht erforderlich ist, dass der betreffende Entscheidungsträger selbst auch bestraft werden könnte, also volldeliktisch gehandelt hat. 91

2. § 2 II VerbStrG-E

Der sich an § 130 OWiG orientierende Abs. 2 normiert: „Ist in Wahrnehmung der Angelegenheiten eines Verbandes eine verbandsbezogene Zuwiderhandlung begangen worden, so wird gegen den Verband eine Verbandssanktion verhängt, wenn durch einen Entscheidungsträger dieses Verbandes vorsätzlich oder fahrlässig zumutbare Aufsichtsmaßnahmen, insbesondere technischer, organisatorischer oder personeller Art, unterlassen worden sind, durch die die Zuwiderhandlung verhindert oder wesentlich erschwert worden wäre.“ Haftungsgrund hierbei ist also „ein Organisationsmangel unterhalb der Auswahl der Entscheidungsträger.“ 92 Anders als Abs. 1 knüpft der Wortlaut des Abs. 2 damit ausdrücklich an die Organisation des Verbands an. 93

III. Legaldefinierte Tatbestandsmerkmale

Die Tatbestandsmerkmale des § 2 VerbStrG-E „Zuwiderhandlung“ „verbandsbezogen“ und „Entscheidungsträger“ sind in § 1 II, III legaldefiniert.

1. Zuwiderhandlung

Zuwiderhandlungen sind nach § 1 II 1 VerbStrG-E „Zuwiderhandlungen gegen ein Strafgesetz“. Es bleibt offen, ob bereits die Erfüllung des objektiven Tatbestandes ausreicht. 94 Hierfür scheint § 2 I VerbStrG-E zu sprechen, der einen eigenständigen subjektiven Tatbestand formuliert. 95 Dies hätte zur Folge, dass Vorsatzdelikte auch fahrlässig begehbar wären. 96 Das ist jedoch von den Entwurfsverfassern nicht gewollt, vielmehr „muss die Zuwiderhandlung […] rechtswidrig sein und bei Vorsatzdelikten zumindest mit natürlichem Vorsatz ausgeführt werden.“ 97

Aus Klarstellungsgründen sollte die Legaldefinition um diesen Zusatz ergänzt; dafür aber bei § 2 I VerbStrG-E auf die Begriffe „vorsätzlich oder fahrlässig“ verzichtet werden. 98

Denkbar ist aber noch eine elegantere Lösung: Den Entwurfsverfassern scheint es darum zu gehen, Zurechnungs- und Beweisschwierigkeiten abzubauen. 99 Insoweit wäre eine rein objektive Sichtweise, die als Zuwiderhandlung den „äußeren Geschehensablauf der Straftat“ 100 ausreichen ließe, am effektivsten. Um die oben erwähnte Kritik hieran zu verhindern, könnte man in einem § 2a eine limitierte Akzessorietät wie folgt normieren: „Fehlende besondere persönliche Merkmale, subjektive Tatelemente, persönliche Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe hindern auch eine Strafbarkeit des Verbandes, es sei denn, der Mangel gründet auf organisatorischen Defiziten des Verbandes.“ 101

2. Verbandsbezug

Der erforderliche Verbandsbezug von Zuwiderhandlungen liegt nach § 1 II 1 VerbStrG-E dann vor, „wenn durch sie Pflichten verletzt worden sind, die den Verband treffen, oder wenn durch sie der Verband bereichert worden ist oder bereichert werden sollte.“

a) Verletzung von den Verband treffenden Pflichten

Probleme weist hier nur die erste Variante auf. Zwar geht der Entwurf – wenn auch unglücklich formuliert 102 – nicht davon aus, dass ausschließlich inhaberbezogene Sonderdelikte, sondern ebenso Allgemeindelikte taugliche Anknüpfungstaten für die Herleitung von verbandsbezogenen Pflichten sein können. Doch ist hierdurch noch nichts über die Voraussetzungen des Verbandsbezugs bei Jedermannspflichten gesagt. 103 Zu dieser Frage werden in der Literatur verschiedenste Ansätze vertreten; 104 da der Entwurf aber explizit auf die „in der Rechtsprechung entwickelte Kausuistik [sic]“ 105 verweist, soll an dieser Stelle nur eine Entscheidung des BGH 106 zur sog. Geschäftsherrenhaftung dargestellt werden. Hiernach können sich betriebsbezogene Pflichten nur auf die „dem Betrieb oder dem Tätigkeitsfeld seiner Mitarbeiter spezifisch anhaftende[n] Gefahren“ 107 beziehen.“ 108 Eine Zuwiderhandlung wäre danach also jedenfalls dann nicht verbandsbezogen, wenn ihr der „innere […] Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit“ 109 fehlt, sie also nur „bei Gelegenheit [dieser] Tätigkeit“ 110 begangen wird. 111 Demgegenüber läge der Verbandsbezug vor, wenn sich die Zuwiderhandlung gerade als „Teil der `Firmenpolitik´“ 112 darstellt.

Da diese BGH-Entscheidung jedoch nur grobe Anhaltspunkte bietet, wäre es ratsam, die Verbandspflichten in § 1 II 2 VerbStrG-E noch zu konkretisieren. 113

b) Zuwiderhandlungen zum Nachteil des Verbands

Weiterhin ist problematisch, ob ein Verbandsbezug bei Zuwiderhandlungen zum Nachteil des Verbands bestünde. Hierfür kann an die sich bei §§ 30, 130 OWiG gleichfalls ergebende Problematik und den damit einhergehenden Streitstand angeknüpft werden. 114

aa) Verbandsbezug

Einer Ansicht nach komme es allein darauf an, ob die Zuwiderhandlung Ausdruck einer defizitären Verbandsorganisation sei, sodass ein Nachteil des Unternehmens noch nicht auf Tatbestandsebene, sondern erst im Rahmen der Strafzumessung bzw. des § 5 VerbStrG-E relevant sein könne. 115 Hierfür spreche v.a. ein Vergleich zwischen § 1 II 2 Alt. 1 und Alt. 2 VerbStrG-E: Wenn auch bei Alt. 1 ein (pekuniärer) Vorteil des Verbands gefordert würde, käme dieser Alt. kaum ein eigener Anwendungsbereich zu. 116

bb) Kein Verbandsbezug

Die Gegenauffassung führt an, dass grundsätzlich von niemandem verlangt werde, seine eigenen Rechtsgüter zu schützen. 117 Zudem sei das Unternehmen selbst daran interessiert, eigene Schäden zu vermeiden, sodass es keiner Sanktion bedürfe, um die Bereitschaft zum Unterbinden von Zuwiderhandlungen zu fördern. 118 Dieser Ansicht nach fehle Zuwiderhandlungen gegen den eigenen Verband der Verbandsbezug, weshalb als ergänzendes Merkmal die Verfolgung von Unternehmensinteressen vorgeschlagen wird. 119

cc) Streitentscheid

Nach der Entwurfsbegründung soll es zwar nicht hinderlich sein, dass eine Zuwiderhandlung auch im Interesse des sie Begehenden liegt, 120 an einem Verbandsbezug mangele es allerdings in aller Regel dann, wenn sie ausschließlich gegen den Verband gerichtet sind. 121

Die Verfolgung von Unternehmensinteressen kann hingegen nicht als Zusatzkriterium zur Umschreibung verbandsbezogener Pflichtverletzungen eingeführt werden, denn hiermit wäre verbunden, dass auch solche Zuwiderhandlungen als Anknüpfung ausschieden, die zwar einerseits Unternehmensinteressen, gleichzeitig aber auch Rechtsgüter Dritter oder der Allgemeinheit verletzen. 122 Insofern ist stets genau zu prüfen, wer durch die Zuwiderhandlung betroffen ist, d.h. welchen Schutzzweck die jeweilige Norm verfolgt.

3. Entscheidungsträger

Wer Entscheidungsträger ist, regelt § 1 III VerbStrG-E, wobei die Buchstaben a) – c) keinerlei Überraschungen bergen, indem sie – wie auch § 30 I Nr. 1 – 3 OWiG – vertretungsberechtigte Personen auflisten.

Immenser Kritik sieht sich allerdings lit. d) ausgesetzt, der laut Entwurfsbegründung alle Personen erfasse, die in formeller Position oder tatsächlich Leitungs- oder Kontrollfunktionen wahrnehmen und daher ebenfalls sorgfältig ausgewählt und überwacht werden müssen. 123 Die vom Gesetzesentwurf bezweckte Erfassung faktischer Geschäftsführer, Leiter der Innenrevision und Compliance-Beauftragter 124, erscheint vielen als „entschieden zu weit“ 125. Risiko, Aufgabenbereich, Befugnisse und Pflichten dieser Personen seien nicht mit denen der in lit. a) – c) genannten vergleichbar. 126

Zu beachten ist allerdings, dass sich eine dem § 1 III lit. d) ähnelnde Vorschrift auch in § 30 I Nr. 5 OWiG findet, die dieselben Personen erfassen soll. 127 Grund hierfür sind wiederum Vorgaben des EU-Rechts (vgl. Art. 3 I des Zweiten Protokolls zur PIF-Konvention); überdies ist eine solche Ausdehnung auch sinnvoll, um Umgehungsanreizen vorzubeugen. 128

IV. Systematik der Straftatbestände des § 2 VerbStrG-E

Im Folgenden wird noch einmal auf die Straftatbestände und deren Systematik eingegangen.

1. § 2 I VerbStrG-E

Wie bereits erläutert, geht es bei § 2 I VerbStrG-E um die Sanktionierung originären Verbandsunrechts: Begehen Entscheidungsträger eine verbandsbezogene Zuwiderhandlung, erweise sich deren Auswahl als von Anfang an fehlerhaft. 129

Kritisiert wird an diesem zwingenden Schluss, dass auch Fälle vorstellbar seien, in denen ein Entscheidungsträger sorgfältig ausgesucht wurde und erst nach langer Zeit eine Straftat begeht, die trotz ausreichender Compliance-Programme nicht abwendbar war. 130 Gefordert wird insofern mit Blick auf das Schuldprinzip eine Exkulpationsklausel 131, die wie folgt aussehen könnte: […], so wird gegen den Verband eine Verbandssanktion verhängt, „sofern dieser nicht nachweist, dass er jene Compliance-Vorkehrungen getroffen hat, die nach einer objektiven ex-ante Prognose notwendig und zumutbar erscheinen, um Zuwiderhandlungen zu verhindern.“ 132

Ob dies jedoch mit den europäischen Vorgaben, die eine solche Exkulpationsmöglichkeit nicht vorsehen (vgl. Art. 3 I des Zweiten Protokolls zur PIF-Konvention), vereinbar wäre, ist zumindest zweifelhaft. 133

Ohne eine solche Klausel könnte man Fälle wie die obigen jedenfalls als „Exzesstaten“ 134 einstufen, sodass sie bereits tatbestandlich nicht erfasst wären. 135

2. § 2 II VerbStrG-E

Im Vergleich zu Abs. 1 ist die Struktur des Abs. 2 komplexer und bedarf näherer Erörterungen.

a) Formulierungsfehler

Zunächst ist festzustellen, dass er sich ausweislich der Entwurfsbegründung an § 130 OWiG orientiert, 136 was Wortlaut und Satzbau betrifft, jedoch davon abweicht: Die Zuwiderhandlung soll zwar ebenfalls als objektive Bedingung der Ahndung ausgestaltet sein, sodass sie nicht vom Vorsatz der aufsichtspflichtigen Person umfasst sein muss, 137 wird allerdings nicht wie hierfür üblich konditional mit „wenn“ eingeleitet. 138 In einem solchen Konditionalsatz steht dann aber der nachfolgende objektive Tatbestand. 139 Insofern sollte – allein schon, um zu verdeutlichen, dass die Zuwiderhandlungen in Abs. 1 und 2 trotz ähnlicher Formulierung Unterschiede in ihrer rechtlichen Ausgestaltung aufweisen – § 2 II VerbStrG-E umformuliert werden. 140

b) Zuwiderhandlung als objektive Strafbarkeitsbedingung

Ähnlich wie bei § 323a StGB 141 ist auch bei § 130 OWiG umstritten, ob es sich bei der Zuwiderhandlung wirklich um eine rein objektive – und damit unrechtsneutrale – Strafbarkeitsbedingung handelt bzw. handeln kann. Diese Frage lässt sich aufgrund der gleichen Struktur auch bei § 2 II VerbStrG-E stellen:

aa) Abstraktes Gefährdungsdelikt

Einerseits könnte man argumentieren, dass sich das Verbandsunrecht bereits in der unzureichenden Organisation erschöpfe, die Zuwiderhandlung demnach v.a. deren Manifestierung nach außen sei und somit ein abstraktes Gefährdungsdelikt vorliege. 142

bb) Konkretes Gefährdungsdelikt

Dem lässt sich jedoch die Erfolgsbezogenheit der Aufsichtspflichtverletzung und die Berücksichtigung der Zuwiderhandlung bei der Strafzumessung (vgl. § 6 III 2 VerbStrG-E) entgegenhalten. 143 Die Zuwiderhandlung erweise sich so als „verkappter sanktionserhöhender Umstand“ 144. Auch könne das – (bisher) gesellschaftlich jedenfalls tolerierte – Eingehen von Risiken beim Agieren auf dem Markt nicht als alleinige Unrechtsbegründung dienen. 145 Insofern bestimme die Zuwiderhandlung den Unrechtsgehalt wenigstens mit. Konsequenz dessen sei dann, dass es sich um ein konkretes Gefährdungsdelikt derart handele, dass der Betroffene es unterlassen habe, konkrete Zuwiderhandlungsgefahren abzuwenden; Vorsatz und Fahrlässigkeit müssten sich also „auf die betriebstypische Gefahr von Zuwiderhandlungen in einem bestimmten Pflichtenkreis erstrecken.“ 146

aa) Streitentscheid

Der Entwurf geht ausdrücklich von einer objektiven Strafbarkeitsbedingung aus. Bereits „systemische Fehlentwicklungen“ 147 scheinen von den Verfassern als strafwürdig angesehen zu werden; Strafrecht als ultima ratio sollte jedoch erst gebraucht werden, wenn ein Verhalten auch strafbedürftig ist. 148 Der Gesetzgeber kann daher durch eine objektive Bedingung die Strafbarkeit auf strafbedürftige Fälle verengen. 149 Durch diese „tätergünstige Interpretation“ 150 lässt sich dem Konflikt mit dem Schuldprinzip entgehen, allerdings nur, wenn die Schwere der Zuwiderhandlung höchstens Indiz für die Gefährlichkeit des Organisationsdefizits ist. 151

Würde § 6 III 2 VerbStrG-E in diese Richtung überarbeitet, wäre die Einordnung der Zuwiderhandlung als objektive Strafbarkeitsbedingung also (weitestgehend) unproblematisch.

c) Zuwiderhandelnde

Durch wen die Zuwiderhandlung begangen wird, ist unerheblich; einzig entscheidend ist die Handlung in Wahrnehmung der Verbandsangelegenheiten. 152 Es ist nicht erforderlich, die Zuwiderhandlung einer bestimmten Person zuzuordnen, solange alle in Betracht kommenden verbandsbezogen auftraten. 153 Problematisch könnte insoweit die Feststellung von Vorsatz bzw. Fahrlässigkeit sein. 154

In diesem Zusammenhang wird erneut deutlich, dass es am sinnvollsten wäre, die Zuwiderhandlung rein objektiv zu bestimmen und dies durch eine limitierte Akzessorietät einzuschränken. Könnte dann aufgrund defizitärer Verbandsorganisation nicht festgestellt werden, ob jemand die Zuwiderhandlung vorsätzlich oder fahrlässig begangen hat, wäre dies für die Verbandsstrafbarkeit unerheblich.

d) Zumutbare Aufsichtsmaßnahmen

Kern des durch § 2 II VerbStrG-E unter Strafe gestellten Unrechts ist das Unterlassen zumutbarer Aufsicht durch einen Entscheidungsträger. 155 Hieran wird kritisiert, dass für den Normadressaten nicht erkennbar sei, welche zumutbaren Überwachungspflichten er ergreifen soll, was dem Bestimmtheitsgebot (Art. 103 II GG) zuwiderlaufe. 156 Allerdings kennzeichnet sich der Bereich der Aufsicht und Leitung eines Unternehmens durch komplexe Strukturen und einen steten Wandel technischer und gesellschaftlicher Natur, sodass eine genaueste Umschreibung der Pflichten durch den Gesetzgeber nicht zu leisten wäre. 157

In § 2 II VerbStrG-E findet sich immerhin die (für § 130 OWiG schon länger geforderte 158) Präzisierung auf Maßnahmen „insbesondere technischer, organisatorischer oder personeller Art“. Zur weiteren Konkretisierung kann schließlich auf die sich zu § 130 OWiG in Literatur 159 und Rechtsprechung 160 gebildeten Grundprinzipien zurückgegriffen werden. 161 Gegen eine solche Anknüpfung spricht nicht, dass diese Grundsätze im Rahmen des Ordnungswidrigkeitenrechts entwickelt wurden. 162 Denn hier wie dort geht es um Aufsichtsmaßnahmen, durch die Zuwiderhandlungen verhindert werden sollen. Die Anforderungen hieran dürften demnach nicht davon abhängen, wer am Ende wie sanktioniert wird.

Da bei § 130 OWiG aus dem Begriff „gehörige Aufsicht“ ein Zumutbarkeitserfordernis hergeleitet wird, 163 lassen sich auch die hierzu entstandenen Grundsätze für eine Bestimmung der Zumutbarkeit im Rahmen des § 2 II VerbStrG-E fruchtbar machen. 164

Insgesamt liegt somit kein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot vor. Dennoch wäre es – auch mit Blick auf § 5 I VerbStrG-E – v.a. für kleinere Unternehmen hilfreich, wenn der Gesetzgeber wenigstens Mindeststandards für Compliance-Maßnahmen aufstellte. 165

e) Aufsicht in Konzernen

Im Kontext der Aufsicht stellt sich die bei § 130 OWiG kontrovers diskutierte Frage, ob und wenn ja, in welchen Fällen die Obergesellschaft eines Konzerns zur Aufsicht über die rechtlich selbständigen Tochtergesellschaften verpflichtet ist.

Eine Ansicht knüpft daran an, dass ein Konzern unter der einheitlichen Leitung des herrschenden Unternehmens stehe (vgl. § 18 AktG), das auch ein faktisches Durchgriffsrecht auf die Vorstände der Tochterunternehmen habe und folgert hieraus, dass auch die Muttergesellschaft eine Aufsichtspflicht über die Tochtergesellschaft habe. 166 Hierdurch wäre es möglich, bei Pflichtverletzungen der Tochtergesellschaft die Konzernmutter zur Verantwortung zu ziehen. 167

Gegen ein solches Verständnis könnte allerdings die eigene Rechtspersönlichkeit der Tochtergesellschaft sprechen. 168

Der Entwurf scheint sich durch den Wortlaut des § 2 II VerbStrG-E („Entscheidungsträger dieses Verbandes“) der restriktiven Ansicht anschließen zu wollen. 169 Ein Durchgriff auf die Konzernmutter für Zuwiderhandlungen in ihren Tochtergesellschaften ist danach nicht vorgesehen, um „Zurechnungskaskaden auf rechtlich ungesicherter Basis“ 170 zu verhindern. 171

Allerdings statuiert der Entwurf eine „Aufsichtspflicht der Verantwortlichen der Konzernobergesellschaft für den Konzernbereich.“ 172 Hieraus folgt die Möglichkeit, die Muttergesellschaft selbständig nach § 2 I VerbStrG-E zu sanktionieren, wenn ihre Entscheidungsträger „durch entsprechende Pflichtverletzungen weitere – rechtlich selbständige – Zuwiderhandlungen begehen.“ 173 Denkbar wäre eine Beihilfe durch Unterlassen, wenn ein Entscheidungsträger der Obergesellschaft bemerkt, dass im Tochterunternehmen Straftaten begangen werden, er aber nicht eingreift, obwohl ihn aufgrund eines zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft bestehenden Beherrschungsvertrages (vgl. §§ 291, 309 AktG) eine Garantenpflicht trifft. 174

In einem solchen Fall könnte einerseits das Tochterunternehmen nach § 2 II, andererseits aber auch die Muttergesellschaft nach § 2 I sanktioniert werden. Beide Verbandsgeldstrafen würden sich dann gem. § 6 V VerbStrG-E bzgl. der Ertragslage am weltweiten Umsatz des gesamten Konzerns, d.h. der wirtschaftlichen Einheit orientieren. Ein solches Verfahren ist jedoch mit Blick auf das Doppelbestrafungsverbot (Art. 103 III GG) äußerst zweifelhaft. 175

Insofern wird erwogen, ähnlich wie im europäischen Kartellrecht, den Verband wirtschaftlich zu definieren: 176 Verband wäre somit jede wirtschaftliche Einheit, auch wenn sie rechtlich aus verschiedenen juristischen Personen besteht. 177 Ein Durchgriff auf die Konzernmutter wäre immer dann möglich, wenn die Tochtergesellschaft „ihr Marktverhalten nicht autonom bestimmt, sondern im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt.“ 178

Eine solche Lösung erscheint ratsam: Sie wäre im Hinblick auf die Rechtsfolgenseite mit dem Doppelbestrafungsverbot vereinbar, würde der faktischen Abhängigkeit einer wirtschaftlich unselbständigen Tochtergesellschaft eher gerecht werden 179 und dem Befund entsprechen, dass gerade in Konzernverhältnissen oftmals ein einheitlicher Organisationsfehler vorliegen wird. 180

Kritisiert wird hieran jedoch mit Blick auf den Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit das Auseinanderfallen von Normadressat (Unternehmen) und Sanktioniertem (jur. Person). 181

Diese Kritik lässt allerdings außer Acht, dass ein Tatvorwurf an den jeweiligen Rechtsträger bereits nicht der Wirklichkeit gerecht wird, denn das zu sanktionierende Unrecht (Organisationsdefizit) kann eben nicht durch den Rechtsträger, sondern nur durch die soziale Einheit „Verband“ bzw. „Unternehmen“ verwirklicht werden. 182 Es wäre also erforderlich, ein Konzept zu entwickeln, das all diese Teile zu einem sinnvollen Ganzen vereinigt. Dies kann hier nicht geleistet werden.

f) Erschweren der Zuwiderhandlung

Um einen Verband nach § 2 II VerbStrG-E bestrafen zu können, ist zuletzt erforderlich, dass die Zuwiderhandlung durch zumutbare Aufsichtsmaßnahmen „verhindert oder wesentlich erschwert worden wäre.“ Wie bei § 130 OWiG bedarf es also nicht des Nachweises einer Quasi-Kausalität. 183

Beanstandet wird hieran, dass bloße Risikoerhöhung zwar eine Ordnungswidrigkeit, nicht jedoch eine Strafe begründen könne. 184 Konsequenz sei nämlich eine Beweislastumkehr zulasten des Verbands, die den in dubio pro reo-Grundsatz unterlaufe. 185 Insgesamt werde das Unterlassungsdelikt zum „bloße[n] Risikodelikt“ 186.

Dem ist entgegenzuhalten, dass § 2 II VerbStrG-E nicht irgendein Risiko genügen lässt, sondern ein erhebliches Organisationsdefizit und daneben den Eintritt einer Zuwiderhandlung erfordert. 187 Ferner ist aus rechtspolitischer Perspektive zu konstatieren, dass der Nachweis einer Quasi-Kausalität – insbesondere in Fällen unterlassener Stichprobenkontrolle 188 – kaum möglich sein dürfte, was Unternehmen dazu verleiten könnte, die Überwachung nicht allzu genau zu nehmen. 189 Gerade dem will der Entwurf aber ja entgegenwirken.

Auch lässt sich auf die ähnlich gelagerte Beihilfe durch Unterlassen verweisen, 190 bei der jedenfalls die Rechtsprechung ausreichen lässt, dass die Tat durch ein Einschreiten des Gehilfen erschwert worden wäre. 191

Hier kommt hinzu, dass der Erfolg, d.h. die Zuwiderhandlung eben nicht zugerechnet werden soll. 192 Zudem bedarf es laut Entwurfsbegründung eines Schutzzweckzusammenhangs zwischen unterbliebener Aufsichtsmaßnahmen und eingetretener Zuwiderhandlung. 193

Hinsichtlich des unbestimmten Merkmals „wesentlich erschwert“ bliebe es wohl Aufgabe der Rechtsprechung und Literatur, dieses Erfordernis weiter zu präzisieren. 194

V. Rechtsnachfolger (§§ 2 IV, 1 IV VerbStrG-E)

Der Gesetzesentwurf will unter bestimmten Voraussetzungen die Verbandsstrafe gegen den Rechtsnachfolger verhängen.

1. Definition

Rechtsnachfolger sind nach § 1 IV VerbStrG-E nicht nur Gesamtrechtsnachfolger und partielle Gesamtrechtsnachfolger durch Aufspaltung (§ 123 UmwG), sondern auch Einzelrechtsnachfolger, „wenn der Erwerber alle wesentlichen Wirtschaftsgüter des Rechtsvorgängers übernimmt und die übernommenen Wirtschaftsgüter in im Wesentlichen gleicher Weise einsetzt.“ Hierdurch sollen – bei § 30 IIa OWiG bestehende – Umgehungsmöglichkeiten verhindert werden. 195

2. Haftungsvoraussetzungen

§ 2 IV VerbStrG-E normiert Folgendes: Für den Fall, dass sich ein Verband erst nach Verhängung einer Sanktion einer Umwandlung unterzieht, 196 normiert S. 2, dass die Sanktion auch gegen den Rechtsnachfolger wirkt.

S. 1 betrifft dagegen die Konstellation, dass bei Umwandlung des Verbands noch keine Sanktion verhängt wurde bzw. die Behörden noch gar keine Kenntnis von der Zuwiderhandlung haben. 197 In diesem Fall wird eine Verbandssanktion gegen den Rechtsnachfolger verhängt, „wenn diesem im Zeitpunkt des Rechtsübergangs die Zuwiderhandlung ganz oder zum Teil bekannt oder aus Leichtfertigkeit nicht bekannt war.“ Hierbei gibt es laut Entwurfsbegründung 198 wiederum zwei Anknüpfungspunkte 199:

Entweder führt der Übernahmeinteressent eine Due-Diligence-Prüfung bei dem zu übernehmenden Verband durch, wobei ihm eine mögliche verbandsbezogene Zuwiderhandlung (zum Teil) bekannt wird. Hierdurch muss er mit einer Sanktion rechnen, was diese gleichzeitig legitimiert.

Oder der Erwerbsinteressent unterlässt geflissentlich eine solche Prüfung, obwohl er den konkretisierten Verdacht einer Zuwiderhandlung hegt. Gerade dann müsste er sorgfältig prüfen, „ob die Strukturen und das Personal des Rechtsvorgängers eine Einhaltung der Gesetze ausreichend gewährleistet haben und auch in Zukunft gewährleisten werden.“ 200 Unterlässt er dies, übernimmt er den Verband leichtfertig – d.h. in Anlehnung an § 261 V StGB „aus besonderer Gleichgültigkeit oder grober Unachtsamkeit“ 201 – in einer Verfassung, in der sich die Zuwiderhandlung als möglicherweise unerlaubtes Risiko realisiert hat. Dies begründet die Verhängung der Sanktion gegen ihn.

3. Kritik

Problematisch ist unter Bestimmtheitsaspekten, dass weder aus dem Wortlaut des § 2 IV 1 VerbStrG-E noch aus der Entwurfsbegründung hervorgeht, auf wessen Kenntnis abzustellen ist. 202 Insoweit müsste eine Präzisierung erfolgen.

Ferner wird mit Blick auf den Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit kritisiert, dass Sanktionsadressat ein Verband werde, der an der Tat nicht beteiligt war. 203 Dies sei dem Individualstrafrecht fremd: Nach dem Tod des Beschuldigten sei hier die Verhängung und Vollstreckung einer Strafe gegen den Erben ausgeschlossen (vgl. § 459c III StPO). 204

Allerdings ist ein solcher Vergleich nicht zielführend. Bereits der Verweis auf den Tod eines Menschen wird der Sachlage bei der Unternehmensumwandlung nicht gerecht.

Eher noch ließe sich hiermit die Geschlechtsumwandlung eines Menschen mit anschließender Namensänderung vergleichen: In beiden Fällen bleibt das „Innenleben“ weitestgehend unverändert; die Unternehmensumwandlung führt ja nicht dazu, dass sich Personal, Betriebsstrukturen und Art der wirtschaftlichen Betätigung schlagartig ändern.

Hinzu kommt, dass der gegen einen Verband gerichtete Unrechtsvorwurf (Organisationsmangel) eine andere Prägung aufweist als der gegen eine Individualperson. Insofern ist eine Haftung des Rechtsnachfolgers konsequent, wäre aber einfacher begründbar, wenn man nicht auf den Rechtsträger, sondern die wirtschaftliche Einheit abstellte.

VI. § 3 I VerbStrG-E

Gem. § 3 I VerbStrG-E gelten für Verbandsstraftaten die AT-Vorschriften des StGB „sinngemäß, soweit sie nicht ausschließlich auf natürliche Personen anwendbar sind und dieses Gesetz nichts anderes bestimmt.“ Inwieweit ein solcher Verweis hinsichtlich des Strafanwendungsrechts 205, Täterschaft und Teilnahme 206, aber auch des sonstigen AT Probleme aufwirft, soll hier nicht zu behandeln sein.

Insgesamt wird der bloße Verweis wohl kaum den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots gerecht. 207 An dieser Stelle ist der Gesetzgeber zu weiteren Konkretisierungen aufgerufen.

D. Fazit

Anhand der Darstellungen wird zunächst eines deutlich: Selbst wenn man es als grundsätzlich legitim erachtet, ist die Einführung eines in sich stringenten, durchdachten Verbandsstrafrechts in Anlehnung an das Individualstrafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht äußerst kompliziert.

Bereits die Frage, wer eigentlich bestraft werden soll – die soziale bzw. wirtschaftliche Einheit oder der Rechtsträger – scheint der Entwurf nicht zureichend zu klären. Möchte man „systemische Fehlentwicklungen“ und „Organisationsdefizite“ bestrafen, kann man es sich nicht so einfach machen und nur den jeweiligen Unternehmensträger verantwortlich machen. Denn dass die Ein-Mann-GmbH nicht defizitär organisiert oder systemisch fehlentwickelt sein kann, sehr wohl aber das 50-Mann-starke Unternehmen eines Einzelunternehmers ist offensichtlich.

Folgeprobleme treten dann unweigerlich bei der Behandlung von Rechtsnachfolgern und Konzernen auf, die der Entwurf zwar im Hinblick auf Umgehungsmöglichkeiten angemessen löst, dadurch jedoch mit Blick auf die Frage nach dem Subjekt der Bestrafung erhebliche Inkonsistenzen erzeugt. Dieser Teil müsste grundlegend überdacht werden.

Auch das „In-Normen-Gießen“ der originären Verbandsschuld stellt sich als schwieriges Unterfangen dar und ist dem Entwurf nicht geglückt. Um dem Bestimmtheitsgebot zu genügen, wären auch hier einige Konkretisierungen erforderlich. Zudem sollten die aufgezeigten „handwerklichen“ Mängel korrigiert werden, um keinen „Stilbruch“ zu erzeugen. Zur mangelnden Durchschlagskraft des Entwurfs trägt ferner bei, dass teilweise höchst umstrittene Rechtsinstitute ohne Problematisierung verwendet werden. Auch der generelle Verweis auf den Allgemeinen Teil ist bei einem solch strittigen Komplex alles andere als klug. Vielmehr bedürfte es eines eigenen „Allgemeinen Teils des Unternehmensstrafrechts“.

Manche der kritisierten Punkte sind zwar den europarechtlichen Vorgaben geschuldet; dies kann jedoch keineswegs über die insgesamt alles andere als stringente Systematik des Entwurfs hinwegtäuschen. Solange kein wirklich überzeugendes Konzept erarbeitet ist, sollte man sich darauf konzentrieren, die noch bestehenden Schwachstellen des bisherigen Rechts zu beheben. Es bleibt abzuwarten, ob hinsichtlich des Satzes societas delinquere non potest auch Deutschland bald mit seinem Latein am Ende ist. 208
 

* Der Autor studiert im achten Semester Rechtswissenschaften an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Dieser Artikel beruht auf einer im Wintersemester 2015/16 im Rahmen eines Seminars („Kernbereiche des deutschen Wirtschaftsstrafrechts“) bei Prof. Dr. Perron verfassten Seminararbeit.

 


Fußnoten:

  1. Zit. nach Schmidt-Wiegand, in: Schott (Hrsg.), Der Sachsenspiegel 1984, S. 158 f.
  2. Der Einfachheit halber wird zunächst nur von “Verbänden“ bzw. “Unternehmen“ gesprochen; auf die nähere Bedeutung dieser Begriffe wird noch eingegangen.
  3. So bereits Schünemann, Unternehmenskriminalität und Strafrecht, 1979, S. 30 ff.; Heine, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, 1995, S. 31 ff.
  4. Online abrufbar unter: https://www.justiz.nrw.de/JM/justizpolitik/jumiko/beschluesse/2013/herbstkonferenz13/zw3/TOP_II_5_Gesetzentwurf.pdf (07.02.16).
  5. Vgl. Kutschaty, Korruptionsbekämpfung und Unternehmensstrafrecht in Deutschland, in: Strafverfolgung der Korruption 2012, Dokumentation einer Tagung von Transparancy International Deutschland e.V. und der Friedrich-Ebert-Stiftung am 4. und 5. Dezember 2012 in Berlin, S. 7, online abrufbar unter: https://www.transparency.de/fileadmin/pdfs/Themen/Justiz/Strafverfolgung-Korruption-2012.pdf (07.02.16).
  6. Kindler, Das Unternehmen als haftender Täter, 2008, S. 211.
  7. Vgl. Schünemann ZIS 2014, 1, 2; Schroth, Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, 1993, S. 22; Mittelsdorf, Unternehmensstrafrecht im Kontext, 2007, S. 52.
  8. Vgl. Dannecker GA 2001, 101, 109; Kubiciel ZRP 2014, 133, 136.
  9. Vgl. Trüg StraFo 2011, 471, 472; Dannecker GA 2001, 101, 109, 111.
  10. Vgl. Tiedemann NJW 1988, 1169, 1172; ders., Wirtschaftsstrafrecht 2014, Rn 374; Mittelsdorf (Fn 7), S. 53.
  11. Überblick bei Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT 2015, Rn 128 ff.
  12. Vgl. Zieschang GA 2014, 91, 95; Löffelmann JR 2014, 185, 188.
  13. Roxin, Strafrecht AT I 2006, § 8 Rn 59.
  14. Vgl. Otto, Die Strafbarkeit von Unternehmen und Verbänden 1993, S. 15; Schroth (Fn 7), S. 179; so auch BVerfGE 20, 323, 336.
  15. Vgl. Scholz ZRP 2000, 435, 438; Tiedemann NJW 1988, 1169, 1172; ders., Strafbarkeit juristischer Personen?, in: Schoch/Stoll/Tiedemann (Hrsg.), Freiburger Begegnung 1996, S. 30, 45.
  16. Vgl. Mittelsdorf (Fn 7), S. 75; Trüg StraFo 2011, 471, 473; Mitsch NZWiSt 2014, 1, 3.
  17. Tiedemann (Fn 15), S. 45; Kindler (Fn 6), S. 214.
  18. Vgl. Stratenwerth FS-Schmitt 1992, 295, 298; so i.E. auch Otto (Fn 14), S. 15.
  19. Tiedemann (Fn 15), S. 46.
  20. Tiedemann NJW 1988, 1169, 1172.
  21. In diese Richtung deutet auch BGHSt 37, 106, 114.
  22. Vgl. Dannecker GA 2001, 101, 111; Hetzer EuZW 2007, 75, 78.
  23. Vgl. Hirsch, Die Frage der Straffähigkeit von Personenverbänden 1993, S. 12; Dannecker GA 2001, 101, 111.
  24. Dannecker GA 2001, 101, 111; ebenso KK-OWiG/Rogall § 30 Rn 10; Hetzer EuZW 2007, 75, 78.
  25. Vgl. BVerfGE 20, 323, 331; 25, 269, 285; 130, 1, 26.
  26. BGHSt 2, 194, 200.
  27. Vgl. Otto (Fn 14), S. 16; Peglau ZRP 2001, 406, 407; Löffelmann JR 2014, 185, 189.
  28. Vgl. BVerfGE 20, 323, 336; Hetzer EuZW 2007, 75, 78; KK-OWiG/Rogall § 30 Rn 15.
  29. Schroth (Fn 7), S. 204.
  30. Vgl. BVerfGE 25, 269, 285.
  31. Vgl. Vogel StV 2012, 427, 429; DRB-Stellungnahme S. 3, online abrufbar unter: http://www.drb.de/cms/fileadmin/docs/Stellungnahmen/2014/DRB_141125_Stn_Nr_16_Unternehmensstrafrecht.pdf (07.02.16).
  32. Kubiciel ZRP 2014, 133, 135; ähnl. Salditt FS-Achenbach 2011, 433, 440 f.
  33. Tiedemann (Fn 15), S. 51; so auch Heine (Fn 3), S. 265.
  34. Dannecker GA 2001, 101, 113.
  35. Vgl. Tiedemann (Fn 15), S. 49; ders. NJW 1988, 1169, 1172; Heine (Fn 3), S. 263.
  36. Vgl. Tiedemann NJW 1988, 1169, 1172 f.; Dannecker GA 2001, 101, 117.
  37. Zit. nach Wohlers, Strafzwecke und Sanktionsarten in einem Unternehmensstrafrecht, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Unternehmensstrafrecht 2012, S. 231, 233.
  38. Vgl. Peglau ZRP 2001, 406, 408; Löffelmann JR 2014, 185, 190.
  39. Vgl. Schmitt-Leonardy ZIS 2015, 11, 21; Schünemann ZIS 2014, 1, 5.
  40. So auch Trüg StraFo 2011, 471, 475.
  41. Hirsch (Fn 23), S. 18; Dannecker GA 2001, 101, 115.
  42. Vgl. Scholz ZRP 2000, 435, 438; Hirsch (Fn 23), S. 18.
  43. S. zum Ganzen Wohlers (Fn 37), S. 231, 242 ff.; Hirsch (Fn 23), S. 16 ff.
  44. Vgl. Kubiciel ZRP 2014, 133, 136 in Anlehnung an Pawlik, Person, Subjekt, Bürger 2004, S. 87 ff.
  45. Vgl. Schmitt-Leonardy ZIS 2015, 11, 21; Willems ZIS 2015, 40, 44.
  46. Vgl. Salditt FS-Achenbach 2011, 433, 437; Heine (Fn 3), S. 268.
  47. Vgl. Peglau ZRP 2001, 406, 408; Schünemann ZIS 2014, 1, 12; Trüg StraFo 2011, 471, 482.
  48. Wohlers (Fn 37), S. 238.
  49. Sachs, Ziele eines Unternehmensstrafrechts und die Frage seiner Vereinbarkeit mit dem Verfassungsrecht, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Unternehmensstrafrecht 2012, S. 195, 204.
  50. Vgl. Kindler (Fn 6), S. 311; ähnl. Wohlers (Fn 37), S. 231, 238.
  51. Vgl. Sachs (Fn 49), S. 195, 201; Zieschang GA 2014, 91, 95; Frisch FS-Wolter 2013, 349, 370 f.
  52. Vgl. LK-StGB/Schünemann Vor § 25 Rn 23; ders. ZIS 2014, 1, 4.
  53. Vgl. Achenbach Coimbra-Symposium 1995, 283, 302; KK-OWiG/Rogall § 30 Rn 9.
  54. S. hierzu Frisch FS-Wolter 2013, 349, 372 f.; Sachs (Fn 49), S. 195, 197 [Fn 8]; Kindler (Fn 6), S. 290 f., wobei letztere mit Blick auf die Sicherungsverwahrung eine „absolute Wesenheit der Strafe“ bestreiten.
  55. Vgl. Pieth KJ 2014, 276, 281; Rönnau/Wegner ZRP 2014, 158; Schmitt-Leonardy jM 2014, 257, 262.
  56. Hierzu Trüg StraFo 2011, 471, 476 ff.; DAV-Stellungnahme S. 11 ff., online abrufbar unter: http://anwaltverein.de/downloads/DAV-SN54-13.pdf (03.08.15; am 07.02.16 nicht mehr abrufbar).
  57. Kubiciel ZRP 2014, 133, 137.
  58. So auch Entwurf (Fn 4), S. 25; Pieth KJ 2014, 276, 282.
  59. BVerfGE 120, 224, 240.
  60. Kutschaty (Fn 5), S. 8.
  61. Vgl. Schünemann ZIS 2014, 1, 9; Schmitt-Leonardy jM 2014, 257, 260.
  62. Vgl. Roth/Weller, Handels- und Gesellschaftsrecht 2013, Rn 116.
  63. Vgl. Schmid FS-Forstmoser 2003, 761, 771; Böse ZStW 126 (2014), 132, 149.
  64. Vgl. BT-Drs. 10/318 S. 39; Hirsch ZStW 107 (1995), 285, 299 f. Fn 50.
  65. Vgl. Roth/Weller (Fn 62), Rn 472.
  66. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 73, 77.
  67. Vgl. Schünemann GA 2015, 274, 279.
  68. Vgl. Peglau ZRP 2001, 406, 408; Schmid FS-Forstmoser 2003, 761, 771.
  69. Entwurf (Fn 4), S. 20.
  70. Vgl. Schünemann ZIS 2014, 1, 8; Schmitt-Leonardy ZIS 2015, 11, 22 Fn 98; so schon Peglau ZRP 2001, 406, 408.
  71. Vgl. Schünemann ZIS 2014, 1, 9.; DAV-Stellungnahme (Fn 56), S. 22; DAI-Stellungnahme S. 18, online abrufbar unter: https://www.dai.de/files/dai_usercontent/dokumente/positionspapiere/2014-12-09%20DAI%20Stellungnahme%20Unternehmensstrafrecht.pdf (07.02.16).
  72. Vgl. KK-OWiG/Rogall § 30 Rn 39.
  73. Vgl. Willems ZIS 2015, 40, 42.
  74. Vgl. Krems ZIS 2015, 5, 7 f.
  75. Entwurf (Fn 4), S. 40.
  76. Vgl. DAV-Stellungnahme (Fn 56), S. 22; so bereits Hirsch ZStW 107 (1995), 285, 308.
  77. Vgl. Löffelmann JR 2014, 185, 196; DAI-Stellungnahme (Fn 71), S. 18.
  78. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 40.
  79. ABl. Nr. C 221 vom 19.7.1997, S.12.
  80. Vgl. Rönnau/Wegner ZRP 2014, 158; hierzu ausführl. Engelhart eucrim 2012, 110 ff.
  81. Übersicht dazu Pauer WuW 2013, 1080 ff.
  82. Vgl. Rönnau/Wegner ZRP 2014, 158, 159; Übersicht bei Engelhart eucrim 2012, 110 ff.
  83. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 43.
  84. Entwurf (Fn 4), S. 43.
  85. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 45.
  86. Vgl. Schmitt-Leonardy jM 2014, 257, 261; Grützner CCZ 2015, 56, 57; DAI-Stellungnahme (Fn 56), S. 10 f.
  87. Vgl. Hoven ZIS 2014, 19, 23.
  88. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 43.
  89. So Mansdörfer ZIS 2015, 23, 28.
  90. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 45.
  91. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 43.
  92. Entwurf (Fn 4), S. 45.
  93. Vgl. Jahn/Pietsch ZIS 2015, 1, 2.
  94. Vgl. Zieschang GA 2014, 91, 102; Hoven ZIS 2014, 19, 24.
  95. Vgl. Hoven ZIS 2014, 19, 24.
  96. Vgl. Mansdörfer ZIS 2015, 23, 25; Hoven ZIS 2014, 19, 24.
  97. Entwurf (Fn 4), S. 40.
  98. So auch Zieschang GA 2014, 91, 102; Hoven ZIS 2014, 19, 24.
  99. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 2, 24, 43 f.
  100. Entwurf (Fn 4), S. 40.
  101. Mansdörfer ZIS 2015, 23, 26.
  102. Der Entwurf (Fn 4) geht auf S. 33 von einer strittigen Rechtslage aus, die mit dem 41. StrÄndG v. 7.8.07 durch Wortlautänderung des § 130 OWiG entschärft wurde; vgl. hierzu KK-OWiG/Rogall § 130 Rn 82 ff.
  103. Vgl. Hoven ZIS 2014, 19, 25.
  104. Übersicht bei KK-OWiG/Rogall § 130 Rn 91 ff.
  105. Entwurf (Fn 4), S. 33.
  106. BGHSt 57, 42.
  107. BGHSt 57, 42, 46.
  108. Vgl. Mansdörfer ZIS 2015, 23, 27.
  109. BGHSt 57, 46.
  110. BGHSt 57, 45.
  111. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 45.
  112. BGHSt 57, 47.
  113. So i.E. auch Hoven ZIS 2014, 19, 25.
  114. Vgl. Hoven ZIS 2014, 19, 26.
  115. Vgl. Mansdörfer ZIS 2015, 23, 27.
  116. Vgl. Hoven ZIS 2014, 19, 26; OLG Celle NStZ-RR 2005, 82 (zu § 30 OWiG).
  117. Vgl. Helmrich wistra 2010, 331, 334; KK-OWiG/Rogall § 130 Rn 98.
  118. Vgl. Hoven ZIS 2014, 19, 26.
  119. Vgl. Helmrich wistra 2010, 331, 334; Hoven ZIS 2014, 19, 26.
  120. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 45.
  121. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 41, 45.
  122. Konkrete Beispiele (v.a. §§ 266, 299 StGB) bei Hoven ZIS 2014, 19, 27 f. und BeckOK-OWiG/Meyberg § 30 Rn 84.
  123. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 41; s.a. Witte/Wagner BB 2014, 643, 644.
  124. Weitere Bsp. Entwurf (Fn 4), S. 42.
  125. Mansdörfer ZIS 2015, 23, 26; vgl. Willems ZIS 2015, 40, 43; Grützner CCZ 2015, 56, 59.
  126. Vgl. DAI-Stellungnahme (Fn 56), S. 16; Stellungnahme Clearingstelle Mittelstand S. 15, online abrufbar unter: http://clearingstelle-mittelstand.de/wp-content/uploads/2014/04/Stellungnahme-Unternehmensstrafrecht.pdf (07.02.16).
  127. Vgl. BT-Drs. 14/8998, S. 10 f.
  128. Vgl. BT-Drs. 14/8998, S. 11.
  129. Entwurf (Fn 4), S. 45 unter Verweis auf Tiedemann NJW 1988, 1169, 1172.
  130. Vgl. Kubiciel ZRP 2014, 133, 137; DAV-Stellungnahme (Fn 56), S. 23; BRAK-Stellungnahme S. 10, online abrufbar unter: http://www.brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellungnahmen-deutschland/2014/april/stellungnahme-der-brak-2014-15.pdf (07.02.16).
  131. Vgl. Hoven ZIS 2014, 19, 21; so auch Hirsch ZStW 107 (1995), 285, 315; Dannecker GA 2001, 101, 113.
  132. Kubiciel ZRP 2014, 133, 137 in Anlehnung an Tiedemann (Fn 10), Rn 377, der die Klausel bei Straftaten der Leitungsebene aber gerade ablehnt.
  133. Für Unvereinbarkeit Krems ZIS 2015, 5, 8.
  134. Enwurf (Fn 4), S. 45.
  135. Vgl. Kubiciel ZRP 2014, 133, 137.
  136. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 45.
  137. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 46; Römermann GmbHR 2014, 1, 7; Löffelmann JR 2014, 185, 192 [Fn 38].
  138. Vgl. Mansdörfer ZIS 2015, 23, 28.
  139. Vgl. Mansdörfer ZIS 2015, 23, 28 f.
  140. Formulierungsvorschlag bei Mansdörfer ZIS 2015, 23, 29.
  141. S. hierzu nur Sch/Sch-StGB/Sternberg-Lieben/Hecker § 323a Rn 1; Roxin (Fn 13), § 23 Rn 8 ff.
  142. Vgl. BeckOK-OWiG/Beck § 130 Rn 17; Helmrich wistra 2010, 331, 333; dahin deutet auch Entwurf (Fn 4), S. 43.
  143. Vgl. KK-OWiG/Rogall § 130 Rn 18.
  144. KK-OWiG/Rogall § 130 Rn 18.
  145. Vgl. Schmitt-Leonardy jM 2014, 257, 261.
  146. KK-OWiG/Rogall § 130 Rn 19; vgl. Göhler-OWiG/Gürtler § 130 Rn 9.
  147. Entwurf (Fn 4), S. 24.
  148. Vgl. Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 11), Rn 208.
  149. Vgl. Satzger Jura 2006, 108, 111; Stree FS-Schmitt 1992, 215, 230.
  150. Satzger Jura 2006, 108, 111.
  151. Vgl. Stree FS-Schmitt 1992, 215, 228.
  152. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 46; Mansdörfer ZIS 2015, 23, 29.
  153. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 46.
  154. Vgl. Zieschang GA 2014, 91, 102.
  155. Vgl. Mansdörfer ZIS 2015, 23, 29.
  156. Vgl. Löffelmann JR 2014, 185, 192; Zieschang GA 2014, 91, 101.
  157. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 46 unter Verweis auf KK-OWiG/Rogall § 130 Rn 41; s.a. Mansdörfer ZIS 2015, 23, 29.
  158. S. nur Rogall ZStW 98 (1986), 573, 603.
  159. Übersicht bei KK-OWiG/Rogall § 130 Rn 42; Wittig, Wirtschaftsstrafrecht 2014, Rn 140 ff.
  160. U.a. OLG Zweibrücken NStZ-RR 1998, 311 f.
  161. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 46 f.; Hoven ZIS 2014, 19, 29; Mansdörfer ZIS 2015, 23, 29 f.
  162. So aber Löffelmann JR 2014, 185, 192.
  163. Vgl. KK-OWiG/Rogall § 130 Rn 51; Bock ZIS 2009, 68, 74.
  164. Vgl. Hoven ZIS 2014, 19, 29.
  165. Vgl. Mansdörfer ZIS 2015, 23, 30; Hoven ZIS 2014, 19, 29.
  166. Vgl. KK-OWiG/Rogall § 130 Rn 27; ähnl. Bock ZIS 2009, 68, 71.
  167. Vgl. KK-OWiG/Rogall § 130 Rn 27; Leipold ZRP 2013, 34, 35.
  168. Zweifelnd bereits BGH v. 1.12.1981 – KRB 3/79, juris Rn 39.
  169. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 47; Römermann GmbHR 2014, 1, 6; Hein CCZ 2014, 75, 76.
  170. Göhler-OWiG/Gürtler § 130 Rn 5a.
  171. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 47.
  172. Entwurf (Fn 4), S. 47; diese „Aufweichung einer klaren Linie“ kritisierend Hein CCZ 2014, 75, 76; BDI/BDA-Stellungnahme S. 8, online abrufbar unter: http://www.bdi.eu/download_content/RechtUndOeffentlichesAuftragswesen/BDI-BDA-Stellungnahme__Gesetzesentwurf_Unternehmensstrafrecht.pdf (25.08.15; am 07.02.16 nicht mehr abrufbar); Grützner CCZ 2015, 56, 60.
  173. Entwurf (Fn 4), S. 47.
  174. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 47 f.
  175. So auch Görtz WiJ 2014, 8, 12.
  176. Vgl. Mansdörfer ZIS 2015, 23, 31.
  177. Vgl. EuGH v. 10.9.2009 – C-97/08 [Akzo Nobel] Rn 55; EuGH v. 18.7.2013 – C-501/11 P [Schindler] Rn 103.
  178. EuGH v. 10.9.2009 – C-97/08 [Akzo Nobel] Rn 58.
  179. Vgl. Hoven ZIS 2014, 19, 28.
  180. Vgl. Mansdörfer ZIS 2015, 23, 31.
  181. Vgl. Böse ZStW 126 (2014), 132, 150.
  182. Vgl. Schmitt-Leonardy jM 2014, 257, 260.
  183. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 47; Zieschang GA 2014, 91, 99.
  184. Vgl. BRAK-Stellungnahme (Fn 130), S. 11; BDI/BDA-Stellungnahme (Fn 172), S. 8.
  185. Vgl. Zieschang GA 2014, 91, 99.
  186. Zieschang GA 2014, 91, 99.
  187. Vgl. Mansdörfer ZIS 2015, 23, 30.
  188. Hier senkte bereits der BGH(St 25, 158, 163) seine Anforderungen: „der Gefahr […] weitgehend vorgebeugt worden wäre“.
  189. Vgl. Roxin, Strafrecht AT II 2003, § 31 Rn 63; Schünemann (Fn 7), S. 124 f., 206 f.; Hoven ZIS 2014, 19, 30.
  190. So Hoven ZIS 2014, 19, 29.
  191. S. nur BGHSt 43, 381, 397; aA Sch/Sch-StGB/Heine/Weißer § 27 Rn 19 m.w.N.
  192. Vgl. Mansdörfer ZIS 2015, 23, 30.
  193. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 47.
  194. So auch Hoven ZIS 2014, 19, 30.
  195. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 42; Witte/Wagner BB 2014, 643, 644.
  196. Vgl. Entwurf (Fn 4), S. 51.
  197. Vgl. Hein CCZ 2014, 75, 76.
  198. Vgl. zu den folgenden Ausführungen Entwurf (Fn 4), S. 50 f.
  199. Zu einer anderen Auslegung der Begründung, wonach es „kein Entrinnen“ für den Rechtsnachfolger gebe, kommt Görtz WiJ 2014, 8, 12.
  200. Entwurf (Fn 4), S. 51.
  201. BGHSt 43, 158, 168.
  202. So auch Zieschang GA 2014, 91, 101; BRAK-Stellungnahme (Fn 130), S. 11.
  203. Vgl. DAI-Stellungnahme (Fn 56), S. 17; Zieschang GA 2014, 91, 98.
  204. Vgl. Böse ZStW 126 (2014), 132, 152 f.; Stellungnahme Clearingstelle Mittelstand (Fn 126), S. 16; BDI/BDA-Stellungnahme (Fn 172), S. 8 f.
  205. S. hierzu ausführlich Schneider ZIS 2013, 488, 492 ff.
  206. Vgl. Mitsch NZWiSt 2014, 1, 4; Witte/Wagner BB 2014, 643, 645.
  207. So auch Zieschang GA 2014, 91, 101; Schneider ZIS 2013, 488, 495; anders aber Entwurf (Fn 4), S. 33.
  208. Angelehnt an Heile WiJ 2014, 228.

Die Verantwortlichkeit von Internetprovidern

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Der Artikel soll darstellen, ob und wie Diensteanbieter nach deutschem Recht für rechtswidrige Informationen im Internet zur Verantwortung gezogen werden können. Im Fokus stehen dabei die providerspezifischen Verantwortlichkeitsregelungen des Telemediengesetzes und die relevanten Normen des Strafgesetzbuches.

A. Einleitung

Die Massenverbreitung des Internets in den 90er Jahren führte zu einer neuen Deliktsbegehung: Straftaten im und durch das Internet. Es entstanden neue spezielle Computerdelikte, aber auch für „klassische“ Straftaten, wie dem Handel von Drogen und Waffen, bietet das Internet Raum zur Begehung. Schon früh wurde die Verbreitung rechtswidriger Inhalte, wie (kinder-)pornographischen, rassistischen und nationalsozialistischen Materials, Teil öffentlicher Diskussion. Erst in der letzten Zeit mehrten sich wieder Zeitungsüberschriften wie diese: „Der braune Hass im Netz“ 1, „Hasskommentare auf Facebook“ 2, und „Flüchtlingshetze im Netz“ 3. Die unter diesen und ähnlichen Überschriften erschienen Artikel beschäftigen sich alle mit Fremdenfeindlichkeit in sozialen Netzwerken, insbesondere bei Facebook. Dass der dort verbreitete „Hass“ tatsächlich zunahm und nicht nur von den Medien hochgeschaukelt wird, belegt der von der Kommission für Jugendmedienschutz verzeichnete Anstieg von Nutzerbeschwerden über rechtsradikale und ausländerfeindliche Beiträge 4. Der Fokus der Medien liegt allerdings nicht auf dem Verhalten des Urhebers selbst, sondern auf Facebook und dessen Umgang mit solchen Kommentaren. Dass aber noch weitere Unternehmen an der Veröffentlichung von „Posts“ bei Facebook beteiligt sind, wurde in keinem der zahlreichen Artikel thematisiert. Das Besuchen sozialer Netzwerke ist, wie andere alltägliche Handlungen, ohne die Inanspruchnahme der Dienste von Internet-Anbietern (sog. Providern) unmöglich 5. Auch für diese sind, neben technischen Schutzmaßnahmen, geeignete rechtliche Rahmenbedingungen nötig, um fremdenfeindlichen Kommentaren und anderen Missbräuchen im Internet wirksam begegnen zu können 6. Es stellt sich die grundsätzliche Frage nach der Verantwortlichkeit aller an einem Kommunikationsvorgang im Internet Beteiligten.

Der vorliegende Text thematisiert die Verantwortlichkeit von Internetprovidern. Der erste Teil widmet sich den §§ 7 – 10 TMG 7. Dabei wird zunächst auf die Entstehung und die dogmatische Einordnung der maßgebenden Normen eingegangen. Auf dieser Grundlage wird ein Überblick über die verschiedenen Providerarten gegeben, bevor dann das System der Verantwortlichkeitsbegrenzung der §§ 7 ff. erläutert wird. Darauf aufbauend, wird es im folgenden Teil um die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Provider gehen. Dabei werden die in Betracht kommenden Straftatbestände, sowie die sich im Allgemeinen Teil des Strafrechts stellenden Fragen erörtert. Schlussendlich werden die Ergebnisse zusammengefasst und anschließend rechtspolitisch bewertet.

B. Die Verantwortlichkeit von Internetprovidern nach den §§ 7 ff. TMG

Die Dienstleistungen von Providern sind unabdingbar für das Funktionieren des Internets. Sie erbringen alle einen ursächlichen Beitrag zu den Taten, die unter ihrer Mitwirkung begangen werden 8. Das zieht die Frage nach sich, wie sie dafür verantwortlich sind. Verantwortlichkeit ist dabei das rechtliche Einstehenmüssen für ein bestimmtes Verhalten 9. Im Bewusstsein der Öffentlichkeit steht meist die strafrechtliche Verantwortung im Vordergrund 10. Die Frage nach der Verantwortlichkeit des Providers stellt sich aber auch im Öffentlichen Recht 11 und im Zivilrecht 12. Für alle drei Rechtsgebiete findet sich eine spezielle Regelung in den §§ 7 – 10 TMG. Bevor diese allerdings detailliert betrachtet werden können, sind zunächst einige Grundlagen zu behandeln.

I. Grundlagen

1. Entstehungsgeschichte

Die §§ 7 – 10 gehen auf die Mitte der 90er Jahre zurück 13. Die Verbreitung des Internets führte zu neuen Straftaten und Straftatbegehungsweisen. Verfahren die solche Delikte zum Gegenstand hatten, führten, mangels Spezialgesetzen, zu erheblichen Rechtsunsicherheiten 14. Insbesondere das 1996 begonnene Verfahren gegen den Zugangsanbieter „CompuServe“ 15 veranlasste den Gesetzgeber Sonderregelungen zu schaffen 16. In der Folge wurden diese 1997 im bundesrechtlichen Teledienstegesetz (§ 5 TDG) und im landesrechtlichen Mediendienste-Staatsvertrag (§ 5 MDStV) niedergeschrieben 17. Mit der Umsetzung der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr 2000/31/EG (ECRL) wurden die bestehenden Regelungen differenzierter 18. Die inhaltlich mit den heutigen §§ 7 – 10 TMG übereinstimmenden §§ 8 – 11 TDG und §§ 6 – 9 MDStV galten bis 2007 19. Mit dem Inkrafttreten des TMG wurde die bis dahin bestandene Aufteilung überwunden und die Verantwortlichkeit in einem Gesetz zusammengefasst. Dieses ist aufgrund der vollharmonisierenden 20 ECRL richtlinienkonform auszulegen. Die Haftung nach dem TMG darf folglich nicht weiter gehen, als das Gemeinschaftsrecht es vorgibt 21.

2. Zielsetzung und Funktion der §§ 7 ff. TMG

Die Materialien zum TMG enthalten keine näheren Angaben zu den §§ 7 ff. Sie verweisen auf die unverändert übernommenen Vorgängerregelungen des TDG 22. Aus diesem Grund sind für eine nähere Betrachtung dessen Materialien heranzuziehen. Daraus lässt sich das Ziel der §§ 7 ff., die Klarstellung der Verantwortlichkeit der Diensteanbieter, festmachen 23. Darüber hinaus sollen die Vorschriften weder eine Verantwortlichkeit im zivil- noch im strafrechtlichen Bereich begründen oder erweitern 24. Bevor es zu einer zivil- oder strafrechtlichen Verantwortung kommen kann, muss geprüft werden, ob die Verantwortlichkeit nicht aufgrund der §§ 7 ff. ausgeschlossen ist 25. Einigkeit besteht daher darüber, dass die §§ 7 ff. nicht als „lex specialis“ im Sinne einer in sich geschlossenen und die allgemeinen Verantwortlichkeitsregelungen ersetzenden Norm zu verstehen sind 26. Ihnen kommt lediglich verantwortlichkeitsbegrenzende Funktion zu. Für die Haftung eines Internetproviders müssen folglich zwei Voraussetzungen gegeben sein: Zum einen darf keine Privilegierung der §§ 7 ff. einschlägig sein, zum anderen müssen die Voraussetzungen einer Haftung nach Straf-, Zivil- oder Öffentlichem Recht vorliegen.

Zusammenfassend sind die §§ 7 ff. sind als verantwortlichkeitsbegrenzende Querschnittsregelungen zu verstehen 27.

3. Dogmatische Einordnung

Trotz dieser allgemein anerkannten Funktion, ist die dogmatische Einordnung der Verantwortlichkeitsregelungen, nicht zuletzt aufgrund der rechtsgebietsübergreifenden Anwendung, immer schon umstritten 28. Praktische Relevanz kommt dem Streit vor allem im Strafrecht zu. Dies lässt sich leicht am Beispiel der Teilnahme verstehen 29. Entfiele, je nach Einordnung der Regelungen, der Vorsatz oder die Rechtswidrigkeit des Haupttäters, so wäre eine Teilnahme ausgeschlossen, §§ 26, 27 StGB. Im Folgenden werden daher die verschiedenen Möglichkeiten der strafrechtlichen Prüfungseinordnung näher erläutert. Der Streit dreht sich im Wesentlichen um zwei Grundpositionen und einer weiteren, im Folgenden allerdings nicht näher behandelten, Konzeption von Vassilaki 30. Auch die Gerichte 31 sind sich uneins, welche der Lösungen zu bevorzugen ist.

a) Zwei-Stufen-Modelle

Aufgrund des horizontalen Charakters der §§ 7 ff. wird eine Prüfungseinordnung außerhalb der drei Wertungsstufen (Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit, Schuld) vertreten 32. Dieses sog. zweistufige (Filter-)Modell ist nochmals in zwei Gruppen zu unterteilen: das Vorfilter- und das Nachfiltermodell. Die Vertreter der Vorfilterlösung verorten die Prüfung der §§ 7 ff. im Vorfeld der eigentlichen Deliktsprüfung 33, die Vertreter der Nachfilterlösung im Anschluss 34.

b) Ein-Stufen-Modelle

Auf der anderen Seite stehen die Vertreter einstufiger Modelle, sog. Integrationsmodelle, bei welchen die Verantwortlichkeitsprüfung in den Deliktsaufbau miteinbezogen wird 35. An welcher Stelle des dreistufigen Verbrechensaufbaus die Verantwortlichkeit jedoch konkret zu prüfen ist, ist wiederrum umstritten. Insgesamt kommt es zu vier 36 Untergruppierungen: den Vertretern der Tatbestands- 37, der Rechtfertigungs- 38, der Schuldausschließungs- 39 und der Strafausschließungslösung 40.

Gegen eine Verortung der Verantwortlichkeitsprüfung auf der Ebene der Rechtswidrigkeit oder der Schuld spricht der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung, nach welchem ein Verhalten nicht strafrechtlich zulässig und zugleich zivilrechtlich rechtswidrig sein kann 41. Hinzu käme bei der Annahme eines Entschuldigungsgrundes, dass strafbare Teilnahme an der straflosen Haupttat des Anbieters möglich wäre 42. Dies würde zu unsachgemäßen Ergebnissen führen 43. Aus diesen Gründen kann auch das Verständnis der §§ 7 ff. als Strafausschließungsgrund nicht überzeugen.

Alle drei Ansätze haben gemein, dass die Bejahung einer Haftungsbeschränkung nur zur ausnahmsweise fehlenden Sozialschädlichkeit oder persönlichen Vorwerfbarkeit des Verhaltens führe 44. Der Gesetzgeber wollte allerdings eine, auf objektive Gesichtspunkte gestützte, rechtsübergreifende Verantwortlichkeitssystematik 45. Die privilegierten Tätigkeiten sollten schon von vornherein als positiv bewertet werden 46. Eine Verortung der Verantwortlichkeitsprüfung nach dem Tatbestand würde diesen Intentionen zuwiderlaufen. Dementsprechend ist von den Integrationsmodellen nur die Tatbestandslösung vertretbar.

c) Stellungnahme

Als sinnvolle dogmatische Einordnungsmöglichkeiten bleiben somit die Zwei-Stufen-Modelle und die Tatbestandslösung, diese eventuell in der Form eines „tatbestandsintegrierten Vorfilters“ 47. Um feststellen zu können, welche Lösung der Gesetzestext vorsieht, hat eine Gesetzesauslegung zu erfolgen.

aa) Grammatikalische Auslegung

Bei der grammatikalischen Auslegung der §§ 7 ff. fällt auf, dass der Gesetzgeber im Wortlaut der Normen allgemeine, nicht rechtsgebietsspezifische Begriffe wie „Kenntnis“ (statt Vorsatz) und „Verantwortlichkeit“ (statt Haftung) verwendet 48. Aus einer Zusammenschau der allgemeinen Begriffe der §§ 8 – 10 mit § 7 I aE wird deutlich, dass sich die konkrete Verantwortlichkeit aus den allgemeinen Gesetzen ergeben soll 49. Erst dann kann und soll die rechtsgebietsspezifische Auslegung stattfinden. Die grammatikalische Auslegung spricht daher für eine Filterlösung.

bb) Systematische Auslegung

Aus dem Normensystem des TMG kann kein Anhaltspunkt für das eine oder das andere Modell gefunden werden. Durch Hinzuziehen anderer Gesetze wird angeführt, dass ein Vorfilter dem deutschen Strafrecht fremd sei und der Gesetzgeber durch ein Nebengesetz den klassischen Aufbau des Strafrechts nicht habe ändern wollen 50. Allerdings werden im Strafrecht durchaus Probleme, bspw. des internationalen Strafrechts oder der Kollision mit dem Unionsrecht, im Vorfeld der Tatbestandsmäßigkeit geprüft 51. Die systematische Auslegung kommt folglich zu keinem eindeutigen Ergebnis.

cc) Historische Auslegung

Die historische Gesetzesauslegung fordert ein Hinzuziehen der Gesetzgebungsmaterialien. Die erste Fassung des TDG war im Regierungsentwurf zum Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz enthalten. Die dazugehörige Begründung enthielt ein zweistufiges Konzept, genau genommen das des Vorfilters 52. Aufgrund der Neufassung des TDG im Rahmen des Elektronischen Geschäftsverkehr-Gesetzes (EGG) 53 ist auch diese Begründung heranzuziehen. Auch darin bezeichnet der Gesetzgeber die Wirkungsweise der Normen untechnisch als Filter 54. Die historische Auslegung kommt zu einer Filterlösung.

Ob der Gesetzgeber allerdings eine Vor- oder Nachfilterlösung wollte, wird nicht klar. Zwar heißt es: „Bevor ein Diensteanbieter auf Grundlage des Zivil- oder Strafrechts zur Verantwortung gezogen werden kann, muss [...] geprüft werden, ob die [...] Verantwortlichkeit nicht durch die §§ 9 bis 11 ausgeschlossen ist.“ 55 Ein weiterer Satz besagt jedoch: „Sind im Einzelfall die Voraussetzungen der allgemeinen Vorschriften für eine Haftung erfüllt, so ist der Diensteanbieter [...] nicht verantwortlich, wenn er sich auf das Eingreifen der §§ 9, 10 oder 11 TDG berufen kann.“ 56 Die historische Auslegung lässt diesbezüglich kein eindeutiges Ergebnis zu.

dd) Teleologische Auslegung

Zweck der §§ 7 ff. sind Rechtseinheit, -klarheit und –sicherheit 57. Außerdem sollen sie als horizontale Regelungen rechtsübergreifende Wirkung entfalten. Bei Verortung der Verantwortlichkeitsprüfung im Tatbestand bestünde die Gefahr, dass die §§ 7 ff. Teil einer rechtsgebietsbezogene Beurteilung von Tatbestandsmerkmalen würden. Das würde dem Charakter der horizontalen Regelungen widersprechen 58. Außerdem würde die Nachvollziehbarkeit der Wirkung des TMG für den nicht juristisch geschulten Anbieter deutlich erschwert werden. Dies liefe der beabsichtigten Rechtssicherheit und –klarheit zuwider 59. Im Ergebnis spricht die teleologische Auslegung für die Filtermodelle.

d) Ergebnis

Die verschiedenen Auslegungsmethoden kommen letztendlich zu dem Ergebnis, dass ein Zwei-Stufen-Modell die vom Gesetz vorgesehene Lösung ist. Für die Nachfilterlösung spricht zunächst die Logik, denn nur was existiert kann beschränkt werden 60. Allerdings ist aus arbeitsökonomischer Sicht die Vorfilterlösung vorzugswürdig. Für diese spricht weiter, dass sie eine einheitliche, vom Rechtsgebiet unabhängige Prüfung garantiert 61. Dieser Prüfung getreu, werden daher zunächst die Regelungen der §§ 7 ff. behandelt, bevor anschließend auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Provider eingegangen wird.

II. Der Anwendungsbereich der §§ 7 ff.

Der sachliche Anwendungsbereich ist in § 1 I festgelegt und erfasst alle Telemedien. Der persönliche Anwendungsbereich der §§ 7 ff. ist auf Diensteanbieter begrenzt. Das TMG unterscheidet zwischen Diensteanbietern und Nutzern. Nutzer i.S.d. § 2 S. 1 Nr. 3 ist jede natürliche oder juristische Person, die Telemedien nutzt. Als Diensteanbieter wiederum wird jede natürliche oder juristische Person, die eigene oder fremde Telemedien zur Nutzung bereithält oder den Zugang zur Nutzung vermittelt, bezeichnet, § 2 S. 1 Nr. 1. Dabei fällt auf, dass der Anwendungsbereich juristische Personen umfasst, strafrechtliche Normen jedoch nur für natürliche Personen gelten. Aus diesem Grund sind die §§ 2, 7 ff. „redaktionell zu berichtigen“ und für das Strafrecht so zu verstehen, dass sie Inhaber und Beschäftigte des Anbieters erfassen 62.

III. Das System der Verantwortlichkeitsbegrenzung nach den §§ 7 ff.

Nachdem sowohl die dogmatische Einordnung, als auch der Anwendungsbereich erörtert wurden, stellt sich die Frage nach dem Inhalt der §§ 7 ff. Unter den in den §§ 8 – 10 geregelten Voraussetzungen ist ein Provider nicht verantwortlich. Die normierten Verantwortlichkeitsbegrenzungen folgen dabei einem abgestuften System 63: Je näher ein Anbieter bestimmten Informationen im Internet steht, desto eher soll dieser für die Informationen verantwortlich sein 64.

1. Überblick über die Provider

Grundsätzlich unterscheidet das Gesetz zwischen Inhaltsanbietern (Content-Provider), Zugangsanbietern (Access-Provider), Übermittlungsanbietern (Network-Provider), Zwischenspeicheranbietern (Proxy-Cache-Provider) und Speicherplatzanbietern (Host-Service-Provider) 65. Die Anbieterbezeichnungen sind dabei funktional und nicht personal zu verstehen 66. Das folgende Beispiel soll einen ersten, vereinfachten Überblick vermitteln:

Abb. 1 Überblick Provider

Abb. 1 Überblick Provider

Bsp.: Nutzer 2 postet auf Facebook, dass Ausländer generell als minderwertig zu bezeichnen sind und die Gaskammern wieder eingeführt werden sollen. Nutzer 1 liest den Kommentar und meldet ihn Facebook. Ein Mitarbeiter von Facebook liest den Hinweis, geht diesem allerdings nicht nach.

 

Beim „Posten“ eines rechtswidrigen Kommentars auf Facebook agiert Nutzer 2 als Content-Provider. Den Zugang zum Internet gewährt ihm ein Access-Provider, bspw. 1&1. Ein Network-Provider, bspw. die Telekom, transportiert seinen „Post“ innerhalb des Internets. Facebook, der Host-Service-Provider, speichert den „Post“ und hält ihn so zum Abruf für Dritte bereit. Will nun Nutzer 1 die Daten abrufen, bedient dieser sich der Dienste eines Access- und eines Network-Providers.

2. Content-Provider

Strengste, nämlich volle, Verantwortlichkeit kommt dem Content-Provider, dem Anbieter eigener Informationen zu, § 7 I 67.

a) Sinn und Zweck der Regelung

Das Fehlen einer Privilegierung beruht auf dem Grundsatz, dass „offline“ strafbare Inhalte auch „online“ strafbar sein müssen 68. Die Vorschrift begründet allerdings keine, nicht schon nach anderen Gesetzen bestehende, Haftung. Sie hat also rein deklaratorische Wirkung 69.

b) Bereithalten eigener Informationen

Den Begriff der „Information“ will der Gesetzgeber im TMG weit verstanden wissen und fasst alle Angaben, die i.R.d. jeweiligen Teledienstes übermittelt oder gespeichert werden darunter 70. Unter eigenen Informationen sind selbst erstellte Inhalte zu fassen. Literatur 71, Rechtsprechung 72 und Gesetzgeber 73 gingen, und gehen teilweise noch heute, auch dann von eigenen Informationen aus, wenn der Anbieter sich ursprünglich fremde Informationen zu eigen macht. Die zur Definition von „zu eigen machen“ entwickelten Ansätze wurden jedoch mit Inkrafttreten der ECRL obsolet 74. Diese kennt keine Abgrenzung von „eigenen“ und „fremden“ Informationen. Anstelle des Wortes „fremd“ heißt es in Art. 14 I ECRL „von einem Nutzer eingegeben“. Diese Umschreibung ist deshalb auch auf die §§ 7 ff. anzuwenden. Das Bereithalten ist ein Verfügbarmachen von Daten 75, auf eigenen oder auf fremden Servern 76.

c) Beispiele

Ein klassisches Beispiel eines Content-Providers ist der Betreiber einer Internetseite mit eigenen Inhalten. Aber auch der Verfasser von Internet-Kommentaren, wie der unseres Beispiels, fällt darunter 77.

3. Host-Service-Provider

Eine erste, bedingte Haftungsprivilegierung kommt dem Host-Service-Provider nach § 10 S. 1 zu. Ein Host-Service-Provider speichert fremde Informationen für Nutzer auf einem Server. Die Speicherung i.S.d. § 10 I ist abzugrenzen von den Zwischenspeicherungen der §§ 8 II, 9 S. 1 und muss daher auf eine gewisse Dauer angelegt sein 78.

a) Sinn und Zweck der Regelung

Host-Service-Provider werden lediglich als Vermittler zwischen Informationsurheber und Drittem tätig 79. Aufgrund dieser Rolle, der großen Datenmengen und dem Fehlen einer verlässlichen, automatischen Erkennung aller rechtswidrigen Informationen besteht eine Haftungsbeschränkung 80.

b) Voraussetzungen Privilegierung

Host-Service-Provider sind dann nicht für rechtswidrige Informationen verantwortlich, wenn sie keine Kenntnis von diesen haben. Hätten sie nämlich Kenntnis, so wäre ihnen ein Eingreifen ohne Probleme möglich und eine Privilegierung folglich unbegründet 81.

aa) Kenntnis

Kenntnis in diesem Sinne bedeutet menschliche 82, positive Kenntnis der Information und, in Übereinstimmung mit der ECRL 83, der Rechtsprechung des EuGH 84 und des BGH 85, auch deren Rechtswidrigkeit 86. Ein Kennenmüssen ist nach h.M. nicht ausreichend 87. Für die Kenntniserlangung können Hinweise eines Dritten genügen 88. Mangels Überwachungspflicht (§ 7 II 1) und vorgeschriebener Passivität können Bezugspunkte der Kenntnis allerdings nur konkrete Informationen oder Handlungen sein 89.

Bzgl. der Zurechnung fremder Kenntnis ergeben sich Unterschiede im Straf- und Zivilrecht. Aufgrund des Schuldprinzips ist es im Strafrecht nicht möglich Kenntnis fremder Personen anderen zuzurechnen 90. Für das Zivilrecht hingegen kann eine Wissenszurechnung analog § 166 BGB erfolgen 91. Trotz der rechtsgebietsübergreifende Funktion der §§ 7 ff. und der zu bevorzugenden Vorfilterlösung, ist eine einheitliche Definition an diesem Punkt nicht möglich und auch nicht wünschenswert.

bb) Unverzügliches Tätigwerden

Sollte der Provider Kenntnis erlangen, so tritt nicht automatisch dessen Verantwortlichkeit ein. Wird er unverzüglich tätig, um die Daten zu löschen bzw. zu sperren, bleibt die Privilegierung bestehen, § 10 S. 1 Nr. 2. Dem Wortlaut ist zu entnehmen, dass es auf den tatsächlichen Entfernungs- oder Sperrungserfolg nicht ankommt, das ernsthafte Tätigwerden alleine genügt 92. Über die Anforderungen an das Tätigwerden an sich sagt das Gesetz jedoch nichts aus. § 5 TDG aF enthielt den Grundsatz, dass die Entfernung oder Sperrung technisch möglich und zumutbar sein muss 93. Aus dem Regierungsentwurf zum EGG ergibt sich, dass dieser Grundsatz für den damals neu formulierten § 11 TDG und somit auch für den aktuellen § 10 weiter gelten soll 94. Ob eine Zumutbarkeit im konkreten Fall vorliegt, ist für jeden Fall gesondert, insbesondere unter Berücksichtigung der Interessen der Anbieter, der Verletzten und der Allgemeinheit, zu beurteilen 95. Ob das Tätigwerden unverzüglich erfolgte, hat nach dem verbreiteten Verständnis von „ohne schuldhaftem Zögern“ zu erfolgen 96.

c) Beispiele

Neben dem Anbieter von Speicherplatz für Internetseiten, fallen auch Betreiber von Informationsplattformen 97, Mikrobloggingdiensten 98, Chatrooms 99 und sozialen Netzwerken 100 in diese Kategorie von Providern.

4. Network- und Access-Provider

Die weitgehendste Privilegierung ist für Network- und Access-Provider vorgesehen, § 8 I.

a) Sinn und Zweck der Regelung

Die Gründe dafür liegen zum einen im Technischen und zum anderen im Rechtspolitischen. Der Datenfluss ist nicht kontrollierbar und eine Kontrolle auch nicht wünschenswert 101.

b) Providerarten

Network-Provider übermitteln fremde Informationen in einem Kommunikationsnetz, der Netzinfrastruktur 102. Access‑Provider halten Schnittstellen im Netz bereit, über die sich deren Kunden in das Netzwerk einwählen können 103.

Teilweise wird vertreten, dass der Network-Provider zwar vom Wortlaut des § 8 I erfasst sei, nicht aber unter den von § 2 S. 1 Nr. 1 definierten Diensteanbieter falle, da er selbst kein Telemedium i.S.d. § 1 I 1 sei 104. Selbst wenn er kein Telemedium wäre, so vermag diese Ansicht nicht zu überzeugen. Es wird die in § 2 S. 1 Nr. 1 genannte Alternative übersehen, nach welcher es genügt, den Zugang zur Nutzung fremder Telemedien zu vermitteln. Indem Network‑Provider ihr Netz zur Verfügung stellen, vermitteln sie den Zugang zu fremden Telemedien 105. Sie sind daher unproblematisch von § 2 S. 1 Nr. 1 erfasst. Auch die Access-Provider sind – mit Verweis auf die Network‑Provider‑Begründung – vom Anwendungsbereich erfasst 106.

c) Voraussetzungen Privilegierung

Die Haftungsprivilegierung besteht, sofern keine der in § 8 I genannten Ausschlussgründe einschlägig sind. In den dort genannten Fällen wäre die Tätigkeit nicht mehr auf die rein technische, automatisierte Durchleitung beschränkt 107. Der Fall der Kenntniserlangung der Rechtswidrigkeit übermittelter Informationen ist im Gegensatz zu § 10 kein Ausschlussgrund.

d) Beispiele

Ein klassisches Beispiel eines Access-Providers ist ein Kommunikationsunternehmen, das über einen Einwahlknoten den Internetzugang für Privathaushalte zur Verfügung stellt 108. Häufig wählt sich der Nutzer aber über ein privates oder öffentliches WLAN, bspw. in der Universität oder in Cafés, ins Internet ein. Dem „klassischen“ Access-Provider ist dann noch der Betreiber eines WLANs vorgeschaltet:

Abb. 2 WLAN-Betreiber

Abb. 2 WLAN-Betreiber

Ein WLAN-Anbieter vermittelt den Zugang zur Nutzung eines Kommunikationsnetzes und somit zu einem Telemedium. Er ist zwar kein „klassischer“ Access-Provider, trotzdem ist er Diensteanbieter i.S.d. §§ 8 I, 2 S. 1 Nr. 1, 1 I 1 109.

e) Zwischenspeicherung bei Zugangsvermittlung, § 8 II

Kommt es im Rahmen der Zugangs- oder Informationsübermittlung zu einer automatischen kurzzeitigen Zwischenspeicherung, so legt § 8 II fest, dass die Haftungsprivilegierung des § 8 I trotzdem weiter besteht.

Von einer Zwischenspeicherung ist auszugehen, wenn diese, anders als die Speicherung des § 10, nicht auf Dauer angelegt ist 110. Der Begriff „Kurzzeitigkeit“ soll eine Abgrenzung zur Zwischenspeicherung nach § 9 ermöglichen, die in zeitlicher Hinsicht länger ist als die des § 8 II 111. Zweck der Zwischenspeicherung darf i.R.d. § 8 II nur die technische Ermöglichung der fehlerfreien Datenübermittlung sein, das bloße Ziel der Übermittlungsbeschleunigung genügt nicht 112. Die Speicherung darf zudem nicht länger andauern als erforderlich.

f) Verweigerung Sperrung

Diskutiert wird, ob eine Verweigerung der Sperrung rechtswidriger Daten aufgrund des § 7 II 2 und des Art. 12 III ECRL zum Ausschluss der Privilegierung führt 113. Das ist abzulehnen. § 7 II 2 versteht die Pflicht zur Sperrung als Sonderpflicht neben der Privilegierung 114. Hinzu kommt, dass § 8 im Gegensatz zu § 10 den Fall der Kenntniserlangung gerade nicht als Ausschlussgrund der Privilegierung kennt 115. Die in § 8 I genannten Ausschlussgründe sind jedoch mit Blick auf die Rechtssicherheit als abschließend anzusehen 116.

5. Proxy-Cache-Provider

Eine Art Zwischenstellung zwischen den behandelten Providern nimmt der Proxy-Cache-Provider ein 117.

Abb. 3 Proxy-Cache-Provider

Abb. 3 Proxy-Cache-Provider

Im obigen Beispiel könnte es vorkommen, dass die von Nutzer 1 aufgerufene Facebook-Seite bereits von einem Proxy-Cache-Server in einer Übertragungskette zwischen Teilnetzen gespeichert wurde 118. Der Access-Provider ruft die vom Nutzer abgerufenen Daten dann direkt von diesem „Hilfsmittel“ 119 ab und leitet sie von dort an den Nutzer weiter 120.

a) Sinn und Zweck der Regelung

Proxy-Cache-Server verringern die Belastung des Netzes und die Wartezeit des Nutzers 121. Auch ihnen kommt lediglich eine Vermittlerrolle zu. Deshalb enthält § 9 eine Haftungsprivilegierung 122.

b) Voraussetzungen Privilegierung

Diese kommt den Anbietern dann zugute, wenn eine automatische, zeitlich begrenzte Zwischenspeicherung vorliegt, die allein zu dem Zweck der effizienteren Übermittlung fremder Informationen an andere Nutzer erfolgt. Das Merkmal der zeitlichen Begrenzung dient der Unterscheidung zur kurzzeitigen Zwischenspeicherung (§ 8 II) und Speicherung (§ 10). Von einer effizienteren Übermittlung ist dann auszugehen, wenn sie ohne Qualitätsverlust beschleunigt wird 123. Die von Proxy-Cache-Servern durchgeführte Zwischenspeicherung ist daher nicht technisch, sondern wirtschaftlich bedingt 124.

Die Haftungsprivilegierung tritt aber nur dann ein, wenn der Proxy-Cache-Provider keinen der in § 9 genannten Ausschlussgründe erfüllt. Im Gegensatz zu § 10 ist die reine Kenntnis von rechtswidrigen Informationen jedoch nicht schädlich 125.

6. Zusammenfassung

Zusammenfassend ist das Verantwortlichkeitssystem der §§ 7 ff. so zu verstehen, dass es primär auf den Urheber rechtswidriger Informationen abstellt, sekundär Host-Service- und Proxy-Cache-Provider bedingt zur Verantwortung zieht und Network- und Access-Provider von einer Haftung ausnimmt 126.

C. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Internetprovider

Wurde auf erster Ebene festgestellt, dass ein Provider nicht nach dem TMG privilegiert ist, so kommt es auf zweiter Ebene zur Prüfung dessen strafrechtlicher Verantwortlichkeit. Die Ausführungen dieses Teils beschränken sich dabei auf die nach den §§ 8 ff. privilegierten Provider und deren typische Tätigkeiten.

I. Mögliche Straftatbestände

Gegenstand der die Provider treffenden Vorwürfe sind allermeist die Durchleitung oder Speicherung missbilligter Daten unter dem Aspekt der Weitergabe an Dritte 127. Als Straftatbestände kommen daher Kommunikationsdelikte, d.h. Tatbestände, die die Äußerung oder Weitergabe missbilligter Inhalte unter Strafe stellen, in Betracht 128. Zudem könnten urheberrechtliche Delikte (§ 106 ff. UrhG) und der verbotene Besitz kinderpornographischer Schriften (§ 184b III StGB) verwirklicht werden.

Die Kommunikationsdelikte sind in Verbreitungs- und Äußerungsdelikten zu untergliedern. Bei ersteren stellt der Gesetzgeber bereits das Verbreiten oder Zugänglichmachen bestimmter Daten unter Strafe 129. Darunter fallen bspw. die Verbreitung pornographischer Schriften (§§ 184 ff. StGB) sowie die Volksverhetzung des § 130 II, V StGB. Äußerungsdelikte hingegen verlangen, dass sich der Täter zum missbilligten Inhalt bekennt 130. Beispiele sind die Beleidigungsdelikte der §§ 185 ff. StGB und die Volksverhetzung des § 130 I, III, IV StGB.

Allen Verbreitungsdelikten ist gemein, dass sie auf das „Verbreiten“ und/oder „Zugänglichmachen“ einer „Schrift“ abstellen. Hinsichtlich der provider-typischen Tätigkeiten stellt sich die Frage, ob sich diese unter die genannten Merkmale subsumieren lassen 131.

1. Schriften

Sofern ein Tatbestand von Schriften ausgeht und auf § 11 III StGB verweist, sind diesen u.a. Datenspeicher gleichgestellt. Dementsprechend wird das Speichern von Informationen heute unproblematisch von § 11 III erfasst.

2. Verbreiten

Von einem Verbreiten ist nach h.M. dann auszugehen, wenn eine Schrift als körperlicher Gegenstand anderen zugänglich gemacht wird 132. Beim zur Verfügung stellen von Daten im Internet wird nur deren Inhalt, nicht jedoch die Substanz des Datenträgers weitergegeben 133. Mit Blick auf § 86 I StGB, der dem Verbreiten das öffentliche Zugänglichmachen in Datenspeichern gleichstellt, ist festzustellen, dass der Begriff des Verbreitens nicht so zu verstehen ist, dass er automatisch die Erstellung einer Kopie einer Datenspeicherung umfasst 134.

3. Zugänglichmachen

Der Begriff des Zugänglichmachens hingegen ist weiter zu verstehen. Er umfasst alle Tätigkeiten, durch die es einer anderen Person ermöglicht wird, den gedanklichen oder bildlichen Inhalt der Schrift wahrzunehmen 135. Eine Computerdarstellung genügt diesen Voraussetzungen 136.

4. Ergebnis

Im Ergebnis ist festzustellen, dass alle Provider Verbreitungsdelikte verwirklichen können. Die von den Urheberrechtsdelikten vorausgesetzte „Vervielfältigung“ ist hingegen nur bei einer Speicherung durch Service-Provider zu bejahen 137. Bzgl. den Äußerungs- und Besitzdelikten ergeben sich keine Besonderheiten

II. Allgemeiner Teil

Nachdem nun feststeht, welche Straftatbestände überhaupt in Betracht kommen, werden im folgenden Abschnitt die Bereiche des Allgemeinen Teils näher behandelt, bei denen die providerspezifischen Tätigkeiten zu Problemen führen könnte.

1. Unechtes Unterlassungsdelikt

Anknüpfungspunkt strafrechtlichen Vorwurfs kann entweder positives Tun oder pflichtwidriges Unterlassen sein 138.

a) Abgrenzung Tun und Unterlassen

Kommt es zur Einstellung von rechtswidrigen Informationen im Internet, so kann die strafbare Handlung der Provider zum einen in der Schaffung oder Aufrechterhaltung des Internetzugangs bzw. Speicherplatzes, einem positiven Tun, und zum anderen im Unterlassen von Kontroll- und Sperrmaßnahmen gesehen werden 139. Rechtsprechung 140 und h.M. in der Literatur 141 nehmen die Abgrenzung richtigerweise anhand des „Schwerpunkts der Vorwerfbarkeit“ vor 142. Die Provider stellen Internetverbindungen und Speicherplatz nach deren Verträgen lediglich zu legalen Zwecken zur Verfügung 143. Ein solches rechtmäßiges Verhalten kann ihnen nicht zum Vorwurf gemacht werden. Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit kann daher nur das Unterlassen von Kontroll- bzw. Sperrmaßnahmen sein 144. Dieses Ergebnis schließt allerdings nicht aus, dass den Providern bei Vornahme zusätzlicher Handlungen ein aktives Tun vorgeworfen werden kann.

Zur Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und somit zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen kommt es aber überhaupt nur dann, wenn keine Privilegierung i.S.d. §§ 8 ff. gegeben ist. Die Provider haben in der Folge also zumindest einen der dort genannten Ausschlussgründe erfüllt. Dies führt bei den Network- und Access-Providern immer zu einem Schwerpunkt auf aktivem Tun, bei den Proxy-Cache- und Host-Service-Providern (im Folgenden nur noch Service-Provider) hingegen ist ein Unterlassen möglich.

b) Garantenstellung

Liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit bei den Service-Providern auf einem Unterlassen, so ist eine Strafbarkeit nur dann denkbar, wenn der Provider eine Garantenstellung innehätte. Eine Garantenpflicht aus Gesetz, genauer gesagt aus den Ausschlussgründen der §§ 8 ff., widerspräche der haftungsbegrenzenden Filterfunktion 145. Eine Pflicht aus Ingerenz scheitert an der Rechtmäßigkeit der Bereitstellung von Kommunikations- und Speichermöglichkeiten 146. In Betracht kommt daher nur eine Garantenstellung aus der Pflicht zur Überwachung einer Gefahrenquelle 147. Angesichts der offenkundigen Begehung von Straftaten im Internet, stellt das Internet eine Gefahrenquelle dar 148.

aa) Tatsächliche Herrschaft

Die Garantenpflicht setzt die tatsächliche Herrschaft über die Gefahrenquelle voraus. Aufgrund der Zugriffsmöglichkeit der Service-Provider auf den Datenspeicher ist die Herrschaft unproblematisch zu bejahen 149.

bb) Weiteres Kriterium

Da das Kriterium allein allerdings auf die bloße, bei allen Unterlassungsdelikten erforderliche, Möglichkeit der Erfolgsabwendung hinausläuft, ist ein weiteres Kriterium notwendig 150.

(1) Vertrauen

Rechtsprechung 151 und h.M. in der Literatur 152 sehen dies im Vertrauen der Anwender, dass der Unterlassende die entsprechenden Gefahren kontrollieren und verhindern werde. Aus den §§ 9 S. 1 Nr. 5, 10 S. 1 lässt sich der Grundsatz und ein daraus resultierendes Vertrauen entwickelt, dass die Service-Provider im Fall der Kenntnis von klar rechtswidrigen Daten bzw. der Kenntnis der Entfernung von Informationen ihnen zumutbare Handlungen zur Löschung unternehmen werden 153.

(2) Besondere Gefährlichkeit

Andere vertreten, dass eine besondere Gefährlichkeit der Quelle vorliegen muss 154. Abgesehen von der Unvereinbarkeit dieser Lösung mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 II GG 155, wäre schon das Kriterium der besonderen Gefährlichkeit zu verneinen. Popp 156 behauptet, dass das Internet die Begehung von Straftaten provoziere. Außerdem wird mehrfach auf Diskussionsforen verwiesen, um die besondere Gefahr des Internets zu verdeutlichen 157. Den Bedenken ist insofern zuzustimmen, als dass das Internet, aufgrund der Anonymität, anfällig für Straftaten ist. Und es vermag auch zu überzeugen bestimmte Seiten, die eindeutig strafbare Informationen anbieten, als besonders gefährlich anzusehen 158. Allerdings trifft das nicht auf die gesamte Infrastruktur Internet zu. Vergleicht man das Internet mit dem Telefon, über welches auch Straftaten begangen werden, so wird dieses nicht als besonders gefährlich angesehen 159. Außerdem werden über 95% der registrierten Delikte ohne Internet begangen 160, was angesichts der Bedeutung des Internets im Alltag 161 enorm ist. Auf einer besonderen Gefährlichkeit des Internets könnte keine Garantenstellung der Provider beruhen.

(3) Zwischenergebnis

Nach dem zu bevorzugenden Kriterium des Vertrauens wäre eine Garantenstellung bei konkreter Kenntnis der rechtswidrigen Information bzw. deren Entfernung möglich.

cc) Unmittelbar aus der Gefahrenquelle herrührende Gefahr

Hinzukommen müsste noch, dass die Gefahr unmittelbar aus der Quelle herrührt 162. Das könnte deshalb scheitern, da die Gefahr des Zugänglichwerdens strafbarer Informationen nicht bereits durch das zur Verfügung stellen von Servern, sondern vielmehr erst durch fremdes Handeln entsteht 163. Allerdings gehört die Löschung rechtswidriger bzw. nicht mehr bestehender Daten nach den §§ 9 S. 1 Nr. 5, 10 S. 1 zum Organisationsbereich der Speicherplatzanbieter. Aus diesem Grund wäre ihnen ein rechtsgutgefährdendes Verhalten Dritter zuzurechnen 164.

dd) Ergebnis

Letztlich ist festzustellen, dass eine Garantenstellung der Service-Provider bei Kenntnis der rechtswidrigen Information bzw. deren Entfernung besteht.

c) Erfolgszurechnung

Als nächstes würde sich die Frage nach der Zurechnung des tatbestandsmäßigen Erfolgs stellen. Voraussetzung der Erfolgszurechnung ist, dass der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit durch die vorzunehmende Handlung vermeidbar gewesen wäre 165. Rechtsprechung 166 und Literatur 167 stellen hierbei nicht auf den Erfolg in seiner konkreten Gestalt, sondern auf den im Gesetz abstrakt beschrieben tatbestandlichen Erfolg ab. Hieran könnte die Erfolgszurechnung des Providers scheitern: Die relevanten Informationen wären regelmäßig über andere Provider verfügbar 168.

In Parallele zur alternativen Kausalität 169 ist für das Scheitern einer Erfolgszurechnung vorauszusetzen, dass der Erfolgseintritt auch bei rechtmäßigem Verhalten aller anderen Provider für ihn nicht vermeidbar gewesen wäre 170. Unbeachtlich wäre rechtmäßiges Verhalten nur dann, wenn durch alternative Datenspeicherungen nicht die gleiche, sondern eine neue Tatbestandsverwirklichung erfolgen würde 171. Es stellt sich also die Frage, ob es sich bei der Speicherung der in Rede stehenden Information durch andere Provider um dieselbe oder eine andere Tat handelt. Die Beurteilung hängt dabei vom konkreten Taterfolg ab. Ginge es bspw. um das Zugänglichmachen von kinderpornographischen Darstellungen, so wäre die Identität der Darstellungen entscheidend 172. Zwar könnten kinderpornographische Darstellungen durch andere Service-Provider zur Verfügung gestellt werden, es würde sich dabei allerdings nicht um identische Darstellungen handeln. Der tatbestandliche Erfolg könnte in diesem Beispiel nie durch andere Service-Provider herbeigeführt werden. Eine Erfolgszurechnung wäre zu bejahen

d) Zumutbarkeit

Auf der Ebene der Schuld ist bei einer Unterlassensstrafbarkeit die Zumutbarkeit der erwarteten Handlung zu prüfen. Da nur für den Fall der Kenntnis der rechtswidrigen Informationen bzw. der Entfernung der Dateien überhaupt die Tatbestandsmäßigkeit eines Unterlassungsdelikts bejaht werden kann, kann erwartete Handlung nur die Löschung der Information nach Kenntniserlangung sein. In Einklang mit den §§ 9 S. 1 Nr. 5, 10 S. 1 ist dies den Providern zumutbar.

e) Ergebnis

Liegt der Schwerpunkt strafrechtlichen Vorwurfs bei einem Service-Provider auf einem Unterlassen, so kommt eine daraus resultierende Strafbarkeit überhaupt nur bei konkreter Kenntnis der rechtswidrigen Information bzw. der Entfernung der Information in Betracht.

2. Vorsatz

Unabhängig davon, ob aktives Tun oder Unterlassen vorliegt, kommt es nach Bejahen des objektiven Tatbestands zur Prüfung des subjektiven Tatbestands. Der Vorsatz umfasst im Strafrecht neben direktem Vorsatz auch Eventualvorsatz 173. Im Gegensatz zur erforderlichen Kenntnis der Rechtswidrigkeit bei § 10 S. 1 Nr. 1 ist dies im Rahmen eines Straftatbestandes grundsätzlich nicht erforderlich 174.

Da es zur Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit immer nur dann kommt, wenn ein Ausschlussgrund der §§ 8 ff. gegeben ist, ist bei den Host-Service-, Network- und Access-Provider immer zumindest bedingter Vorsatz anzunehmen. Anders sieht es bei den Ausschlussgründen der Proxy-Cache-Provider aus. Aufgrund der Ubiquität und Häufigkeit strafbarer Informationen in Datennetzen ist allerdings davon auszugehen, dass diese mit der Möglichkeit rechnen, rechtswidrige Daten zu speichern 175. Zumindest bedingter Vorsatz ist daher in aller Regel zu bejahen.

3. Täterschaft und Teilnahme

In Betracht kommen sowohl (Mit-)Täterschaft 176 als auch Beihilfe gem. § 27 I StGB.

a) Abgrenzung

Nach der in der Literatur überwiegend vertretenen, und hier für richtig gehaltenen, Tatherrschaftslehre ist Täter derjenige, der als Zentralgestalt bei Verwirklichung der tatbestandsmäßigen Ausführungshandlung auftritt 177. Für die Annahme einer Täterschaft ist demnach ein objektives Element, die faktische, jederzeitige Möglichkeit zur tatbestandsgestaltender Steuerung, und ein subjektives Element, der Wille zur Tatherrschaft, notwendig 178.

aa) Täterschaft und Teilnahme bei Schwerpunkt auf positivem Tun

Liegt aufgrund eines speziellen Providerverhaltens der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit ausnahmsweise auf einem aktiven Tun, so kommt sowohl Täterschaft als auch Teilnahme in Betracht.

bb) Täterschaft und Teilnahme bei Schwerpunkt auf Unterlassen

Legt man einem Provider hingegen ein Unterlassen von Kontroll- bzw. Sperrmaßnahmen zur Last, so gestaltet sich die Beurteilung schwieriger. Zum Teil wird vertreten, dass der unterlassende Garant immer Gehilfe sei 179. Die extreme Gegenposition sieht ihn immer als Täter 180. Eine differenzierende Ansicht will zwischen den verschiedenen Garantenstellungen differenzieren 181. Diese Ansichten können allerdings wegen fehlender Berücksichtigung der Tatumstände und einer unmöglichen, strengen Differenzierung zwischen Obhuts- und Überwachungsgaranten nicht überzeugen 182. Vorzugswürdig ist deshalb – wie schon beim aktiven Tun – ein Abstellen auf die Tatherrschaft des Garanten.

(1) Äußerungsdelikte

Stehen Äußerungsdelikte in Rede so wäre für die Annahme einer Täterschaft notwendig, dass die Inhalte dem unterlassenden Provider zurechenbar sind. Die Speicherung rechtswidriger Daten lässt noch keinen Rückschluss auf die notwendige Identifizierung mit den Inhalten zu 183. Da ohne die Handlung eines Providers rechtswidrige Inhalte allerdings gar nicht erst anderen zugänglich gemacht werden könnten, fördern diese die Haupttat kausal. Weiter wäre für eine Beihilfe notwendig, dass Vorsatz bzgl. der Beihilfehandlung und der konkreten 184 Haupttat vorliegt. Das wäre schon dann der Fall, wenn der Gehilfe die Haupttat im Wesentlichen kennt 185. Ein generelles Bewusstsein bzgl. Rechtsverletzungen, wie das der Proxy-Cache-Server, reicht aber nicht aus.

(2) Verbreitungsdelikte

Bei den Verbreitungsdelikten bestünde die Möglichkeit zur tatbestandsgestaltenden Steuerung. Aufgrund der Menge an Daten kann dies allein aber noch nicht für eine Tatherrschaft genügen. Selbst wenn ein Provider Kenntnis von rechtswidrigen Informationen hat und diese in der Folge nicht löscht, kann aus der damit möglicherweise verbundenen Billigung des Verhaltens noch nicht von einem Willem zur Tatherrschaft ausgegangen werden 186. Dementsprechend kommt auch bei dieser Art der Delikte nur eine Beihilfe-Strafbarkeit in Betracht.

b) Neutrale Beihilfe

Die von den Service-Providern vorgenommenen Handlungen sind berufsspezifische, sog. „neutrale“ Tätigkeiten. Es stellt sich daher die Frage, ob diese überhaupt der Beihilfestrafbarkeit unterliegen 187. Die einen wollen sie immer nach den allgemeinen Beihilferegeln behandeln 188, andere sehen sie grundsätzlich als straflos an 189. Solche pauschalisierende Ansichten können angesichts der Unterschiede, die sowohl zwischen Berufsträgern und Normalpersonen, als auch innerhalb der verschiedenen berufsspezifischen Handlungen bestehen, nicht überzeugen. Die objektiven 190 und subjektiven 191 Ansätze versuchen das zu verhindern. Da allerdings objektive Ansätze fast immer zu einer Straflosigkeit führen 192 und die Tätigkeiten in keinem sozialen Kontext verorten, ist auch dieser Ansatz abzulehnen 193. Vorzugswürdig ist ein subjektiver Ansatz 194: Sofern der Hilfeleistende weiß, dass die Handlung des Haupttäters ausschließlich auf die Begehung der Straftat zielt, macht er sich wegen Beihilfe strafbar 195. Hält er es allerdings lediglich für möglich, dass sein Tun zur Tatbegehung genutzt wird, so liegt Beihilfe nur dann vor, wenn der Hilfeleistende einen objektiv erkennbar tatgeneigten Täter unterstützt 196. Im Ergebnis reicht bedingter Vorsatz bei Vorliegen „neutraler“ Handlungen alleine also nicht aus. Ohne hinzukommen weiterer Umstände macht sich ein Proxy-Cache-Provider daher nicht wegen Beihilfe strafbar. Ein Host-Service-Provider in aller Regel jedoch schon.

c) Ergebnis

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es bei aktivem Tun bei allen Providern zu einer Strafbarkeit wegen Täterschaft oder Teilnahme kommen kann. Liegt der Schwerpunkt hingegen auf einem Unterlassen so kommt grundsätzlich nur eine Beihilfe der Host-Service-Provider in Betracht.

D. Schlussbetrachtungen

I. Zusammenfassung

Um nun nochmal auf das obige Facebook-Beispiel zurück zu kommen und die Ergebnisse zusammenzufassen, soll im Folgenden die Verantwortlichkeit der dort genannten Provider beurteilt werden.

Den Network- (Telekom) und Access-Providern (Telekom und 1&1) kommt die Haftungsprivilegierung des § 8 I 1 zu Gute. Schwieriger ist die Beurteilung des Verhaltens von Facebook, dem Host-Service-Provider. Nachdem der Mitarbeiter den Hinweis gelesen hat, hat er Kenntnis der rechtswidrigen Information i.S.d. § 10 S. 1. Die Privilegierung würde folglich nur dann nicht entfallen, wenn unverzüglich Versuche zur Entfernung stattfänden. Da dies im Beispiel nicht geschah, ist Verantwortlichkeit i.S.d. TMG gegeben. Auf der nächsten Stufe kommt es zur Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit. In Betracht kommt eine Strafbarkeit des Mitarbeiters wegen Beihilfe zur Volksverhetzung durch Unterlassen. Angenommen der tatbestandliche Erfolg einer der Äußerungs- oder Verbreitungsdelikte ist verwirklicht, so liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit des Mitarbeiters auf einem Unterlassen von Kontroll- und Sperrmaßnahmen. Mangels Identifizierung mit der Äußerung bzw. Tatherrschaft und fehlendem Willen zur Tatherrschaft kann ihm keine Täterschaft zur Last gelegt werden. Aufgrund seiner kausalen Tatförderung ist er aber Gehilfe des Nutzers 2. Für eine Unterlassensstrafbarkeit ist weiter eine Garantenstellung erforderlich. Eine solche ist wegen der Pflicht zur Überwachung von Verkehrssicherungspflichten zu bejahen. Die Erfolgszurechnung, die Zumutbarkeit des Sperrens und der direkte Vorsatz bzgl. Haupttat und Beihilfehandlung liegen vor. Aus diesem Grund ist eine Beihilfestrafbarkeit auch unter dem Gesichtspunkt der „neutralen“ Beihilfe gegeben. Der Facebook-Mitarbeiter macht sich gem. §§ 130, 27 I, 13 I StGB strafbar.

II. Rechtspolitische Bewertung

Anhand des Fallbeispiels wird nochmals klar, dass die Provider grundsätzlich privilegiert sind und nur unter bestimmten Voraussetzungen eine Verantwortlichkeit entsteht. Die Vorschriften sollen den technischen Möglichkeiten und der Entwicklung des Standorts Deutschland Rechnung tragen, gleichzeitig aber einen „Freifahrtschein“ vermeiden 197. Angesichts des „Alters“ des Gesetzes und der schnell fortschreitenden Technik muss man sich heute die Frage stellen, ob die Regelungen überhaupt noch zeitgemäß sind. Das mediale Interesse an den Facebook „Hass‑Kommentaren“ führt dazu, dass in der Öffentlichkeit, zumindest teilweise, der Ruf nach strengeren Regelungen laut wird 198. 2008 standen noch Gesetzesverschärfungen bzgl. Access-Provider im Raum 199, heute drehen sich die Diskussionen um die Host-Service-Provider. Gegenstand von Änderungen könnten somit beide Provider sein.

1. Kontrolle durch Host-Service-Provider

Grund der Privilegierung der Service-Provider ist ihre Vermittlerrolle und das Fehlen einer verlässlichen automatischen Erkennung rechtswidriger Informationen 200. Da nach heutigem Stand der Technik eine Kontrolle aller gespeicherten Inhalte möglich ist, könnte ihnen eine solche Pflicht auferlegt werden. Da eine menschliche Kontrolle aller Daten undenkbar ist, käme einzig und allein eine technische in Betracht. Dabei stellen sich schon die ersten Probleme: Die Kontrollkriterien wären von Programmierern vorgegeben und könnten zu einer ineffizienten Sperrung der Daten führen. Beim „Durchrutschen“ von Inhalten wäre die Sinnhaftigkeit eines solchen Systems zu hinterfragen, ein zu großzügiges Sperren hingegen würde die Meinungsfreiheit des Urhebers und die Informationsfreiheit der Internetnutzer nach Art. 5 I GG einschränken. Schnell käme der Vorwurf einer Zensur auf. Diese Gefahr könnte zwar durch menschliche Nachkontrolle eingedämmt werden, aber auch bei dieser bestünde das Risiko einer Fehlbewertung. Die Unternehmen wären verpflichtet, Systeme zu kaufen oder zu entwickeln (der Staat wird schließlich nicht in der Lage sein den Unternehmen maßgeschneiderte Programme zur Verfügung zu stellen), diese zu installieren und rechtlich geschultes Personal einzustellen. Diese Auflagen würden zu Eingriffen in die Berufs- und Eigentumsfreiheit der Art. 12, 14 GG und in die unternehmerische Freiheit des Art. 16 GRCh führen. Insbesondere für Startups und kleinere Unternehmen könnten die Pflichten unüberwindbare Hürden bedeuten, was dazu führen könnte, dass Deutschland den Anschluss an den Digitalmarkt verliert. Außerdem würde einer der wesentlichen Aspekte des Internets, die freie und weltweite Kommunikation 201, sicher nicht vereinfacht, sondern im Gegenteil erheblich erschwert werden. Letztlich sieht der EuGH solche Kontrollen als mit europäischem Recht unvereinbar an 202.

Eine andere Möglichkeit wäre, den Service-Providern eine Pflicht zur Errichtung von Hinweisstellen und zur Überprüfung der Hinweise aufzuerlegen. Zwar würde dies bedeuten, dass nicht zwangsweise ein technisches System installiert werden müsste. Allerdings wäre dann eine menschliche Kontrolle unabdingbar. Die soeben genannten Probleme blieben auch bei dieser Konstellation bestehen.

Denkbar wäre zudem, am Erfordernis der Kenntnis der Rechtswidrigkeit nicht länger festzuhalten. Für als nicht rechtswidrig eingestufte und daher nicht gelöschte Daten müssen die Provider bisher nicht einstehen, da in diesem Fall keine Kenntnis der Rechtswidrigkeit vorliegt. Würde diese Kenntnis aber nicht mehr länger vorausgesetzt werden, so bestünde die Gefahr, dass eher zu viele als zu wenige Daten gelöscht werden, was wiederum erhebliche Grundrechtseingriffe mit sich bringen würde.

Als schwächste Form der Verantwortlichkeitsverstärkung käme eine Pflicht zu Stichproben in Betracht. Diese würde vor allem zu praktischen Problemen führen. Wie viele Stichproben müssen erfolgen? Wer kontrolliert die Einhaltung? Letztlich hinge es vom Zufall ab, ob schädigende Inhalte gefunden würden oder nicht.

2. Kontrolle durch Access-Provider

Denkbar wäre statt den Service-Providern den Access-Providern Kontroll- und Sperrpflichten aufzuerlegen. Unstreitig ist dies heutzutage über Zwangs-Proxy-Server, IP-Sperren, DNS-Sperren oder hybride Ansätze möglich. Die bei den Service-Providern aufgeworfenen Probleme treffen hier allerdings gleichermaßen zu.

3. Ergebnis

Um Straftaten im Internet wirksam begegnen zu können, sind geeignete rechtliche Regelungen unerlässlich. Eine Verantwortlichkeitsverschärfung auf zweiter Stufe bei den besser greifbaren Providern überzeugt allerdings nicht. Die dort möglichen Kontrollverpflichtungen würden zu unerwünschten Nebenfolgen führen. Der Gesetzgeber muss bereits auf erster Stufe stärker tätig werden und an einer besseren Rechtsdurchsetzung gegenüber dem Urheber rechtswidriger Daten arbeiten. Dabei gilt es das Übel an der Wurzel zu greifen und an der Anonymität des Internets zu arbeiten

*Die Autorin studiert im achten Semester Rechtswissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg mit dem Schwerpunkt „Strafrechtliche Sozialkontrolle“. Der Artikel beruht auf einer im Oktober 2015 erstellten Seminararbeit zum Thema „Die Verantwortlichkeit von Internetprovidern“ im Rahmen des Seminars „Geheimdienstliche und strafrechtliche Aufklärung des Internets“ bei Prof. Dr. Roland Hefendehl.


Fußnoten:

  1. Freidel Der braune Hass im Netz, FAZ online v. 09.08.15, online abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/rechtsextremismus/rechtsextreme-parteien-im-internet-13740518.html, zuletzt abgerufen am 01.10.15.
  2. Hurtz Hasskommentare auf Facebook, SZ online v. 14.09.15, online abrufbar unter http://www.sueddeutsche.de/digital/hasskommentare-auf-facebook-dieser-mann-stellt-rassisten-bloss-1.2645936, zuletzt abgerufen am 23.02.16.
  3. Reinbold Warum Facebook den Hass nicht löscht, manager magazin online v. 08.09.15, online abrufbar unter http://www.manager-magazin.de/unternehmen/artikel/hetze-auf-facebook-warum-der-hass-nicht-geloescht-wird-a-1051904.html, zuletzt abgerufen am 23.02.16.
  4. KJM Pressemitteilung 13/2015 vom 07.09.15, online abrufbar unter http://www.die-medienanstalten.de/presse/pressemitteilungen/kommission-fuer-jugendmedienschutz/detailansicht/article/kjm-pressemitteilung-132015-fremdenfeindliche-hetze-in-sozialen-netzwerken-verstoesse-werden-kons.html, zuletzt abgerufen am 23.02.16.
  5. Hilgendorf/Frank/Valerius, Computer- und Internetstrafrecht 2012, Rn. 175.
  6. Vgl. Sieber, Verantwortlichkeit im Internet 1999, Rn. 3.
  7. Alle weitere §§ ohne nähere Angaben sind solche des TMG.
  8. Paul, Primärrechtliche Regelungen zur Verantwortlichkeit von Internetprovidern aus strafrechtlicher Sicht 2005, S. 71.
  9. Hilgendorf/Frank/Valerius, Rn. 185.
  10. Wimmer ZUM 1999, 436.
  11. Vgl. Wimmer ZUM 1999, 436, 437.
  12. Vgl. OLG München ZUM-RR 1998, 387.
  13. Vgl. Hoeren/Sieber/Holznagel/Sieber/Höfinger, Handbuch Multimediarecht 42. Erg-Lfg. (Juni 2015), Teil 18.1 Rn. 1, 2.
  14. Vgl. HSH/Sieber/Höfinger, Teil 18.1 Rn. 2.
  15. AG München NJW 1998, 2836 ff.; LG München MMR 2000, 171 ff.
  16. Vgl. Paul, S. 73.
  17. Vgl. Gercke/Brunst, Praxishandbuch Internetstrafrecht 2009, Rn. 560.
  18. Hilgendorf/Frank/Valerius, Rn. 178.
  19. BeckOK/Gersdorf/Paal § 7 Rn. 2.
  20. Vgl. Spindler/Schuster/Hoffmann Vor §§ 7 ff. Rn. 4.
  21. HSH/Sieber/Höfinger, Teil 18.1 Rn. 10.
  22. Vgl. BT-Dr. 16/3078, S. 15.
  23. HSH/Sieber/Höfinger, Teil 18.1 Rn. 14.
  24. BT-Dr. 14/6098, S. 23.
  25. Vgl. BT-Dr. 14/6098, S. 23.
  26. Vgl. Bleisteiner, Rechtliche Verantwortlichkeit im Internet 1999, S. 153.
  27. Vgl. Paul, S. 74.
  28. Vgl. Gercke/Brunst, Rn. 578.
  29. Vgl. Hilgendorf/Frank/Valerius, Rn. 187.
  30. Vassilaki MMR 1998, 630 ff.
  31. Für Zwei-Stufen-Modell: BGH MMR 2004, 166; für Ein-Stufen-Modell: LG München MMR 2000, 171; unklar: BGH MMR 2007, 518 Rn. 6.
  32. Fechner, Medienrecht 2015, Kap. 12 Rn. 32.
  33. Vgl. Malek/Popp, Strafsachen im Internet 2015, Rn. 74.
  34. Vgl. Stadler, Haftung für Informationen im Internet 2005, Teil 2 Rn. 22.
  35. Vgl. Gercke/Brunst, Rn. 579 f.
  36. andere Lösung: Freytag, Haftung im Netz 1999, S. 211.
  37. Haft/Eisele Beiträge zur juristischen Informatik: Regulierung in Datennetzen 2000, S. 21; Spindler NJW 1997, 3193, 3195.
  38. Popp, Die strafrechtliche Verantwortung von Internet-Providern 2002, S. 94.
  39. LG München MMR 2000, 171.
  40. Heghmanns ZUM 2000, 463, 465.
  41. Gercke/Brunst, Rn. 580.
  42. HSH/Sieber/Höfinger, Teil 18.1 Rn. 24.
  43. Vgl. Spindler MMR 1998, 639, 640.
  44. Vgl. Sieber, Rn. 241.
  45. Gercke/Brunst, Rn. 580.
  46. Vgl. Busse-Muskala, Strafrechtliche Verantwortlichkeit der Informationsvermittler im Netz 2006, S. 238 f.
  47. Sieber, Rn. 246.
  48. Vgl. §§ 7 I, 10 I; Bleisteiner, S. 154.
  49. Vgl. auch Bleisteiner, S. 154.
  50. LG München MMR 2000, 171.
  51. Altenhain FS-Puppe, S. 359.
  52. Vgl. BT-Dr. 13/7385, S. 20; BR-Dr. 966/96, S. 22.
  53. Spindler/Schuster/Hoffmann Vor §§ 7 ff. Rn. 28.
  54. BT-Dr. 14/6098, S. 23.
  55. Vgl. BT-Dr. 14/6098, S. 23.
  56. BT-Dr. 14/6098, S. 23.
  57. Vgl. Erwägungsgründe (5) – (8) der ECRL; BT-Dr. 14/6098.
  58. Vgl. MüKo/Altenhain Vor §§ 7 ff. Rn. 7.
  59. Vgl. Bleisteiner, S. 154.
  60. Müller, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Verweisungen durch Hyperlinks nach deutschen und Schweizer Recht 2011, S. 84.
  61. Müller, S. 84.
  62. Vgl. Sieber, Rn. 258.
  63. Vgl. Frey MMR 2014, 650.
  64. Hilgendorf/Frank/Valerius, Rn. 179, 193.
  65. Vgl. Gercke/Brunst, Rn. 585.
  66. Dustmann, Die privilegierten Provider 2001, S. 32.
  67. Gercke/Brunst, Rn. 587.
  68. Sieber, Rn. 280.
  69. Vgl. Stadler, Teil 2 Rn. 23.
  70. Vgl. BT-Dr. 14/6098, S. 23.
  71. Müller-Broich § 7 Rn. 1 f.
  72. BGH NJW-RR 2010, 1276, 1278.
  73. BT-Dr. 14/6098, S. 23.
  74. Vgl. BeckOK/Paal § 7 Rn. 34.
  75. Heß, Die Verantwortlichkeit von Diensteanbietern für Informationen im Internet nach der Novellierung des Teledienstegesetzes 2005, S. 134.
  76. Vgl. Hilgendorf/Frank/Valerius, Rn. 180.
  77. Vgl. Gercke/Brunst, Rn. 588, a.A. Wimmer ZUM 1999, 436, 440.
  78. MüKo/Altenhain § 10 Rn. 3.
  79. Vgl. MüKo/Altenhain § 10 Rn. 2.
  80. Vgl. BT-Dr. 13/7385, S. 20; BT-Dr. 14/6098, S. 25.
  81. Sieber CR 1997, 653, 655.
  82. Kohl, Die Haftung der Betreiber von Kommunikationsforen im Internet und virtuelles Hausrecht 2007, S. 70.
  83. Vgl. Hartmann, Unterlassungsansprüche im Internet 2009, S. 115; frz. Fassung ECRL: Der Begriff „rechtswidrig“ = „illicite“ ist in der französischen Fassung im Plural und bezieht sich daher sowohl auf die Handlung, als auch auf die Information. Daraus ist zu schließen, dass sich die Kenntnis auf die Rechtswidrigkeit beziehen muss.
  84. EuGH MMR 2010, 315, 319 Rn. 109.
  85. BGH MMR 2010, 475, 480 Rn. 39.
  86. Vgl. zum Streit Eck/Ruess MMR 2003, 363 ff.
  87. Mießner, Providerhaftung, Störerhaftung und Internetauktion 2008, S. 49; a.A.: Barton, Multimedia-Strafrecht 1999, S. 229; Pätzel CR 1998, 625, 626.
  88. Vgl. Paul, S. 157 ff.
  89. Gercke/Brunst, Rn. 600.
  90. Dustmann, S. 163.
  91. Beckmann, Verantwortlichkeit von Online-Diensteanbietern in Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika 2001, S. 116.
  92. Vgl. Gercke/Brunst, Rn. 605.
  93. Vgl. Sieber CR 1997, 581, 584.
  94. Vgl. BT-Dr. 14/6098, S. 25.
  95. Vgl. Wabnitz/Janovsky/Bär, Handbuch Wirtschafts- und Steuerstrafrecht 2014, Kap. 14 Rn. 195.
  96. Spindler/Schuster/Hoffmann § 10 Rn. 46.
  97. BGH NJW 2012, 148, 150.
  98. OLG Dresden, 01.4.2015, 4 U 1296/14.
  99. Kohl, S. 53.
  100. EuGH, 16.2.2012, C-360/10, Rn. 27.
  101. Sieber, Rn. 283 f.
  102. BeckOK/Paal § 8 Rn. 13.
  103. Rothe, Die Haftung für fremde Online-Inhalte nach § 5 Abs. 2 TDG am Beispiel des Internet-Host-Providers 2001, S. 7.
  104. BeckOK/Paal § 8 Rn. 11.
  105. Vgl. Sieber, Rn. 262 f.
  106. A.A.: Frey MMR 2014, 650, 654.
  107. Paul, S. 129.
  108. Vgl. HSH/Sieber/Höfinger, Teil 18.1 Rn. 64.
  109. Vgl. Röhrborn/Katko CR 2002, 882, 887; Spindler/Schmitz/Geis/Spindler § 9 TDG Rn. 14.
  110. Vgl. Spindler/Schuster/Hoffmann § 8 Rn. 37.
  111. Vgl. Spindler/Schuster/Hoffmann § 8 Rn. 39.
  112. Spindler/Schuster/Hoffmann § 8 Rn. 2.
  113. Vgl. Kudlich JA 2002, 798, 802.
  114. Gercke/Brunst, Rn. 616.
  115. Vgl. BT-Dr. 14/6098, S. 24.
  116. Vgl. HSH/Sieber/Höfinger, Teil 18.1 Rn. 69.
  117. Kudlich JA 2002, 798, 801.
  118. Wandtke/Bullinger/v. Welser § 44a UrhG Rn. 6.
  119. Vgl. Beckmann, S. 7.
  120. Vgl. Spindler/Schuster/Hoffmann § 9 Rn. 2.
  121. BeckOK/Paal § 9 Rn. 5.
  122. Vgl. Paul, S. 135.
  123. MüKo/Altenhain § 9 Rn. 6.
  124. Gercke/Brunst, Rn. 621.
  125. Vgl. Spindler MMR 1999, 199, 202.
  126. Vgl. Sieber ZUM 1999, 196, 201.
  127. Vgl. Paul, S. 179.
  128. Altenhain CR 1997, 485.
  129. Vgl. Altenhain CR 1997, 485, 486.
  130. Busse-Muskala, S. 49.
  131. Vgl. Popp, S. 107.
  132. BGH NJW 1963, 60; MüKo/Hörnle § 184 StGB Rn. 77.
  133. Vgl. Sch/Sch/Eisele § 184b StGB Rn. 5.
  134. So auch Sch/Sch/Eisele § 184b StGB Rn. 5; a.A.: Paul, S. 181 f.; BGH NJW 2001, 3558, 3559.
  135. Derksen NJW 1997, 1878, 1881.
  136. Sieber JZ 1996, 494, 495.
  137. Vgl. BeckOK/Sternberg-Lieben § 106 UrhG Rn. 24.
  138. HSH/Sieber, Teil 19.1 Rn. 20.
  139. Vgl. Beckmann, S. 17.
  140. BGH NStZ 1999, 607.
  141. Sch/Sch/Stree/Bosch Vor §§ 13 ff. StGB Rn. 158a.
  142. a.A.: Roxin, Strafrecht AT II 2003, § 31 Rn. 70.
  143. Pelz wistra 1999, 53, 55.
  144. Vgl. Hörnle NJW 2002, 1008, 1111.
  145. Vgl. HSH/Sieber, Teil 19.1 Rn. 33 ff.
  146. Vgl. Paul, S. 170.
  147. Hilgendorf JuS 1997, 323, 330 f.
  148. Vgl. Pelz wistra 1999, 53, 56.
  149. Vgl. HSH/Sieber, Teil 19.1 Rn. 45.
  150. Pelz wistra 1999, 53, 55.
  151. BGH NJW 1990, 2560, 2563.
  152. LK/Jescheck § 13 Rn. 35.
  153. Vgl. Reindl-Krauskopf, Computerstrafrecht im Überblick 2009, S. 115 ff.; Jaeger, Computerkriminalität 1998, S. 143.
  154. beruhend auf BGH NJW 1982, 1235 ff.: Waldenberger ZUM 1997, 176, 184.
  155. Sieber JZ 1996, 494, 502.
  156. Vgl. Popp, S. 146.
  157. Vgl. Spindler ZUM 1996, 533, 536.
  158. Vgl. Sieber JZ 1996, 494, 502; Flechsig AfP 1996, 333, 342.
  159. Vgl. Conradi/Schlömer NStZ 1996, 472, 474.
  160. Nach der Polizeilichen Kriminalstatistik des Jahres 2014 wurden 246.925 Fälle erfasst die unter Nutzung des Tatmittels Internet begangen wurden. Das sind etwa 4 % aller polizeilich erfassten Straftaten, vgl. Bundeskriminalamt PKS 2014, online abrufbar unter http://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/PolizeilicheKriminalstatistik/2014/pks2014ImkBericht,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/pks2014ImkBericht.pdf, zuletzt abgerufen am 23.02.16, S. 19, 20.
  161. Nach dem Statistischen Bundesamt nutzen 80 % der Personen ab zehn Jahren das Internet, vgl. Statistisches Bundesamt IKT 2014, online abrufbar unter online abrufbar unter http://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/PolizeilicheKriminalstatistik/2014/pks2014ImkBericht,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/pks2014ImkBericht.pdf, zuletzt abgerufen am 23.02.16.
  162. Vgl. Pelz wistra 1999, 53 56.
  163. Derksen NJW 1997, 1878, 1883.
  164. Vgl. Jakobs, Strafrecht AT 1991, 29 Abschn. Rn. 32 ff.; HSH/Sieber, Teil 19.1 Rn. 58 f.
  165. BGH NJW 1987, 2840.
  166. BGH JZ 1973, 173.
  167. Lackner/Kühl Vor § 13 Rn. 12.
  168. Vgl. HSH/Sieber, Teil 19.1 Rn. 68.
  169. Vgl. Roxin, Strafrecht AT I 2006, § 11 Rn. 13.
  170. Derksen NJW 1997, 1878, 1884.
  171. Sieber JZ 1996, 494, 504.
  172. Vgl. HSH/Sieber, Teil 19.1 Rn. 75.
  173. Vgl. Malek/Popp, Rn. 139.
  174. HSH/Sieber, Teil 19.1 Rn. 86.
  175. Vgl. Popp, S. 118.
  176. AG München MMR 1998, 429 ff. – „CompuServe“.
  177. Roxin, § 25 Rn. 10; a.A.: BGH NStZ 1982, 27.
  178. Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT 2014, Rn. 518.
  179. Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 1996, S. 696.
  180. NK/Wohlers/Gaede § 13 Rn. 28.
  181. Herzberg, Täterschaft und Teilnahme 1977, S. 82 f.
  182. Vgl. MüKo/Freund § 13 StGB Rn. 268.
  183. Vgl. Paul, S. 196.
  184. BGH MMR 2007, 507, 509 – Internetversteigerung II.
  185. Ensthaler/Heinemann GRUR 2012, 433, 436.
  186. Vgl. Malek/Popp, Rn. 130.
  187. Vgl. Paul, S. 199.
  188. Beckemper JURA 2001, 163, 169.
  189. Harzer/Vogt StraFo 2000, 39, 44.
  190. Vgl. Hassemer wistra 1995, 41, 44 f.
  191. Rengier, Strafrecht AT 2015, § 45 Rn. 109.
  192. Vgl. BGH NJW 2000, 3010, 3011.
  193. Vgl. Rengier, § 45 Rn. 107.
  194. BGH NJW 2000, 3010, 3011; Roxin, § 26 Rn. 218 ff., 247 ff.
  195. Hollenders, Mittelbare Verantwortlichkeit von Intermediären im Netz 2012, S. 136 f.
  196. MüKo/Joecks § 27 StGB Rn. 56.
  197. Vgl. BT-Dr. 13/7385, S. 17, 20; Matthies, Providerhaftung für Online-Inhalte 2004, S. 35.
  198. Bittner Asoziale Netzwerke, Zeit online v. 06.08.15, online abrufbar unter http://www.zeit.de/2015/30/soziale-medien-beleidigungen-haftung, zuletzt abgerufen am 23.02.16.
  199. Vgl. BR-Dr. 394/09, S. 1.
  200. Vgl. BT-Dr. 13/7385, S. 20; BT-Dr. 14/6098, S. 25.
  201. Waldenberger ZUM 1997, 176, 185.
  202. EuGH EuZW 2012, 261 ff. – SABAM.

Strafprozessuale Kompetenzkonflikte in Europa – Problemaufriss und Lösungsmechanismen

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A. Einleitung

In Zeiten voranschreitender Globalisierung und sukzessiver europäischer Integration zwingen die hohe Mobilität von Straftätern und neue Deliktsformen die EU in besonderem Maße dazu, sich mit internationalen Kriminalitätssachverhalten auseinanderzusetzen. Denn die Auswirkungen von Internetstraftaten begrenzen sich nicht auf bestimmte Landesgrenzen und auch die Erbringung von Dienstleistungen innerhalb der EU lässt Raum für Korruption auf einem internationalen Level. Außerdem erscheint vor dem Hintergrund der Pariser Anschläge des IS, der aktuellen Flüchtlingskrise und der offenen Grenzen die Entwicklung einer neuen Dimension des internationalen Terrorismus denkbar. Deshalb gewann die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen innerhalb Europas in den letzten Jahren an großer Bedeutung.

Der folgende Beitrag skizziert die Rolle des Strafrechts innerhalb eines europäischen Rechtsraums. Im Zentrum steht dabei die Frage nach der Zuständigkeit der Strafverfolgung in den Fällen, in denen mehrere Staaten die Jurisdiktion eines Sachverhalts gleichzeitig für sich beanspruchen. Abschließend werden Ansätze für die Lösung solcher Konfliktfälle dargestellt und bewertet.

B. Strafrecht und Zuständigkeiten innerhalb eines europäischen Rechtsraums

Bislang existiert kein originäres europäisches Kriminalstrafrecht, in dem nationale Strafrechtssysteme vereinheitlicht sind oder eine supranationale Strafgewalt mit eigenen Justizorganen durch ein genuin europäisches Straf- und Strafverfahrensrechts tätig ist. 1 „Europäisches Strafrecht“ ist ein Sammelbegriff, der strafrechtsrelevantes Unionsrecht, regionales Völkerrecht und dadurch beeinflusstes nationales Strafrecht erfasst. 2

Damit besteht ein Europäischer Strafrechtsraum aus allen das Straf- und Strafverfahrensrecht der europäischen Staaten unmittelbar oder mittelbar betreffenden Normen des Unionsrechts (EUV, AEUV, GRCh), dem regionalen Völkerrecht (EMRK, Konventionen) und den supranationalen und internationalen Organisationen Europas (EU, EAG, Europarat, OECD). 3 Dass nationale Staaten seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zum 1.12.2009 durch beispielsweise verbindliche sekundärrechtliche Vorgaben der EU mittels Richtlinien gem. Art.83 AEUV einer überstaatlichen Einwirkung ausgesetzt und „europäisiert“ sind, 4 ändert nichts daran, dass Staaten die eigenständigen Inhaber ihrer Strafgewalt bleiben. 5

I. Grenzüberschreitende Ausdehnung nationaler Strafgewalt

Dabei bezeichnet Strafgewalt die völkerrechtliche Befugnis eines nationalen Staates, eine Verhaltensweise als verboten anzusehen und Verstöße dagegen mit seinem nationalen Strafrecht zu sanktionieren. 6 Diese Legitimation wird nationalen Staaten völkerrechtlich über den Grundsatz der uneingeschränkten Verfügung über das eigene Staatsgebiet, der sog. territorialen Souveränität, verliehen. 7 Staaten sind völkerrechtlich aber auch befugt, den sachlichen Geltungsbereich ihres Gesetzes auf Auslandssachverhalte zu erstrecken. 8 Der räumliche Geltungsbereich beschränkt sich dabei allerdings auf das eigene Hoheitsgebiet. 9 Die Normierung extraterritorialer Sachverhalte setzt indessen das Vorliegen eines völkerrechtlichen Anknüpfungspunkts, eine besondere Nähebeziehung zwischen Staat und geregeltem Sachverhalt, voraus. 10

1. Deutsches Strafanwendungsrecht und Anknüpfungspunkte

Im deutschen Strafrecht legen die als Strafanwendungsrecht bezeichneten §§ 3 ff. StGB das anzuwendende Recht bei In- und Auslandssachverhalten fest. 11 Sie konkretisieren die völkerrechtlichen Anknüpfungspunkte und bestimmen den durch Deutschland in Anspruch genommenen Umfang der Strafgewalt. 12

Die §§ 3 ff. StGB sind im Verhältnis zum ausländischen Strafrecht kein echtes Kollisionsrecht nach dem Muster des IPR,  denn sie bestimmen nicht, welche nationale Rechtsordnung für eine konkrete Sachentscheidung heranzuziehen ist. 13 Sie schreiben nur fest, wann deutsche Strafverfolgungsbehörden bzw. –gerichte zuständig sind. 14 Da diese nur deutsches Recht anwenden -obwohl einer Fremdrechtsanwendung i.V.m § 7 StGB zur Frage nach der Tatortstrafbarkeit kein Verbot gegenübersteht- 15, fällt die Bejahung der deutschen Strafanwendbarkeit für einen Sachverhalt mit Auslandsberührung mit dem Zuständigkeitsbereich zusammen. 16 Das bedeutet konkret: wenn deutsches Strafrecht nach Maßgabe der §§ 3 ff. StGB anwendbar ist, so ist auch ein deutsches Gericht für die Strafverfolgung zuständig.

2. Strafgewaltskumulation durch den „Netzgedanken“ und unionsrechtliche Kriminalpolitik

Bei der  Ausgestaltung des staatlichen Strafanwendungsrechts stehen dem Gesetzgeber die Wahl der völkerrechtlichen Geltungsprinzipen frei. 17 Nach Maßgabe der völkerrechtlichen Vorgaben kann er die Anknüpfungsprinzipien umsetzen, kombinieren oder modifizieren um kriminalpolitische Ziele zu realisieren. 18

Tatsächlich geht die Tendenz der transnationalen Kriminalpolitik der letzten Jahre dahin, für möglichst viele Rechtsordnungen einen Anknüpfungspunkt zu schaffen. 19  Einerseits liegt der Schaffung zahlreicher Anknüpfungspunkte bildlich gesprochen der „Netzgedanke“ 20 zugrunde. Eine möglichst lückenlose Verflechtung, ein Maschenwerk von Strafansprüchen, soll dem international agierenden Straftäter Fluchtwege in Staaten ohne Strafgewalt versperren. 21

Andererseits wird der Anwendungsbereich nationaler Straftatbestände in zunehmendem Maße durch Kriminalpolitiken der EU erweitert. 22 Denn innerhalb des europäischen Raums wurde grenzüberschreitende Kriminalität durch den Wegfall der Kontrollen an den Binnengrenzen im Zuge einer fortschreitenden europäischen Integration genährt. 23 Parallel dazu vereinfacht technischer Fortschritt eine Deliktsbegehung. 24
Um in der Union einen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (Art.67 Abs.1 AUEV, Art.3 Abs.2 EUV) zu gewährleisten, geht das heutige Verständnis dahin, einer europäisierten Kriminalität mit einem europäisierten Strafrecht zu begegnen.
Beispielhaft dafür ist der Rahmenbeschluss des Rates v. 22.7.2003 zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor, der in seinem Art.7 Abs.1  die Ausdehnung der nationalen Strafgewalten vorsieht. 25 Ebenfalls hat sich der Subventionsbetrug ausdrücklich auf die finanziellen Interessen der EU zu erstrecken (Vgl. § 264 VII Nr. 2 StGB). Anderenfalls würde sich die Erstreckung des Schutzbereichs auf EU-Subventionen auch schon im Wege einer unionsrechtkonformen Auslegung über Art. 325 II AEUV ergeben

Die Ausdehnung nationaler Strafgewalten unter dem Einfluss der EU und das Selbstbestimmungsrecht der einzelnen Staaten bezüglich der Etablierung von Anknüpfungspunkten bringt aber gleichzeitig die Möglichkeit mit sich, dass mehrere Strafgewalten unterschiedlicher Nation für ein und dieselbe Tat Strafansprüche geltend machen.

C. Strafprozessuale Kompetenzkonflikte bei grenzüberschreitender Strafverfolgung

Wenn z.B. der deutsche Staatsbürger D während eines Urlaubs in Spanien den Franzosen F tötet, wäre in materieller Hinsicht das jeweilige nationale Strafrecht anwendbar und es eröffneten sich Wege in mehrere Gerichtsstände.

Deutschland könnte eine Strafverfolgung des D über das aktive Personalitätsprinzip aus §7 II Nr.1 StGB behaupten, während Spanien dieser Weg über die prozessrechtliche Regelung des Territorialitätsprinzips aus Art.23.1 LOPJ eröffnet wäre. Auch Frankreich könnte über das passive Personalitätsprinzip aus 689 CPP i.V.m. Art.113-7 CP eine Strafverfolgung beanspruchen.

Ein positiver Kompetenzkonflikt entsteht, wenn mehrere Staaten unter Geltendmachung eines hinreichenden Anknüpfungspunktes hinsichtlich derselben Tat eines Täters die Strafgewalt für sich behaupten. 26 Ein negativer Kompetenzkonflikt liegt dann vor, wenn keiner der betroffenen Staaten die Strafverfolgung übernehmen möchte und einer der Ansicht ist, dass der andere die Strafverfolgung ausüben sollte. 27

I. Problematik von Kompetenzkonflikten

Die Problematik dieser Konstellation liegt in der Gefahr der Mehrfachverfolgung für den Beschuldigten, der Wehrlosigkeit des Beschuldigten in einem solchen Falle und in dem zwischenstaatlichen Konfliktpotenzial beim Kampf um die Ausübung der Strafgewalt.

1. Gefahr der Mehrfachverfolgung

Der Bürger steht im Falle eines Kompetenzkonflikts dem Strafrecht mehrerer Staaten gegenüber. Unterschiedliche kriminalpolitische Wertungen können dasselbe Verhalten zum Teil als strafbar, zum Teil als straflos erwägen. 28

Die Gefahr von Mehrfachverfolgungen beeinträchtigt nicht nur die Interessen des unmittelbar Betroffenen. Denn auch  Beschuldigte, Opfer und Zeugen erleiden bereits Einbußen in ihrer Freizügigkeit, wenn sie in mehreren Ländern vor Gericht geladen werden. 29 Eine anwaltliche Vertretung wird komplizierter und kostspielig. Eine besonders einschneidende Situation für den Beschuldigten liegt im Falle eines Europäischen Haftbefehls vor. Denn dieser ermöglicht, dass die in einem Mitgliedstaat ergangene justizielle Entscheidung auf Grundlage des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung zum Zwecke der Festnahme und Übergabe einer zur Strafverfolgung oder –vollstreckung gesuchten Person exekutiert wird. 30

2. Kein Schutz des Beschuldigten durch Anrechnungsverfahren und Strafklageverbrauch nach Art. 54 SDÜ bzw. Art. 50 GRC

Der Verfolgung mehrerer Strafgewalten einmal ausgesetzt, kann der Beschuldigte auch keinen Schutz über das Doppelbestrafungsverbot nach Art. 103 III GG beanspruchen. Denn nach der Rechtsprechung des BVerfG ist das Doppelbestrafungsverbot nicht auf Entscheidungen anderer Staaten anwendbar. 31 Zwar etabliert das Übermaßverbot eine Berücksichtigung ausländischer Entscheidungen, da über die Bestimmung des § 51 Abs.3 StGB eine ausländische Strafe, vorausgesetzt sie wurde vollstreckt, wegen derselben Tat angerechnet wird. Auch § 153c Abs.2, 1.Alt. StPO gewährt eine Verfahrenseinstellung, wenn die im Inland zu erwartende Strafe nicht ins Gewicht fällt. Ein ausländischer Freispruch bleibt aber unberücksichtigt. So existiert zwar ein summarisches Doppelbestrafungsverbot. Der Rechtssicherheit und der Belastung mehrfacher Verfahren wird das Anrechnungsverfahren aber nicht gerecht. 32

Auch das europäische ne bis in idem kann in Fällen von Jurisdiktionskonflikten keine Abhilfe schaffen. Denn die  Anerkennung der Erstentscheidung eines anderen Staates ist erst möglich, wenn in diesem Staat eine Verfahrenserledigung eingetreten ist, die einen Strafklageverbrauch i.S.d. Art.54 SDÜ bzw. Art.50 GRC begründet. Das europäische ne bis in idem gewährleistet nur Schutz vor Mehrfachverurteilung, eine Mehrfachverfolgung bleibt möglich. 33

3. Zwischenstaatliches Konfliktpotenzial: Effizienz des Strafverfahrens und forum shopping

Die damit einhergehende Problematik ist zwischenstaatlicher Natur: Die parallele Strafverfolgung in mehreren Staaten kann zu einem Wettlauf um die Erstentscheidung führen und das Prioritätsprinzip zum maßgeblichen Kriterium etablieren. 34 Auf diese Weise entscheidet der Zufall über die Zuständigkeit der Strafverfolgung eines  Mitgliedstaates, obgleich der Mitgliedstaat, der das Strafverfahren zuerst abschließt, nicht in jedem Fall am Besten dazu geeignet ist. 35 Dadurch wird eine effiziente Strafverfolgung ausgehebelt: Der „zuspätkommende“ Staat hätte seine polizeilichen und justiziellen Ressourcen nutzlos eingesetzt, wenn der Erstverfolgerstaat eine rechtskräftige Aburteilung hervorbrachte. 36

Außerdem eröffnet das ungeregelte Nebeneinander von Strafverfahren das forum shopping auf  Täter- und Strafverfolgungsbehördenseite. 37 Der Straftäter oder die Strafverfolgungsbehörde könnte sich den Staat aussuchen, der für ihn aus der jeweiligen Sicht am günstigsten ist. 38

Der Beschuldigte könnte zwar forum shopping zu seinen Gunsten betreiben, indem er sich den Strafverfolgungsbehörden eines Mitgliedstaats stellt, der niedrigere Strafen als andere vorsieht. 39 Dieser Versuch würde jedoch eine umfassende Rechtskenntnis voraussetzen, außerdem relativieren die bestehenden Auslieferungs- und Abschiebungsmöglichkeiten die Schwere des forum shoppings auf Täterseite deutlich. 40

Andererseits aber könnte aus Perspektive der Strafverfolgungsbehörde die Anklage in dem Staat erhoben werden, der die strengsten Vorschriften vorsieht, damit sich das punitivste Strafrecht durchsetzt. Auf der Ebene von Europol entsteht so Raum für intransparente Absprachen über die Wahl des Ergreifungsortes. 41

II.  Lösungsmodelle für Kompetenzkonflikte

Das Bewusstsein um die Problematik von Kompetenzkonflikten brachte bereits vor dem Vertrag von Lissabon auf dem Fundament des ex-Art.31 lit.d EUV deliktsspezifische Regelungen hervor, die zu einer Lösung beitragen sollten.

1. Aus europäischer Sicht: Ausgewählte Beispiele-Schutz des Euro, Cybercrime und Terrorismusbekämpfung

Darunter fällt der Rahmenbeschluss 2000/383/JI des Rates v. 29.5.2000 über die Verstärkung des mit strafrechtlichen und anderen Sanktionen bewehrten Schutzes gegen Geldfälschung im Hinblick auf die Einführung des Euro. Dessen Art.7 III sieht für die Mitgliedstaaten eine Verpflichtung zur Zusammenarbeit vor.  Der Rahmenbeschluss 2005/222/JI des Rates v. 24.2.2005 über Angriffe auf Informationssysteme verpflichtet die Mitgliedstaaten in Art.10 IV zur eigenen Konsensfindung. Als Entscheidungsmaßstab wird ein Kriterienkatalog (mit dem Territorialitätsprinzip an seiner Spitze) vorgeschlagen.

Beim Rahmenbeschluss 2002/475/JI des Rates v. 13.6.2002 zur Terrorismusbekämpfung wird dieser Katalog um eine vorgegebene Rangfolge der Entscheidungskriterien verbindlich festgelegt (Art.9 II). In keinem dieser Akte werden die Mitgliedstaaten aber dazu verpflichtet, die Zuständigkeit gegen ihren Willen abzutreten oder auszuüben. 42

2. Aus europäischer Sicht: Rahmenbeschluss 2009/948/JI  zur Beilegung von Kompetenzkonflikten

Der Rahmenbeschluss 2009/948/JI des Rates v. 10.11.2009 zur Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten in Strafsachen sieht einen Lösungsansatz im direkten Informationsaustausch. Bei Verdacht paralleler Verfahren soll zwischen den betroffenen Strafverfolgungsbehörden Kontakt aufgenommen werden (Gründe Abs.5). Anhaltspunkt dafür kann das Rechtshilfeersuchen eines anderen Staates sein.

Die direkten zwischenstaatlichen Konsultationen  (Art.2 Abs.1, Art.10 ff.) sollen im Idealfall mit der Verfahrenskonzentration in einem Mitgliedstaat abschließen (Art.10 Abs.1). Mit Blick auf Art.54 SDÜ soll die Gefahr einer vorschnellen Aburteilung vermieden werden, indem Erkenntnisse anderer Mitgliedstaaten einbezogen werden. 43

Die Beteiligten sollen die gesamte Sach- und Rechtslage des Falles prüfen und sachdienliche Faktoren einbeziehen (Art.11).  Sofern zwischen den Betroffenen kein Einvernehmen erzielt wird, so ist Eurojust im Rahmen seiner Zuständigkeit einzuschalten (Art.12 Abs.2).

Eurojust kann mit einer Empfehlung begründen, welcher Mitgliedstaat für die Ermittlungen besonders oder weniger geeignet ist. Dabei orientiert Eurojust sich am schwerpunktmäßigen Handlungsort und dem Schadensausmaß. 44 Folgt eine nationale Strafverfolgungsbehörde einer Empfehlung nicht, muss sie die Abweichung begründen.

3. Aus europäischer Sicht: Errichtung einer transnationalen Entscheidungsinstanz durch Eurojust

Eurojust könnte verbindlich über eine Verfolgungszuständigkeit entscheiden, wenn zwischen den Mitgliedstaaten eine Einigung fehlschlägt. Europaverfassungsrechtlich könnte die Entscheidungsgewalt im Wege einer Verordnung auf der Grundlage von Art.85 Abs.1 UA 2 lit.c AEUV auf Eurojust übertragen werden. Der Rahmenbeschluss 2009/948/JI  zur Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten in Strafverfahren müsste durch eine Richtlinie auf Grundlage des Art.82 Abs.1 UA 2 lit.c geändert werden.

Um dem Beschleunigungsgebot gerecht zu werden, sollte Eurojust dabei Fristen beachten. 45 Zwar würde bei einer Bestimmung dieser Art erst nach der Tat fixiert, welchem Staat die Zuständigkeit zukommt. Dem Interesse des Beschuldigten, nicht wegen einer Tat mehrmals verfolgt zu werden, würde jedoch Rechnung getragen. 46

Die Entscheidung Eurojusts sollte der gerichtlichen Kontrolle des EuGH unterliegen, diese Möglichkeit bestünde nach Maßgabe des Art.263 Abs.1 UA 1 S.2 AEUV. 47 Dabei soll der EuGH der Frage nachgehen, ob Eurojust seine Auswahlentscheidung ermessensfehlerfrei trifft. 48 Die betroffenen Mitgliedstaaten und die Kommission sollen eine Klagebefugnis erhalten, während die verfolgte Person individualschützende Aspekte rügen kann. 49

4. Aus europäischer Sicht: Errichtung einer transnationalen Entscheidungsinstanz durch den EuGH

Auch der EuGH könnte bei fehlgeschlagener Einigung durch verbindliche Entscheidung Kompetenzkonflikte beilegen. 50 Zunächst müssten die an der Strafverfolgung interessierten Staaten nach verschiedenen Anknüpfungspunkten unter Abwägung der Schutzinteressen des Beschuldigten und gemeinschaftsbezogenen Belangen eine Zuständigkeitsentscheidung treffen. Diese soll dann vom EuGH gerichtlich überprüfbar sein. 51

Da die Verfahrens- und Klagearten, für die der EuGH zuständig ist, abschließend geregelt sind (Vgl. Art.19 III lit.a bis c EUV) bedürfte eine Umsetzung dieser Aufgaben einer Änderung der europäischen Verträge. Die Entscheidungsbefugnis könnte in Zukunft auch bei einer noch zu schaffenden Europäischen Staatsanwaltschaft liegen. 52

5. Alternatives Lösungsmodell: Hierarchisierung der Anknüpfungspunkte

Die Entstehung eines Kompetenzkonfliktes könne allerdings schon im Ansatz vermieden werden, wenn zwischen den völkerrechtlichen Anknüpfungspunkten eine abgesicherte Rangfolge bestünde. 53 Dieser Gedanke findet seinen Ursprung bereits in den 1950er Jahren, in denen Donnedieu de Vabres eine gestufte Kompetenzhierarchie appellierte. Der IX. Internationale Strafrechtskongress in Den Haag teilte diese Idee. 54

Dabei soll Territorialitätsprinzip andere Anknüpfungsprinzipen anführen, da es sich an den Schutz staatlicher und institutioneller Souveränitätsbereiche orientiere. 55 Völker- und verfassungsrechtlich ist das Territorialitätsprinzip in hohem Maße anerkannt, so dass es im Konfliktfall tragfähig wäre. 56

Das Schutzprinzip im staatsschutzrechtlichen Sinne (Realprinzip) genieße dann Vorrang vor dem aktiven Personalitätsprinzip, das seinerseits wiederum dem passiven Personalitätsprinzip vorginge. 57 Gänzlich subsidiär sei das Prinzip stellvertretender Strafrechtspflege. 58

6. Alternatives Lösungsmodell: Erweiterung um das Qualitätsprinzip

Ein anderer Lösungsansatz sieht die Aufstellung eines qualitativen Kriterienkatalogs vor. 59

Kriterien zur Bestimmung einer nationalen Strafgewalt müssten im Lichte von grundrechtlich geschützten Individualbelangen formuliert werden. 60 Diese würden dann individuell-konkret und -nicht wie beim Hierarchisierungsmodell- schon abstrakt abgestuft. 61

Transnationale Verfolgungsinteressen müssten bei der Entscheidung berücksichtigt werden, sodass zwischen individual- und gemeinschaftsbezogenen Belangen ein Ausgleich entstünde. 62 So soll ein Staat z.B. umso mehr als ausführender Strafgewaltstaat in Betracht kommen, a) je mehr dieser Staat Tatortstaat ist, b) je mehr Beweismittel in diesem Staat verfügbar sind, c) je mehr dieser Staat der gewöhnliche Aufenthaltsort des Verdächtigen ist. 63

Diese Lösung lässt Kombinationsmöglichkeiten zu: Eine gerichtliche Aburteilung aufgrund der besseren Beweislage in Staat 1 und die Vollstreckung in Staat 2 ist möglich. 64

7. Alternatives Lösungsmodell: Festlegung Strafrechtsordnung durch geltende Regeln des interlokalen Strafrechts

Ein weiterer Lösungsansatz wird in der Anwendung der Regeln des interlokalen Strafrechts gesehen. 65

Das interlokale Strafrecht legt das anwendbare Strafrecht fest und grenzt einzelne Teilrechtsordnungen gegeneinander ab, 66 soweit innerhalb einer staatlichen Rechtsordnung unterschiedliche Strafvorschriften gelten. 67 Im Gegensatz zu den §§ 3ff. StGB handelt es sich beim interlokalen Strafrecht um echtes Kollisionsrecht.

Auf Europa übertragen bedeutet dies: Die EU-Staaten bildeten ein Gesamtterritorium Europa, das nach innen in einzelnen Teilen eigenständige Gesetzgebungen aufweist, aber nach außen eine völkerrechtliche Einheit bildet. 68 Ein durch interlokales Strafrecht koordiniertes Europa basierte auf der Anerkennung des gesamten fremden Strafrechts, ohne vorherige Harmonisierung, einschließlich seiner Besonderheiten. 69 Es müssten jene materiellen Strafgesetze ausfindig gemacht werden, nach welchen das relevante Geschehen zu verfolgen und verurteilen ist, auch wenn dies für das erkennende Gericht ein fremdes Recht sei. 70 Dabei müsse grundsätzlich vom Recht des Tatorts ausgegangen werden. 71 Sollte das Tatortrecht dem ordre public des am Gerichtsort geltenden Recht widersprechen, ließe sich ausnahmsweise auch die lex fori zur Geltung bringen. 72

III. Bewertung der Entwicklung

Auf europaverfassungsrechtlicher Ebene bietet der Rahmenbeschluss 2009/948/JI erstmals eine deliktsübergreifende Lösung für Mehrfachverfahren wegen derselben Tat. Die Kommission wacht zwar über die Einhaltung des Rahmenbeschlusses und kann Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten einleiten, wenn sie ihren Informations- und Konsultationspflichten nicht nachkommen. Der Rahmenbeschluss verpflichtet die Mitgliedstaaten aber nicht dazu, die Zuständigkeit gegen ihren Willen abzutreten oder auszuüben und kann im Konfliktfall keine Abhilfe schaffen.

Da Eurojust die Mitgliedstaaten seit Jahren bei der Koordinierung paralleler Verfahren unterstützt, kann der Institution die nötige Fachkenntnis in Sachen Organisation und das Wissen um länderspezifische Verfahrensweisen zugesprochen werden. Die Praxiserfahrung für Zuständigkeitsfragen zieht Eurojust aus (seinen bisher unverbindlichen) Empfehlungsschreiben. Die stetig steigende Inanspruchnahme Eurojusts bei Fragen um Kompetenzkonflikte kann seine erfolgreiche Mediatorfunktion  nur unterstreichen. Insoweit bietet es sich an, Eurojust als Entscheidungsgewalt zu etablieren. Fungierte  gleichzeitig der EuGH als Kontrollinstanz, wäre eine gegenseitige Kontrolle im Sinne einer Gewaltenbalance hergestellt. Außerdem liegt der Vorteil dieser Lösung darin, dass sie praktikabel und im Vergleich zu den anderen Modellen leicht umsetzbar erscheint. Zu präzisieren blieben aber dann die Kriterien, an denen Eurojust seine Entscheidung festmachen könnte.

Das Hierarchisierungsmodell der Anknüpfungspunkte erweist sich in Fällen grenzüberschreitender Kriminalität als starr und unflexibel, da gerade in internationalen Sachverhalten Handlungs- und Erfolgsort regelmäßig auseinanderfallen, so dass mehrere Tatorte in Betracht kommen. In der Internetkriminalität entfällt die eindeutige Tatortbestimmung sogar. In Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche ist das Modell zeit- und kostenaufwändig. Denn wenn Straftäter und Opfer derselben Staatsangehörigkeit im Ausland Beteiligte einer Straftat werden, können die im Zusammenhang stehenden zivilrechtlichen Ansprüche nicht im Heimatstaat des Opfers  verfolgt werden. 73

Das Qualitätsprinzip dagegen berücksichtigt zwar Belange des Beschuldigten und der Gemeinschaft. Seine Grenzen liegen aber in der Praktikabilität: Selbst wenn sich Beweismittel oder Schwerpunkt des charakteristischen Unrechts quantifizieren ließen, müsste für die Auswahlentscheidung zusätzlich eine Gewichtung zwischen den qualitativen Kriterien erfolgen. Diese Vorgehensweise indiziert einen erheblichen Zeitaufwand, der sich im effektiven und ökonomischen Kampf gegen grenzüberschreitende Kriminalität als Stolperstein darstellt.

Die Regeln des interlokalen Strafrechts stehen auf dem Boden der gegenseitigen Anerkennung. Sie bedingen nicht nur die Akzeptanz einer anderen Rechtsordnung, sondern erfordern hinsichtlich der Fremdrechtsanwendung im Inland ein ausnahmsloses Einvernehmen mit der jeweiligen fremden Rechtsordnung. Justizbehörden und –beamten müssten international vielseitig ausgebildet sein und sich mit unterschiedlichen Rechtssystemen innerhalb Europas eingehend befasst haben, bevor ein solcher Schritt getan werden könnte. Das Modell hat zwar den Vorteil, dass materielles nationales Strafrecht auch dann maßgeblich sein kann, wenn es Straffreiheit vorsieht. 74 Doch durch eine Unbestimmtheit strafrechtlicher Verhaltensnormen, die sich daraus ergibt, dass die Bürger Europas 28 Strafrechtsordnungen ausgesetzt sind, wird dieser Vorteil relativiert.

* Die Autorin studiert im achten Fachsemester Rechtswissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Der Artikel basiert auf einer Studienarbeit im Rahmen eines Seminars im Sommersemester 2014 bei Prof. Dr. Walter Perron unter dem Titel „Patchwork im Strafprozess- Unterschiedliche Verfahrensordnungen im gemeinsamen Europa“.


Fußnoten:

  1. Hecker, Bernd Europäisches Strafrecht, 4. Auflage, Berlin/Heidelberg 2012, §1 Rn.5; Münchener Kommentar zum StGB, 2. Auflage, München 2011 -Ambos Vor §§3-7 Rn.7.; Schönke/Schröder Kommentar zum StGB, 28. Auflage, München 2010- Eser Vor §3 Rn.5.
  2. Schönke/Schröder Kommentar zum StGB, 28. Auflage, München 2010- Eser/Hecker Vor §1 Rn.25; Böse in Europäisches Strafrecht mit polizeilicher Zusammenarbeit, Band 9, Baden-Baden 2013, §1 Rn.12.; Ambos §9 Rn.14.
  3. Hecker, Bernd Europäisches Strafrecht, 4. Auflage, Berlin/Heidelberg 2012, §1 Rn.5.
  4. Nomos Kommentar Europäisches Unionsrecht EUV/AEUV/Grundrechtecharta, Baden-Baden 2012-Rosenau/Petrus Art.83 AEUV Rn.3; Satzger, Helmut Internationales und Europäisches Strafrecht, 5. Auflage, Baden-Baden 2011, §9 Rn.31.
  5. Münchener Kommentar zum StGB, 2. Auflage, München 2011-Ambos Vor§§ 3-7 Rn.7.
  6. Lagodny, Otto „Empfiehlt es sich, eine europäische Gerichtskompetenz für Strafgewaltskonflikte vorzusehen?“-Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz,  Berlin, März 2001, S.12.
  7. Schweitzer/Weber Rn.481.
  8. v.Arnauld §4 Rn.344; Schönke/Schröder Kommentar zum StGB, 28. Auflage, München 2010- Eser Vor §§3-7 Rn.9; Vgl. PCIJ Series A No.10 The case of the S.S. „Lotus“= StIGHE 5 71.
  9. v.Arnauld  §4 Rn. 344.
  10. BeckOK-Ambos Vor §§3-7, Rn.13; Geiger §58 S.276.
  11. Gropp in Sinn (Hrsg.) S.45; Strafgesetzbuch Leipziger Kommentar, Band 1, 12. Auflage, Berlin 2007–Werle/Jeßbeger Vor §3 Rn.2.
  12. Strafgesetzbuch Leipziger Kommentar, Band 1, 12. Auflage, Berlin 2007–Werle/Jeßberger Vor §3 Rn.3.
  13. Anwaltkommentar StGB, Bonn, 2011-Zöller Vor §3 Rn.1; Schönke/Schröder Kommentar zum StGB, 28. Auflage, München 2010- Eser Vor §3 Rn.5; HK/GS-Hartmann §3 Rn.1; Satzger, Helmut Internationales und Europäisches Strafrecht, 5. Auflage, Baden-Baden 2011,§ 3 Rn.4.
  14. Ebda.; Wörner/Wörner in Sinn (Hrsg.) S.208; Strafgesetzbuch Leipziger Kommentar, Band 1, 12. Auflage, Berlin 2007–Werle/Jeßberger Vor §3 Rn.7.
  15. Satzger, Helmut Internationales und Europäisches Strafrecht, 5. Auflage, Baden-Baden 2011, §3 Rn.6; Anwaltkommentar StGB, Bonn, 2011-Zöller Vor §3 Rn.3.
  16. Münchener Kommentar zum StGB, 2. Auflage, München 2011-Ambos Vor §§3-7 Rn.2; Strafgesetzbuch Leipziger Kommentar, Band 1, 12. Auflage, Berlin 2007-Werle/Jeßberger Vor §3 Rn.8.
  17. Strafgesetzbuch Leipziger Kommentar, Band 1, 12. Auflage, Berlin 2007–Werle/Jeßberger Vor §3 Rn. 218; Schönke/Schröder Kommentar zum StGB, 28. Auflage, München 2010- Eser  Vor §3 Rn. 27.
  18. Nomos Kommentar Europäisches Unionsrecht EUV/AEUV/Grundrechtecharta, Baden-Baden 2012-Böse Vor §3 Rn. 15; Strafgesetzbuch Leipziger Kommentar, Band 1, 12. Auflage, Berlin 2007–Werle/Jeßberger Vor §3 Rn. 218.
  19. Anders in Sinn (Hrsg.), S. 110; Anagnostopoulos FS Hassemer, S. 1138.
  20. Vgl. Begriff in Lagodny, Otto „Empfiehlt es sich, eine europäische Gerichtskompetenz für Strafgewaltskonflikte vorzusehen?“-Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz,  Berlin, März 2001, S. 134.
  21. Böse/Meyer ZIS 2011, 336, 337; Nomos Kommentar Europäisches Unionsrecht EUV/AEUV/Grundrechtecharta, Baden-Baden 2012-Böse Vor §3 Rn. 5.; Lagodny, Otto „Empfiehlt es sich, eine europäische Gerichtskompetenz für Strafgewaltskonflikte vorzusehen?“-Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz,  Berlin, März 2001, S. 134.
  22. Anwaltkommentar StGB, Bonn, 2011-Zöller § Vor 3 Rn. 8; Böse/Meyer ZIS 2011, 336, 337.
  23. Wessels/Beulke Strafrecht Allgemeiner Teil, Die Straftat und ihr Aufbau, 43. Auflage, München 2013, §2 Rn.77; Hecker, Bernd  Europäisches Strafrecht, 4. Auflage, Berlin/Heidelberg 2012, §1 Rn.32.
  24. Sieber ZStW 121 (2009), 1, 2.
  25. ABlEU 2003 Nr.192, S.3; Vogel FS Schroeder S.891.; Strafgesetzbuch Leipziger Kommentar, Band 1, 12. Auflage, Berlin 2007, Werle/Jeßberger Vor §3 Rn.212.
  26. Münchener Kommentar zum StGB, 2. Auflage, München 2011- Ambos Vor §§3-7 Rn.54.
  27. Vgl. Fall Öcalan, Wassermann NJW 1999, 760, 761.
  28. Böse/Meyer ZIS 2011, 336, 336.
  29. Grünbuch über die Kompetenzkonflikte und dem Grundsatz ne bis in idem im Strafverfahren, KOM(2005) 696 endgültig, S.3: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52005DC0696&from=DE (Stand 16.02.2016)
  30. Ambos, Kai Internationales Strafrecht/ Strafanwendungsrecht-Völkerstrafrecht-Europäisches Strafrecht, 2. Auflage, München 2008, §12 Rn.58.
  31. BVerfGE 75, 1=NJW 1987, 2155, 2156.
  32. Eckstein ZSTW 2012 (124), 490, 501; Vgl. Münchener Kommentar zum StGB, 2. Auflage, München 2011- Ambos Vor §§3-7 Rn.66.
  33. Sinn ZIS 2013, 1, 2; Lagodny FS Trechsel S.260.
  34. Hecker ZIS 2011, 60, 60; ders. in Sinn (Hrsg.), Jurisdiktionskonflikte bei grenzüberschreitender organisierter Kriminalität/ Ein Rechtsvergleich zum Internationalen Strafrecht, Göttingen 2012, S.89.
  35. Böse, Martin Die Strafrechtliche Zusammenarbeit in Europa- Stand und Perspektiven, Zentrum für Europäisches Wirtschaftsrecht/Vorträge und Berichte/Nr. 165, S.8.
  36. Ebda.
  37. Eisele ZSTW 2013 (125), 1, 9; Lagodny, Otto „Empfiehlt es sich, eine europäische Gerichtskompetenz für Strafgewaltskonflikte vorzusehen?“-Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz,  Berlin, März 2001, S.66f.
  38. Lagodny, Otto „Empfiehlt es sich, eine europäische Gerichtskompetenz für Strafgewaltskonflikte vorzusehen?“-Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz,  Berlin, März 2001, S.65.
  39. Eser in Sinn (Hrsg.), Jurisdiktionskonflikte bei grenzüberschreitender organisierter Kriminalität/ Ein Rechtsvergleich zum Internationalen Strafrecht, Göttingen 2012, S.567.
  40. Kniebühler, Roland  Transnationales „ne bis in idem“- Zum Verbot der Mehrfachverfolgung in horizontaler und vertikaler Dimension, Freiburg 2005, S.132; Lagodny, Otto „Empfiehlt es sich, eine europäische Gerichtskompetenz für Strafgewaltskonflikte vorzusehen?“-Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz, Berlin, März 2001, S.66.
  41. Vander Beken/Vermeulen/Lagodny NStZ 2002, 624, 624.
  42. Hecker in Sinn (Hrsg.), Jurisdiktionskonflikte bei grenzüberschreitender organisierter Kriminalität/ Ein Rechtsvergleich zum Internationalen Strafrecht, Göttingen 2012, S.93.
  43. Herrnfeld in Sinn (Hrsg.), Jurisdiktionskonflikte bei grenzüberschreitender organisierter Kriminalität/ Ein Rechtsvergleich zum Internationalen Strafrecht, Göttingen 2012, S.155.
  44. Eckstein ZSTW 2012 (124), 490, 507.
  45. Hecker ZIS 2011, 60, 62.
  46. Sinn ZIS 2013, 1, 4f.
  47. Hecker in Sinn (Hrsg.), Jurisdiktionskonflikte bei grenzüberschreitender organisierter Kriminalität/ Ein Rechtsvergleich zum Internationalen Strafrecht, Göttingen 2012, S.100; ders. in ZIS 2011, 60, 63; Sinn ZIS 2013, 1, 8.
  48. Ebda.
  49. Ebda.
  50. Schomburg FS Eser S.943; Lagodny FS Trechsel S.266; Vgl. Freiburg Proposal on Concurrent Jurisdictions and the Prohibition of Multiple Prosecutions in the European Union, Freiburg 2003 (abrufbar unter https://www.mpicc.de/files/pdf2/fa-ne-bis-in-idem.pdf), §3.
  51. Vgl.Freiburg Proposal on Concurrent Jurisdictions and the Prohibition of Multiple Prosecutions in the European Union, Freiburg 2003 (abrufbar unter https://www.mpicc.de/files/pdf2/fa-ne-bis-in-idem.pdf), §1 (1), (3), §3.
  52. Vander Beken/Vermeulen/Lagodny NStZ 2002, 624, 627.
  53. Ambos, Kai Internationales Strafrecht/ Strafanwendungsrecht-Völkerstrafrecht-Europäisches Strafrecht, 2. Auflage, München 2008,§4 Rn.12; ders. in Münchener Kommentar zum StGB, 2. Auflage, München 2011, Vor §§3-7 Rn.56; Eckstein ZSTW 2012 (124), 490, 507.
  54. Kniebühler, Roland  Transnationales „ne bis in idem“- Zum Verbot der Mehrfachverfolgung in horizontaler und vertikaler Dimension, Freiburg 2005, §7 S.77.
  55. Ambos, Kai Internationales Strafrecht/ Strafanwendungsrecht-Völkerstrafrecht-Europäisches Strafrecht, 2. Auflage, München 2008, §4 Rn.16; Eckstein ZSTW 2012 (124), 490, 507; Hein S.133.
  56. Ambos, Kai Internationales Strafrecht/ Strafanwendungsrecht-Völkerstrafrecht-Europäisches Strafrecht, 2. Auflage, München 2008, §3 Rn.4; Eckstein ZSTW 2012 (124), 490, 507; Sinn ZIS 2013, 1, 7.
  57. Münchener Kommentar zum StGB, 2. Auflage, München 2011- Ambos Vor §§3-7 Rn.58f.
  58. Ebda.
  59. Vander Beken/Vermeulen/Lagodny NStZ 2002, 624, 625.
  60. Ebda.
  61. Lagodny, Otto „Empfiehlt es sich, eine europäische Gerichtskompetenz für Strafgewaltskonflikte vorzusehen?“- Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz,  Berlin, März 2001, S.104.
  62. Vander Beken/Vermeulen/Lagodny NStZ 2002, 624, 625.
  63. Vander Beken/Vermeulen/Lagodny NStZ 2002, 624, 626; Ähnlich: Bitzilekis/Kaiafa-Gbandi/Symeonidou-Kastanidou in Schünemann (Hrsg.) Ein Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege/A Programme for European Criminal Justice, München 2006, S.250.
  64. Ebda.
  65. Eser/Burchhard FS Meyer S.522ff.
  66. Eser/Burchard FS Meyer S.522; Münchener Kommentar zum StGB, 2. Auflage, München 2011- Ambos Vor §§3-7 Rn.89.
  67. Nomos Kommentar Europäisches Unionsrecht EUV/AEUV/Grundrechtecharta, Baden-Baden 2012- Böse Vor §3 Rn.69.
  68. Eser/Burchard FS Meyer S.522.
  69. Ebda.
  70. Eser/Burchard FS Meyer S.524.
  71. Ebda.
  72. Ebda.
  73. Ebda.
  74. Eckstein ZSTW 2012 (124), 490, 503.

Verdachtsberichterstattung im Lichte der Unschuldsvermutung

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A. Einführung

Die Kommunikationsgrundrechte des Art. 5 GG sind für eine freiheitliche demokratische Grundordnung nicht nur schlechthin konstituierend. 1 Vor allem Presse und Rundfunk gehören zu den unentbehrlichsten modernen Massenkommunikationsmitteln. 2 Ihnen kommt die öffentliche Aufgabe der freien individuellen und öffentlichen Meinungsbildung zu. 3 Dazu gehört es auch über bloße Verdachtslagen zu berichten, die für die Öffentlichkeit von Bedeutung sind. 4

Die Verdachtsberichtserstattung ist hierbei eines der brisantesten Gebiete des Medienbereichs 5 und ist allgegenwärtig. Täglich wird in den Medien über Betroffene berichtet, die im Verdacht stehen, eine Straftat begangen zu haben, bevor ihre Schuld rechtskräftig festgestellt ist. 6 Dabei beeinträchtigt regelmäßig die Verdachtsberichtserstattung die Betroffenen nachhaltig in ihrem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht.

Besonders signifikant ist der Fall des 17-jährigen Berufsschülers, der im März 2012 verdächtigt wurde Täter im sog. Mordfall Lena in Emden zu sein. Die Bild-Zeitung schrieb bereits: „Verhafteter Junge hat kein Alibi. Der Killer ist ein Schüler.“ 7 Nur: der Berufsschüler war unschuldig.

Hier zeigt sich die Problematik der massenmedialen Vorverurteilung, die von einer Verdachtsberichterstattung ausgeht. Im vorliegenden Fall gipfelte dies sogar in einem Aufruf zur Lynchjustiz. 8 Es stellt sich die Frage nach der Unschuldsvermutung des Betroffenen. Niemand darf einer Straftat bezichtigt werden, bevor seine Schuld nicht gerichtlich durch eine rechtskräftige Verurteilung festgestellt wurde. 9 Gewährleistet infolgedessen eine Verdachtsberichterstattung überhaupt die Maxime der Unschuldsvermutung? Wirkt die Unschuldsvermutung überhaupt gegenüber den Medien?

Dies ist Gegenstand des vorliegenden Artikels. Es soll beleuchtet werden, an welcher Stelle die Unschuldsvermutung bei einer Verdachtsberichterstattung in Erscheinung tritt, wie die Berichterstattung mit der Unschuldsvermutung in Wechselwirkung tritt und wie sich der Betroffene gegen einen möglichen Verstoß wehren kann.

B. Verdachtsberichterstattung

Als Verdachtsberichtserstattung wird die Berichterstattung der Medien über einen bestimmten Verdacht gegen ein oder mehrere Personen bezeichnet. 10

I. Allgemein

Die Berichterstattung über den Verdacht der Begehung einer Straftat im Vorfeld einer rechtskräftigen Verurteilung ist in der Praxis die häufigste Kategorie und im weiteren Verlauf Thema des Artikels 11

Eine Verdachtsberichterstattung ist grundsätzlich erlaubt, sofern die zulässigen Voraussetzungen eingehalten werden. 12 Es gehört zu den Aufgaben der Medien, die Öffentlichkeit über für sie bedeutsame Verdachtslagen zu unterrichten. 13

Soweit die Berichterstattung bereits vor Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen erfolgt, 14 ist dies nicht mit der sog. Verdachtsermittlung gleichzusetzen. Bei einer Verdachtsermittlung werden durch die Medien erstmals Tatsachen, die einen Verdacht begründen, in Erfahrung gebracht. 15 Dagegen wird bei einer Verdachtsberichterstattung bereits über einen bestehenden Verdacht berichtet. So finden größtenteils erste Berichterstattungen während eines laufenden Ermittlungsverfahrens i.S.v. §§ 160 ff. StPO statt, da die Medien erste Hinweise auf einen Verdacht nicht selten durch Pressemitteilungen oder -auskünfte der Strafverfolgungsbehörden erhalten. 16

Grundsätzlich besteht nach § 4 I LPG BW, §§ 9 a, 55 III RStV sowie § 6 LMedienG BW ein Auskunftsanspruch der Medien gegenüber den Staatsanwaltschaften, dem eine korrespondierende Auskunftspflicht folgt. 17 Dieser Anspruch setzt jedoch ein Auskunftsverlangen der Presse voraus. 18 Nicht geregelt ist der Fall, dass die Strafverfolgungsorgane von sich aus ohne Anfrage der Presse Mitteilungen an die Öffentlichkeit geben. Wird in diesem Zusammenhang auch von einer Verdachtsberichterstattung durch die Staatsanwaltschaft gesprochen, 19 so ist dies keine Frage der Verdachtsberichterstattung als solche, sondern vielmehr eine Frage eines eigenen Informationsrechts der Strafverfolgungsorgane und im Kontext zur aktiven Öffentlichkeitsarbeit zu sehen. 20

Wird ein Verfahren nicht eingestellt, endet die Verdachtsberichterstattung spätestens mit der rechtskräftigen Verurteilung des Angeklagten. 21 Denn nach Abschluss eines Strafverfahrens kann terminologisch bereits nicht mehr von einem Verdacht gesprochen werden. 22

So können Medien generell über einen Verdacht in individualisierter oder anonymisierter Weise berichten. 23 Eine Berichterstattung ist individualisierend, wenn der Name oder ein Foto des Verdächtigten veröffentlicht wird oder die Person zumindest identifizierbar ist. 24 Trotz einer Namensverfremdung kann die Berichterstattung dennoch individualisierend sein, wenn anhand weiterer Umstände sich die Beschuldigtenidentität ergibt. 25 Insbesondere soll auf die individualisierte Verdachtsberichterstattung eingegangen werden. In diesem Zusammenhang lässt sich eine Schnittmenge mit der Unschuldsvermutung aufzeigen. 26

II. Gefahren

Verdachtsberichterstattungen haben eines gemeinsam: sie belasten den Betroffenen nachhaltig. 27

Aufgrund eines im Zusammenhang mit einer Straftat geäußerten Verdachts im Licht der Öffentlichkeit zu stehen, ist ausreichend genug den Ruf des Betroffenen zu schädigen. 28 Unerheblich ist, dass lediglich von einem Verdacht die Rede ist. 29 Dadurch, dass es sich zwar „nur“ um einen Verdacht handelt, die Identität der Person aber gleichwohl offenbart wird, kann das Ansehen des Betroffenen massiv und teilweise auf Dauer geschädigt werden. 30 Gerade infolge einer Bildberichterstattung setzt sich ein größerer Teil der Öffentlichkeit mit der Berichterstattung auseinander. Diese führt zwangsläufig dazu, dass Person und Tatvorwurf zu einer irreversiblen Verknüpfung führt. 31 Denn in der Öffentlichkeit wird ein Verdacht oft nicht von einer rechtskräftigen Verurteilung getrennt. 32 Der durchschnittliche Mediennutzer neigt dazu die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit dem Nachweis der Schuld gleichzusetzen. 33 Eine Differenzierung der verschiedenen Verdachtsstufen – Anfangsverdacht § 160 I StPO, hinreichender § 170 I StPO und dringender Tatverdacht § 112 StPO – findet nicht statt. 34 Hinzu kommt, dass das öffentliche Interesse im Ermittlungsverfahren ihren höchsten Punkt hat und gegen Ende das Interesse schwindet. Dies hat zur Folge, dass der Rechtsweg in den weiteren Instanzen nicht verfolgt und ein Freispruch nicht zur Kenntnis genommen wird. 35 Selbst ein Freispruch nach § 170 II StPO kann eine Stigmatisierung somit nicht verhindern 36 und geht keinesfalls mit einer Rehabilitation einher. 37

Durch diese Stigmatisierungsgefahr kann mithin nicht nur das soziale Ansehen geschädigt werden, sondern auch eine soziale Ausgrenzung bis hin zur Existenzbedrohung die Folge sein. 38 Gerade bei Politkern, Beamten oder Führungskräften geht dies mit einer beruflichen Beeinträchtigung einher. 39 Dies führt häufig zu physischen und psychischen Beeinträchtigungen, die mittelbar durch den erzeugten Druck der Gesellschaft hervorgerufen werden. 40

Der mediale Druck wirkt sich dabei nicht nur auf den Verdächtigten, sondern auch auf die Justiz aus. Auch wenn an der Unvoreingenommenheit des Gerichts grundsätzlich keine Zweifel bestehen (soll), 41 so birgt eine mediale Vorverurteilung regelmäßig die abstrakte Gefahr der Befangenheit und Voreingenommenheit der Vertreter der Justiz, insbesondere ehrenamtlicher Richter, 42 wonach der Beschuldigte zu verurteilen sei. 43 Nicht umsonst ist im Zusammenhang mit Verdachtsberichterstattungen von „einer neuartigen Form des mittelalterlichen Prangers“ die Rede. 44

Intensiviert wird das Ganze heute durch den Wandel der Medien. Inzwischen gibt es nicht nur eine Vielzahl von Print- und Rundfunkmedien, sondern Nachrichtenkanäle senden 24 Stunden am Tag und es erfolgt eine nie dagewesene Internetberichterstattung (Blogs, Twitter, Facebook, etc.). 45 Durch die neuen Medien erfolgt somit eine schnellere Verbreitung, wodurch ein stärkerer Druck ausgeübt und eine bestimmt Erwartungshaltung generiert wird. 46 Durch die heutigen Online-Archive besteht zudem die Gefahr eines dauerhaften Zugriffs der Berichterstattung. Es wird dem Internetnutzer ermöglicht jederzeit auf veraltete Berichte zuzugreifen und dadurch den Tatvorwurf aufs Neue ins Bewusstsein der Nutzer zu rufen. 47 Selbst wenn das Verfahren nicht mit einer Verurteilung endet, bleiben die Vorwürfe archiviert. 48

III. Rechtspositionen

Verdachtsberichterstattungen kollidieren regelmäßig und unausweichlich mit den Interessen derjenigen, über die berichtet wird. 49 Hierbei entsteht ein Spannungsfeld zwischen der Medienfreiheit, dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen. 50

Auf der einen Seite stehen die Kommunikationsfreiheiten des Art. 5 I GG, bestehend aus der Meinungs- und Informationsfreiheit 51 einerseits und der Medienfreiheit andererseits. 52 Auf der anderen Seite steht das gleichermaßen verfassungsrechtlich geschützte Allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I i.V.m. Art 1 I GG. 53

C. Unschuldsvermutung

Von erheblicher Relevanz im Zusammenhang mit der Verdachtsberichterstattung ist neben dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht auch die sog. Unschuldsvermutung.

I. Allgemein

Die Unschuldsvermutung gehört zu den selbstverständlichsten und unumstrittensten Maximen des Strafrechts. 54 Eine Person hat bis zum gesetzlichen Nachweis der Schuld als unschuldig zu gelten. 55 Demnach darf niemand einer Straftat als schuldig bezichtigt oder behandelt werden, bevor seine Schuld nicht gerichtlich durch rechtskräftige Verurteilung festgestellt wurde. 56 Werden durch Erklärungen oder Entscheidungen der Eindruck erweckt, der Betroffene sei schuldig oder die Öffentlichkeit veranlasst an seine Schuld zu glauben, ist diese Maxime verletzt. 57

In einigen Länderverfassungen ist der Rechtsgedanke der Unschuldsvermutung ausdrücklich aufgenommen. 58 Im Grundgesetz ist das Prinzip der Unschuldsvermutung hingegen nicht normiert, gleichwohl kommt ihr nach einhelliger Meinung unmittelbarer Verfassungsrang zu. Die Begründungen hierzu sind unterschiedlich. 59 Teilweise wird die Unschuldsvermutung aus der Menschenwürde, 60 teilweise auch aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht 61 hergeleitet. Nach Auffassung des BVerfG stellt die Maxime eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips dar. 62 Kraft Art. 6 II EMRK ist die Unschuldsvermutung Bestandteil des positiven Rechts im Range eines Bundesgesetzes. Art. 6 EMRK kommt selbst zwar kein Verfassungsrang zu, wird jedoch „als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetztes“ herangezogen. 63

II. Anwendungsbereich

Die Unschuldsvermutung gilt für das gesamte Strafverfahren. 64 Sie ist keinesfalls auf das Hauptverfahren begrenzt, wie es der Wortlaut „Angeklagter“ nach Art. 6 II EMRK nahelegen könnte. Vielmehr gilt die Unschuldsvermutung auch für den Beschuldigten und Angeschuldigten, mithin im Ermittlungs- bzw. Zwischenverfahren. 65 Es besteht kein Anlass, die Unschuldsvermutung erst mit Erhebung der Anklage beginnen zu lassen, da im Hinblick auf eine Vorverurteilung durch die Medien bereits davor ein Schutzbedürfnis des Betroffenen besteht. 66 So wurde in den Landesverfassungen die Maxime bereits vor Inkrafttreten der EMRK ausdrücklich dem „Beschuldigten“ 67 und zum Teil „Jedermann“ 68 zuteil. Der Angeklagte stünde grundlos besser gegenüber demjenigen gegen den nicht einmal ein hinreichender Tatverdacht nach § 170 II StPO vorliegt. 69

Die Unschuldsvermutung endet mit der rechtskräftigen Verurteilung des Beschuldigten, 70 insbesondere jedoch nicht mit der Einstellung des Verfahrens. 71

III. Bindung der Medien

Adressaten der Unschuldsvermutung sind erst einmal alle staatlichen Behörden, insbesondere Richter und Ermittlungsbehörden. 72

Zu klären gilt, ob und gegebenenfalls inwieweit Private, insbesondere die Medien, Adressaten der Unschuldsvermutung sind und eine Ausstrahlungswirkung auf private Rechtsverhältnisse gegeben ist. Zu beachten ist, dass die Medien nach Art. 5 I GG als auch der Betroffene nach Art. 2 I i.V.m. Art. 1 GG im Gegensatz zu staatlichen Hoheitsträgern grundrechtsberechtigt, nicht aber grundrechtsverpflichtend sind. 73 Staatliche Stellen handeln nach Art. 1 III GG grundrechtsgebunden. Die Unschuldsvermutung gilt für sie unmittelbar. 74

Der durch den Deutschen Presserat erarbeitete Pressekodex und seinen darin enthaltenen Richtlinien kann insofern nicht weiterhelfen. Zwar gilt nach Ziffer 13 des Pressekodex die Unschuldsvermutung für die Presse. Doch handelt es sich hierbei nur um eine berufsethische Verhaltensregel, die mangels Rechtsnormqualität nicht allgemeinverbindlich ist. 75

1. Rechtsstaatprinzip

Soweit die Unschuldsvermutung als eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips nach Art. 20 III GG angesehen wird, 76 kann hieraus noch keine Bindungswirkung unter Privaten folgen. 77 Deshalb wird eine Bindungswirkung teilweise grundsätzlich abgelehnt, da sich die Unschuldsvermutung nur an staatliche Organe richtet. 78 Spricht das BVerfG hingegen von einer Grundrechtsverletzung aus Art. 2 I GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip, 79 so legt dies den Schluss nahe, dass zumindest von einem Grundrechtscharakter bzw. einer -dimension der Unschuldsvermutung ausgegangen wird. 80 Ausdrücklich ist die Unschuldsvermutung nicht als Grundrecht qualifiziert worden. Diejenigen Bundesländer, die den Grundsatz in ihre Verfassungen aufgenommen haben, interpretieren die Unschuldsvermutung gleichwohl als Justizgrundrecht. 81 Spricht das BVerfG ferner von einer entsprechenden Zurückhaltung bzw. zumindest von einer ausgewogenen Berichterstattung 82 und von einer angemessenen Berücksichtigung der zur Verteidigung vorgetragenen Tatsachen und Argumenten bei der Berichterstattung, 83 so ließe sich hieraus eine Ausstrahlungswirkung auf private Rechtsverhältnisse entnehmen. 84

2. Menschenwürde

Wird die Unschuldsvermutung unmittelbar aus der Achtung der Menschenwürde des Art. 1 I GG hergeleitet, 85 so ergäbe sich eine unmittelbare Drittwirkung der Medien. Denn die Menschenwürde bindet nicht nur unmittelbar die Staatsgewalt, sondern gilt vielmehr auch unmittelbar für Dritte. 86

3. Allgemeines Persönlichkeitsrecht

Wird die Unschuldsvermutung als Konkretisierung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts angesehen, 87 so strahlt diese Maxime auf private Rechtsverhältnisse aus. 88 Als objektive Werteordnung gelten die Grundrechte für alle Bereiche des Rechts und beeinflussen somit das Privatrecht. 89 Die Medien wären im Wege einer mittelbaren Drittwirkung an die Unschuldsvermutung gebunden. 90

4. Stellungnahme

Diejenigen, welche eine Drittwirkung grundsätzlich ablehnen, verkennen folgenden Aspekt:

Oft werden Informationen gerade von staatlichen Behörden an die Presse weitergeben. Sind aber nur die staatlichen Stellen an die Unschuldsvermutung gebunden, so stellt dies nur einen „halben Schritt in die Richtung eines von der Vorschrift beabsichtigten umfassenden Schutzes des Verdächtigten“ dar. 91 Denn die Behörden haben keinen Einfluss darauf, dass die Medien diese Informationen auch richtig an die Öffentlichkeit weiterleiten. 92 Auch ist der mit einer Verdachtsberichterstattung verbundene Ansehensverlust des Verdächtigten und die erheblichen Folgen in sozialer wie auch beruflicher Hinsicht zu sehen. 93 Solche Vorverurteilungen sind zwar keine formellen Verurteilungen durch ein Strafgericht, faktisch können sie jedoch solchen gleich kommen, denn sie treffen den Betroffenen in ganz ähnlicher Weise. 94 Sollte sich der Verdacht letzten Endes, selbst in Form eines Freispruches als unbegründet erweisen, so steht der Betroffene am Pranger und muss fortan – nach der Devise semper aliquid haeret – mit einem Makel behaftet leben. 95 Die Medien haben also eine ähnlich scharfe Waffe gegen den Verdächtigen in der Hand wie der Staat mit seiner Strafgewalt. 96 Die Unschuldsvermutung soll gerade im Verhältnis der Staatsbürger untereinander für „eine Atmosphäre der Anständigkeit“ sorgen. 97

Festzuhalten ist somit, dass die Medien die Unschuldsvermutung zu berücksichtigen haben. Wie diese Berücksichtigung konkret aussieht, wird hingegen unterschiedlich beurteilt.

Eine unmittelbare Drittwirkung für die Medien über die Herleitung aus Art. 1 I GG weist einen starken Einschnitt in die Pressefreiheit auf. Einer den besonderen Umständen des jeweiligen Einzelfalles adäquat berücksichtigenden Abwägung käme angesichts der überragenden Bedeutung der Menschenwürde nur wenig Raum zu. Die Herstellung praktischer Konkordanz wäre von vornherein erheblich erschwert. Dies ist im Hinblick einer für den demokratischen Rechtstaat „schlechthin konstituierenden“ 98 Medienfreiheit bedenklich 99 und aufgrund dessen abzulehnen.

Die Rspr. hat bis jetzt nur formelhaft umrissen, dass eine Berücksichtigung der Unschuldsvermutung bei einer Berichterstattung erfolgen muss. Mit dieser Aussage und der Annahme einer Grundrechtsdimension würde sich eine mittelbare Drittwirkung zwar entnehmen lassen, ob dies auch die Intension des BVerfG ist, bleibt aber noch offen und muss abgewartet werden. 100 Insoweit kann jedoch über die Herleitung aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG eine mittelbare Drittwirkung angenommen werden.

Der Vorwurf, sich einer Straftat verdächtigt gemacht zu haben, berührt die Selbstdarstellung sowie die Ehre des Betroffenen. Da die Selbstdarstellung durch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützt ist, gilt dies ebenfalls für die Unschuldsvermutung. 101 Auch kann ein argumentum a fortiori aus dem sog. Lebach-Urteil 102 angeführt werden: Soweit dem Resozialisierungsgedanken über das Allgemeine Persönlichkeitsrecht Grundrechtscharakter als auch mittelbare Drittwirkung zugebilligt wird, um der Pressefreiheit gleichwertig gegenüberzutreten, so hat dies erst recht für die Unschuldsvermutung zu gelten. Das Bedürfnis die Persönlichkeit eines Straftäters zu schützen, besteht nicht nur nach rechtskräftiger Verurteilung, sondern vielmehr erst recht im Stadium des bloßen Verdachts eines bis dato noch nicht rechtskräftig Verurteilten. 103 Denn regelmäßig erscheint ein Tatverdächtiger in der Öffentlichkeit nicht erst dann als Straftäter, wenn er als solcher bezeichnet wird. 104 Sieht man dies mit der bereits im Zusammenhang mit dem Rechtsstaatsprinzip genannten Grundrechtsdimension, so wurde dies mit den Worten, dass „die bis zur rechtskräftigen Verurteilung zugunsten des Angeschuldigten geltende Vermutung seiner Unschuld (…) eine entsprechende Zurückhaltung“ 105 gebietet, bereits angedeutet. 106

Die Medien sind folglich über den Weg der mittelbaren Drittwirkung aus Art. 2 I i.V.m. Art 1 I GG an die Unschuldsvermutung gebunden.

D. Voraussetzungen für eine zulässige Verdachtsberichterstattung

Werden die nachfolgenden Anforderungen eingehalten, so hat im Rahmen der gebotenen Abwägung zwischen dem öffentlichen Informationsinteresse und dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen die Berichterstattung und damit das Informationsinteresse gewöhnlich Vorrang. 107 Eine Verdachtsberichterstattung ist dann zulässig.

I. Allgemeine Voraussetzungen

1. Mindestbestand an Beweistatsachen

Es muss ein Mindestbestand an Beweistatsachen vorliegen, der für den Wahrheitsgehalt des Verdachts spricht und ihm damit einen Öffentlichkeitswert verleiht. 108 Bevor ein Bericht veröffentlich wird, muss nach Kräften versucht werden, etwas Falsches über den Betroffenen zu verbreiten, auszuschalten. 109 Je schwerer und nachhaltiger das Ansehen des Betroffenen durch die Veröffentlichung beeinträchtigt wird, desto höher sind die Anforderungen hieran. 110 Die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens kann für sich genommen noch nicht ausreichend sein. 111 Hingegen schon, wenn eine Wohnungsdurchsuchung erfolgt ist 112 oder der Betroffene in Untersuchungshaft genommen wurde. 113

2. Einhaltung hoher Sorgfaltspflichten

Eine Verdachtsberichterstattung ist aufgrund der Medienfreiheit auch zulässig, wenn der rufschädigende Beitrag sich später als unrichtig erweist. 114 Die Anforderungen sind somit an die journalistische Sorgfalt umso höher, je schwerer und nachhaltiger das Ansehen des Betroffenen durch die Veröffentlichung beeinträchtigt ist. 115 Dabei dürfen die Medien grundsätzlich eine Mitteilung nicht ungeprüft übernehmen. 116 Ausnahmen hiervon stellen sog. privilegierte Quellen dar, die grundsätzlich keinen Zweifel an ihrer Richtigkeit aufkommen lassen. 117 Hierzu zählen Nachrichtenagenturen 118 und amtliche Auskünfte. 119 Die Sorgfalts- und Wahrheitspflichten der Medien dürfen jedoch keinesfalls überspannt werden, dass darunter die Funktion der Meinungsfreiheit leidet. 120 Gerade Straftaten gehören zum Zeitgeschehen, deren Vermittlung Aufgabe der Medien ist. 121 Dürften die Medien lediglich Informationen verbreiten, deren Wahrheit im Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits mit Sicherheit feststeht, so könnten die Medien ihre durch Art. 5 GG verfassungsrechtlich geschützte Aufgabe der öffentlichen Meinungsbildung nicht erfüllen. 122 Zu beachten ist, dass aufgrund der aktuellen Berichterstattung ohnehin die Mittel verkürzt sind. 123

3. Keine Vorverurteilung

Die Darstellung darf keine Vorverurteilung des Betroffenen enthalten. Es muss hervorgehen, dass es sich um einen Verdacht und nicht um eine feststehende Tatsache handelt. 124 Dabei darf nicht der unzutreffende Eindruck entstehen, dass der Verdächtige bereits der vorgeworfenen Tat überführt ist und es nur eine Frage der Zeit bzw. eine reine Formalie ist, dass der Betroffene wegen der beschriebenen Handlung verurteilt wird. 125 „Jetzt schließt sich die Indizienkette. Die Ermittler sind kurz davor, den Fall zu lösen“ erweckt einen solchen Eindruck. 126 Auch ist zu berücksichtigen, dass der durchschnittliche Leser eher zu einer Verschuldens- als Unschuldsvermutung tendiert. 127 Formale Vorbehalte wie etwa die Verwendung des Wortes „soll“ und des Konjunktives sind nicht ausreichend, um eine Vorverurteilung zu vermeiden, wenn dem Leser suggeriert wird, der Verdacht sei zutreffend. 128 Entscheidend ist der Gesamteindruck der Darstellung. 129 So war die Überschrift „Kannibale grillt seine Cousine im Backofen“ ausreichend genug zu unterstellen, der Kläger habe Menschenfleisch gegessen. 130 Dies konnte aber ausweislich der Urteilsgründe nicht festgestellt werden. Unerheblich war dann, dass im nachfolgenden Artikel lediglich von einem Verdacht gesprochen wurde.

4. Keine bewusst einseitige und verfälschende Darstellung

Die Medien sind zu einer objektiven Betrachtung verpflichtet. Hierunter fällt, dass die Berichterstattung nicht einseitig zu Lasten des Betroffenen ausfällt und entlastende Umstände gerade nicht verschwiegen werden dürfen. 131 Eine auf Sensation ausgehende, bewusst einseitige oder verfälschende Darstellung ist unzulässig. 132 Gerade dadurch soll erreicht werden, dass die Medien und dadurch die Öffentlichkeit nicht von einer bereits feststehenden Schuld des Verdächtigen ausgeht.

5. Stellungnahme des Betroffenen

Des Weiteren muss dem Betroffenen die Möglichkeit zur Stellungnahme geben werden (sog. Gegenrecherche). 133 Hiervon sind die Medien nicht schon deshalb befreit, weil sie erwarten, keine weitere Aufklärung durch die Stellungnahme erlangen zu können. 134 Erforderlich ist ein ernsthaftes Bemühen, das vom jeweiligen Einzelfall abhängig ist. 135 Liegt eine Stellungnahme vor, muss sie in der Berichterstattung jedenfalls Berücksichtigung finden. 136

6. Vorgang von gravierendem Gewicht

Ferner muss es sich um einen Vorgang von gravierendem Gewicht handeln, dessen Mitteilung durch ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt ist. 137 Dies ist im konkreten Einzelfall durch Abwägung der konfligierenden Rechtspositionen festzustellen. Hier sind u.a. zu berücksichtigen, sowohl die Schwere des Tatvorwurfs, die Tatumstände und die Person des Beschuldigten als auch der Verdachtsgrad. 138

II. Sonderfall identifizierende Verdachtsberichterstattung

Bei der Identifizierung des Verdächtigen ist besondere Zurückhaltung zu wahren. 139 Identifizierende Berichterstattungen stellen regelmäßig eine erhebliche Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts des Betroffenen dar, denn die Rezipienten können nun zusätzlich den Verdacht auf einen Menschen beziehen. 140

1. Namensnennung

Die Identifizierung des Verdächtigen setzt deshalb zusätzlich zu den oben genannten Kriterien voraus, dass auch unter Berücksichtigung des Geheimhaltungsinteresses des Betroffenen das Informationsinteresse überwiegt. 141 Der Identität des Verdächtigen muss ein eigener, besonderer Informationswert zukommen, damit ein überwiegendes öffentliches Informationsinteresse angenommen werden kann. 142

Insoweit kommen grundsätzlich nur Fälle schwerer Kriminalität oder Straftaten in Betracht, die die Öffentlichkeit besonders berühren. 143 Dabei ist stets der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren. 144 Ausnahmsweise kann eine Namensnennung wegen einer herausgehobenen Position des mutmaßlichen Täters oder dessen spezifischen Verhältnisses zur Tat auch bei mittlere oder sogar bei Kleinkriminalität zulässig sein. 145 Hier sei die Person des öffentlichen Lebens genannt, die durch ihre Tat im Widerspruch zur öffentlichen Rolle und übertragenen Aufgabe steht. 146

2. Bildveröffentlichung

Die Bildveröffentlichung beurteilt sich nach den §§ 22 ff. KUG. Als wichtigste Ausnahme zum Einwilligungserfordernis, das bei einer Verdachtsberichterstattung regelmäßig nicht vorliegen wird, kommt § 23 I Nr. 1 KUG in Betracht. Seit der sog. Caroline-Entscheidung des EGMR 147 gilt die auf Neumann-Duesberg zurückgehende Rechtsfigur der sog. „Person der Zeitgeschichte“ 148 mit ihrer Unterscheidung zwischen absoluten und relativen Personen der Zeitgeschichte als überholt. 149 Nunmehr ist bereits bei der Bestimmung des Tatbestandsmerkmals „aus dem Bereich der Zeitgeschichte“ im Wege eines abgestuften Schutzkonzepts eine Abwägung der widerstreitenden Grundrechte vorzunehmen. 150 In der Vergangenheit war ein Verdächtiger, wenn überhaupt der relativen Person der Zeitgeschichte zuzuordnen, eine Person, die in Bezug auf ein bestimmtes Geschehen – nicht aufgrund ihrer eigenen Stellung – Gegenstand des Informationsinteresses der Öffentlichkeit ist. 151 Teilweise wurde eine solche Zuordnung generell als ungeeignet angesehen, da ein Straftatverdacht unter Berücksichtigung der Unschuldsvermutung aus einem Verdächtigen nicht eine Person der Zeitgeschichte machen könne. 152 Teilweise wurde auch jeder mutmaßliche Straftäter ausnahmslos als Person der Zeitgeschichte angesehen. 153 Im Hinblick auf die Entscheidung des EGMR, der sich auch das BVerfG und der BGH angeschlossen haben, 154 wird man dies nun jedoch nach den konkreten Gegebenheiten des jeweiligen Einzelfalles entscheiden müssen. 155 Die Zugehörigkeit zum Bereich der Zeitgeschichte wird – wie bei der Frage der Namensnennung – demnach gegeben sein, wenn „unter Berücksichtigung der falltypischen Gestaltung und der besonderen Umstände des Einzelfalles“ 156 das öffentliche Informationsinteresse das individuelle Anonymitätsinteresse des Betroffenen überwiegt. 157 Erforderlich ist ein gesteigertes Informationsinteresse gegenüber einer reinen Namensnennung. 158 Heranzuziehen sind dabei der Charakter, der Umfang bzw. die Begehungsweise der Tat und die Persönlichkeit des Beschuldigten. Dabei muss das Informationsbedürfnis im Hinblick auf eine weitergehende Identifizierung des Betroffenen durch eine Bildveröffentlichung den Persönlichkeitsschutz überwiegen. 159 Dies wird ausschließlich bei Straftaten von erheblicher Bedeutung der Fall sein. 160

III. Stellungnahme

Die Rspr. hat im Laufe der Jahre bestimmte Kriterien für eine zulässige Verdachtsberichterstattung entwickelt, um einen gerechten und ausgewogenen Ausgleich zwischen der Medienfreiheit, insbesondere dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsschutz des Verdächtigten zu schaffen. 161

Im Hinblick auf die Unschuldsvermutung zeigt sich, dass insbesondere die Voraussetzung des Nichtvorliegens einer Vorverurteilung Ausfluss der Unschuldsvermutung und zentraler Maßstab der Berichterstattung ist. Denn eine Vorverurteilung stellt ein Synonym für die Verletzung der Unschuldsvermutung dar.

Infolgedessen wird selbst für diejenigen, die eine Bindungswirkung der Medien an die Unschuldsvermutung ablehnen bzw. anzweifeln, eine Art Bindungswirkung impliziert. Man wird deshalb keinen dergestalt großen inhaltlichen Unterschied zwischen einer „Berücksichtigung“ jener Voraussetzung und einer „Bindung“ der Medien an die Unschuldsvermutung an sich sehen können, um nicht sagen zu können, dass die Medien bereits durch jenes Kriterium an die Unschuldsvermutung gebunden sind. Denn soweit man etwas berücksichtigen muss, um eine zulässige Verdachtsberichterstattung zu gewährleisten, ist man gleichzeitig auch daran gebunden. Eine präjudizierende Darstellung wird regelmäßig zu einer Verletzung der Unschuldsvermutung führen. Unter jener Prämisse ist es verwunderlich, dass der BGH einer Bindungswirkung zweifelnd gegenüber steht, im gleichen Zug aber einen Maßstab für die Unschuldsvermutung aufstellt. Gegen diese Annahme spricht auch nicht die Aussage des BGH, dass die Unschuldsvermutung eine zulässige Verdachtsberichterstattung nicht einschränken kann, da in diesem Fall die Unschuldsvermutung gerade gewährleistet ist.

Die Verpflichtung zur objektiven Berichterstattung ist eine weitere Voraussetzung einer Vorverurteilung entgegenzuwirken. Diese Voraussetzung ist somit eine Konkretisierung der Unschuldsvermutung selbst. Ein hoher Grad an Sorgfaltspflicht und ein Mindestbestand an Beweistatsachen verleihen dem Bericht Glaubhaftigkeit und Seriosität. Da die gesammelten Beweise sich regelmäßig gegen den Betroffenen richten und ein hoher Anteil an Beweistatsachen den Verdacht erhärtet, wirkt dies gleichzeitig der Unschuldsvermutung entgegen. Dies darf keinesfalls implizieren oberflächlich zu recherchieren.

Somit ist zu sehen, dass es sich bei diesen Kriterien zwar um Generalklauseln handelt, die es erschweren die jeweiligen Grenzen im konkreten Einzelfall zu bestimmen. 162 Andererseits kann erst so ein angemessenes und ausgeglichenes Resultat geschaffen werden. Der entwickelte Kriterienkatalog gibt mithin ein verlässliches Instrumentarium an die Hand, um über eine zulässige Berichtserstattung zu entscheiden. 163 Die Kriterien gewährleisten, dass es zu keiner Vorverurteilung kommt und der Unschuldsvermutung Rechnung getragen wird. Dies führt wiederum zur einer Sicherstellung des Persönlichkeitsschutzes.

Durch diese Voraussetzungen können die anfangs angesprochenen Gefahren relativiert werden. 164 Es wäre verfehlt die Auswirkungen und Gefahren der Berichterstattung ausschließlich auf eine Verletzung der Unschuldsvermutung zurückzuführen. Grundsätzlich ist es für eine Stigmatisierung ausreichend in der Öffentlichkeit mit einer Straftat in Verbindung gebracht zu werden, unabhängig davon, ob eine zulässige oder unzulässige Verdachtsberichterstattung vorliegt. Auf eine mediale Vorverurteilung wird zwar regelmäßig eine öffentliche Vorverurteilung folgen. Eine solche Vorverurteilung ist aber nicht zwangsweise auf eine mediale zurückzuführen. Dennoch liegt bei einem Missachten der Anforderungen regelmäßig eine Verletzung der Unschuldsvermutung vor, wodurch die Gefahren regelmäßig intensiviert werden. Bei Einhaltung der oben genannten Kriterien können die Gefahren somit zumindest abgeschwächt werden.

Bei einer identifizierenden Verdachtsberichterstattung ist bezüglich der Gefahren besondere Zurückhaltung geboten, da mit einer Identifikation schwere Beeinträchtigungen verbunden sind. 165 Um eine solche Beeinträchtigung umfänglich zu vermeiden, müsste eine identifizierende Berichterstattung gänzlich unterbleiben, da eine Stigmatisierung regelmäßig mit Veröffentlichung von Name und Bild vorliegt. 166 Es ist jedoch weniger die Identität der Person, sondern vielmehr die Art und Weise der Vorwürfe und die Berichterstattung als solche, die entscheidend für eine Vorverurteilung und mithin für einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung ist. 167 Ein öffentliches Interesse kann jedoch nicht nur an der Tat, sondern auch an dem Täter bestehen. 168 So ist die Bildberichterstattung grundsätzlich auch von der Medienfreiheit umfasst. 169 In diesen Fällen besteht die Schwierigkeit der Feststellung eines überwiegenden öffentlichen Interesses gegenüber dem Persönlichkeitsschutz. Der Identität des Verdächtigen muss ein eigener Informationswert zukommen. Dabei ist bei einer Bildveröffentlichung ein noch höheres Informationsinteresse als bei einer Namensnennung erforderlich. 170 Als Anknüpfungspunkt ist in beiden Fällen die Schwere der Tat heranzuziehen. Dabei muss bei der Bildveröffentlichung restriktiver vorgegangen werden, denn von einer Bildveröffentlichung geht eine verstärkte Stigmatisierungswirkung aus. 171 Es gilt auch hier: ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Teilweise werden Bildveröffentlichungen deshalb auch nur bei schwersten Straftaten als zulässig erachtet. 172

Als geeigneter Ausgangs- wie Anhaltspunkt dient ferner auch der jeweilige Verdachtsgrad. Dabei gilt: je höher der Verdachtsgrad, desto eher ist eine Namensnennung zulässig. 173 Dass das Vorliegen einer Strafanzeige nach § 158 I 1 StPO oder die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens allein noch nicht ausreichen darf, zeigt sich daran, dass zum einen jedermann Strafanzeige stellen kann und andererseits die Eröffnung des Ermittlungsverfahrens „nur“ einen Anfangsverdacht voraussetzt. 174 Es bedarf „manchmal prophetischer Fähigkeiten um die Zulässigkeit einer Berichterstattung vorab zu beurteilen.“ 175 Ein überwiegendes öffentliches Informationsinteresse kann deshalb nur im Einzelfall bestimmt werden.

Dabei muss im Rahmen der Abwägung zwischen Informationsinteresse und Persönlichkeitsschutz der Unschuldsvermutung noch größere Bedeutung zukommen. Aus der Erkenntnis einer mittelbaren Drittwirkung der Unschuldsvermutung soll dies dadurch gewährleitet werden, dass die Unschuldsvermutung als eine Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts verstärkend an die Seite des Persönlichkeitsschutzes tritt, analog dem Informationsinteresse, das verstärkend an die Seite der Medienfreiheit gestellt wird. 176 Dies gilt gleichermaßen bei einer Verdachtsberichterstattung ohne Namensnennung und ohne Bildveröffentlichung.

Mit Blick auf die schwerwiegenden Gefahren einer Verdachtsberichterstattung und auch um der mittelbaren Drittwirkung der Unschuldsvermutung Rechnung zu tragen, sollte man dem Persönlichkeitsrecht im Zweifel wohl eher den Vorzug lassen. Hierbei soll keinesfalls verkannt werden, dass sich grundsätzlich zwei gleichrangige Grundrechte gegenüberstehen. 177 Man sollte hinsichtlich eines berechtigten Informationsinteresses zumindest zurückhaltender sein als dies heutzutage den Anschein hat, 178 zumal nur 10 % der Ermittlungsverfahren zu einer rechtskräftigen Verurteilung führen. 179 Denn man läuft Gefahr, dass ein Informationsinteresse der Allgemeinheit in eine Sensationsgier umschlägt und somit dem reinen Unterhaltungsbedürfnis und den kommerziellen Interessen der Medien dient. 180 Es sollte deshalb vorab geprüft werden, ob das Informationsinteresse auch ohne eine Identifikation befriedigt werden kann. 181 Regelmäßig wird man dem öffentlichen Informationsinteresse auch gerecht werden, ohne den Namen oder ein Bild des Verdächtigten zu veröffentlichen. 182

E. Rechtsschutz

Nachfolgend werden mögliche Reaktionen auf eine unzulässige vorverurteilende Verdachtsberichterstattung vorwiegend auf ihre Geeignetheit und Effektivität untersucht.

I. Strafrechtliche Vorschriften

Aufgrund der Funktion der Medien, Organ der öffentlichen Information und Kritik zu sein, kommt es unausweichlich zu Kollisionen mit den Ehrverletzungsdelikten der §§ 185 ff. StGB, insbesondere wegen übler Nachrede nach § 186 StGB. 183

Die erforderliche Tatsachenbehauptung gem. § 186 StGB wird regelmäßig vorliegen. 184 Auch wird sich die Tatsache dabei regelmäßig auf eine andere Person beziehen, die zumindest erkennbar ist, da an die Erkennbarkeit keine hohen Anforderungen gestellt werden. 185 Ob jene Tatsache dann zur Ehrverletzung geeignet ist, muss im Einzelfall entschieden werden. 186 Für die Erforderlichkeit, dass die Tatsache nicht erweislich wahr ist, tragen die Medien die Beweislast. Dabei gehen Zweifel entgegen des „in dubio pro reo“-Grundsatzes zu Lasten der Medien. 187 Ob die Medien sich in diesem Zusammenhang auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen nach § 193 StGB berufen können mit der Folge, dass sich die Beweislast umkehrt, 188 ist zweifelhaft. Zwar besteht ein öffentliches Interesse an einer sachgerechten Information über Straftaten. Ein Interesse an vorgezogenen Schuldzuweisungen besteht dagegen nicht. 189 Eine Strafbarkeit gem. § 186 StGB scheint in diesen Fällen deshalb als durchaus gegeben. Die weitere Qualifikation zu § 186 StGB, § 188 StGB wird aufgrund des restriktiven Anwendungsbereichs kaum vorhanden sein. 190

Auch wird eine Verleumdung nach § 187 StGB regelmäßig nicht vorliegen, da die Unwahrheit zum Zeitpunkt der Tathandlung regelmäßig nicht eindeutig feststehen wird. 191 Eine Beleidigung nach § 185 StGB wird ferner zum einen daran scheitern, dass die Äußerung der Berichterstattung naturgemäß gegenüber Dritten und nicht gegenüber dem Betroffenen erfolgt und zum anderen, es sich dann regelmäßig um eine Tatsachenbehauptung und nicht um ein Werturteil handeln wird. 192

Im Zusammenhang mit Bildveröffentlichungen ist § 33 I KUG noch zu nennen, der eine Bestrafung nach sich zieht, soweit ein Bildnis nicht nach §§ 22 ff. KUG veröffentlicht wird. Trotz einer Zunahme unzulässiger Bildveröffentlichungen hat jene Strafnorm keine praktische Relevanz. 193

II. Zivilrechtliche Vorschriften

Zentraler Anspruch in der Praxis ist die Unterlassung zukünftiger Rechtsverletzungen durch Wort- oder Bildveröffentlichung nach § 1004 I 2 BGB analog i.V.m. §§ 823 ff. BGB. Die Rechtsverletzung in ein nach §§ 823 ff. BGB geschütztes Recht stellt hier Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG als ein „sonstiges Recht“ i.S.v. § 823 I BGB dar, 194 zumal sich nach hier vertretender Ansicht die Unschuldsvermutung aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht ableitet. Die ferner erforderliche Wiederholungsgefahr einer rechtwidrigen Veröffentlichung wird vermutet, soweit eine unzulässige Berichterstattung erfolgt ist. 195 Der Vorteil jenes Anspruchs ist, dass er im Wege einstweiligen Rechtschutzes durchgesetzt werden kann und dadurch schnellstmöglicher Rechtsschutz erhofft werden kann. 196 Andererseits wirkt dieser Anspruch nur relativ zwischen den Parteien. Andere Medien werden dadurch nicht von einer Berichterstattung abgehalten. 197 Dem Betroffenen wird hinsichtlich einer bereits eingetretenen Stigmatisierung damit nur eine eingeschränkte Genugtuung vermittelt. 198

Mittels Anspruch auf Gegendarstellung auf eine Tatsachenbehauptung nach § 11 LPG BW bzw. § 56 RStV kann der Betroffene auf einen bestimmten Verdacht mit einer Gegendarstellung erwidern. Dieser Anspruch kann zwar im Wege des einstweiligen Rechtschutzes durchgesetzt werden. Letztlich bleibt es dem Rezipienten aber überlassen, was er glaubt, soweit er die Stellungnahme überhaupt wahrnimmt. 199 Hier zeigen sich wieder die Gefahren einer Verdachtsberichterstattung: von einem erhobenen Vorwurf bleibt regelmäßig etwas hängen. 200 Ein Wiedergutmachungseffekt wird man mithin kaum erzielen können, berücksichtigt man auch, dass die Medien Vor- und Nachbemerkungen an die Gegendarstellung hinzuzufügen dürfen. 201

Nach § 1004 I 2 BGB analog i.V.m. §§ 823 ff. BGB haben die Medien eine unrichtige Tatsachenbehauptung zu korrigieren. Der Betroffene trägt jedoch in diesen Fällen die Beweislast. Er wird aber die Unwahrheit der Tatsachenbehauptung erst i.S.v. § 190 StGB mit rechtsförmiger Feststellung seiner Unschuld erbringen können, wodurch die Beeinträchtigung fortdauert und jenem Anspruch dann kaum noch rehabilitierende Wirkung zukommen wird. 202

Ein Anspruch auf materiellen Schadenersatz nach §§ 823 ff i.V.m. 249 BGB hat nur geringe Bedeutung. Es mangelt regelmäßig an der haftungsbegründenden Kausalität, da jedes Medium sich darauf berufen wird, dass auch ein anderes Medium entsprechend berichtet hätte. 203

Letztlich kommt noch ein Anspruch auf immaterielle Geldentschädigung wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts in Betracht. Dieser Anspruch resultiert aus dem Schutzauftrag der Art. 2 I GG und Art. 1 I GG 204 und dient in erster Linie der Genugtuung des Betroffenen. 205 Es werden jedoch hohe Anforderungen an jenen Anspruch gestellt. So hat eine schwerwiegende Persönlichkeitsverletzung vorzuliegen, die nach den Umständen des Einzelfalles zu bestimmen ist. Bei alltäglichen Vorverurteilungskonstellationen wird diese Voraussetzung i.d.R. nicht erfüllt sein. 206 Hinzu kommt, dass dieser Anspruch ausscheidet, soweit auf andere Weise ein hinreichender Ausgleich der Rechtsbeeinträchtigung erzielt werden kann (Subsidiarität). 207

III. Stellungnahme

Zu sehen ist, dass sich in der Praxis eine Entwicklung fort vom straf- und hin zum zivilrechtlichen Ehrenschutz vollzogen hat. 208

Die Ehrverletzungsdelikte werden aufgrund der materiell-rechtlichen hohen Hürden i.d.R. keinen Erfolg haben. Hinzu kommt, dass erst nach Monaten wenn nicht gar Jahren mit einem Urteil zu rechnen ist. 209 Es besteht dennoch ein nicht zu vernachlässigendes Restrisiko der Strafbarkeit im Hinblick auf eine üble Nachrede. 210

In zivilrechtlicher Hinsicht ist kein Anspruch für sich alleine betrachtet hinreichend effektiv. Im Hinblick auf die Durchsetzung der genannten Ansprüche hat der Betroffene ein nicht unbeachtliches Prozessrisiko zu tragen. 211 Soweit der Anspruch nicht im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes durchgesetzt werden kann, wird es auch hier Jahre dauern bis eine rechtskräftige Entscheidung vorliegt. Die physische und psychische Belastung, die mit einem solchen Prozess einhergeht, das Kostenrisiko und der Zeitfaktor können dazu führen, dass auf die Geltendmachung solcher Ansprüche von vorneherein verzichtet wird. 212 Mögen die Ansprüche in ihrer Gesamtheit ein wirksames und ausreichendes Schutzkonzept erkennen lassen, 213 so ist doch ein Bedarf nach einer komplementären Norm vorhanden, die es ermöglicht schnell und kostengünstig eine Sanktionierung der Medien zu erreichen. Eine Anregung kann das österreichische Mediengesetz mit § 7 b MedienG liefern. 214

Hierbei handelt es sich um einen Anspruch speziell zum Schutze der Unschuldsvermutung auf immaterielle Geldentschädigung. Dieser Anspruch besteht unabhängig von Ausgang eines Strafverfahrens und unabhängig von der Art und dem Umfang der Persönlichkeitsbeeinträchtigung. Die Schwere der Beeinträchtigung wirkt sich nur auf die Höhe der Entschädigung aus. Die Norm greift die mit einer Verdachtsberichterstattung verbundene Vorverurteilungsproblematik auf, ahndet einen Verstoß der Medien mit einer Sanktion und verknüpft dies gleichzeitig mit einer entsprechenden Geldentschädigung für den Betroffenen.

Mit Blick auf den Schutz vor einer Bekanntgabe der Identität durch Namensnennung und Bildveröffentlichung kann das österreichische Mediengesetz mit § 7 a MedienG erneut eine Anregung geben. 215 In diesem Zusammenhang soll noch einmal auf § 33 KUG zurückzukommen sein.

§ 7 a MedienG sanktioniert die mit einer rechtswidrigen Veröffentlichung der Identität des Verdächtigen einhergehende Persönlichkeitsbeeinträchtigung. Nichts anderes geschieht im Grunde durch § 33 KUG mit dem Unterschied, dass jene Norm auf die Bildveröffentlichung begrenzt ist. § 33 KUG könnte infolge eines Analogieverbotes im Strafrecht dahingehend modifiziert und erweitert werden, dass nicht nur eine unzulässige Abbildung des Betroffenen erfasst wird, sondern auch auf die Namensnennung und die Veröffentlichung identifizierender Merkmale ausgedehnt wird. 216

Durch eine ergänzende Regelung i.S. eines § 7 b MedienG durch den Gesetzgeber könnte eine effektivere Sanktionierung der Medien erzielt werden. Somit könnte man einer vorverurteilenden Berichterstattung entgegenwirken und mittelbar der Maxime der Unschuldsvermutung Rechnung tragen. Gleichzeitig würde der Betroffene eine Genugtuung erreichen, wenn ihm ein effektiver Schadensersatzanspruch zur Seite gestellt wird. Dem mit einer identifizierenden Berichterstattung einhergehenden verstärkten Stigmatisierungseffekt könnte durch eine Modifikation des § 33 KUG entgegengewirkt werden, da die Medien dann mit strafrechtlichen Folgen rechnen müssen.

F. Resümee

Am Anfang der Untersuchung wurde die Frage aufgeworfen, ob eine Verdachtsberichterstattung die Maxime der Unschuldsvermutung gewährleistet. Diese Frage soll nun abschließend geklärt werden.

Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Unschuldsvermutung als Ausfluss des Persönlichkeitsrechts ihre Schutzwirkung auch unter Privaten entfaltet und infolgedessen eine mittelbare Drittwirkung der Medien an die Unschuldsvermutung besteht.

Um einen ausgewogenen und gerechten Ausgleich zwischen Medienfreiheit einerseits und Allgemeinem Persönlichkeitsrecht andererseits zu gewährleisten, hat die Rspr. im Laufe der Jahre Abwägungskriterien für eine zulässige Verdachtsberichterstattung aufgestellt und konkretisiert. 217 Dabei hat sich gezeigt, dass das Nichtvorliegen einer Vorverurteilung, sowie die Verpflichtung zur objektiven Berichterstattung Ausfluss der Unschuldsvermutung sind.

Aus der Erkenntnis der mittelbaren Drittwirkung der Unschuldsvermutung und im Hinblick auf die Gefahren einer solchen Berichterstattung wurde sodann herausgearbeitet, dass der Unschuldsvermutung speziell im Fall der identifizierenden Verdachtsberichterstattung größere Bedeutung zukommen muss. Dies soll dadurch gewährleistet werden, dass bei der Abwägung mit der Medienfreiheit die Unschuldsvermutung verstärkend an die Seite des Persönlichkeitsschutzes gestellt wird. Denn Verdachtsberichterstattungen belasten den Betroffen nachhaltig. Die öffentliche Prangerwirkung geht regelmäßig mit einer Stigmatisierung einher, die sich bis hin zu einer Existenzbedrohung auswirken kann.

Bei einer anonymisierten Verdachtsberichterstattung wird es i.d.R. nicht zu einer Vorverurteilung und somit auch nicht zu einem Verstoß gegen die Unschuldsvermutung kommen können, da die Person gerade nicht bekannt ist. Soweit sich der Betroffene gegen eine vorverurteilende Verdachtsberichterstattung zur Wehr setzten möchte, hat die Untersuchung gezeigt, dass der Rechtsschutz in strafrechtlicher und zivilrechtlicher Hinsicht nicht effektiv genug ist.

Aus diesem Grund wurden zwei Alternativen aufgezeigt. Zum einen eine ergänzende Regelung i.S. des § 7 b  österreichisches MedienG und zum anderen eine Modifizierung des § 33 KUG. Hierdurch soll eine stärkere Sanktionierung der Medien erzielt werden und eine Genugtuung für den Betroffenen erreicht werden, um so letztendlich einer Vorverurteilung effektiver entgegenwirken zu können und im Umkehrschluss der Unschuldsvermutung gerecht zu werden.

Es kann abschließend festgestellt werden, dass die Verdachtsberichterstattung in der Theorie die Unschuldsvermutung gewährleistet. In der Praxis kommt es – wie der Mordfall Lena in Emden zeigt – mitunter zur Missachtung der Unschuldsvermutung.

*Der Autor studiert im achten Semester Rechtswissenschaften an der Eberhard Karls Universität Tübingen mit dem Schwerpunkt Kriminalwissenschaften und Strafrechtspflege.  Der Artikel beruht auf einer im Wintersemester 2015/2016 erstellten Studienarbeit im Rahmen des Seminares „Kriminalberichterstattung durch Medien“ von Prof. Dr. Eisele.


Fußnoten:

  1. BVerfGE 20, 162 (174).
  2. Sachs/Bethge, Grundgesetz Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 5 Rn. 17.
  3. BVerfGE 35, 202 (222).
  4. Wenzel/Burkhardt, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 5. Aufl. 2003, Kap. 10 Rn. 154; BGH, NJW 1977, 1288 (1289).
  5. Der Terminus „Medium“ bzw. „Medien“ wird in der folgenden Untersuchung als übergreifende Bezeichnung für die Presse als Printmedium und die digitalen bzw. audiovisuellen Medien (Rundfunk, Internet) verwendet.
  6. Schlüter, Verdachtsberichterstattung: zwischen Unschuldsvermutung und Informationsinteresse, 2011, S. 1, 273.
  7. http://www.bild.de/news/inland/news-inland/polizei-verhaftet-schueler-23385338.

    bild.html [Aufruf 29.08.2015].

  8. http://www.spiegel.de/panorama/justiz/urteil-gegen-18-jaehrigen-aus-emden-wegen-

    aufruf-zu-lynchjustiz-a-835927.html [Aufruf 05.09.2015].

  9. BeckOK-StPO/Valerius, Edition: 21 (Stand: 1.5.2015), EMRK Art. 6 Rn. 32.
  10. Molle, ZUM 2010, 331 (332).
  11. Schlüter, (Fn. 6), S. 12; vgl. auch OLG Hamburg, AfP 2008, 404 (406).
  12. Sodann unter Punkt D.
  13. Götting/Schertz/Seitz/Schmelz, Handbuch des Persönlichkeitsrechts, 2008, § 31 Rn. 32; MAH Strafverteidigung/Lehr, Münchener Anwalts-Handbuch Strafverteidigung, 2. Aufl. 2014, § 21 Rn. 15.
  14. Schlüter, (Fn. 6), S. 8.
  15. Zabel, GA 2011, 347 (353).
  16. Haarmann, Die individualisierende Verdachtsberichterstattung über den Beschuldigten eines Strafverfahrens, 2012, S. 3; Wagner, Strafprozessführung über Medien, 1987, S. 42.
  17. Ricker/Weberling, Handbuch des Presserechts, 6. Aufl. 2012, Kap. 19 Rn. 1.
  18. Löffler/Burkhardt, Presserecht, 6. Aufl. 2015, § 4 Rn. 81.
  19. Gounalakis, NJW 2012, 1473 (1473); Huff, AfP 2010, 332 (334).
  20. Vgl. Lehr, NStZ 2009, 409 (411); Eisele, JZ 2014, 932 (936).
  21. Rau, Rechtlich und ethisch verantwortungsvolle Kriminalberichterstattung: eine Analyse anhand der Spruchpraxis des Deutschen Presserats, 2013, S. 161.
  22. Schlüter, (Fn. 6), S. 11.
  23. Haarmann, (Fn. 16), S. 3.
  24. Haarmann, (Fn. 16), S. 3; Molle, ZUM 2010, 331 (332).
  25. BGH, NJW 1971, 698 (700); OLG München, ZUM 2009, 777 (778).
  26. Rau, (Fn. 21), S. 161.
  27. Prinz/Peters, Medienrecht: die zivilrechtlichen Ansprüche, 1999, Rn. 265; BGH, NJW 1977, 1288 (1289).
  28. OLG Köln, AfP 1989, 683 (685); Treffer, ZUM 1989, 433 (437).
  29. Schlüter, (Fn. 6), S. 23.
  30. Müller, NJW 2007, 1617 (1617).
  31. Friedrichsen, StV 2005, 169 (169).
  32. Rau, (Fn. 21), S. 161.
  33. OLG Braunschweig, AfP 1975, 913 (914).
  34. Schlüter, (Fn. 6), S. 25.
  35. Wenzel/Burkhardt, (Fn. 4), Kap. 10 Rn. 155.
  36. Lehr, NStZ 2009, 409 (414).
  37. Haarmann, (Fn. 16), S. 76.
  38. Haarmann, (Fn. 16), S. 75; OLG Hamburg, ZUM-RD 2005, 508 (510 f.).
  39. Haarmann, (Fn. 16), S. 77.
  40. BGH, NJW 1963, 904 (905); von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien: Die Frage der Rechtmäßigkeit identifizierender Kriminalberichte, 1979, S. 269.
  41. Kühl, FS Hubmann, 1985, S. 244.
  42. BGH, NJW 1969, 703 (704); Roxin, NStZ 1991, 153 (155).
  43. Haarmann, (Fn. 16), S. 50; OLG Karlsruhe, NJW 1973, 1291 (1292).
  44. Treffer, ZUM 1989, 433 (436.).
  45. Haarmann, (Fn. 16), S. 41.
  46. Haarmann, (Fn. 16), S. 52.
  47. Verweyen/Schulz, AfP 2008, 133 (138).
  48. Haarmann, (Fn. 16), S. 92.
  49. Zu den einzelnen Rechtspositionen vgl. Schlüter, (Fn. 6), S. 27 ff., Reike, Die Rolle der Staatsanwaltschaft in der Mediengesellschaft, 2011, S. 5 ff.
  50. Schlüter, (Fn. 6), S. 27.
  51. Aus der Informationsfreiheit leitet sich das öffentliche Informationsinteresse ab, denn das Informationsinteresse ist die kollektive Form der Informationsfreiheit, vgl. Fechner, Medienrecht: Lehrbuch des gesamten Medienrechts unter besonderer Berücksichtigung von Presse, Rundfunk, Multimedia, 16. Aufl. 2015, Kap. 3 Rn 104.
  52. Maunz/Dürig/Grabenwarter, Grundgesetzkommentar, 73. Ergänzungslieferung 2014, Art. 5 Rn. 2.
  53. Reike, (Fn. 49), S. 5.
  54. Lindner, AöR 2008, 235 (235).
  55. BVerfGE 35, 311 (320); BVerfGE 74, 358 (371).
  56. Fn. 9.
  57. EGMR, NJW 2011, 1789 (1790).
  58. Berlin; Brandenburg; Bremen; Rheinland-Pfalz; Hessen; Saarland.
  59. Vgl. Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, 1998, S. 47 ff.; Soehring, Vorverurteilung durch die Presse: der publizistische Verstoß gegen die Unschuldsvermutung, 1999, S. 45 ff.
  60. Bettermann/Nipperdey/Scheuner/Sax, Die Grundrechte, Dritter Band 2. Halbband, S. 987; Wolter, NStZ 1993, 1 (6); Köster, Die Rechtsvermutung der Unschuld, historische und dogmatische Grundlagen, 1979, S. 146; wohl auch BGHSt 14, 358 (264).
  61. Kühl, (Fn. 41), S. 251; Soehring, (Fn. 58), S. 67; OLG Köln, AfP 1985, 293 (295), AfP 1989, 683 (685).
  62. BVerfGE 19, 342 (347); BVerfGE 74, 358 (370).
  63. BVerfGE 74, 358 (370).
  64. Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, Strafprozessordnung, 58. Aufl. 2015, MRK Art. 6 Rn. 12; EGMR, NJW 2011, 1789 (1790).
  65. Stapper, AfP 1996, 349 (354); Marxen, GA 1980, 365 (381).
  66. OLG Köln, NJW 1987, 2682 (2684).
  67. In Berlin, Brandenburg und Bremen.
  68. In Hessen, Rheinland-Pfalz und im Saarland.
  69. Soehring, (Fn. 58), S. 73.
  70. BVerfGE 35, 202 (232); SK/Paeffgen, Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung mit GVG und EMRK, 4. Aufl. 2012, EMRK Art. 6 Rn. 182.
  71. BVerfGE 74, 358 (369); Kühl, NJW 1984, 1264 (1267).
  72. Kühl, (Fn. 41), S. 246; OLG Köln, NJW 1987, 2682 (2683).
  73. Eisele, JZ 2014, 932 (934); Lehr, NJW 2013, 728 (730).
  74. Lehr, NJW 2013, 728 (732).
  75. Schlüter, (Fn. 6), S. 161.
  76. Fn. 61.
  77. Löwe/Rosenberg/Esser, Die Strafprozessordnung und das Gerichtverfassungsgesetz, 26. Aufl. 2012, EMRK Art. 6 Rn. 456; Stapper, AfP 1996, 349 (349).
  78. Geppert, Jura 1993, 160 (162); Roxin, NStZ 1991, 153 (156); Löffler/Steffen, (Fn. 18), § 6 Rn. 205, OLG Frankfurt/Main, NJW 1980, 597 (598 f.).
  79. BVerfGE 74, 358 (369).
  80. Lindner, AöR 2008, 235 (243).
  81. Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts, 1986, S. 66.
  82. BVerfG, NJW 2009, 350 (351).
  83. BVerfGE 35, 202 (232).
  84. So OLG Braunschweig, AfP 1981, 292 (292).
  85. Fn. 59; teilweise auch i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip Gropp, JZ 1991, 804 (804 f.); Paeffgen, (Fn. 80), S. 53; Marxen, GA 1980, 365 (372).
  86. Maunz/Dürig/Herdegen, (Fn. 51), Art. 1 Rn. 74; BeckOK-GG/Hillgruber, Edition: 25 (Stand: 1.6.2015), Art. 1 Rn. 8.
  87. Fn. 60.
  88. OLG Köln, AfP 1985, 293 (295), AfP 1989, 683 (685).
  89. BVerfGE 7, 198 (205).
  90. Soehring, (Fn. 58), S. 67; Schlüter, (Fn. 6), S. 43, 48.
  91. Stapper, Namensnennung in der Presse im Zusammenhang mit dem Verdacht strafbaren Verhaltens, 1995, S. 67.
  92. Kühl, (Fn. 41), S. 248.
  93. Rau, (Fn. 21), S. 161.
  94. Kühl, (Fn. 41), S. 244; Zabel, GA 2011, 347 (360).
  95. Lehr, NJW 2013, 728 (729).
  96. Stapper, (Fn. 90), S. 67.
  97. Schmidt, Justiz und Publizistik, Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, Heft 353/354, S. 56.
  98. BVerfGE 7, 198 (208).
  99. Hierzu Soehring, (Fn. 58), S. 55; Hamm, Große Strafprozesse und die Macht der Medien, 1997, S. 124.
  100. Bezweifelt, aber offen gelassen BGHZ 142, 199 (204 f.).
  101. Lindner, AöR 2008, 235 (246).
  102. BVerfGE 35, 202.
  103. Hierzu Soehring, (Fn. 58), S. 59; Kühl, FS Müller-Dietz, 2001, S. 416.
  104. Kühl, (Fn. 41), S. 253.
  105. BVerfGE 35, 202 (232).
  106. Bornkamm, Pressefreiheit und Fairness des Strafverfahrens, 1980, S. 257.
  107. BGHZ 142, 199 (204).
  108. BGHZ 142, 199 (203).
  109. BGH, NJW 1997, 1148 (1149).
  110. BGH, NJW 1977, 1288 (1289).
  111. Lehr, NJW 2013, 728 (730).
  112. LG Berlin, AfP 2008, 530 (531).
  113. KG, NJW-RR 2010, 622 (622).
  114. BGH, NJW 1987, 2225 (2227); BVerfGE 99, 185 (197).
  115. BGHZ 142, 199 (204).
  116. BGH, NJW 1963, 904 (904).
  117. Hohmann, NJW 2009, 881 (882).
  118. KG, NJW-RR 2008, 356 (356).
  119. BVerfG, NJW-RR 2010, 1195 (1197).
  120. BGHZ 132, 13 (24).
  121. BVerfGE 35, 202 (230).
  122. BGH, NJW 1977, 1288 (1989); BVerfGE 97, 125 (148).
  123. BGHZ 142, 199 (204).
  124. OLG München, NJW-RR 1996, 1493 (1994).
  125. Schlüter, (Fn. 6), S. 98.
  126. OLG Dresden, NJW 2004, 1181 (1183).
  127. Schlüter, (Fn. 6), S. 98.
  128. Molle, ZUM 2010, 331 (333).
  129. Haarmann, (Fn. 16), S. 130.
  130. OLG Frankfurt/Main, ZUM 2007, 390 (391).
  131. BGH, NJW 1965, 2365 (2396).
  132. BGHZ 142, 199 (203); BVerfGE 35, 202 (232).
  133. BGHZ 132, 13 (25).
  134. BGHZ 132, 13 (26).
  135. Molle, ZUM 2010, 331 (334); Haarmann, (Fn. 16), S. 132.
  136. Hohmann, NJW 2009, 881 (882).
  137. BGHZ 142, 199 (204).
  138. Vgl. Haarmann, (Fn. 16), S. 110 ff.
  139. BGHZ 142, 199 (206 f.).
  140. BVerfG, NJW 1993, 1463 (1464).
  141. BGHZ 142, 199 (207).
  142. BGH, NJW 1994, 1950 (1951 f.).
  143. BVerfGE 35, 202 (231).
  144. BVerfGE 35, 202 (232); Lehr, NStZ 2001, 63 (65).
  145. Löffler/Steffen, (Fn. 18), § 6 Rn. 208; BGHZ 36, 77 (81).
  146. Schlüter, (Fn. 6), S. 113.
  147. EGMR, NJW 2004, 2647.
  148. Neumann-Duesberg, JZ 1960, 114 (115 ff.).
  149. BGHZ 171, 275 (279); BVerfGE 120, 180 (213).
  150. BGH, NJW 2007, 3440 (3441 f.).
  151. Neumann-Duesberg, JZ 1960, 114 (115).
  152. Marxen, GA 1980, 365 (371).
  153. Franke, Die Bildberichterstattung über den Angeklagten und der Öffentlichkeitsgrundsatz im Strafverfahren, 1978, S. 102.
  154. Fn. 148.
  155. Schlüter, (Fn. 6), S. 119.
  156. BVerfGE 35, 202 (225).
  157. OLG Celle, NJW-RR 2001, 335 (336); Reike, (Fn. 49), S. 83 f.
  158. Schlüter, (Fn. 6), S. 124.
  159. OLG Celle, NJW-RR 2001, 335 (336).
  160. Schlüter, (Fn. 6), S. 120.
  161. Fn. 157.
  162. Müller, NJW 2007, 1617 (1619).
  163. Schlüter, (Fn. 6), S. 126.
  164. S.o. Punkt B II.
  165. Fn. 138.
  166. So Kühl, (Fn. 41), S. 253.
  167. Haarmann, (Fn. 16), S. 44 f.
  168. Löffler/Steffen, (Fn. 18), § 6 Rn. 205.
  169. BVerfG, NJW 2009, 350 (351).
  170. Fn. 157.
  171. BVerfGE 35, 202 (228 f.).
  172. So Fink, Bild- und Tonaufnahmen im Umfeld der strafgerichtlichen Hauptverhandlung, 2007, S. 176 f., 243.
  173. Haarmann, (Fn. 16), S. 120; OLG Dresden, NJW 2004, 1181 (1182).
  174. Wenzel/Burkhardt, (Fn. 4), Kap. 10 Rn. 166 f.
  175. Müller, NJW 2007, 1617 (1619).
  176. Reike, (Fn. 49), S. 12; BGH, NJW 2005, 56 (57).
  177. Fn. 155.
  178. Söder, ZUM 2008, 89 (95).
  179. Prinz/Peters, (Fn. 27), Rn. 272.
  180. Dalbkermeyer, Der Schutz des Beschuldigten vor identifizierenden und tendenziösen Pressemitteilungen der Ermittlungsbehörden, 1993, S. 148.
  181. BGH, NJW 1980, 1790 (1791).
  182. AE-StuM/Riklin/Höpfel, Alternativ-Entwurf Strafjustiz und Medien, 2001, S. 67.
  183. Ricker/Weberling, (Fn. 17), Kap. 53 Rn. 1.
  184. Schlüter, (Fn. 6), S. 66.
  185. Seelmann-Eggebert, NJW 2008, 2551 (2552).
  186. Lackner/Kühl/Kühl, Strafgesetzbuch, 28. Aufl. 2014, StGB § 186 Rn. 4.
  187. S/S/Lencker/Eisele, Strafgesetzbuch, 29. Aufl. 2014, § 186 Rn. 16.
  188. Hager, Jura 1995, 566 (568).
  189. Soehring, (Fn. 58), S. 92.
  190. Schlüter, (Fn. 6), S. 179.
  191. Soehring, (Fn. 58), S. 93.
  192. Schlüter, (Fn. 6), S. 180.
  193. Sauren, ZUM 2005, 425 (432).
  194. HK/Staudinger, Bürgerliches Gesetzbuch, 8. Aufl. 2014, § 823 Rn. 42.
  195. BGH, NJW 1998, 1391 (1392).
  196. Wanckel, NJW 2009, 3353 (3354).
  197. Schlüter, (Fn. 6), S. 217.
  198. Soehring, (Fn. 58), S. 101.
  199. Schlüter, (Fn. 6), S. 223 f.
  200. Prinz/Peters, (Fn. 27), Rn. 274.
  201. Soehring, (Fn. 58), S. 105.
  202. Schlüter, (Fn. 6), S. 230.
  203. Neben, Triviale Personenberichterstattung als Rechtsproblem: Ein Beitrag zur Grenzziehung zwischen Medienfreiheit und Persönlichkeitsschutz, 2001, S. 331.
  204. BVerfGE 34, 269 (282).
  205. BGH, NJW 1997, 1148 (1150).
  206. Soehring, (Fn. 58), S. 116.
  207. BGH, NJW 1970, 1077 (1077); BGH, NJW 1996, 985 (986).
  208. Ricker/Weberling, (Fn. 17), Kap. 41 Rn. 5.
  209. Schlüter, (Fn. 6), S. 200.
  210. Soehring, (Fn. 58), S. 87.
  211. Bornkamm, (Fn. 105), S. 270.
  212. AE-StuM/Riklin/Höpfel, (Fn. 181), S. 64.
  213. So Schlüter, (Fn. 6), S. 245.
  214. Hierzu AE-StuM/Riklin/Höpfel, (Fn. 181), S. 64 f.
  215. AE-StuM/Riklin/Höpfel, (Fn. 181), S. 76.
  216. so auch Haarmann, (Fn. 16), S. 236.
  217. Fn. 157.

1/2016 – Tatort Internet

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Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Das Strafrecht ist grundlegend für ein geordnetes menschliches Zusammenleben. Strafrechtliche Fälle sind oft politisch brisant. Über kein anderes Rechtsgebiet berichten die Medien so intensiv. Die Frage nach der Gerechtigkeit stellt sich im Strafrecht in besonderem Maße. In diesem Sinne sagte John F. Kennedy einst: „Das Leben ist ungerecht, aber denke daran: nicht immer zu deinen Ungunsten.“
Dessen Bedeutsamkeit zu Grunde gelegt, legt Freilaw den Schwerpunkt der Ausgabe 01/2016 auf das Strafrecht. Bewusst hat sich die Redaktion gegen einen konkreten Themenschwerpunkt entschlossen. Durch die abstrakte Festlegung auf das Rechtsgebiet können verschiedenste Aspekte des Strafrechts beleuchtet werden, was einen Schluss auf dessen Komplexität zulässt. So haben in diese Ausgabe wirtschaftsstrafrechtliche, computerstrafrechtliche, strafprozessrechtliche sowie kriminologische Themen Eingang gefunden:
Sarina Gäckle thematisiert in unserem Leitartikel den „Tatort Internet“, indem sie sich mit der Verantwortlichkeit von Internetprovidern auseinandersetzt.
Philipp Preschany befasst sich mit der Frage, ob eine Verdachtsberichterstattung die Maxime der Unschuldsvermutung gewährleistet.
Merve Yolacan erläutert strafprozessuale Kompetenzkonflikte in Europa.
Unter Bezugnahme auf den „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden“ vom 18. September 2013 fragt Timo Stockmann nach der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen.
Julian Busche legt bildgebende Verfahren, die Beweisführung und Glaubwürdigkeit im deutschen Strafprozess dar.
Über den strafrechtlichen Schwerpunkt hinaus, bespricht Matthias Klatt das neue Urteil des BVerfG zum Europäischen Haftbefehl.
Aleksandr Kuvshinov widmet seinen Artikel dem Vergleich des obersten Beamten in Russland mit dem Ministerpräsidenten in Deutschland.
Außerdem möchte Freilaw zukünftig alternative Berufswege für Juristen vorstellen. Sonja Bühler stellt in dieser Ausgabe den Berufsstand des Mediators vor und hat zu diesem Zwecke ein Interview mit Dr. Jan Malte von Bargen geführt.
Als historischen Juristen präsentiert Sarah Baukelmann Michael Angelo Musmanno (1897-1968), der sich zeitlebens gegen politischen Extremismus engagierte.
Abgerundet wird die Ausgabe 01/2016 durch eine Examensklausur mit polizeirechtlichem Schwerpunkt von Dr. Klaus Krebs sowie einer Rezension von Frederik Orlowski zu „Gerrit Manssen, Staatsrecht II, Grundrechte, C. H. Beck Verlag München 2015“ und einer solchen von Friederike Düppers zu „Kaiser/Kaiser/Kaiser, Die Zivilgerichtsklausur im Assessorexamen – Band I“.
Viel Spaß beim Lesen wünscht eure Freilaw-Redaktion!

Bildgebende Verfahren, Beweisführung und Glaubwürdigkeit

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Julian Busche*

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A. Einleitung in die Thematik

„Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.“

(Georg Büchner, Dantons Tod, 1. Akt)

Über das Ziel des deutschen Strafprozesses besteht Einigkeit: Es soll eine in materiell-rechtlicher Hinsicht richtige und damit gerechte Entscheidung über die Strafbarkeit des Beschuldigten gefunden werden 1. Vorrangiges Mittel zur Erreichung dieses Zwecks ist die Erforschung der Wahrheit 2. Doch wie erfolgt diese „Erforschung“? Welche Mittel sind zulässig, damit der Richter gerecht entscheiden kann? Basis der richterlichen Entscheidung sind zum großen Teil Zeugenaussagen. Beachtet man, dass die völlig fehlerfreie Aussage vor Gericht eher die Ausnahme als die Regel ist 3, kommt der Frage nach der Wahrheitserforschung eine besondere Bedeutung zu.

Der Wahrheitssuche vor Gericht standen oft technische Errungenschaften oder Hilfsmittel der entsprechenden Zeit zur Seite, um eine möglichst objektive Forschung zu betreiben 4. So gibt es Erzählungen aus dem alten China, wie man vor 3000 Jahren dem Verdächtigen eine Handvoll ungekochten Reis in den Mund legte, um auf den Wahrheitsgehalt seiner Aussage schließen zu können: Konnte er diesen aufgrund der Trockenheit seines Mundes und Halses nicht schlucken, galt er als schuldig 5.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde auf der Suche nach Verhalten und Verbrechen erstmals dem Gehirn und seiner Anatomie Bedeutung beigemessen. Die von seinem Begründer Joseph Gall als Phrenologie bezeichnete Lehre versuchte, geistige Fähigkeiten und psychische Eigenarten mit äußeren Merkmalen der Schädeloberfläche in Verbindung zu bringen 6. Weitere Erkenntnisse auf dem Gebiet der Verknüpfung von kriminologischen Verhalten und biologischen Besonderheiten gelangen dem italienischen Forscher Cesare Lombroso und seinem Schüler Enrico Ferri Mitte des 19. Jahrhunderts 7.

Im Jahre 1848 sorgte der Arbeitsunfall des zuverlässigen und beliebten Vorarbeiters einer Eisenbahngesellschaft  Phineas Gage für Aufsehen. Eine 3cm dicke Eisenstange durchbohrte seinen Kopf vom linken Kiefer bis zum linken Auge. Dabei wurde Gehirnmasse herausgeschleudert. Er überlebte den Vorfall, wurde jedoch in seiner Persönlichkeit radikal verändert: so berichtete man von einem launischen, unzuverlässigen und unberechenbaren Menschen nach dem Unfall. Dies zeigte erstmals in eindrucksvoller Weise, dass für Persönlichkeitszüge und Sozialverhalten bestimme Hirnareale verantwortlich sind 8.

Auf der Suche nach dem Wahrheitsgehalt von Aussagen entwickelte ein US-Amerikaner in den 1920er Jahren den sog. Polygraphen. Gestützt auf der Annahme, die Aussprache einer Lüge erhöhe den Blutdruck, misst der „Vielschreiber“ verschiedene physiologische Prozesse. Eine derartige Begeisterung wie in seinem Heimatland konnte der Polygraph in Deutschland nicht verzeichnen. So dauerte es bis in die 1950er Jahre bis eine Diskussion zum technischen „Gedankenlesen“ entstand 9. Im Jahre 1998 sollte diese durch das zweite BGH-Urteil 10 zum Polygraph endgültig beendet werden.

Anfang des 21. Jahrhunderts machten neurowissenschaftliche Studien zum Thema Messung von Gedanken und Empfindungen im Gehirn, vor allem aus den USA, auf sich aufmerksam. Hier wurde nun nicht mehr „mittelbar“ anhand des peripheren Nervensystems getestet, wie es beim Polygraphen der Fall war, sondern „unmittelbar“ im Gehirn des Probanden. Wie auch beim „Lügendetektor“ der 1930er Jahre herrschte in Deutschland erneut Skepsis und Ablehnung, ganz im Gegensatz zu den USA, wo eine breite Debatte zum Thema losbrach, die auch von Juristen geführt wurde 11. Zunächst beschränkten sich die Untersuchungen auf die Suche nach Korrelaten zwischen Verhaltensdeviation wie Pädophilie, Psychopathie, Änderungen in der Hirnmorphologie oder Hirnstoffwechsel, bis sich schließlich daraus eine Art „neue Generation von Lügendetektoren“ 12 entwickelte 13. Möglich ist dies durch sog. bildgebende Verfahren und Hirnscans. Doch kann man der Lüge einen genauen Ort im Gehirn zuschreiben?

Der vorliegende Artikel wird zunächst auf die medizinisch-technischen Grundzüge der bildgebenden Verfahren eingehen und diese anhand zweier verschiedener Methoden vorstellen und erfolgte Studien analysieren. Sodann werden die gewonnenen Erkenntnisse in den deutschen Strafprozess einbezogen, kritisch hinterfragt und anhand des Gesetzes bearbeitet. Schließlich soll ein Fazit gezogen werden, welches durch einen Ausblick auf Künftiges ergänzt wird.

B. Grundverständnis zu den medizinisch-technischen Verfahren

„Hab ich des Menschen Kern erst untersucht, so weiß ich auch sein Wollen und sein Handeln.“

(Friedrich Schiller, Wallenstein)

Die Hirnforschung stellt eine interdisziplinäre Wissenschaft aus Medizin, Psychologie und Biologie dar.

Um sich materiell-strafrechtlichen Diskussionen zum Thema bildgebende Verfahren stellen zu können, ist ein Grundverständnis der medizinisch-technischen Abläufe unerlässlich.

Zunächst soll in einem kurzen Rückblick der Polygraph vorgesellt werden, um schließlich auf die bildgebenden Verfahren einzugehen.

I. Der Polygraph – ein Rückblick

Anfang des 20. Jahrhunderts rückte die Wissenschaft der Psychophysiologie erstmals ins Blickfeld der Öffentlichkeit, als Überlegungen aufkamen, psychophysiologische Untersuchungen für juristische Zwecke einzusetzen 14.

Zunächst ist der Begriff der Psychophysiologie zu definieren. Dabei handelt es sich um eine Wissenschaft, die die Untersuchung psychologischer Prozesse in einem intakten Organismus mittels Messung an sich unsichtbarer physiologischer Prozesse anstrebt 15. Die wohl bekannteste Apparatur zur Messung von physiologischen Prozessen ist der sog. Polygraph. Seine Entwicklung geht auf den US-Amerikaner William M. Marston zurück, der unter der Grundidee, die Aussprache einer Lüge erzeuge eine Stresssituation mit der damit verbundenen Nervosität, die physiologischen Parameter Herzfrequenz, Atmung und Leitfähigkeit der Haut misst 16. Da Störreize den Probanden ablenken und die Aufzeichnungen beeinflussen, werden die Tests in einem separaten Untersuchungsraum von einem Gutachter geführt und nicht etwa im Gerichtssaal 17.

Grundsätzlich werden verschiedene Verfahren zur Lügendetektion eingesetzt. Besondere Bedeutung kommen jedoch zwei Methoden zu: dies sind der Kontrollfragentest (Control Question Test: CQT, dt. KWT), bei dem ein Fragekatalog bestehend aus neutralen Fragen, relevanten Fragen zum Tatvorwurf und Kontrollfragen zum Einsatz kommt,  und das Tatwissensverfahren (Guilty Knowledge Test GKT, dt. TWT), in dem der potentielle Täter konkret mit Ermittlungsdetails konfrontiert wird, die nur der Täter und die Ermittler wissen können 18.

Obwohl einige Befürworter der Polygraphie mit sehr hohen Trefferquoten von z.T. mehr als 90% aufwarten, um die Vertrauenswürdigkeit dieses Testverfahrens zu belegen, ist die Aussagekraft von Untersuchungen der Glaubwürdigkeit mit Hilfe des Polygraphen stets von großer Skepsis begleitet worden 19. Der Einsatz eines Polygraphen im Strafverfahren wird international unterschiedlich gehandhabt, so ist seine Verwendung in den meisten europäischen Ländern meist generell untersagt 20. In den USA genießt der Polygraph vor allem bei privaten Sicherheitsfirmen und dem Verteidigungsministerium hohes Ansehen und wurde Schätzungen zu Folge jährlich ca. 40.000 Mal als Test herangezogen 21, unter anderem auch zur Terrorismusbekämpfung und im Auslandseinsatz als Instrument für Verhöre von Verdächtigen 22.

II. Bildgebende Verfahren

Im Jahr 2000 schrieben die Neurowissenschaftler Kathleen O´Craven und Nancy Kanwisher: „Unsere Daten zeigen zum ersten Mal, dass der Inhalt eines einzelnen Gedanken allein durch seine Kernspin-Signatur erschlossen werden kann“ 23.

Funktionale bildgebende Verfahren, deren Aufgabe die Messung der Gehirnaktivität ist, haben in der Hirnforschung eine große Zahl neuer Erkenntnisse über die physiologischen Funktion des Gehirn ermöglicht 24. Bildgebende Verfahren werden als eine Methode definiert, welche kein originäres Relatum in ein Bild übersetzt – abbildet – , vielmehr visualisiert sie einen Vorgang, den sie gleichzeitig als Phänomen erst erstellt. Die dabei aufwendig generierten Bilder sind Ergebnisse eines indirekten Verfahrens und nicht, wie die Fotographie, die Abbildung von etwas Bestehendem 25. Dabei nimmt die Neurowissenschaft mit Hilfe bildgebender Verfahren für sich in Anspruch, das Wesen des Menschen nunmehr endgültig zu klären 26.

Zu den bildgebenden Verfahren (Imaging-Techniken) zählen zahlreiche Anwendungen, wie zum Beispiel die Röntgenographie, die Computertomographie (CT) oder die optischen Bildgebungsverfahren (DOI, EROS) 27.

Im Folgenden sollen eine Methode vorgestellt werden, mit der zum größten Teil gearbeitet wird, die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT). Aus Kosten-, Gesundheits- oder Technikgründen eignen sich andere Verfahren derzeit weniger. Die bildgebenden Verfahren erzeugen eine enorme Suggestivkraft und leisten eine im Vergleich zu rein schriftlichen Darstellungsweisen gesteigerte Überzeugungsarbeit in puncto Vertrauenswürdigkeit in die neurowissenschaftliche Forschungsdienste 28. So seien Tomographenbilder symbolische Bilder, die im Wesentlichen durch ihren Bilderkontext und ihre umgebende Kultur bestimmt und so unglücklicherweise einem weiten Interpretationsspielraum ausgeliefert sind 29.

Die funktionelle Magnetresonanztomographie 30 ist eine spezielle Form der Magnetresonanztomographie 31. Im Unterschied zur MRT, die aufgrund ihrer hohen räumlichen Auflösung vor allem in der Diagnostik eingesetzt wird, ist die fMRT hauptsächlich in der Forschung vertreten. Die MRT erzeugt dabei Schnittbilder, während die fMRT auch die Funktionen der bestimmten Hirnareale anzeigt – daher auch der Begriff funktionelle Magnetresonanztomographie.

1. Erfolgte Studien und deren Erkenntnisse

Mit dem fMRT sind bereits zahlreiche Studien zum Thema Wahrheitssuche und Lügendetektion durchgeführt worden. Dabei schwanken die Aussagen über die Zuverlässigkeit der Methode zur Lügendetektion teilweise drastisch.

a. Daniel Langleben et al. (2002) 32

Im Jahr 2002 machte der Neurowissenschaftler Daniel Langleben von der University of Pennsylvania in Philadelphia auf sich aufmerksam, als er sich mit Hirnscans auf die Wahrheitssuche begab. Mittels fMRT, welches erstmalig zu diesem Zwecke eingesetzt wurde, untersuchte er in einen Gruppenexperiment Probanden, die den Besitz von bestimmten Spielkarten leugnen sollten. Durch eine Software, die die fMRT-Bilder der unterschiedlichen Aktivierungsmuster im Kopf der Studenten auswertete, konnte Langleben 7 von 10 Lügner überführen 33. Bei den gelogenen Aussagen kam es dabei laut Langleben zu einer signifikanten Signalzunahme im vorderen Teil des Gehirns (linker anteriorer singulärer Gyrus zum mittleren rechten superioren frontalen Gyrus (SFG)) 34, was dafür spreche, dass ein anderes Verhalten zugunsten eines tatsächlichen Verhaltens ausgeführt werde, sprich die wahre Aussage zugunsten der Lüge unterdrückt werde. Des Weiteren wurde das Hirnareal im Bereich der oberen Hirnseite in der vorderen Mitte (vom präfrontalen zum dorsalen prämotorischen Kortex) und in der Hirnmitte (intraparietalen Sulcus) 35 aktiviert, welches für vermeidendes Verhalten sowie negative Affekte stehe.

Die fMRT stelle durch die gewonnenen Erkenntnisse ein geeignetes Mittel zur „Lügendetektion“ dar 36.

b. Andrew Kozel et al. (2005) 37

In der von Andrew Kozel durchgeführten Studie aus dem Jahre 2005 wurden gesunde Probanden aus dem universitären Umfeld aufgefordert, ein „Scheinverbrechen“ zu begehen. Vor der Untersuchung sollten sie in einem abgetrennten Raum eine Uhr oder einen Ring stehlen und dies später leugnen. Die fMRT-Scans zeigten erneut eine signifikante Aktivität in den Hirnarealen, die auch in vorherigen Studien bei der „Lüge“ aktiviert waren (anteriorer Gyrus cinguli, orbifrontalen Kortex und dorsolateraler präfrontaler Kortex).

Im Vergleich zu bisherigen Studien war neben der Erkenntnis, dass Wahrheit und Lüge andere Hirnareale aktivieren, auch von großer Bedeutung, dass  sich Ergebnisse aus Gruppenstudien auf Einzelpersonen übertragen lassen 38.

c. John-Dylan Haynes et al. (2007) 39 und weitere Untersuchungen

John-Dylan Haynes vom Bernstein Center for Computational Neuroscience (BCCN) in Berlin veröffentlichte 2007 ein Experiment, in dem er mit 70-prozentiger Trefferquote durch fMRT sagen konnte, ob eine Person mit zwei präsentierten Zahlen eine Subtraktion oder Addition durchführen wolle 40. Zwar ging es in diesem Experiment nicht um die „Lügendetektion“ und Wahrheitsfindung als solche, sondern vielmehr um „das Lesen verdeckter Absichten im menschlichen Gehirn“. Dennoch zeigte die Untersuchung auf eindrucksvolle Weise, wie es bereits gelingt, in vermeintlich verborgene Bereiche des Menschen vorzudringen 41.

Kürzlich ließ er verlauten, er könne mittels MRT mit 85-prozentiger Genauigkeit dem Scan entnehmen, ob Probanden einen Ort aus der virtuellen Realität kennen, denn „Orte hinterlassen eine ähnlich unverkennbare Signatur im Gehirn wie Objekte“ 42.

Ähnliches zeigten auch Untersuchungen von Wissenschaftlern der Stanford University. So unterscheiden sich laut Jesse Rissmann die Hirnaktivitätsmuster der Probanden bei Gesichtern, die sie als neu identifizierten von jenen Mustern, die auftraten, wenn Gesichter als bekannt wahrgenommen wurden 43.

2. Bereits erfolgter Einsatz im deutschen Strafprozess

Die Feststellung der Glaubwürdigkeit einer Zeugenaussage stand im Zentrum der psychologischen Begutachtung von Hans J. Markowitsch im Jahr 2000 44.

Einer jungen Frau wurde mit einem Baseballschläger (oder ähnlichem Gegenstand) der Schädel zertrümmert. Laut ihrer Aussage habe sie ihren damaligen Ex-Freund als Täter identifizieren können. Es sei ein Racheakt, habe sie sich doch erst kürzlich von ihm getrennt. Das Opfer war als Hausmädchen bei einem bettlägerigen, vermögenden Herrn angestellt. Dieser wurde nach der schweren Körperverletzung ebenfalls mit dem Gegenstand angegriffen und tödlich verletzt. Weitere Beweise als die Aussage der Frau waren nicht gegeben, sodass es wesentlich auf die Glaubwürdigkeit des Opfers ankam. Da die Anklage auf Mord bzw. Mordversuch angesetzt war, wurden zur Glaubwürdigkeitsuntersuchung psychologische Gutachter hinzugezogen. Einer von ihnen war der heutige Bielefelder Universitätsprofessor Hans J. Markowitsch. Durch die schweren Verletzungen am Kopf zweifelte das Gericht die Aussagen des Opfers an, war doch das Hirngebiet hinter dem Schädel geschädigt, was für Neurologen die Vermutung nahe legte, die Patientin könnte zu Konfabulationen neigen, also die Geschichte erfinden 45.

Nachdem die intellektuell-kognitiven Funktionen untersucht wurden, um eine Art Profilbildung zu machen, wurde auch eine fMRT durchgeführt 46.

Wenn die Frau angab, sich an bestimme Dinge zu erinnern, wies das Gehirn genau die Aktivierungen auf, die für bewusste, selbst erlebte Episoden typisch sind (Erkenntnisse aus Untersuchungen von normalen Probanden), sodass die Frau im Stande war, die Wahrheit zu erzählen und das tat sie auch 47. Besonders im Bereich der rechten Amygdala, welcher im Teil des limbischen System als Verarbeiter emotionsgeladener Aspekte gesehen wird, wurde bei wahren autobiographischen Erinnerungen signifikante Aktivität beobachtet 48. Der Täter wurde zu lebenslanger Haft verurteilt 49.

C. Einbeziehung in den Strafprozess

„In der nächsten Dekade wird ein Verfahren vorhanden sein, das reliable und valide Ergebnisse liefert und somit auch vom BGH nicht ignoriert werden kann.“

(Hans J. Markowitsch) 50

Gemäß § 244 II StPO hat das Gericht zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind. Dabei entscheidet das Gericht über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung,  § 261 StPO.

Die gewonnenen Ergebnisse zum Thema Lügendetektion mittels bildgebender Verfahren aus Teil B müssen also für die gerichtliche Entscheidung von Bedeutung sein.

Eine wesentliche Rolle spielt zunächst, wie sich die deutschen Gerichte bisher zum „klassischen Lügendetektor“, dem Polygraphen, geäußert haben. Diese Ausführungen gilt es schließlich auf die bildgebende Verfahren zu adaptieren.

I. Rechtsprechung zum Polygraphen

Im Folgenden wird auf zwei BGH-Urteile 51 und ein Urteil des BVerfG 52 eingegangen. Sodann wird als aktuelle Rechtsprechung auf eine Entscheidung des OLG Dresden und auf Entscheidungen des AG Bautzen verwiesen.

1. BGHSt 5, 332 (1954)

Die erste Entscheidung des BGH zum Thema Zulässigkeit einer polygrafischen Untersuchung  im Strafverfahren erging am 16. Februar 1954.

Die Staatsanwaltschaft beantragte in diesem Fall die Einholung eines Gutachtens auf Grundlage eines Polygraphentests. Der Angeklagte zeigte sich einverstanden. Da das erstellte Gutachten ihn belastete, wurde er schließlich vom LG Zweibrücken verurteilt.

Der BGH lehnte in seinem Urteil jedoch die Untersuchung mit dem Polygraphen sowohl für das Ermittlungs- als auch für das Hauptsacheverfahren ab, ohne dabei Rücksicht auf das Einverständnis des Beschuldigten zu nehmen.

Dabei stützte sich der BGH nicht auf wissenschaftliche Erwägungen zur Brauchbarkeit, sondern stellte allein auf rechtliche Grundsätze ab 53.

Der Beschuldigte sei Beteiligter und nicht Gegenstand des Verfahrens und nur in diesem Rahmen sei er bestimmten Untersuchungen und Beschränkungen unterworfen wie z.B. in §§ 81, 81a StPO festgelegt. Über die Menschenwürde aus Art. 1 I GG und § 136a StPO sei die Entschließungsfreiheit des Beschuldigten für seine Einlassung geschützt und würde in jeder Verfahrensphase unangetastet bleiben 54. Dementsprechend müsse dem Beschuldigten bei der Vernehmung das Ob und auch das Wie seiner Antwort überlassen werden, ohne dass dabei auftretende unbewusste Äußerungen, wie etwa ein Erröten oder Schwitzen, vom Gericht anders als im alltäglichen Umgang wahrgenommen werden könnten 55. Ein solcher Einblick in die Seele des Beschuldigten sei im Strafverfahren wegen eines Verstoßes gegen die Freiheit der Willensentschließung und –betätigung gem. § 136a StPO unzulässig.

Neben dem Verstoß gegen die Norm wurde ebenfalls erwähnt, dass für den Einsatz naturwissenschaftlicher Methoden im Strafverfahren entscheidend sei, ob im Hinblick auf ihre Voraussetzungen wissenschaftliche Erfahrungssätze unangefochten feststünden 56. Weiter lägen im vorliegenden Fall keine ausreichenden Ergebnisse über Auswertungsmethoden und -richtlinien vor.

2. BVerfG – Beschluss zum „Lügendetektor“ (1981) 57

Am 18. August 1981 befasste sich das BVerfG erstmalig mit dem „Lügendetektor“. Somit sind mehr  als 25 Jahre seit dem ersten BGH Urteil ergangen, ehe die Gerichte erneut zur Zulässigkeit des Polygraphen Stellung bezogen.

Jedoch ging es nun um eine entgegengesetzte Fallkonstellation. So wehrte sich der Beschwerdeführer (im Folgenden mit Bf. abgekürzt) nicht gegen die Verwertung von mit Polygraphie erlangter Aussagen, sondern er stritt dafür, um seine Unschuld unter Beweis zu stellen 58.

Der Bf. war vom LG Mannheim (Urt. V. 2.6 1980 – 2 KLs 3/80) zu lebenslanger Freiheitsstrafe wegen Mordes in Tateinheit mit versuchter Vergewaltigung verurteilt worden.

Dieses Urteil beruhte auf Indizien, denn man fand zahlreiche Spuren des Angeklagten am Tatort. Belastende Zeugenaussagen existierten hingegen nicht. In dieser Lage sah der Bf. im Test mit dem Polygraphen die einzige Chance, einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu entgehen.

Der Vorprüfungsausschuss des BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde mangels Erfolgsaussichten nicht zur Entscheidung an. Die „Durchleuchtung“ der Person, welche die Aussage als deren ureigenste Leistung entwertet und den Untersuchten zu einem bloßen Anhängsel eines Apparates werden lasse, greife in unzulässiger Weise in das durch Art. 2 I i.V. mit Art 1 I GG geschützte Persönlichkeitsrecht des Betroffenen ein, das der Wahrheitsforschung im Strafverfahren Grenzen setze 59. Anders als in der BGH-Entscheidung von 1954 wurde nun nicht mehr auf die menschenunwürdige Behandlung abgestellt, sondern auf das Allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I i.V. mit Art. 1 I GG.

Weiter fehlten überwiegende Interessen der Allgemeinheit oder des Bf., welche den Eingriff in den Kernbereich der Allgemeinen Persönlichkeitsrechte rechtfertigen würden. Auch lasse die Trefferquote des Polygraphen von 90% höchstens ein Wahrscheinlichkeitsurteil zu, was nicht ausschließe, dass der konkret Untersuchte bei negativem Testergebnis dennoch der Täter sein kann.

Auch ändere die Einwilligung des Bf. nichts an der Unzulässigkeit, denn eines Schutzes gegen staatliche Eingriffe bedarf nur derjenige nicht, der wählen könne. Diese Freiheit habe der von empfindlicher Freiheitsstrafe bedrohte Angeklagte tatsächlich nicht, sie sei daher nicht freiwillig und daher unwirksam 60.

Die Ausführungen stießen in der Literatur auf heftige Kritik. Die Erklärungen des BVerfG seien „eine so klägliche Begründung und fast schlechter als gar keine“ 61 bzw. „ein Beschluss von äußerster Dürftigkeit“ 62. Das Gericht sei der Komplexität des Falls nicht gerecht geworden 63. Inhaltlich habe sich der Vorprüfungsausschuss mit der Besonderheit, dass der Polygraph zur Entlastung eingesetzt werden sollte, nicht ausreichend auseinander gesetzt 64.

3.  BGHSt 44, 308 (1998)

Rund 45 Jahre nach der ersten BGH-Entscheidung 65, musste sich der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofes erneut mit der Frage der Zulässigkeit des Polygraphen im Strafverfahren befassen. Anlass war die Verfahrensrüge eines wegen sexuellen Kindesmissbrauchs vom LG Mannheim Verurteilten (im Folgenden mit V abgekürzt). V hatte in der Hauptverhandlung vor dem LG Mannheim zur Widerlegung der ihm zur Last gelegten Vorwürfe eine polygraphische Untersuchung beantragt, welche vom LG abgelehnt wurde.

Die Entscheidung des BGH distanziert sich in der Argumentation von der bisherigen Rspr., bleibt jedoch im Ergebnis gleich.

a. Kein Verstoß gegen die Menschenwürde aus Art. 1 I GG

Zunächst sei der Einsatz eines Polygraphen vor Gericht kein Verstoß gegen die Menschenwürde gemäß Art. 1 I GG, da dem Untersuchenden kein „Einblick in die Seele des Beschuldigten“ gewährt sei 66, wie der BGH früher noch angenommen hatte 67. Dies ergebe sich auch daraus, dass es dem Gericht erlaubt sei, nicht steuerbare Körperreaktionen (wie starke Schweißbildung oder Erröten) zu verwerten 68. Weiter bleibe die Subjektstellung des Beschuldigten unangetastet, auch wenn er an ein Messgerät angeschlossen sei, hierzu aber sein Einverständnis erklärt habe.

Nach einhelliger wissenschaftlicher Meinung gebe es schließlich keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen kognitiven oder emotionalen Zuständen und spezifischen körperlichen Reaktionen, vor allem löse das Lügen keine bestimmte, eindeutige körperliche Reaktion aus („no specific lie response“) 69.

b. Kein Verstoß gegen § 136a StPO

Laut BGH liege auch kein Verstoß gegen die Willensentschließung und Willensbetätigung nach § 136a StPO vor. Eine direkte Anwendung der Norm scheide ohnehin aus, falle die Polygraphie doch nicht unter die in der Norm genannten verbotenen Vernehmungsmethoden 70. Auch eine analoge Anwendung scheide auf Grund der mangelnden Eingriffsintensität der Polygraphie aus, so sei der Schweregrad nicht erreicht (wie etwa bei Narkose oder Narkoanalyse) und die Vergleichbarkeit daher nicht gegeben 71. Folglich sei auch die Einwilligung in die Durchführung nach § 136a III StPO unbeachtlich.

c. Ungeeignetheit des Beweismittels

Im Ergebnis sei die Polygraphie ein ungeeignetes Beweismittel nach § 244 III S. 2 Var. 4 StPO.  Der BGH unterscheidet in seinen Ausführungen den Tatwissenstest (TWT) und den Kontrollfragentest (KFT). Vor der Entscheidung wurden Gutachten von vier Experten eingeholt 72.

Der TWT funktioniere nur, wenn die dem Beschuldigten als Antwort vorgeschlagenen Tatdetails nicht bekannt seien, weil andernfalls die ausschlaggebenden Orientierungen auch bei einem Nichttäter zu erwarten seien 73. Dies sei zumindest zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung nicht der Fall – z.B. durch Akteneinsicht des Strafverteidigers-, sodass eine Verwendung des Tatwissensverfahrens in diesem Verfahrensstadium nach allgemeiner Ansicht ausscheiden müsse 74.

Den Umkehrschluss, dass ein solcher Test eventuell im Ermittlungsverfahren durchgeführt werden könnte, hat das Gericht offenbar bewusst nicht ausdrücklich zu ziehen gewagt 75.

Der KFT sei in den maßgebenden Fachkreisen nicht allgemein und zweifelsfrei als richtig und zuverlässig eingestuft worden, sodass ihm kein indizieller Beweiswert zukomme 76. Weiter verweist der BGH erneut auf den nicht existenten Zusammenhang von  emotionalen Zuständen und entsprechenden Reaktionsmustern („no specific lie response“). Schließlich geht der BGH auf die Erstellung der Kontrollfragen ein, welche fehleranfällig sind, was dazu führen kann, dass auch für den Unschuldigen die tatbezogenen Fragen eine höhere Belastung darstellen als die Kontrollfragen selbst. Daher seien Kontrollfragen nicht standardisierbar 77.

Diese Auffassung wurde vom 3. Strafsenat des BGH in einem Anschlussurteil vom 10.02.1999 bekräftigt 78. Auch der Zivilsenat bezeichnete die polygraphische Untersuchung als völlig ungeeignetes Beweismittel 79

4. Aktuelle Rechtsprechung zum Polygraphen

Im Jahr 2013 wurden in mehreren Verfahren die Zulässigkeit des Polygraphen vor Gericht bestätigt 80. So sei die polygraphische Untersuchung nunmehr zuverlässig. Daher stehe die Entscheidung auch nicht im Widerspruch zum BGH-Urteil 81, da der Bundesgerichtshof seine Entscheidung von der Zuverlässigkeit der psychophysiologischen Methode abhängig gemacht habe 82.

Als Voraussetzung für den Einsatz im Strafverfahren muss die polygraphische Untersuchung in einem geordneten gerichtlichen oder staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren nach erklärter Freiwilligkeit angeordnet worden sein. Dieser freiwillige Test muss unter Laborbedingungen mindestens vier Parameter messen und von einem zertifizierten Sachverständigen durchgeführt werden, sodass die Aufzeichnungen fachgerecht interpretiert werden können. Das Verfahren muss weiter die Tatfrage betreffen und das Befundergebnis darf lediglich zur Entlastung des Angeklagten verwendet werden 83.

II. Bildgebende Verfahren im Strafprozess

Es soll nun versucht werden, die gewonnenen Erkenntnisse aus der Rechtsprechung zum Einsatz des Polygraphen auf die bildgebenden Verfahren anzuwenden. Dabei werden Probleme bei dem Versuch der Adaption zu konkretisieren sein. Zunächst muss geklärt werden, wie objektiv, valide und reliabel die Testergebnisse der bildgebenden Verfahren überhaupt sind.

1. Validität und weitere offene Fragen

Trotz der teilweise vielversprechenden Resultate in den Studien, räumen selbst die zuversichtlichsten Autoren der Studien Bedenken gegen die Verlässlichkeit ihrer Resultate ein 84.

a. Validität

So sei laut Langleben et al. eine Mehrdeutung von Testergebnissen möglich, denn bei Untersuchungen zum Arbeitsgedächtnis waren teilweise dieselben Areale im Hirn aktiv, wie bei täuschendem Verhalten, sodass Zweifel an der Validität der bisherigen Studien aufkommen. Bis heute ist kein sog. „Lügenzentrum“ im Hirn lokalisiert worden. Auch ist jedes Hirn und seine Aktivität eine Art persönlicher Fingerabdruck, also höchst individuell und einzigartig 85.

Weiter erfolgten bis heute kaum Studien, die die Aufdeckung einer Lüge in einer Einzelperson zum Ziel hatten; größtenteils wurden die Ergebnisse über mehrere Personen ermittelt und daraus ein Mittelwert erstellt 86. In der Forensik gehe es aber um jeden Einzelfall und nicht um den Durchschnitt einer Untersuchungsgruppe 87.

b. Falsche Erinnerungen

Ein grundsätzliches Problem jeder Art der Lügendetektion lag bisher in der Voraussetzung, dass die untersuchte Person überhaupt in der Lage ist, zwischen Wahrhaftigkeit und Lüge zu unterscheiden 88. Wenn der Proband nicht erkennen kann, dass seine falsche Vorstellung von der Wirklichkeit sich nicht mit der objektiven Wirklichkeit deckt, würde auch ein zuverlässiger Test eine objektive Lüge nicht als solche erkennen, sondern sie im Gegenteil als subjektive Wahrheit ausweisen 89. Das gleiche Problem ergibt sich dementsprechend für den Beschuldigten, der sich für den Täter hält, obwohl er objektiv unschuldig ist. Er würde der Lüge überführt werden, sofern er die Tatbeteiligung leugnet, obwohl er objektiv die Wahrheit sagt. Neue Studien deuten nun zum ersten Mal auch auf experimenteller Basis darauf hin, dass es mit hirnbildgebenden Verfahren möglich sein könnte zu unterscheiden, ob sich eine Person fehlerinnert; was es bei einem möglichen Einsatz zu berücksichtigen gilt 90.

c. Manipulation

Über die Manipulierbarkeit der Hirnscans mittels fMRT ist bisher wenig bekannt 91. Jedoch wollen manche Studien belegt haben, dass durch bildgebende Verfahren jene Areale des Hirns sichtbar gemacht werden können, die bei bewusst unterdrückten Gefühle angeblich aktiviert werden, sodass eine etwaige Manipulation deutlich erschwert werde 92.

Zu einem anderen Ergebnis kam ein Forscherteam um Anthony Wagner von der Stanford University 93. Hier ging es zwar nicht um „Lügendetektion“ im eigentlichen Sinne, vielmehr wurde ein Gedächtnistest mittels fMRT durchgeführt. Dennoch zeigten die Ergebnisse, dass auch ein moderner MRT manipulierbar ist. Die Teilnehmer trugen mehrere Wochen digitale Kameras um den Hals, die ca. 45.000 Fotos aus dem Leben der Probanden schossen. Diese Bilder wurden mit Kontrollmaterial gemischt, also mit Bildern, die den Untersuchten fremd waren. Mit dem fMRT wurde nun untersucht, ob den Probanden ein jeweiliges Bild vertraut oder fremd war. Dabei wurde eine Trefferquote von erstaunlichen 91% erzielt. Dramatisch änderte sich jedoch das Ergebnis, als die Probanden aufgefordert wurden, bei einem vertrauten Gesicht an ein fremdes zu denken und umgekehrt. „Wir waren nicht mehr fähig festzustellen, ob jemand ein Gesicht erkennt oder nicht“, berichtete Anthony Wagner und führte weiter aus, es sei also noch zu früh, über einen möglichen Einsatz von Gedankenlesern im Gerichtssaal zu entscheiden 94.

Ebenfalls wirken sich Kopfbewegungen extrem störend auf die bildgebenden Verfahren mittels fMRT aus, sodass zwingend notwendig ist, dass sich der Proband kooperativ verhält.

2. Zwischenergebnis zu bildgebende Verfahren im Strafprozess

Trotz der vorgebrachten Probleme und offenen Fragen lohnt es sich, einen möglichen Einsatz bildgebender Verfahren genauer zu untersuchen und etwaige Kollisionspunkte mit dem Gesetz zu beleuchten.

Im Folgenden wird dazu ein technisches Verfahren auf Basis der fMRT vorausgesetzt, welches vom BGH nicht mehr als „völlig ungeeignete“ 95 Methode nach § 244  III S. 2 Var. 4 StPO zu beurteilen wäre und auch „in den maßgeblichen Fachkreisen“ 96 zweifelsfrei als richtig und zuverlässig eingestuft werden würde 97. Auch sei, wie bereits ausgeführt, die Gefahr der Auswertung einer Fehlerinnerung nicht mehr gegeben 98.

3. Verstoß gegen Normen und rechtliche Bedenken

Es wird von einem einverständlich durchgeführten fMRT-Gutachten ausgegangen, welches im Hauptverfahren zur Entlastung des Beschuldigten durchgeführt wird.

a. Verstoß gegen § 244 III S. 1 StPO – rechtliche Unzulässigkeit der Beweiserhebung

Auf Grund des numerus clausus der Beweismittel wäre ein bildgebendes Verfahren kein eigenständiges Beweismittel im Sinne der Strafprozessordnung sondern ein Untersuchungsverfahren im Rahmen des Sachverständigenbeweises nach §§ 72 ff. StPO.

Die Fragen, ob der Angeklagte sich mittels eines bildgebenden Verfahrens entlasten kann, richtet sich somit nach § 244 III, IV StPO. Die völlige Ungeeignetheit des Beweismittels nach § 244 III S. 2 Var. 4 StPO wird vorliegend nicht untersucht, da die Geeignetheit unterstellt wird.

Die Ablehnung des Beweisantrags auf Vernehmung eines Sachverständigen nach § 244 IV S. 1 StPO wird im Folgenden ebenfalls nicht weiter untersucht, da hierfür kaum rationale Kriterien für eine ausgewogene Beurteilung zu finden sind und die Beurteilung mit dem  Selbstbild der Tatrichter zusammenhängt 99.

Der Beweisantrag auf Untersuchung mittels bildgebender Verfahren könnte aber abzulehnen sein, sofern er unzulässig ist, § 244 III S. 1 StPO.

Eine Beweiserhebung ist unzulässig, wenn sie Rechtsvorschriften widerspricht 100. Ein Verstoß des einverständlich durchgeführten bildgebenden Verfahrens im Rahmen des Sachverständigenbeweises könnte sich zunächst gemäß § 136a StPO aus strafprozessualen Normen ergeben oder  aber aus verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, in Form einer Grundrechtsverletzung des Angeklagten bzw. weil vorrangige Belange der Allgemeinheit oder überwiegende Interessen Dritter beeinträchtigt wären 101.

b. Verstoß gegen § 136a StPO

Der aus dem Rechtsstaatsprinzip und Art. 6 I 1 EMRK abzuleitende Grundsatz des „fair trail“, sowie das Gebot der Achtung der Menschenwürde verbieten es, die Wahrheit um jeden Preis zu ermitteln 102.

Gemäß § 136a StPO darf die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung des Beschuldigten nicht beeinträchtigt werden, wobei die Aufzählung der verbotenen Vernehmungsmethoden in § 136a I StPO nicht abschließend ist 103.

aa. Anwendungsbereich

Außer für Strafverfolgungsorgane gilt § 136a StPO für Sachverständige, die zur Bearbeitung ihres Gutachtens Beschuldigte oder Zeugen untersuchen und dabei Befundtatsachen feststellen 104. Da sie von den Strafverfolgungsbehörden bestellt worden sind, um die Aufklärung des Sachverhalts zu fördern, dürfen sie sich ebenso wenig wie ihre Auftraggeber unerlaubter Mittel bedienen, um Beschuldigte oder Zeugen zum Reden zu bringen 105.

Anwendung findet § 136a StPO nur auf Vernehmungen 106. Vernehmungen sind amtliche Befragungen von Beschuldigten sowie von Zeugen und Sachverständigen in Bezug auf die Beschuldigung (§ 136a I S. 2 StPO) oder den Gegenstand der Untersuchung (§ 69 I S.2, § 72 StPO) im Rahmen eines Strafverfahrens 107.

Fraglich ist, ob eine „Lügendetektion“ mittels bildgebender Verfahren eine Befragung oder vielmehr eine körperliche Durchsuchung nach § 81a ff StPO darstellt. § 136a StPO kann aber nur auf die bildgebenden Verfahren angewandt werden, sofern diese eine Befragungsmodalität sind 108.

Peters sah in der Polygraphie keine Variante einer Vernehmung. So zeichne diese Methode physische Phänomene aus und sei daher eine körperliche Untersuchung, die auf Grund ihrer Eigenart aber auch nicht unter die § 81a ff. StPO falle 109.

Um die bildgebenden Verfahren als körperliche Untersuchung iSd § 81a StPO klassifizieren zu können, müsste diese Methode die Feststellung der Beschaffenheit des Körpers oder einzelner Körperteile bzw. die Suche innerhalb des Körpers nach etwas intendieren, sprich der Körper des Betroffenen müsste zum „Augenscheinobjekt“ gemacht werden 110.

Im Unterschied zur Polygraphie messen die bildgebenden Verfahren keine physiologischen Reaktionen, sondern versuchen die Motive einer Aussage sichtbar zu machen. Daher steht nicht die Feststellung körperlicher Reaktionen im Zentrum, sondern vielmehr die Aufzeichnung einer Aussage, sodass der Körper beim bildgebenden Verfahren nicht zum „Augenscheinobjekt“ gemacht wird. Ein neurowissenschaftlicher Lügendetektortest ist somit als Befragung zu qualifizieren, die durch Amtspersonen durchgeführt wird und daher eine Vernehmung im Sinne des § 136a StPO darstellt 111.

bb. Direkte Anwendung

Fraglich ist, ob bildgebende Verfahren mit fMRT einen körperlichen Eingriff darstellen bzw. ihnen eine Täuschung innewohnt, sodass § 136a I S. 1 StPO direkt anzuwenden wäre.

In seiner BGH-Entscheidung hat das Gericht bereits beim Polygraphen keine Ausführungen dazu gemacht, ob dieses Verfahren einen körperlichen Eingriff darstellen könnte 112. Somit scheidet dies auch für ein nicht invasives Verfahren mittels Magnetresonanztomographie aus, in dem lediglich Vorgänge im Gehirn beobachtet werden 113. Teilweise wurde bei der Polygraphenuntersuchung mit dem Kontrollfragentest dem Probanden eine höhere Zuverlässigkeit als die Tatsächliche vorgespielt. Welche Methode bei einem etwaigen fMRT angewandt wird, kann man noch nicht vorhersagen 114, es ist aber im Unterschied zur Polygraphie nicht nötig, ein Spannungslevel über Zuverlässigkeit und Wirksamkeit zu erzeugen; es sei vielmehr möglich, den Probanden umfassend über die Modalität des Verfahrens aufzuklären 115.

Das Merkmal der Täuschung aus § 136a I StPO ist nach Ansicht des BGH  zudem restriktiv auszulegen 116. Somit ist weder das Merkmal der Täuschung noch ein körperlicher Eingriff iSd § 136a I S. 1 StPO gegeben. Eine direkte Anwendung scheidet daher aus.

cc. Analoge Anwendung

Möglich wäre es, den § 136a StPO analog auf die bildgebenden Verfahren anzuwenden. Für eine Analogie in diesem Falle bedarf es eines Fallkatalogs, der nicht abschließend ist; weiter müssten die nicht erwähnten Methoden mit den explizit genannten qualitativ vergleichbar sein und schließlich keine anderweitige Regelung im Gesetz erfahren haben (sog. planwidrige Regelungslücke) 117.

Schon angeführt wurde, dass der Katalog des § 136a StPO nicht abschließend ist. Auch liegt eine Gesetzeslücke vor, so ist die „Lügendetektion“ in keiner Norm ausdrücklich geregelt. Somit muss untersucht werden, ob diese mittels bildgebender Verfahren qualitativ mit den in § 136a  StPO aufgeführten Methoden vergleichbar ist.

Wie bereits erwähnt, schützt § 136a StPO die Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung. So wird die Hypnose explizit aufgeführt und auch die Narkoanalyse fällt einhellig unter die Norm der verbotenen Methoden 118.

Hinsichtlich des Polygraphen nahm der BGH in seinem Urteil aus dem Jahre 1998 119 keine analoge Anwendung des § 136a I StPO an, da eine Vergleichbarkeit zum Schweregrad der Hypnose nicht gegeben war, denn diese Methode schalte den Willen gerade zu aus, wovon bei der Polygraphie nicht die Rede sein kann.

Bezogen auf die bildgebenden Verfahren kann nichts anderes gelten, denn auch hier ist der Proband in vollem Umfang handlungs- und willensfähig. Es ist kein Kontrollentzug gegeben, vor dem § 136a I StPO zu schützen versucht.

Bereits erwähnt wurde auch die mögliche Manipulierbarkeit der bildgebenden Verfahren. Ein solches Verfahren ist nur mit einem kooperativen Probanden möglich. Weiter besteht kein Zwang, sich einem psychologischen Test oder einer neurowissenschaftlichen Untersuchung zu unterziehen, denn Zwang verfälscht die Zuverlässigkeit. Außerdem ist ein bildgebendes Verfahren nicht wesentlich verschieden zu anderen psychologischen Untersuchungen zur Glaubwürdigkeit, Konfabulationstendenzen oder Persönlichkeitszügen. Im Ergebnis kann auch der Sachverständige sein Urteil kurz fassen, so muss er prinzipiell nur eine Aussage über die allgemeine Glaubwürdigkeit verlieren, nicht aber über einzelne Fragen, die die Privatsphäre des Probanden betreffen 120.

Somit liegt bei den bildgebenden Verfahren zur Lügendetektion wie schon bei der Polygrafie nicht der vergleichbare Schweregrad zu den Methoden des § 136a I StPO vor, sodass bildgebende Verfahren nicht unter den Anwendungsbereich der Norm fallen.

dd. Ergebnis

Die bildgebenden Verfahren beeinträchtigen nicht die Willensentschließung und Willensbetätigung des Beschuldigten. Im Ergebnis ist damit auch die mögliche Einwilligung des zu Untersuchenden nach § 136 a III StPO unbeachtlich.

c. Verletzung der Menschenwürde

Möglicherweise verletzt die Methode der bildgebenden Verfahren die Menschenwürde gemäß Art. 1 I GG. Einen allgemein akzeptierten, dogmatisch präzisen Rechtsbegriff der Menschenwürde, der über die allgemeinen Aussagen zu Bedeutung, Rechtscharakter und Rang  hinausginge, gibt es nicht 121.

Im vorliegenden Fall der bildgebenden Verfahren sei angemerkt, dass als Ausdruck verfassungsstaatlicher Freiheit die Individualität, Identität sowie die physische, psychische und moralische Integrität des Menschen zu respektieren sind 122.

aa. Erfolgte Rechtsprechung zur Polygraphie

Um eine Aussage über die mögliche Verletzung der Menschwürde durch bildgebende Verfahren treffen zu können, muss erneut die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Polygraphen angeführt werden.

In seinem ersten Urteil zur Polygraphie sah der BGH die Menschenwürde aus Art. 1 I GG verletzt, weil es die Freiheit der Willensentscheidung und –betätigung verletze 123. Die Einwilligung spiele keine Rolle, da die Menschenwürde nicht aus der individuellen Autonomie, sondern aus den Interessen deines Kollektivsubjekts abgeleitet werde 124.

Diese Ansicht wurde vom BGH in der zweiten Grundsatzentscheidung selbst widerlegt. Dem Bürger gegenüber, sofern er zeitweise seine Rechte aufgebe, um dauerhaft seine Freiheit aus Art. 2  II GG zu sichern, sei der Staat sogar dazu verpflichtet, diesem Aufopferungsangebot Folge zu leisten, wenn dies das letzte Mittel dieser Sicherung darstelle 125.

bb. Anwendung der Argumente auf bildgebende Verfahren

Im Unterschied zur Polygraphie versuchen bildgebende Verfahren nicht mittels körperlichen Reaktionen auf die Qualität der Aussage zu schließen, sondern sie untersuchen, ob das Gehirn die Aktivität der Wahrheit oder Lüge aufweist 126. Es geht somit nicht um die Ermittlung des Inhalts, sondern um die Qualifikation des Gedankens, also um die statistische Relation zwischen dem Aussprechen der Unwahrheit und einer bestimmten Gehirnaktivität 127.

Daher liegt auch kein „Ausforschen des Innersten“ oder der Verlust der Kontrolle des Einzelnen über Art und Umfang seiner „Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit“ vor 128.

cc. Gegen den Willen

Laut Beck sei zu beachten, dass Staatsanwaltschaft und Gericht typischerweise gegen den Willen des  Beschuldigten/Angeklagten ermitteln, sodass auch ein Test gegen den Willen des zu Untersuchenden nicht gegen die Menschenwürde verstoße 129. Dies komme aber auf Grund der möglichen Manipulierbarkeit wohl nicht in Betracht, da die fMRT wie gesehen zwingend einen kooperativen Probanden benötigt 130.

Spranger hingegen verneint die Untersuchung mit bildgebenden Verfahren, die durch Zwang vom Staat veranlasst werden 131.

dd. Ergebnis

Vorliegend wurde eine einverständlich durchgeführte fMRT untersucht.

Diese „Lügendetektion“ mittels bildgebender Verfahren verletzt nicht die Menschenwürde aus Art. 1 I GG 132.

d. Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts

In der jüngsten BGH-Entscheidung 133 zur Polygraphie ging das Gericht nicht auf eine mögliche Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts (im Folgenden als APR abgekürzt) gemäß Art. 2 I iVm. Art 1 I GG ein, was zunächst verwundert, war das APR doch ein wichtiger Bestandteil des Vorprüfungsausschusses des BVerfG im Jahre 1981 134. Um eine mögliche Verletzung des APRs durch bildgebende Verfahren annehmen zu können, müsste zunächst der Schutzbereich des Grundrechts eröffnet sein.

aa. Schutzbereich

In den Schutzbereich des APRs fällt die Integrität der menschlichen Person in geistig-seelischer Beziehung 135. So ist auch die informationelle Selbstbestimmung und die Beobachtung und Interpretation der eigenen Gehirnaktivität erfasst 136. Die bildgebenden Verfahren als Ermittlung und Auswertung staatlicher Informationserhebung und deren Verarbeitung von Gehirnprozessen, fallen somit in den Schutzbereich des APRs gemäß Art. 2 I iVm  Art. 1 I GG 137.

bb. Einwilligung

Allgemeine Ansicht ist, dass das APR prinzipiell zur Disposition des Einzelnen steht 138. Diese Einwilligung muss aber „echt freiwillig“ erfolgen, d.h. der Betroffene dürfte nicht auch nur unter mittelbarem Zwang stehen. Dies wurde auch schon bei der Polygraphie angezweifelt, so lasse das Damoklesschwert einer strafrechtlichen Sanktion die echte Freiwilligkeit bei der Entscheidung für oder gegen einen solchen Test, nicht sehr wahrscheinlich erscheinen 139. Auch wenn der Beschuldigte objektiv nicht gezwungen ist, so kann er sich subjektiv dennoch so fühlen, da es für ihn auf die Überzeugung der Sinnhaftigkeit eines solchen Tests nicht mehr ankommt 140.

Dies stellt aber einen eklatanten Widerspruch dar, wenn gerade das Grundrecht, das dem Einzelnen nach allgemeiner Auffassung speziell die Möglichkeit autonomer Selbstentfaltung garantiert, der Verfügungsgewalt des Betroffenen entzogen wird 141.

Somit ist eine Einwilligung in den Grundrechtsverzicht zur Glaubwürdigkeitsuntersuchung mittels bildgebender Verfahren zulässig und möglich.

cc. Reichweite des Eingriffs

Geht man von der Meinung aus, dass ein wirksamer Verzicht auf die Grundrechtsposition des APRs im Zusammenhang mit Lügendetektion ausgeschlossen ist, bleibt zu prüfen, ob ein Eingriff in den Schutzbereich des Rechts durch einen Lügendetektortest vorliegt und ob dieser verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann.

Das APR unterliegt dem Schrankenvorbehalt des Art. 2 1 GG, jedoch darf es nur soweit eingeschränkt werden, wie es den Menschenwürdekern unberührt lässt. Diese Kernbereichslehre, die aus Art 1 I GG im Zusammenhang mit den rechtsstaatlichen Garantien der Art. 19 II GG sowie Art. 79 III GG abgeleitet wird, besagt, dass das Grundgesetz einen Schutz für einen unantastbaren und damit jedem staatlichen Zugriff endgültig entzogenen Kernbereich der Persönlichkeitssphäre des Einzelnen für jedes Grundrecht intendiert 142. Fraglich ist somit, ob die bildgebenden Verfahren diesen Kernbereich berühren. In seiner Entscheidung über den Gebrauch von Tagebuchaufzeichnungen verwendete das BVerfG den Begriff des „mittelbaren Gedankenlesens“ 143. Dies meint lediglich die Bewertung der Qualität, also die Frage nach dem „Ob“, nicht jedoch nach Gefühlen, also nach dem „Wie“. Diese Unterscheidung lässt sich auch auf die bildgebenden Verfahren anwenden 144. Befasst man sich nur mit der Frage, ob Lüge oder Wahrheit bei einer Aussage vorliegt, ohne dabei die Qualität des Gedankens, also das „Wie“ zu untersuchen, so berühren die bildgebenden Verfahren nicht den Kern des APRs 145.

dd. Ergebnis

Eine Glaubwürdigkeitsbetrachtung mittels bildgebender Verfahren verstößt daher nicht gegen das Allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I iVm Art. 1 I GG des Angeklagten.

 

D. Fazit und Ausblick

„Die funktionelle Magnetresonanztomographie dürfte angesichts des aktuellen Forschungsstands auf absehbare Zeit keine Relevanz in Strafverfahren haben.“

(Antwort des Bundestages Petition 13841 vom 30.6. 2010)

Zweifelsohne ist die Neurowissenschaft eine faszinierende Reise zu unserem inneren Wesen. Erklärungen für unser Verhalten zu finden ist wohl seit Anbeginn der Zeit ein Wunsch aller Menschen. Durch die neuen Erkenntnisse der Hirnforschung haben sich scheinbar zahllose neue Wissenschaften erschlossen, so sprechen wir heute über Neuroethik, Neurobiologie oder Neurophilosophie. Die Jahre 1990 bis 2000 wurden als Dekade des Gehirns ausgerufen und auch heute bringen Regierungen Milliarden auf, um die Forschung auf diesem Gebiet voranzutreiben.

Das Gehirn und seine Prozesse betreffen uns alle und so war es nur eine Frage der Zeit, bis auch die Rechtswissenschaften mit der Neurologie aufeinandertreffen und scheinbar eine Art „Neurorecht“ aufkommt 146.

Kritische Stimmen äußern sich bereits zur auswuchernden Verbreitung von Neurowissenshaften 147. Interessanterweise sind es Neurologen, die versuchen, den Enthusiasmus zu bremsen. Die Neurologie stecke noch in Kinderschuhen, warnen sie.

Vorsichtig und voller Skepsis wagen sich Juristen zögerlich an die Hirnforschung. Immerhin stehen viele der Grundansichten des deutschen Strafrechts auf dem Prüfstand: Der Handlungsbegriff und der damit verbundene freie Wille oder der Schuldbegriff, der als wesentlicher Kern des deutschen Strafrechts anerkannt ist.

Auch diese Arbeit zeigt, wie schwierig es ist, die gewonnenen Erkenntnisse der Neurostudien in ein juristisches Korsett zu drängen. Stehen wir kurz vor der Verbannung des Richters aus dem Saal und ersetzen ihn durch eine Maschine? „Ich rufe den Zeugen in den Magnetresonanztomographen“, schrieb Susanne Donner und machte auf die Gefahr aufmerksam, die solche Methoden bringen könnten.

Derzeit gibt es keine Studien, die eine zuverlässige Aussage über die Glaubwürdigkeit von Aussagen mittels bildgebender Verfahren belegen. Auch sind die Trefferquoten von über 90% bei Cephos und NoLieMRI mit Vorsicht zu genießen, verfolgen diese Firmen doch einen kommerziellen, nicht wissenschaftlich-juristischen Zweck.

Selbst wenn in ferner Zukunft ein bildgebendes Verfahren entwickelt wird, welches eine absolute Sicherheit bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit liefern würde, wäre dieses im gerichtlichen Kontext zu betrachten. Die Beurteilung der getroffenen Aussage muss immer anhand des genauen Sachverhalts gesehen werden und an ihm bemessen werden. Diese Tätigkeit kann nur ein Richter vollziehen und darf auch nur von diesem als Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips unternommen werden.

Nichtsdestoweniger schließen sich Neurowissenschaften und Rechtswissenschaften nicht als oxymorale Tätigkeiten aus. Vielmehr muss wie bisher der Konsens statt Dissens im Vordergrund stehen. Das fordert von den Juristen eine offene, aber kritische Haltung und von Neurowissenschaftlern geduldiges Verhalten mit zuverlässigen Erkenntnissen, die sich im Kontext der juristischen Felder homogen einfügen lassen.

Nach bisherigem Kenntnisstand verstoßen bildgebende Verfahren nicht gegen deutsches Recht oder die Verfassung. Dennoch birgt diese Methode Unstimmigkeiten. Man bedenke nur den Zwang, der einem Beschuldigten auferlegt wird, sofern er einer bildgebenden Untersuchung nicht zustimmt. Sein Recht auf Aussageverweigerung gebietet ihm das, doch würde es ihm zwangsläufig negativ ausgelegt werden.

Auch ist der Kostenfaktor bisher ungeklärt. Die Verfahren sind aufwendig und nicht überall durchführbar. Hier liegt eine weitere Schwierigkeit der realistischen Umsetzung vor.

Möglicherweise haben diese Bedenken auch zum allmählichen Verebben der Diskussion über bildgebende Verfahren im Strafprozess geführt, wurde diese doch im Zeitraum der letzten Dekade heftig geführt. Nachdem auch die USA, welche als Vaterland für Technik und Sicherheit gilt, juristisches Bedenken geäußert haben, rudern auch Neurowissenschaftler zurück.

Die Hirnforschung steht noch am Anfang ihrer Tätigkeit und somit auch ihre Auswirkung auf das Rechtssystem. Diese Erkenntnis brachte auch der ablehnende Beschluss einer vom Bundestag eingereichten Petition zum Thema: Einsatz der Magnetresonanztomographie als Beweismittel vor Gericht. Dieser wurde lediglich von 776 Mitunterzeichnern unterstützt, was auf eher geringes Interesse schließen ließ. Der Bundestag verkündete, dass eine solche Petition gar nicht nötig sei, da eine gesetzliche Einzelzulassung wissenschaftlicher Methoden nicht erfolgreich ist.

Von größerer Bedeutung ist allerdings der Verweis des Petitionsausschusses, dass laut Bundesministerium für Justiz (BMJ) die Methode der fMRT wissenschaftlich umstritten sei, sie keine hinreichende Verlässlichkeit aufweise und von geringem kriminaltechnischen Nutzen sei. Des Weiteren bestehe eine berechtigte Gefahr von Fehlurteilen, sodass nach aktuellem Forschungsstand auf absehbare Zeit keine Relevanz im Strafverfahren gegeben ist. Dies zeigt, dass man der Methode der fMRT nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber steht, sondern vielmehr derzeit keinen Handlungsbedarf sieht.

Dies könnte sich aber bei weiterentwickelten Methoden ändern, sodass ein Einsatz bildgebender Verfahren im Strafprozess in Zukunft, wenn auch nicht sehr bald, nicht unwahrscheinlich ist.

* Der Autor ist Student der Rechtswissenschaften im siebten Semester an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Die vorliegende Arbeit (in gekürzter und überarbeiteter Form) entstand im Rahmen des kriminologischen Seminars des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg mit dem Titel „Neurowissenschaften, Strafrecht und Kriminologie“ unter der Leitung von Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Jörg Albrecht im Sommersemester 2015. Derzeit befindet sich der Autor zum Auslandsstudium an der Universität Bergen in Norwegen.


Fußnoten:

  1. Beulke, Strafprozessrecht, 2010 Rn. 3.
  2. Neuhaus/Artkämper, Kriminaltechnik und Beweisführung im Strafrecht, 2014, Rn. 1.
  3. Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 2007, Rn. 2.
  4. vgl. Langleben, Detection of deception with fMRI, Are we there yet?, Legal and Criminological Psychology 13 (2008), S. 1.
  5. Odyniec, Entlarvt – In der Lüge liegt die Wahrheit, in: Süddeutsche Zeitung, 19. Mai 2010.
  6. Gall/Spurzheim, Untersuchgen über die Anatomie des Nervensystems überhaupt, und des Gehirns insbesondere, 2001, S. 427 f.
  7. Meier, Kriminologie, 2010, § 2 Rn. 6.
  8. Vgl. Markowitsch/Siefer, Tatort Gehirn, 2007, S. 126.
  9. BHGSt 5, 322 ff.
  10. BGHSt 44, 308 ff.
  11. Greely/Illes, Neuroscience-Based Lie Detection: The Urgent Need for Regulation, in: American Journal of Law and Medicine Vol. 33 (2007) No. 2 & 3: 377 – 431.
  12. Stallmach, Moderne Lügendetektoren schauen ins Gehirn, in: Neue Zürcher Zeitung, 17. 2. 2010.
  13. Markowitsch/Merkel, Das Gehirn auf der Anklagebank, in: Zukunft Gehirn – Neue Erkenntnisse neue Herausforderungen – Ein Report der Max-Planck-Gesellschaft, 2011, S. 12.
  14. Schneider, Der Einsatz bildgebender Verfahren im Strafprozess, 2010, S. 14.
  15. Furedy, Operational, analogical and genuie definitions pf psychophysiology, in: International Journal of Psychopysiology, 1 (1983), S. 13 ff.
  16. Schneider, ebenda, S. 15.
  17. Vehrs, in: Willutzki/Salzgeber, Polygraphie – Möglichkeiten und Grenzen der psychophysiologischen Aussagebegutachtung, 2000, S. 21 ff.
  18. Schneider, ebenda, S. 17 ff.; Delvo, Der Lügendetektor im Strafprozess der USA, 1981, S.30, 42.
  19. Stübinger, Lügendetektor ante portas, in: ZIS – Zeitschrift für internationale Rechtsdogmatik, 11/ 2008 S. 538, 542.
  20. Matz, ZaöRV 59 (1999), 1107, 1144 ff.
  21. Baskin u.a., American Journal of Law & Bioethics 33 (2007), 265.
  22. Vgl. Marks, American Journal of Law & Bioethics 33 (2007), 485 in Fn. 19.
  23. Stallmach, Moderne Lügendetektoren schauen ins Gehirn, in: Neue Zürcher Zeitung, 17.2.2010.
  24. Beck, Unterstützung der Strafermittlung durch Neurowissenschaften? JZ 2006, 146.
  25. Fitsch, … dem Gehirn beim Denken zusehen? Sicht- und Sagbarkeiten in der funktionellen Magnetresonanztomographie, 2014, S. 16.
  26. Jäcke, Methoden der Bildgebung in der Psychologie und den kognitiven Neurowissenschaften, 2005, S. 219.
  27. Bliem, Biologische Psychologie, 2013, S. 63.
  28. Stübinger, Lügendetektor ante portas, in: ZIS – Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik 11/2008, S. 538, 548.
  29. Grau, Gott, die Liebe und die Mohrrübe, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 41, 71, 2003.
  30. Im Folgenden als fMRT abgekürzt.
  31. Im Folgenden als MRT abgekürzt.
  32. Langleben et al., Brain Acivity during simulated Deception: An Event-Related Functional Magnetic Resonance Study, in: Neuroimage 15 (2002), 727-732.
  33. Donner, Alles, was sie jetzt denken, in: Technology Review, 04.02.2013.
  34. Langleben et al., ebenda, S. 730.
  35. Langleben et al., ebenda, S. 730.
  36. Schneider, ebenda, S. 94.
  37. Kozel et al., Detecting Detecting Using Ductional Magnetic Resonance Imaging, in: Biological Psychiatry 58 (2005), 605 – 613.
  38. Schneider, ebenda, S. 97.
  39. Haynes et al., Reading Hidden Intentions in the Human Brain, in: Current Biology 17 (2007): 323 – 328.
  40. Stallmach, Moderne Lügendetektoren schauen ins Gehirn, in: Neue Zürcher Zeitung, 17.2.2010.
  41. Schneider, ebenda, S. 98.
  42. Donner, Alles, was sie jetzt denken, in: Technology Review, 04.02.2013.
  43. Schulte von Drach, Zweifel am Lügendetektor, in: Süddeutsche Zeitung, 16.12.2010.
  44. Markowitsch et al., Right amygdalar and temporofrontal activiosn during autobiographic, but not during fictinous memory retrieval, in: Behaviourl Neurology 12 (2000), 181-190.
  45. Markowitsch/Siefer, Tatort Gehirn, 2007, S.73.
  46. Markowitsch, Test und bildgebende Verfahren zur Wahrheitsfindung, Telepolis v. 28.08.2007.
  47. Markowitsch/Siefer, Tatort Gehirn, 2007, S. 74.
  48. Schneider, ebenda, S. 91.
  49. Markowitsch, Tests und bildgebende Verfahren zur Wahrheitsfindung, Telepolis, v. 28.08.2007.
  50. Mündliche Mitteilung des Neuwissenschaftlers Markwowitsch an Seiterle, in: Seiterle: Hirnbild und „Lügendetektion“, 2010, S. 99.
  51. BGHSt 5, 332 ff., BGHSt 44, 308 ff.
  52. BVerfG NStZ 1981, 446 ff (mit Anm. Amelung, in: NStZ 1982, 38 ff.).
  53. BHGSt 5, 332, 333.
  54. BGHSt 5, 332, 334.
  55. Schneider, ebenda, S. 63.
  56. Dazu auch BGHSt 5, 34, 36.
  57. NJW 1982, 375.
  58. Schneider, ebenda, S.63.
  59. NJW 1982, 375.
  60. NJW 1982, 375.
  61. Schwabe, NJW 1982, 367.
  62. Schwabe, NJW 1982, 367
  63. Amelung ,NStZ 1982, 38
  64. Amelung, JR 1999, 382, 383.
  65. BGHSt 5, 332 ff.
  66. BGHSt 44, 308, 315.
  67. BGHSt 5, 332, 335.
  68. BGHSt 44, 308, 316.
  69. BGHSt 44, 308, 316.
  70. BGHSt 44, 308, 317.
  71. BGHSt 44, 308, 319.
  72. Abgedruckt in PraxisRPsych 9 (Sonderheft) 1999.
  73. BGHSt 44, 308, 327.
  74. BGHSt 44, 308, 327f.
  75. Stübinger, Lügendetektor Ante Portas, in: ZIS – Zeitschrift für Strafrechtsdogmatik 11/2008, S. 538, 547.
  76. BGHSt 44, 308, 319.
  77. BGHSt 44, 308, 321.
  78. Schneider, ebenda, S. 66; BGH NStZ-RR 20000, 35 ff.
  79. BGH NJW 2003, 2527.
  80. Vgl. OLG Dresden Beschluss v. 14.5.2013, 21 UF 787/12 (BeckRS 2013, 16540); AG Bautzen, Beschluss v. 28.1.2013 12, F 1032/12 (BeckRS 2013, 16541); AG Bautzen Urteil v. 26.3. 2010, 40 Ls 330 Js 6351/12 (BeckRS 2013, 08655)
  81. BGHSt 44, 308 ff.
  82. Hertle, „Freispruch dank Lügendetektor“, in: Sächsische Zeitung, 27.3.2013, S.6
  83. Vgl. AG Bautzen Urteil v. 26.3. 2010, 40 Ls 330 Js 6351/12 (BeckRS 2013, 08655)
  84. Schneider, ebenda, S. 99.
  85. Seiterle, Lügendetektor im Strafprozess: Weit entfernt vom “Einblick in die Seele”. In: Legal Tribune ONLINE, 08.11.2010, http://www.lto.de/persistent/a_id/1879/ (abgerufen am 28.02.2015); Schneider, ebenda, S. 102.
  86. Langleben et al., Human Brain Mapping 26 ( 2005): 262 – 272 (263)
  87. Weber, „Die Gedanken sind noch frei“, in: Süddeutsche Zeitung SZ, 18. April 2013.
  88. Seiterle, ebenda,S. 97.
  89. Vgl. Langleben/Dattilio/Guthei, Journal of Psychiatry and the Law 34 (3), 2006, 351.
  90. Seiterle, ebenda, S. 98.
  91. Vgl. Schneider, ebenda S. 10.
  92. Markowitsch et al., Right amygdalar and temporofrontal activation during autobiographic, but not during fictinous memory retrieval, in: Behavioural Neurology 12 (2000): 181 – 190.
  93. Weber, Die Gedanken sind noch frei, in: Süddeutsche Zeitung SZ 18. April 2013.
  94. Weber, Die Gedanken sind noch frei, in: Süddeutsche Zeitung SZ 18. April 2013.
  95. BGHSt 44, 308 ff.
  96. BGHSt 44, 308 ff.
  97. BGHSt 44, 308 ff.
  98. Vgl. Ausführungen unter C. II 1. b. „Falsche Erinnerungen“.
  99. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 2015, Rn. 255; Seitele, ebenda, S. 103.
  100. SK-StPO, § 244 Rn. 104 – Frister.
  101. Vgl. Seitele, ebenda, S. 104.
  102. BGHSt 5, 332, 333; 38, 215, 219.
  103. Beulke, Strafprozessrecht, 2010, Rn. 130.
  104. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 2015, Rn. 629.
  105. Löwe-Rosenberg, StPO, § 136a Rn. 8 – Gleß.
  106. Löwe-Rosenberg, StPO, § 136a, Rn. 15 – Gleß
  107. Löwe-Rosenberg, StPO, §136a, Rn. 15 – Gleß.
  108. Schneider, ebenda, S. 154.
  109. Peters, Eine Antwort auf Undeutsch: Die Verwertbarkeit unwillkürlicher Ausdruckserscheinungen bei der Aussagewürdigung, in: ZStW 87 (1975), 663, 671, 674 f.
  110. KK-StPO, § 81a Rn.1 – Senge.
  111. vgl. Schneider, ebenda, S. 155.
  112. Vgl BGHSt 44, 308 ff.
  113. Seiterle, ebenda, S. 117.
  114. Seiterle, ebenda, S. 118
  115. Schenider, ebenda, S. 156.
  116. BGHSt  (GS) 42, S. 139, 149 m.w.N.
  117. Rüthers, Rechtstheorie, 2008, Rn. 889 ff.
  118. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 2015, Rn. 649.
  119. BGHst 44, 308 ff.
  120. vgl. Schneider, ebenda, S.  156 ff.; Seiterle, ebenda, S. 118 ff.
  121. Dreier, GG, Art. 1 I, Rn 52 – Dreier.
  122. Dreier, GG, Art. 1 I, Rn. 62 – Dreier.
  123. BGHSt 5, 332, 334.
  124. Kargel/Kirsch, JUS 2000, 537, 539
  125. Amelung, NSTz, 1982, 38, 39.
  126. Beck, JR 2006, 146, 149
  127. Beckermann, in: Jahrbuch Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen 2002/2003, 25f.
  128. Schneider, ebenda, S. 133.
  129. Beck, JR 2006, 146, 149
  130. Vgl. Ausführungen Manipulation unter C. II. 1. c.
  131. Spranger, JZ 2009, 1033,1036.
  132. Vgl. Beck, JR 2006, 146 ff.; Schneider, ebenda, S. 134; Seiterle, ebenda, S. 154.ff; Spranger, JZ 2009, 1033,1036.
  133. BGHSt 44, 308 ff.
  134. BVerfG (Vorprüfungsschauschuss) NJW 1982, 375.
  135. v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art 2 I Rn. 86 – Starck.
  136. Maunz/Dürig, Art. 2 I Rn. 173ff – Di Fabio.
  137. Dreier, GG, Art 2 I Rn. 83 – Dreier.
  138. BVerfGE 27, 344, 352; BVerfGE 65, 1,42
  139. Peters, ebenda, 666.
  140. Schneider, ebenda, S. 141.
  141. Seiterle, ebenda, S. 157
  142. Laber, Die Verwertbarkeit von Tagebuchaufzeichnungen im Strafverfahren, Frankfurt a.M. 1995, S. 58
  143. BVerfG NJW 1990, 563, 564 f.
  144. Schneider, ebenda, S. 143.
  145. Schneider, ebenda, S. 143; Im Ergebnis auch: Seiterle, ebenda, S. 233f.
  146. Schleim/Spranger/Walter, Von der Neuroethik zum Neurorecht?, 2009, S. 7
  147. Ayan, „Mancher leidet am Gehirn-Übertreibungssyndrom“, bei: spektrum.de, 19.3.2012.

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Bildgebende Verfahren, Beweisführung und Glaubwürdigkeit

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Julian Busche*

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A. Einleitung in die Thematik

„Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.“

(Georg Büchner, Dantons Tod, 1. Akt)

Über das Ziel des deutschen Strafprozesses besteht Einigkeit: Es soll eine in materiell-rechtlicher Hinsicht richtige und damit gerechte Entscheidung über die Strafbarkeit des Beschuldigten gefunden werden 1. Vorrangiges Mittel zur Erreichung dieses Zwecks ist die Erforschung der Wahrheit 2. Doch wie erfolgt diese „Erforschung“? Welche Mittel sind zulässig, damit der Richter gerecht entscheiden kann? Basis der richterlichen Entscheidung sind zum großen Teil Zeugenaussagen. Beachtet man, dass die völlig fehlerfreie Aussage vor Gericht eher die Ausnahme als die Regel ist 3, kommt der Frage nach der Wahrheitserforschung eine besondere Bedeutung zu.

Der Wahrheitssuche vor Gericht standen oft technische Errungenschaften oder Hilfsmittel der entsprechenden Zeit zur Seite, um eine möglichst objektive Forschung zu betreiben 4. So gibt es Erzählungen aus dem alten China, wie man vor 3000 Jahren dem Verdächtigen eine Handvoll ungekochten Reis in den Mund legte, um auf den Wahrheitsgehalt seiner Aussage schließen zu können: Konnte er diesen aufgrund der Trockenheit seines Mundes und Halses nicht schlucken, galt er als schuldig 5.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde auf der Suche nach Verhalten und Verbrechen erstmals dem Gehirn und seiner Anatomie Bedeutung beigemessen. Die von seinem Begründer Joseph Gall als Phrenologie bezeichnete Lehre versuchte, geistige Fähigkeiten und psychische Eigenarten mit äußeren Merkmalen der Schädeloberfläche in Verbindung zu bringen 6. Weitere Erkenntnisse auf dem Gebiet der Verknüpfung von kriminologischen Verhalten und biologischen Besonderheiten gelangen dem italienischen Forscher Cesare Lombroso und seinem Schüler Enrico Ferri Mitte des 19. Jahrhunderts 7.

Im Jahre 1848 sorgte der Arbeitsunfall des zuverlässigen und beliebten Vorarbeiters einer Eisenbahngesellschaft  Phineas Gage für Aufsehen. Eine 3cm dicke Eisenstange durchbohrte seinen Kopf vom linken Kiefer bis zum linken Auge. Dabei wurde Gehirnmasse herausgeschleudert. Er überlebte den Vorfall, wurde jedoch in seiner Persönlichkeit radikal verändert: so berichtete man von einem launischen, unzuverlässigen und unberechenbaren Menschen nach dem Unfall. Dies zeigte erstmals in eindrucksvoller Weise, dass für Persönlichkeitszüge und Sozialverhalten bestimme Hirnareale verantwortlich sind 8.

Auf der Suche nach dem Wahrheitsgehalt von Aussagen entwickelte ein US-Amerikaner in den 1920er Jahren den sog. Polygraphen. Gestützt auf der Annahme, die Aussprache einer Lüge erhöhe den Blutdruck, misst der „Vielschreiber“ verschiedene physiologische Prozesse. Eine derartige Begeisterung wie in seinem Heimatland konnte der Polygraph in Deutschland nicht verzeichnen. So dauerte es bis in die 1950er Jahre bis eine Diskussion zum technischen „Gedankenlesen“ entstand 9. Im Jahre 1998 sollte diese durch das zweite BGH-Urteil 10 zum Polygraph endgültig beendet werden.

Anfang des 21. Jahrhunderts machten neurowissenschaftliche Studien zum Thema Messung von Gedanken und Empfindungen im Gehirn, vor allem aus den USA, auf sich aufmerksam. Hier wurde nun nicht mehr „mittelbar“ anhand des peripheren Nervensystems getestet, wie es beim Polygraphen der Fall war, sondern „unmittelbar“ im Gehirn des Probanden. Wie auch beim „Lügendetektor“ der 1930er Jahre herrschte in Deutschland erneut Skepsis und Ablehnung, ganz im Gegensatz zu den USA, wo eine breite Debatte zum Thema losbrach, die auch von Juristen geführt wurde 11. Zunächst beschränkten sich die Untersuchungen auf die Suche nach Korrelaten zwischen Verhaltensdeviation wie Pädophilie, Psychopathie, Änderungen in der Hirnmorphologie oder Hirnstoffwechsel, bis sich schließlich daraus eine Art „neue Generation von Lügendetektoren“ 12 entwickelte 13. Möglich ist dies durch sog. bildgebende Verfahren und Hirnscans. Doch kann man der Lüge einen genauen Ort im Gehirn zuschreiben?

Der vorliegende Artikel wird zunächst auf die medizinisch-technischen Grundzüge der bildgebenden Verfahren eingehen und diese anhand zweier verschiedener Methoden vorstellen und erfolgte Studien analysieren. Sodann werden die gewonnenen Erkenntnisse in den deutschen Strafprozess einbezogen, kritisch hinterfragt und anhand des Gesetzes bearbeitet. Schließlich soll ein Fazit gezogen werden, welches durch einen Ausblick auf Künftiges ergänzt wird.

B. Grundverständnis zu den medizinisch-technischen Verfahren

„Hab ich des Menschen Kern erst untersucht, so weiß ich auch sein Wollen und sein Handeln.“

(Friedrich Schiller, Wallenstein)

Die Hirnforschung stellt eine interdisziplinäre Wissenschaft aus Medizin, Psychologie und Biologie dar.

Um sich materiell-strafrechtlichen Diskussionen zum Thema bildgebende Verfahren stellen zu können, ist ein Grundverständnis der medizinisch-technischen Abläufe unerlässlich.

Zunächst soll in einem kurzen Rückblick der Polygraph vorgesellt werden, um schließlich auf die bildgebenden Verfahren einzugehen.

I. Der Polygraph – ein Rückblick

Anfang des 20. Jahrhunderts rückte die Wissenschaft der Psychophysiologie erstmals ins Blickfeld der Öffentlichkeit, als Überlegungen aufkamen, psychophysiologische Untersuchungen für juristische Zwecke einzusetzen 14.

Zunächst ist der Begriff der Psychophysiologie zu definieren. Dabei handelt es sich um eine Wissenschaft, die die Untersuchung psychologischer Prozesse in einem intakten Organismus mittels Messung an sich unsichtbarer physiologischer Prozesse anstrebt 15. Die wohl bekannteste Apparatur zur Messung von physiologischen Prozessen ist der sog. Polygraph. Seine Entwicklung geht auf den US-Amerikaner William M. Marston zurück, der unter der Grundidee, die Aussprache einer Lüge erzeuge eine Stresssituation mit der damit verbundenen Nervosität, die physiologischen Parameter Herzfrequenz, Atmung und Leitfähigkeit der Haut misst 16. Da Störreize den Probanden ablenken und die Aufzeichnungen beeinflussen, werden die Tests in einem separaten Untersuchungsraum von einem Gutachter geführt und nicht etwa im Gerichtssaal 17.

Grundsätzlich werden verschiedene Verfahren zur Lügendetektion eingesetzt. Besondere Bedeutung kommen jedoch zwei Methoden zu: dies sind der Kontrollfragentest (Control Question Test: CQT, dt. KWT), bei dem ein Fragekatalog bestehend aus neutralen Fragen, relevanten Fragen zum Tatvorwurf und Kontrollfragen zum Einsatz kommt,  und das Tatwissensverfahren (Guilty Knowledge Test GKT, dt. TWT), in dem der potentielle Täter konkret mit Ermittlungsdetails konfrontiert wird, die nur der Täter und die Ermittler wissen können 18.

Obwohl einige Befürworter der Polygraphie mit sehr hohen Trefferquoten von z.T. mehr als 90% aufwarten, um die Vertrauenswürdigkeit dieses Testverfahrens zu belegen, ist die Aussagekraft von Untersuchungen der Glaubwürdigkeit mit Hilfe des Polygraphen stets von großer Skepsis begleitet worden 19. Der Einsatz eines Polygraphen im Strafverfahren wird international unterschiedlich gehandhabt, so ist seine Verwendung in den meisten europäischen Ländern meist generell untersagt 20. In den USA genießt der Polygraph vor allem bei privaten Sicherheitsfirmen und dem Verteidigungsministerium hohes Ansehen und wurde Schätzungen zu Folge jährlich ca. 40.000 Mal als Test herangezogen 21, unter anderem auch zur Terrorismusbekämpfung und im Auslandseinsatz als Instrument für Verhöre von Verdächtigen 22.

II. Bildgebende Verfahren

Im Jahr 2000 schrieben die Neurowissenschaftler Kathleen O´Craven und Nancy Kanwisher: „Unsere Daten zeigen zum ersten Mal, dass der Inhalt eines einzelnen Gedanken allein durch seine Kernspin-Signatur erschlossen werden kann“ 23.

Funktionale bildgebende Verfahren, deren Aufgabe die Messung der Gehirnaktivität ist, haben in der Hirnforschung eine große Zahl neuer Erkenntnisse über die physiologischen Funktion des Gehirn ermöglicht 24. Bildgebende Verfahren werden als eine Methode definiert, welche kein originäres Relatum in ein Bild übersetzt – abbildet – , vielmehr visualisiert sie einen Vorgang, den sie gleichzeitig als Phänomen erst erstellt. Die dabei aufwendig generierten Bilder sind Ergebnisse eines indirekten Verfahrens und nicht, wie die Fotographie, die Abbildung von etwas Bestehendem 25. Dabei nimmt die Neurowissenschaft mit Hilfe bildgebender Verfahren für sich in Anspruch, das Wesen des Menschen nunmehr endgültig zu klären 26.

Zu den bildgebenden Verfahren (Imaging-Techniken) zählen zahlreiche Anwendungen, wie zum Beispiel die Röntgenographie, die Computertomographie (CT) oder die optischen Bildgebungsverfahren (DOI, EROS) 27.

Im Folgenden sollen eine Methode vorgestellt werden, mit der zum größten Teil gearbeitet wird, die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT). Aus Kosten-, Gesundheits- oder Technikgründen eignen sich andere Verfahren derzeit weniger. Die bildgebenden Verfahren erzeugen eine enorme Suggestivkraft und leisten eine im Vergleich zu rein schriftlichen Darstellungsweisen gesteigerte Überzeugungsarbeit in puncto Vertrauenswürdigkeit in die neurowissenschaftliche Forschungsdienste 28. So seien Tomographenbilder symbolische Bilder, die im Wesentlichen durch ihren Bilderkontext und ihre umgebende Kultur bestimmt und so unglücklicherweise einem weiten Interpretationsspielraum ausgeliefert sind 29.

Die funktionelle Magnetresonanztomographie 30 ist eine spezielle Form der Magnetresonanztomographie 31. Im Unterschied zur MRT, die aufgrund ihrer hohen räumlichen Auflösung vor allem in der Diagnostik eingesetzt wird, ist die fMRT hauptsächlich in der Forschung vertreten. Die MRT erzeugt dabei Schnittbilder, während die fMRT auch die Funktionen der bestimmten Hirnareale anzeigt – daher auch der Begriff funktionelle Magnetresonanztomographie.

1. Erfolgte Studien und deren Erkenntnisse

Mit dem fMRT sind bereits zahlreiche Studien zum Thema Wahrheitssuche und Lügendetektion durchgeführt worden. Dabei schwanken die Aussagen über die Zuverlässigkeit der Methode zur Lügendetektion teilweise drastisch.

a. Daniel Langleben et al. (2002) 32

Im Jahr 2002 machte der Neurowissenschaftler Daniel Langleben von der University of Pennsylvania in Philadelphia auf sich aufmerksam, als er sich mit Hirnscans auf die Wahrheitssuche begab. Mittels fMRT, welches erstmalig zu diesem Zwecke eingesetzt wurde, untersuchte er in einen Gruppenexperiment Probanden, die den Besitz von bestimmten Spielkarten leugnen sollten. Durch eine Software, die die fMRT-Bilder der unterschiedlichen Aktivierungsmuster im Kopf der Studenten auswertete, konnte Langleben 7 von 10 Lügner überführen 33. Bei den gelogenen Aussagen kam es dabei laut Langleben zu einer signifikanten Signalzunahme im vorderen Teil des Gehirns (linker anteriorer singulärer Gyrus zum mittleren rechten superioren frontalen Gyrus (SFG)) 34, was dafür spreche, dass ein anderes Verhalten zugunsten eines tatsächlichen Verhaltens ausgeführt werde, sprich die wahre Aussage zugunsten der Lüge unterdrückt werde. Des Weiteren wurde das Hirnareal im Bereich der oberen Hirnseite in der vorderen Mitte (vom präfrontalen zum dorsalen prämotorischen Kortex) und in der Hirnmitte (intraparietalen Sulcus) 35 aktiviert, welches für vermeidendes Verhalten sowie negative Affekte stehe.

Die fMRT stelle durch die gewonnenen Erkenntnisse ein geeignetes Mittel zur „Lügendetektion“ dar 36.

b. Andrew Kozel et al. (2005) 37

In der von Andrew Kozel durchgeführten Studie aus dem Jahre 2005 wurden gesunde Probanden aus dem universitären Umfeld aufgefordert, ein „Scheinverbrechen“ zu begehen. Vor der Untersuchung sollten sie in einem abgetrennten Raum eine Uhr oder einen Ring stehlen und dies später leugnen. Die fMRT-Scans zeigten erneut eine signifikante Aktivität in den Hirnarealen, die auch in vorherigen Studien bei der „Lüge“ aktiviert waren (anteriorer Gyrus cinguli, orbifrontalen Kortex und dorsolateraler präfrontaler Kortex).

Im Vergleich zu bisherigen Studien war neben der Erkenntnis, dass Wahrheit und Lüge andere Hirnareale aktivieren, auch von großer Bedeutung, dass  sich Ergebnisse aus Gruppenstudien auf Einzelpersonen übertragen lassen 38.

c. John-Dylan Haynes et al. (2007) 39 und weitere Untersuchungen

John-Dylan Haynes vom Bernstein Center for Computational Neuroscience (BCCN) in Berlin veröffentlichte 2007 ein Experiment, in dem er mit 70-prozentiger Trefferquote durch fMRT sagen konnte, ob eine Person mit zwei präsentierten Zahlen eine Subtraktion oder Addition durchführen wolle 40. Zwar ging es in diesem Experiment nicht um die „Lügendetektion“ und Wahrheitsfindung als solche, sondern vielmehr um „das Lesen verdeckter Absichten im menschlichen Gehirn“. Dennoch zeigte die Untersuchung auf eindrucksvolle Weise, wie es bereits gelingt, in vermeintlich verborgene Bereiche des Menschen vorzudringen 41.

Kürzlich ließ er verlauten, er könne mittels MRT mit 85-prozentiger Genauigkeit dem Scan entnehmen, ob Probanden einen Ort aus der virtuellen Realität kennen, denn „Orte hinterlassen eine ähnlich unverkennbare Signatur im Gehirn wie Objekte“ 42.

Ähnliches zeigten auch Untersuchungen von Wissenschaftlern der Stanford University. So unterscheiden sich laut Jesse Rissmann die Hirnaktivitätsmuster der Probanden bei Gesichtern, die sie als neu identifizierten von jenen Mustern, die auftraten, wenn Gesichter als bekannt wahrgenommen wurden 43.

2. Bereits erfolgter Einsatz im deutschen Strafprozess

Die Feststellung der Glaubwürdigkeit einer Zeugenaussage stand im Zentrum der psychologischen Begutachtung von Hans J. Markowitsch im Jahr 2000 44.

Einer jungen Frau wurde mit einem Baseballschläger (oder ähnlichem Gegenstand) der Schädel zertrümmert. Laut ihrer Aussage habe sie ihren damaligen Ex-Freund als Täter identifizieren können. Es sei ein Racheakt, habe sie sich doch erst kürzlich von ihm getrennt. Das Opfer war als Hausmädchen bei einem bettlägerigen, vermögenden Herrn angestellt. Dieser wurde nach der schweren Körperverletzung ebenfalls mit dem Gegenstand angegriffen und tödlich verletzt. Weitere Beweise als die Aussage der Frau waren nicht gegeben, sodass es wesentlich auf die Glaubwürdigkeit des Opfers ankam. Da die Anklage auf Mord bzw. Mordversuch angesetzt war, wurden zur Glaubwürdigkeitsuntersuchung psychologische Gutachter hinzugezogen. Einer von ihnen war der heutige Bielefelder Universitätsprofessor Hans J. Markowitsch. Durch die schweren Verletzungen am Kopf zweifelte das Gericht die Aussagen des Opfers an, war doch das Hirngebiet hinter dem Schädel geschädigt, was für Neurologen die Vermutung nahe legte, die Patientin könnte zu Konfabulationen neigen, also die Geschichte erfinden 45.

Nachdem die intellektuell-kognitiven Funktionen untersucht wurden, um eine Art Profilbildung zu machen, wurde auch eine fMRT durchgeführt 46.

Wenn die Frau angab, sich an bestimme Dinge zu erinnern, wies das Gehirn genau die Aktivierungen auf, die für bewusste, selbst erlebte Episoden typisch sind (Erkenntnisse aus Untersuchungen von normalen Probanden), sodass die Frau im Stande war, die Wahrheit zu erzählen und das tat sie auch 47. Besonders im Bereich der rechten Amygdala, welcher im Teil des limbischen System als Verarbeiter emotionsgeladener Aspekte gesehen wird, wurde bei wahren autobiographischen Erinnerungen signifikante Aktivität beobachtet 48. Der Täter wurde zu lebenslanger Haft verurteilt 49.

C. Einbeziehung in den Strafprozess

„In der nächsten Dekade wird ein Verfahren vorhanden sein, das reliable und valide Ergebnisse liefert und somit auch vom BGH nicht ignoriert werden kann.“

(Hans J. Markowitsch) 50

Gemäß § 244 II StPO hat das Gericht zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind. Dabei entscheidet das Gericht über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung,  § 261 StPO.

Die gewonnenen Ergebnisse zum Thema Lügendetektion mittels bildgebender Verfahren aus Teil B müssen also für die gerichtliche Entscheidung von Bedeutung sein.

Eine wesentliche Rolle spielt zunächst, wie sich die deutschen Gerichte bisher zum „klassischen Lügendetektor“, dem Polygraphen, geäußert haben. Diese Ausführungen gilt es schließlich auf die bildgebende Verfahren zu adaptieren.

I. Rechtsprechung zum Polygraphen

Im Folgenden wird auf zwei BGH-Urteile 51 und ein Urteil des BVerfG 52 eingegangen. Sodann wird als aktuelle Rechtsprechung auf eine Entscheidung des OLG Dresden und auf Entscheidungen des AG Bautzen verwiesen.

1. BGHSt 5, 332 (1954)

Die erste Entscheidung des BGH zum Thema Zulässigkeit einer polygrafischen Untersuchung  im Strafverfahren erging am 16. Februar 1954.

Die Staatsanwaltschaft beantragte in diesem Fall die Einholung eines Gutachtens auf Grundlage eines Polygraphentests. Der Angeklagte zeigte sich einverstanden. Da das erstellte Gutachten ihn belastete, wurde er schließlich vom LG Zweibrücken verurteilt.

Der BGH lehnte in seinem Urteil jedoch die Untersuchung mit dem Polygraphen sowohl für das Ermittlungs- als auch für das Hauptsacheverfahren ab, ohne dabei Rücksicht auf das Einverständnis des Beschuldigten zu nehmen.

Dabei stützte sich der BGH nicht auf wissenschaftliche Erwägungen zur Brauchbarkeit, sondern stellte allein auf rechtliche Grundsätze ab 53.

Der Beschuldigte sei Beteiligter und nicht Gegenstand des Verfahrens und nur in diesem Rahmen sei er bestimmten Untersuchungen und Beschränkungen unterworfen wie z.B. in §§ 81, 81a StPO festgelegt. Über die Menschenwürde aus Art. 1 I GG und § 136a StPO sei die Entschließungsfreiheit des Beschuldigten für seine Einlassung geschützt und würde in jeder Verfahrensphase unangetastet bleiben 54. Dementsprechend müsse dem Beschuldigten bei der Vernehmung das Ob und auch das Wie seiner Antwort überlassen werden, ohne dass dabei auftretende unbewusste Äußerungen, wie etwa ein Erröten oder Schwitzen, vom Gericht anders als im alltäglichen Umgang wahrgenommen werden könnten 55. Ein solcher Einblick in die Seele des Beschuldigten sei im Strafverfahren wegen eines Verstoßes gegen die Freiheit der Willensentschließung und –betätigung gem. § 136a StPO unzulässig.

Neben dem Verstoß gegen die Norm wurde ebenfalls erwähnt, dass für den Einsatz naturwissenschaftlicher Methoden im Strafverfahren entscheidend sei, ob im Hinblick auf ihre Voraussetzungen wissenschaftliche Erfahrungssätze unangefochten feststünden 56. Weiter lägen im vorliegenden Fall keine ausreichenden Ergebnisse über Auswertungsmethoden und -richtlinien vor.

2. BVerfG – Beschluss zum „Lügendetektor“ (1981) 57

Am 18. August 1981 befasste sich das BVerfG erstmalig mit dem „Lügendetektor“. Somit sind mehr  als 25 Jahre seit dem ersten BGH Urteil ergangen, ehe die Gerichte erneut zur Zulässigkeit des Polygraphen Stellung bezogen.

Jedoch ging es nun um eine entgegengesetzte Fallkonstellation. So wehrte sich der Beschwerdeführer (im Folgenden mit Bf. abgekürzt) nicht gegen die Verwertung von mit Polygraphie erlangter Aussagen, sondern er stritt dafür, um seine Unschuld unter Beweis zu stellen 58.

Der Bf. war vom LG Mannheim (Urt. V. 2.6 1980 – 2 KLs 3/80) zu lebenslanger Freiheitsstrafe wegen Mordes in Tateinheit mit versuchter Vergewaltigung verurteilt worden.

Dieses Urteil beruhte auf Indizien, denn man fand zahlreiche Spuren des Angeklagten am Tatort. Belastende Zeugenaussagen existierten hingegen nicht. In dieser Lage sah der Bf. im Test mit dem Polygraphen die einzige Chance, einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu entgehen.

Der Vorprüfungsausschuss des BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde mangels Erfolgsaussichten nicht zur Entscheidung an. Die „Durchleuchtung“ der Person, welche die Aussage als deren ureigenste Leistung entwertet und den Untersuchten zu einem bloßen Anhängsel eines Apparates werden lasse, greife in unzulässiger Weise in das durch Art. 2 I i.V. mit Art 1 I GG geschützte Persönlichkeitsrecht des Betroffenen ein, das der Wahrheitsforschung im Strafverfahren Grenzen setze 59. Anders als in der BGH-Entscheidung von 1954 wurde nun nicht mehr auf die menschenunwürdige Behandlung abgestellt, sondern auf das Allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I i.V. mit Art. 1 I GG.

Weiter fehlten überwiegende Interessen der Allgemeinheit oder des Bf., welche den Eingriff in den Kernbereich der Allgemeinen Persönlichkeitsrechte rechtfertigen würden. Auch lasse die Trefferquote des Polygraphen von 90% höchstens ein Wahrscheinlichkeitsurteil zu, was nicht ausschließe, dass der konkret Untersuchte bei negativem Testergebnis dennoch der Täter sein kann.

Auch ändere die Einwilligung des Bf. nichts an der Unzulässigkeit, denn eines Schutzes gegen staatliche Eingriffe bedarf nur derjenige nicht, der wählen könne. Diese Freiheit habe der von empfindlicher Freiheitsstrafe bedrohte Angeklagte tatsächlich nicht, sie sei daher nicht freiwillig und daher unwirksam 60.

Die Ausführungen stießen in der Literatur auf heftige Kritik. Die Erklärungen des BVerfG seien „eine so klägliche Begründung und fast schlechter als gar keine“ 61 bzw. „ein Beschluss von äußerster Dürftigkeit“ 62. Das Gericht sei der Komplexität des Falls nicht gerecht geworden 63. Inhaltlich habe sich der Vorprüfungsausschuss mit der Besonderheit, dass der Polygraph zur Entlastung eingesetzt werden sollte, nicht ausreichend auseinander gesetzt 64.

3.  BGHSt 44, 308 (1998)

Rund 45 Jahre nach der ersten BGH-Entscheidung 65, musste sich der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofes erneut mit der Frage der Zulässigkeit des Polygraphen im Strafverfahren befassen. Anlass war die Verfahrensrüge eines wegen sexuellen Kindesmissbrauchs vom LG Mannheim Verurteilten (im Folgenden mit V abgekürzt). V hatte in der Hauptverhandlung vor dem LG Mannheim zur Widerlegung der ihm zur Last gelegten Vorwürfe eine polygraphische Untersuchung beantragt, welche vom LG abgelehnt wurde.

Die Entscheidung des BGH distanziert sich in der Argumentation von der bisherigen Rspr., bleibt jedoch im Ergebnis gleich.

a. Kein Verstoß gegen die Menschenwürde aus Art. 1 I GG

Zunächst sei der Einsatz eines Polygraphen vor Gericht kein Verstoß gegen die Menschenwürde gemäß Art. 1 I GG, da dem Untersuchenden kein „Einblick in die Seele des Beschuldigten“ gewährt sei 66, wie der BGH früher noch angenommen hatte 67. Dies ergebe sich auch daraus, dass es dem Gericht erlaubt sei, nicht steuerbare Körperreaktionen (wie starke Schweißbildung oder Erröten) zu verwerten 68. Weiter bleibe die Subjektstellung des Beschuldigten unangetastet, auch wenn er an ein Messgerät angeschlossen sei, hierzu aber sein Einverständnis erklärt habe.

Nach einhelliger wissenschaftlicher Meinung gebe es schließlich keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen kognitiven oder emotionalen Zuständen und spezifischen körperlichen Reaktionen, vor allem löse das Lügen keine bestimmte, eindeutige körperliche Reaktion aus („no specific lie response“) 69.

b. Kein Verstoß gegen § 136a StPO

Laut BGH liege auch kein Verstoß gegen die Willensentschließung und Willensbetätigung nach § 136a StPO vor. Eine direkte Anwendung der Norm scheide ohnehin aus, falle die Polygraphie doch nicht unter die in der Norm genannten verbotenen Vernehmungsmethoden 70. Auch eine analoge Anwendung scheide auf Grund der mangelnden Eingriffsintensität der Polygraphie aus, so sei der Schweregrad nicht erreicht (wie etwa bei Narkose oder Narkoanalyse) und die Vergleichbarkeit daher nicht gegeben 71. Folglich sei auch die Einwilligung in die Durchführung nach § 136a III StPO unbeachtlich.

c. Ungeeignetheit des Beweismittels

Im Ergebnis sei die Polygraphie ein ungeeignetes Beweismittel nach § 244 III S. 2 Var. 4 StPO.  Der BGH unterscheidet in seinen Ausführungen den Tatwissenstest (TWT) und den Kontrollfragentest (KFT). Vor der Entscheidung wurden Gutachten von vier Experten eingeholt 72.

Der TWT funktioniere nur, wenn die dem Beschuldigten als Antwort vorgeschlagenen Tatdetails nicht bekannt seien, weil andernfalls die ausschlaggebenden Orientierungen auch bei einem Nichttäter zu erwarten seien 73. Dies sei zumindest zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung nicht der Fall – z.B. durch Akteneinsicht des Strafverteidigers-, sodass eine Verwendung des Tatwissensverfahrens in diesem Verfahrensstadium nach allgemeiner Ansicht ausscheiden müsse 74.

Den Umkehrschluss, dass ein solcher Test eventuell im Ermittlungsverfahren durchgeführt werden könnte, hat das Gericht offenbar bewusst nicht ausdrücklich zu ziehen gewagt 75.

Der KFT sei in den maßgebenden Fachkreisen nicht allgemein und zweifelsfrei als richtig und zuverlässig eingestuft worden, sodass ihm kein indizieller Beweiswert zukomme 76. Weiter verweist der BGH erneut auf den nicht existenten Zusammenhang von  emotionalen Zuständen und entsprechenden Reaktionsmustern („no specific lie response“). Schließlich geht der BGH auf die Erstellung der Kontrollfragen ein, welche fehleranfällig sind, was dazu führen kann, dass auch für den Unschuldigen die tatbezogenen Fragen eine höhere Belastung darstellen als die Kontrollfragen selbst. Daher seien Kontrollfragen nicht standardisierbar 77.

Diese Auffassung wurde vom 3. Strafsenat des BGH in einem Anschlussurteil vom 10.02.1999 bekräftigt 78. Auch der Zivilsenat bezeichnete die polygraphische Untersuchung als völlig ungeeignetes Beweismittel 79

4. Aktuelle Rechtsprechung zum Polygraphen

Im Jahr 2013 wurden in mehreren Verfahren die Zulässigkeit des Polygraphen vor Gericht bestätigt 80. So sei die polygraphische Untersuchung nunmehr zuverlässig. Daher stehe die Entscheidung auch nicht im Widerspruch zum BGH-Urteil 81, da der Bundesgerichtshof seine Entscheidung von der Zuverlässigkeit der psychophysiologischen Methode abhängig gemacht habe 82.

Als Voraussetzung für den Einsatz im Strafverfahren muss die polygraphische Untersuchung in einem geordneten gerichtlichen oder staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren nach erklärter Freiwilligkeit angeordnet worden sein. Dieser freiwillige Test muss unter Laborbedingungen mindestens vier Parameter messen und von einem zertifizierten Sachverständigen durchgeführt werden, sodass die Aufzeichnungen fachgerecht interpretiert werden können. Das Verfahren muss weiter die Tatfrage betreffen und das Befundergebnis darf lediglich zur Entlastung des Angeklagten verwendet werden 83.

II. Bildgebende Verfahren im Strafprozess

Es soll nun versucht werden, die gewonnenen Erkenntnisse aus der Rechtsprechung zum Einsatz des Polygraphen auf die bildgebenden Verfahren anzuwenden. Dabei werden Probleme bei dem Versuch der Adaption zu konkretisieren sein. Zunächst muss geklärt werden, wie objektiv, valide und reliabel die Testergebnisse der bildgebenden Verfahren überhaupt sind.

1. Validität und weitere offene Fragen

Trotz der teilweise vielversprechenden Resultate in den Studien, räumen selbst die zuversichtlichsten Autoren der Studien Bedenken gegen die Verlässlichkeit ihrer Resultate ein 84.

a. Validität

So sei laut Langleben et al. eine Mehrdeutung von Testergebnissen möglich, denn bei Untersuchungen zum Arbeitsgedächtnis waren teilweise dieselben Areale im Hirn aktiv, wie bei täuschendem Verhalten, sodass Zweifel an der Validität der bisherigen Studien aufkommen. Bis heute ist kein sog. „Lügenzentrum“ im Hirn lokalisiert worden. Auch ist jedes Hirn und seine Aktivität eine Art persönlicher Fingerabdruck, also höchst individuell und einzigartig 85.

Weiter erfolgten bis heute kaum Studien, die die Aufdeckung einer Lüge in einer Einzelperson zum Ziel hatten; größtenteils wurden die Ergebnisse über mehrere Personen ermittelt und daraus ein Mittelwert erstellt 86. In der Forensik gehe es aber um jeden Einzelfall und nicht um den Durchschnitt einer Untersuchungsgruppe 87.

b. Falsche Erinnerungen

Ein grundsätzliches Problem jeder Art der Lügendetektion lag bisher in der Voraussetzung, dass die untersuchte Person überhaupt in der Lage ist, zwischen Wahrhaftigkeit und Lüge zu unterscheiden 88. Wenn der Proband nicht erkennen kann, dass seine falsche Vorstellung von der Wirklichkeit sich nicht mit der objektiven Wirklichkeit deckt, würde auch ein zuverlässiger Test eine objektive Lüge nicht als solche erkennen, sondern sie im Gegenteil als subjektive Wahrheit ausweisen 89. Das gleiche Problem ergibt sich dementsprechend für den Beschuldigten, der sich für den Täter hält, obwohl er objektiv unschuldig ist. Er würde der Lüge überführt werden, sofern er die Tatbeteiligung leugnet, obwohl er objektiv die Wahrheit sagt. Neue Studien deuten nun zum ersten Mal auch auf experimenteller Basis darauf hin, dass es mit hirnbildgebenden Verfahren möglich sein könnte zu unterscheiden, ob sich eine Person fehlerinnert; was es bei einem möglichen Einsatz zu berücksichtigen gilt 90.

c. Manipulation

Über die Manipulierbarkeit der Hirnscans mittels fMRT ist bisher wenig bekannt 91. Jedoch wollen manche Studien belegt haben, dass durch bildgebende Verfahren jene Areale des Hirns sichtbar gemacht werden können, die bei bewusst unterdrückten Gefühle angeblich aktiviert werden, sodass eine etwaige Manipulation deutlich erschwert werde 92.

Zu einem anderen Ergebnis kam ein Forscherteam um Anthony Wagner von der Stanford University 93. Hier ging es zwar nicht um „Lügendetektion“ im eigentlichen Sinne, vielmehr wurde ein Gedächtnistest mittels fMRT durchgeführt. Dennoch zeigten die Ergebnisse, dass auch ein moderner MRT manipulierbar ist. Die Teilnehmer trugen mehrere Wochen digitale Kameras um den Hals, die ca. 45.000 Fotos aus dem Leben der Probanden schossen. Diese Bilder wurden mit Kontrollmaterial gemischt, also mit Bildern, die den Untersuchten fremd waren. Mit dem fMRT wurde nun untersucht, ob den Probanden ein jeweiliges Bild vertraut oder fremd war. Dabei wurde eine Trefferquote von erstaunlichen 91% erzielt. Dramatisch änderte sich jedoch das Ergebnis, als die Probanden aufgefordert wurden, bei einem vertrauten Gesicht an ein fremdes zu denken und umgekehrt. „Wir waren nicht mehr fähig festzustellen, ob jemand ein Gesicht erkennt oder nicht“, berichtete Anthony Wagner und führte weiter aus, es sei also noch zu früh, über einen möglichen Einsatz von Gedankenlesern im Gerichtssaal zu entscheiden 94.

Ebenfalls wirken sich Kopfbewegungen extrem störend auf die bildgebenden Verfahren mittels fMRT aus, sodass zwingend notwendig ist, dass sich der Proband kooperativ verhält.

2. Zwischenergebnis zu bildgebende Verfahren im Strafprozess

Trotz der vorgebrachten Probleme und offenen Fragen lohnt es sich, einen möglichen Einsatz bildgebender Verfahren genauer zu untersuchen und etwaige Kollisionspunkte mit dem Gesetz zu beleuchten.

Im Folgenden wird dazu ein technisches Verfahren auf Basis der fMRT vorausgesetzt, welches vom BGH nicht mehr als „völlig ungeeignete“ 95 Methode nach § 244  III S. 2 Var. 4 StPO zu beurteilen wäre und auch „in den maßgeblichen Fachkreisen“ 96 zweifelsfrei als richtig und zuverlässig eingestuft werden würde 97. Auch sei, wie bereits ausgeführt, die Gefahr der Auswertung einer Fehlerinnerung nicht mehr gegeben 98.

3. Verstoß gegen Normen und rechtliche Bedenken

Es wird von einem einverständlich durchgeführten fMRT-Gutachten ausgegangen, welches im Hauptverfahren zur Entlastung des Beschuldigten durchgeführt wird.

a. Verstoß gegen § 244 III S. 1 StPO – rechtliche Unzulässigkeit der Beweiserhebung

Auf Grund des numerus clausus der Beweismittel wäre ein bildgebendes Verfahren kein eigenständiges Beweismittel im Sinne der Strafprozessordnung sondern ein Untersuchungsverfahren im Rahmen des Sachverständigenbeweises nach §§ 72 ff. StPO.

Die Fragen, ob der Angeklagte sich mittels eines bildgebenden Verfahrens entlasten kann, richtet sich somit nach § 244 III, IV StPO. Die völlige Ungeeignetheit des Beweismittels nach § 244 III S. 2 Var. 4 StPO wird vorliegend nicht untersucht, da die Geeignetheit unterstellt wird.

Die Ablehnung des Beweisantrags auf Vernehmung eines Sachverständigen nach § 244 IV S. 1 StPO wird im Folgenden ebenfalls nicht weiter untersucht, da hierfür kaum rationale Kriterien für eine ausgewogene Beurteilung zu finden sind und die Beurteilung mit dem  Selbstbild der Tatrichter zusammenhängt 99.

Der Beweisantrag auf Untersuchung mittels bildgebender Verfahren könnte aber abzulehnen sein, sofern er unzulässig ist, § 244 III S. 1 StPO.

Eine Beweiserhebung ist unzulässig, wenn sie Rechtsvorschriften widerspricht 100. Ein Verstoß des einverständlich durchgeführten bildgebenden Verfahrens im Rahmen des Sachverständigenbeweises könnte sich zunächst gemäß § 136a StPO aus strafprozessualen Normen ergeben oder  aber aus verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, in Form einer Grundrechtsverletzung des Angeklagten bzw. weil vorrangige Belange der Allgemeinheit oder überwiegende Interessen Dritter beeinträchtigt wären 101.

b. Verstoß gegen § 136a StPO

Der aus dem Rechtsstaatsprinzip und Art. 6 I 1 EMRK abzuleitende Grundsatz des „fair trail“, sowie das Gebot der Achtung der Menschenwürde verbieten es, die Wahrheit um jeden Preis zu ermitteln 102.

Gemäß § 136a StPO darf die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung des Beschuldigten nicht beeinträchtigt werden, wobei die Aufzählung der verbotenen Vernehmungsmethoden in § 136a I StPO nicht abschließend ist 103.

aa. Anwendungsbereich

Außer für Strafverfolgungsorgane gilt § 136a StPO für Sachverständige, die zur Bearbeitung ihres Gutachtens Beschuldigte oder Zeugen untersuchen und dabei Befundtatsachen feststellen 104. Da sie von den Strafverfolgungsbehörden bestellt worden sind, um die Aufklärung des Sachverhalts zu fördern, dürfen sie sich ebenso wenig wie ihre Auftraggeber unerlaubter Mittel bedienen, um Beschuldigte oder Zeugen zum Reden zu bringen 105.

Anwendung findet § 136a StPO nur auf Vernehmungen 106. Vernehmungen sind amtliche Befragungen von Beschuldigten sowie von Zeugen und Sachverständigen in Bezug auf die Beschuldigung (§ 136a I S. 2 StPO) oder den Gegenstand der Untersuchung (§ 69 I S.2, § 72 StPO) im Rahmen eines Strafverfahrens 107.

Fraglich ist, ob eine „Lügendetektion“ mittels bildgebender Verfahren eine Befragung oder vielmehr eine körperliche Durchsuchung nach § 81a ff StPO darstellt. § 136a StPO kann aber nur auf die bildgebenden Verfahren angewandt werden, sofern diese eine Befragungsmodalität sind 108.

Peters sah in der Polygraphie keine Variante einer Vernehmung. So zeichne diese Methode physische Phänomene aus und sei daher eine körperliche Untersuchung, die auf Grund ihrer Eigenart aber auch nicht unter die § 81a ff. StPO falle 109.

Um die bildgebenden Verfahren als körperliche Untersuchung iSd § 81a StPO klassifizieren zu können, müsste diese Methode die Feststellung der Beschaffenheit des Körpers oder einzelner Körperteile bzw. die Suche innerhalb des Körpers nach etwas intendieren, sprich der Körper des Betroffenen müsste zum „Augenscheinobjekt“ gemacht werden 110.

Im Unterschied zur Polygraphie messen die bildgebenden Verfahren keine physiologischen Reaktionen, sondern versuchen die Motive einer Aussage sichtbar zu machen. Daher steht nicht die Feststellung körperlicher Reaktionen im Zentrum, sondern vielmehr die Aufzeichnung einer Aussage, sodass der Körper beim bildgebenden Verfahren nicht zum „Augenscheinobjekt“ gemacht wird. Ein neurowissenschaftlicher Lügendetektortest ist somit als Befragung zu qualifizieren, die durch Amtspersonen durchgeführt wird und daher eine Vernehmung im Sinne des § 136a StPO darstellt 111.

bb. Direkte Anwendung

Fraglich ist, ob bildgebende Verfahren mit fMRT einen körperlichen Eingriff darstellen bzw. ihnen eine Täuschung innewohnt, sodass § 136a I S. 1 StPO direkt anzuwenden wäre.

In seiner BGH-Entscheidung hat das Gericht bereits beim Polygraphen keine Ausführungen dazu gemacht, ob dieses Verfahren einen körperlichen Eingriff darstellen könnte 112. Somit scheidet dies auch für ein nicht invasives Verfahren mittels Magnetresonanztomographie aus, in dem lediglich Vorgänge im Gehirn beobachtet werden 113. Teilweise wurde bei der Polygraphenuntersuchung mit dem Kontrollfragentest dem Probanden eine höhere Zuverlässigkeit als die Tatsächliche vorgespielt. Welche Methode bei einem etwaigen fMRT angewandt wird, kann man noch nicht vorhersagen 114, es ist aber im Unterschied zur Polygraphie nicht nötig, ein Spannungslevel über Zuverlässigkeit und Wirksamkeit zu erzeugen; es sei vielmehr möglich, den Probanden umfassend über die Modalität des Verfahrens aufzuklären 115.

Das Merkmal der Täuschung aus § 136a I StPO ist nach Ansicht des BGH  zudem restriktiv auszulegen 116. Somit ist weder das Merkmal der Täuschung noch ein körperlicher Eingriff iSd § 136a I S. 1 StPO gegeben. Eine direkte Anwendung scheidet daher aus.

cc. Analoge Anwendung

Möglich wäre es, den § 136a StPO analog auf die bildgebenden Verfahren anzuwenden. Für eine Analogie in diesem Falle bedarf es eines Fallkatalogs, der nicht abschließend ist; weiter müssten die nicht erwähnten Methoden mit den explizit genannten qualitativ vergleichbar sein und schließlich keine anderweitige Regelung im Gesetz erfahren haben (sog. planwidrige Regelungslücke) 117.

Schon angeführt wurde, dass der Katalog des § 136a StPO nicht abschließend ist. Auch liegt eine Gesetzeslücke vor, so ist die „Lügendetektion“ in keiner Norm ausdrücklich geregelt. Somit muss untersucht werden, ob diese mittels bildgebender Verfahren qualitativ mit den in § 136a  StPO aufgeführten Methoden vergleichbar ist.

Wie bereits erwähnt, schützt § 136a StPO die Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung. So wird die Hypnose explizit aufgeführt und auch die Narkoanalyse fällt einhellig unter die Norm der verbotenen Methoden 118.

Hinsichtlich des Polygraphen nahm der BGH in seinem Urteil aus dem Jahre 1998 119 keine analoge Anwendung des § 136a I StPO an, da eine Vergleichbarkeit zum Schweregrad der Hypnose nicht gegeben war, denn diese Methode schalte den Willen gerade zu aus, wovon bei der Polygraphie nicht die Rede sein kann.

Bezogen auf die bildgebenden Verfahren kann nichts anderes gelten, denn auch hier ist der Proband in vollem Umfang handlungs- und willensfähig. Es ist kein Kontrollentzug gegeben, vor dem § 136a I StPO zu schützen versucht.

Bereits erwähnt wurde auch die mögliche Manipulierbarkeit der bildgebenden Verfahren. Ein solches Verfahren ist nur mit einem kooperativen Probanden möglich. Weiter besteht kein Zwang, sich einem psychologischen Test oder einer neurowissenschaftlichen Untersuchung zu unterziehen, denn Zwang verfälscht die Zuverlässigkeit. Außerdem ist ein bildgebendes Verfahren nicht wesentlich verschieden zu anderen psychologischen Untersuchungen zur Glaubwürdigkeit, Konfabulationstendenzen oder Persönlichkeitszügen. Im Ergebnis kann auch der Sachverständige sein Urteil kurz fassen, so muss er prinzipiell nur eine Aussage über die allgemeine Glaubwürdigkeit verlieren, nicht aber über einzelne Fragen, die die Privatsphäre des Probanden betreffen 120.

Somit liegt bei den bildgebenden Verfahren zur Lügendetektion wie schon bei der Polygrafie nicht der vergleichbare Schweregrad zu den Methoden des § 136a I StPO vor, sodass bildgebende Verfahren nicht unter den Anwendungsbereich der Norm fallen.

dd. Ergebnis

Die bildgebenden Verfahren beeinträchtigen nicht die Willensentschließung und Willensbetätigung des Beschuldigten. Im Ergebnis ist damit auch die mögliche Einwilligung des zu Untersuchenden nach § 136 a III StPO unbeachtlich.

c. Verletzung der Menschenwürde

Möglicherweise verletzt die Methode der bildgebenden Verfahren die Menschenwürde gemäß Art. 1 I GG. Einen allgemein akzeptierten, dogmatisch präzisen Rechtsbegriff der Menschenwürde, der über die allgemeinen Aussagen zu Bedeutung, Rechtscharakter und Rang  hinausginge, gibt es nicht 121.

Im vorliegenden Fall der bildgebenden Verfahren sei angemerkt, dass als Ausdruck verfassungsstaatlicher Freiheit die Individualität, Identität sowie die physische, psychische und moralische Integrität des Menschen zu respektieren sind 122.

aa. Erfolgte Rechtsprechung zur Polygraphie

Um eine Aussage über die mögliche Verletzung der Menschwürde durch bildgebende Verfahren treffen zu können, muss erneut die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Polygraphen angeführt werden.

In seinem ersten Urteil zur Polygraphie sah der BGH die Menschenwürde aus Art. 1 I GG verletzt, weil es die Freiheit der Willensentscheidung und –betätigung verletze 123. Die Einwilligung spiele keine Rolle, da die Menschenwürde nicht aus der individuellen Autonomie, sondern aus den Interessen deines Kollektivsubjekts abgeleitet werde 124.

Diese Ansicht wurde vom BGH in der zweiten Grundsatzentscheidung selbst widerlegt. Dem Bürger gegenüber, sofern er zeitweise seine Rechte aufgebe, um dauerhaft seine Freiheit aus Art. 2  II GG zu sichern, sei der Staat sogar dazu verpflichtet, diesem Aufopferungsangebot Folge zu leisten, wenn dies das letzte Mittel dieser Sicherung darstelle 125.

bb. Anwendung der Argumente auf bildgebende Verfahren

Im Unterschied zur Polygraphie versuchen bildgebende Verfahren nicht mittels körperlichen Reaktionen auf die Qualität der Aussage zu schließen, sondern sie untersuchen, ob das Gehirn die Aktivität der Wahrheit oder Lüge aufweist 126. Es geht somit nicht um die Ermittlung des Inhalts, sondern um die Qualifikation des Gedankens, also um die statistische Relation zwischen dem Aussprechen der Unwahrheit und einer bestimmten Gehirnaktivität 127.

Daher liegt auch kein „Ausforschen des Innersten“ oder der Verlust der Kontrolle des Einzelnen über Art und Umfang seiner „Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit“ vor 128.

cc. Gegen den Willen

Laut Beck sei zu beachten, dass Staatsanwaltschaft und Gericht typischerweise gegen den Willen des  Beschuldigten/Angeklagten ermitteln, sodass auch ein Test gegen den Willen des zu Untersuchenden nicht gegen die Menschenwürde verstoße 129. Dies komme aber auf Grund der möglichen Manipulierbarkeit wohl nicht in Betracht, da die fMRT wie gesehen zwingend einen kooperativen Probanden benötigt 130.

Spranger hingegen verneint die Untersuchung mit bildgebenden Verfahren, die durch Zwang vom Staat veranlasst werden 131.

dd. Ergebnis

Vorliegend wurde eine einverständlich durchgeführte fMRT untersucht.

Diese „Lügendetektion“ mittels bildgebender Verfahren verletzt nicht die Menschenwürde aus Art. 1 I GG 132.

d. Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts

In der jüngsten BGH-Entscheidung 133 zur Polygraphie ging das Gericht nicht auf eine mögliche Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts (im Folgenden als APR abgekürzt) gemäß Art. 2 I iVm. Art 1 I GG ein, was zunächst verwundert, war das APR doch ein wichtiger Bestandteil des Vorprüfungsausschusses des BVerfG im Jahre 1981 134. Um eine mögliche Verletzung des APRs durch bildgebende Verfahren annehmen zu können, müsste zunächst der Schutzbereich des Grundrechts eröffnet sein.

aa. Schutzbereich

In den Schutzbereich des APRs fällt die Integrität der menschlichen Person in geistig-seelischer Beziehung 135. So ist auch die informationelle Selbstbestimmung und die Beobachtung und Interpretation der eigenen Gehirnaktivität erfasst 136. Die bildgebenden Verfahren als Ermittlung und Auswertung staatlicher Informationserhebung und deren Verarbeitung von Gehirnprozessen, fallen somit in den Schutzbereich des APRs gemäß Art. 2 I iVm  Art. 1 I GG 137.

bb. Einwilligung

Allgemeine Ansicht ist, dass das APR prinzipiell zur Disposition des Einzelnen steht 138. Diese Einwilligung muss aber „echt freiwillig“ erfolgen, d.h. der Betroffene dürfte nicht auch nur unter mittelbarem Zwang stehen. Dies wurde auch schon bei der Polygraphie angezweifelt, so lasse das Damoklesschwert einer strafrechtlichen Sanktion die echte Freiwilligkeit bei der Entscheidung für oder gegen einen solchen Test, nicht sehr wahrscheinlich erscheinen 139. Auch wenn der Beschuldigte objektiv nicht gezwungen ist, so kann er sich subjektiv dennoch so fühlen, da es für ihn auf die Überzeugung der Sinnhaftigkeit eines solchen Tests nicht mehr ankommt 140.

Dies stellt aber einen eklatanten Widerspruch dar, wenn gerade das Grundrecht, das dem Einzelnen nach allgemeiner Auffassung speziell die Möglichkeit autonomer Selbstentfaltung garantiert, der Verfügungsgewalt des Betroffenen entzogen wird 141.

Somit ist eine Einwilligung in den Grundrechtsverzicht zur Glaubwürdigkeitsuntersuchung mittels bildgebender Verfahren zulässig und möglich.

cc. Reichweite des Eingriffs

Geht man von der Meinung aus, dass ein wirksamer Verzicht auf die Grundrechtsposition des APRs im Zusammenhang mit Lügendetektion ausgeschlossen ist, bleibt zu prüfen, ob ein Eingriff in den Schutzbereich des Rechts durch einen Lügendetektortest vorliegt und ob dieser verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann.

Das APR unterliegt dem Schrankenvorbehalt des Art. 2 1 GG, jedoch darf es nur soweit eingeschränkt werden, wie es den Menschenwürdekern unberührt lässt. Diese Kernbereichslehre, die aus Art 1 I GG im Zusammenhang mit den rechtsstaatlichen Garantien der Art. 19 II GG sowie Art. 79 III GG abgeleitet wird, besagt, dass das Grundgesetz einen Schutz für einen unantastbaren und damit jedem staatlichen Zugriff endgültig entzogenen Kernbereich der Persönlichkeitssphäre des Einzelnen für jedes Grundrecht intendiert 142. Fraglich ist somit, ob die bildgebenden Verfahren diesen Kernbereich berühren. In seiner Entscheidung über den Gebrauch von Tagebuchaufzeichnungen verwendete das BVerfG den Begriff des „mittelbaren Gedankenlesens“ 143. Dies meint lediglich die Bewertung der Qualität, also die Frage nach dem „Ob“, nicht jedoch nach Gefühlen, also nach dem „Wie“. Diese Unterscheidung lässt sich auch auf die bildgebenden Verfahren anwenden 144. Befasst man sich nur mit der Frage, ob Lüge oder Wahrheit bei einer Aussage vorliegt, ohne dabei die Qualität des Gedankens, also das „Wie“ zu untersuchen, so berühren die bildgebenden Verfahren nicht den Kern des APRs 145.

dd. Ergebnis

Eine Glaubwürdigkeitsbetrachtung mittels bildgebender Verfahren verstößt daher nicht gegen das Allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I iVm Art. 1 I GG des Angeklagten.

 

D. Fazit und Ausblick

„Die funktionelle Magnetresonanztomographie dürfte angesichts des aktuellen Forschungsstands auf absehbare Zeit keine Relevanz in Strafverfahren haben.“

(Antwort des Bundestages Petition 13841 vom 30.6. 2010)

Zweifelsohne ist die Neurowissenschaft eine faszinierende Reise zu unserem inneren Wesen. Erklärungen für unser Verhalten zu finden ist wohl seit Anbeginn der Zeit ein Wunsch aller Menschen. Durch die neuen Erkenntnisse der Hirnforschung haben sich scheinbar zahllose neue Wissenschaften erschlossen, so sprechen wir heute über Neuroethik, Neurobiologie oder Neurophilosophie. Die Jahre 1990 bis 2000 wurden als Dekade des Gehirns ausgerufen und auch heute bringen Regierungen Milliarden auf, um die Forschung auf diesem Gebiet voranzutreiben.

Das Gehirn und seine Prozesse betreffen uns alle und so war es nur eine Frage der Zeit, bis auch die Rechtswissenschaften mit der Neurologie aufeinandertreffen und scheinbar eine Art „Neurorecht“ aufkommt 146.

Kritische Stimmen äußern sich bereits zur auswuchernden Verbreitung von Neurowissenshaften 147. Interessanterweise sind es Neurologen, die versuchen, den Enthusiasmus zu bremsen. Die Neurologie stecke noch in Kinderschuhen, warnen sie.

Vorsichtig und voller Skepsis wagen sich Juristen zögerlich an die Hirnforschung. Immerhin stehen viele der Grundansichten des deutschen Strafrechts auf dem Prüfstand: Der Handlungsbegriff und der damit verbundene freie Wille oder der Schuldbegriff, der als wesentlicher Kern des deutschen Strafrechts anerkannt ist.

Auch diese Arbeit zeigt, wie schwierig es ist, die gewonnenen Erkenntnisse der Neurostudien in ein juristisches Korsett zu drängen. Stehen wir kurz vor der Verbannung des Richters aus dem Saal und ersetzen ihn durch eine Maschine? „Ich rufe den Zeugen in den Magnetresonanztomographen“, schrieb Susanne Donner und machte auf die Gefahr aufmerksam, die solche Methoden bringen könnten.

Derzeit gibt es keine Studien, die eine zuverlässige Aussage über die Glaubwürdigkeit von Aussagen mittels bildgebender Verfahren belegen. Auch sind die Trefferquoten von über 90% bei Cephos und NoLieMRI mit Vorsicht zu genießen, verfolgen diese Firmen doch einen kommerziellen, nicht wissenschaftlich-juristischen Zweck.

Selbst wenn in ferner Zukunft ein bildgebendes Verfahren entwickelt wird, welches eine absolute Sicherheit bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit liefern würde, wäre dieses im gerichtlichen Kontext zu betrachten. Die Beurteilung der getroffenen Aussage muss immer anhand des genauen Sachverhalts gesehen werden und an ihm bemessen werden. Diese Tätigkeit kann nur ein Richter vollziehen und darf auch nur von diesem als Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips unternommen werden.

Nichtsdestoweniger schließen sich Neurowissenschaften und Rechtswissenschaften nicht als oxymorale Tätigkeiten aus. Vielmehr muss wie bisher der Konsens statt Dissens im Vordergrund stehen. Das fordert von den Juristen eine offene, aber kritische Haltung und von Neurowissenschaftlern geduldiges Verhalten mit zuverlässigen Erkenntnissen, die sich im Kontext der juristischen Felder homogen einfügen lassen.

Nach bisherigem Kenntnisstand verstoßen bildgebende Verfahren nicht gegen deutsches Recht oder die Verfassung. Dennoch birgt diese Methode Unstimmigkeiten. Man bedenke nur den Zwang, der einem Beschuldigten auferlegt wird, sofern er einer bildgebenden Untersuchung nicht zustimmt. Sein Recht auf Aussageverweigerung gebietet ihm das, doch würde es ihm zwangsläufig negativ ausgelegt werden.

Auch ist der Kostenfaktor bisher ungeklärt. Die Verfahren sind aufwendig und nicht überall durchführbar. Hier liegt eine weitere Schwierigkeit der realistischen Umsetzung vor.

Möglicherweise haben diese Bedenken auch zum allmählichen Verebben der Diskussion über bildgebende Verfahren im Strafprozess geführt, wurde diese doch im Zeitraum der letzten Dekade heftig geführt. Nachdem auch die USA, welche als Vaterland für Technik und Sicherheit gilt, juristisches Bedenken geäußert haben, rudern auch Neurowissenschaftler zurück.

Die Hirnforschung steht noch am Anfang ihrer Tätigkeit und somit auch ihre Auswirkung auf das Rechtssystem. Diese Erkenntnis brachte auch der ablehnende Beschluss einer vom Bundestag eingereichten Petition zum Thema: Einsatz der Magnetresonanztomographie als Beweismittel vor Gericht. Dieser wurde lediglich von 776 Mitunterzeichnern unterstützt, was auf eher geringes Interesse schließen ließ. Der Bundestag verkündete, dass eine solche Petition gar nicht nötig sei, da eine gesetzliche Einzelzulassung wissenschaftlicher Methoden nicht erfolgreich ist.

Von größerer Bedeutung ist allerdings der Verweis des Petitionsausschusses, dass laut Bundesministerium für Justiz (BMJ) die Methode der fMRT wissenschaftlich umstritten sei, sie keine hinreichende Verlässlichkeit aufweise und von geringem kriminaltechnischen Nutzen sei. Des Weiteren bestehe eine berechtigte Gefahr von Fehlurteilen, sodass nach aktuellem Forschungsstand auf absehbare Zeit keine Relevanz im Strafverfahren gegeben ist. Dies zeigt, dass man der Methode der fMRT nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber steht, sondern vielmehr derzeit keinen Handlungsbedarf sieht.

Dies könnte sich aber bei weiterentwickelten Methoden ändern, sodass ein Einsatz bildgebender Verfahren im Strafprozess in Zukunft, wenn auch nicht sehr bald, nicht unwahrscheinlich ist.

* Der Autor ist Student der Rechtswissenschaften im siebten Semester an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Die vorliegende Arbeit (in gekürzter und überarbeiteter Form) entstand im Rahmen des kriminologischen Seminars des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg mit dem Titel „Neurowissenschaften, Strafrecht und Kriminologie“ unter der Leitung von Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Jörg Albrecht im Sommersemester 2015. Derzeit befindet sich der Autor zum Auslandsstudium an der Universität Bergen in Norwegen.


Fußnoten:

  1. Beulke, Strafprozessrecht, 2010 Rn. 3.
  2. Neuhaus/Artkämper, Kriminaltechnik und Beweisführung im Strafrecht, 2014, Rn. 1.
  3. Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 2007, Rn. 2.
  4. vgl. Langleben, Detection of deception with fMRI, Are we there yet?, Legal and Criminological Psychology 13 (2008), S. 1.
  5. Odyniec, Entlarvt – In der Lüge liegt die Wahrheit, in: Süddeutsche Zeitung, 19. Mai 2010.
  6. Gall/Spurzheim, Untersuchgen über die Anatomie des Nervensystems überhaupt, und des Gehirns insbesondere, 2001, S. 427 f.
  7. Meier, Kriminologie, 2010, § 2 Rn. 6.
  8. Vgl. Markowitsch/Siefer, Tatort Gehirn, 2007, S. 126.
  9. BHGSt 5, 322 ff.
  10. BGHSt 44, 308 ff.
  11. Greely/Illes, Neuroscience-Based Lie Detection: The Urgent Need for Regulation, in: American Journal of Law and Medicine Vol. 33 (2007) No. 2 & 3: 377 – 431.
  12. Stallmach, Moderne Lügendetektoren schauen ins Gehirn, in: Neue Zürcher Zeitung, 17. 2. 2010.
  13. Markowitsch/Merkel, Das Gehirn auf der Anklagebank, in: Zukunft Gehirn – Neue Erkenntnisse neue Herausforderungen – Ein Report der Max-Planck-Gesellschaft, 2011, S. 12.
  14. Schneider, Der Einsatz bildgebender Verfahren im Strafprozess, 2010, S. 14.
  15. Furedy, Operational, analogical and genuie definitions pf psychophysiology, in: International Journal of Psychopysiology, 1 (1983), S. 13 ff.
  16. Schneider, ebenda, S. 15.
  17. Vehrs, in: Willutzki/Salzgeber, Polygraphie – Möglichkeiten und Grenzen der psychophysiologischen Aussagebegutachtung, 2000, S. 21 ff.
  18. Schneider, ebenda, S. 17 ff.; Delvo, Der Lügendetektor im Strafprozess der USA, 1981, S.30, 42.
  19. Stübinger, Lügendetektor ante portas, in: ZIS – Zeitschrift für internationale Rechtsdogmatik, 11/ 2008 S. 538, 542.
  20. Matz, ZaöRV 59 (1999), 1107, 1144 ff.
  21. Baskin u.a., American Journal of Law & Bioethics 33 (2007), 265.
  22. Vgl. Marks, American Journal of Law & Bioethics 33 (2007), 485 in Fn. 19.
  23. Stallmach, Moderne Lügendetektoren schauen ins Gehirn, in: Neue Zürcher Zeitung, 17.2.2010.
  24. Beck, Unterstützung der Strafermittlung durch Neurowissenschaften? JZ 2006, 146.
  25. Fitsch, … dem Gehirn beim Denken zusehen? Sicht- und Sagbarkeiten in der funktionellen Magnetresonanztomographie, 2014, S. 16.
  26. Jäcke, Methoden der Bildgebung in der Psychologie und den kognitiven Neurowissenschaften, 2005, S. 219.
  27. Bliem, Biologische Psychologie, 2013, S. 63.
  28. Stübinger, Lügendetektor ante portas, in: ZIS – Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik 11/2008, S. 538, 548.
  29. Grau, Gott, die Liebe und die Mohrrübe, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 41, 71, 2003.
  30. Im Folgenden als fMRT abgekürzt.
  31. Im Folgenden als MRT abgekürzt.
  32. Langleben et al., Brain Acivity during simulated Deception: An Event-Related Functional Magnetic Resonance Study, in: Neuroimage 15 (2002), 727-732.
  33. Donner, Alles, was sie jetzt denken, in: Technology Review, 04.02.2013.
  34. Langleben et al., ebenda, S. 730.
  35. Langleben et al., ebenda, S. 730.
  36. Schneider, ebenda, S. 94.
  37. Kozel et al., Detecting Detecting Using Ductional Magnetic Resonance Imaging, in: Biological Psychiatry 58 (2005), 605 – 613.
  38. Schneider, ebenda, S. 97.
  39. Haynes et al., Reading Hidden Intentions in the Human Brain, in: Current Biology 17 (2007): 323 – 328.
  40. Stallmach, Moderne Lügendetektoren schauen ins Gehirn, in: Neue Zürcher Zeitung, 17.2.2010.
  41. Schneider, ebenda, S. 98.
  42. Donner, Alles, was sie jetzt denken, in: Technology Review, 04.02.2013.
  43. Schulte von Drach, Zweifel am Lügendetektor, in: Süddeutsche Zeitung, 16.12.2010.
  44. Markowitsch et al., Right amygdalar and temporofrontal activiosn during autobiographic, but not during fictinous memory retrieval, in: Behaviourl Neurology 12 (2000), 181-190.
  45. Markowitsch/Siefer, Tatort Gehirn, 2007, S.73.
  46. Markowitsch, Test und bildgebende Verfahren zur Wahrheitsfindung, Telepolis v. 28.08.2007.
  47. Markowitsch/Siefer, Tatort Gehirn, 2007, S. 74.
  48. Schneider, ebenda, S. 91.
  49. Markowitsch, Tests und bildgebende Verfahren zur Wahrheitsfindung, Telepolis, v. 28.08.2007.
  50. Mündliche Mitteilung des Neuwissenschaftlers Markwowitsch an Seiterle, in: Seiterle: Hirnbild und „Lügendetektion“, 2010, S. 99.
  51. BGHSt 5, 332 ff., BGHSt 44, 308 ff.
  52. BVerfG NStZ 1981, 446 ff (mit Anm. Amelung, in: NStZ 1982, 38 ff.).
  53. BHGSt 5, 332, 333.
  54. BGHSt 5, 332, 334.
  55. Schneider, ebenda, S. 63.
  56. Dazu auch BGHSt 5, 34, 36.
  57. NJW 1982, 375.
  58. Schneider, ebenda, S.63.
  59. NJW 1982, 375.
  60. NJW 1982, 375.
  61. Schwabe, NJW 1982, 367.
  62. Schwabe, NJW 1982, 367
  63. Amelung ,NStZ 1982, 38
  64. Amelung, JR 1999, 382, 383.
  65. BGHSt 5, 332 ff.
  66. BGHSt 44, 308, 315.
  67. BGHSt 5, 332, 335.
  68. BGHSt 44, 308, 316.
  69. BGHSt 44, 308, 316.
  70. BGHSt 44, 308, 317.
  71. BGHSt 44, 308, 319.
  72. Abgedruckt in PraxisRPsych 9 (Sonderheft) 1999.
  73. BGHSt 44, 308, 327.
  74. BGHSt 44, 308, 327f.
  75. Stübinger, Lügendetektor Ante Portas, in: ZIS – Zeitschrift für Strafrechtsdogmatik 11/2008, S. 538, 547.
  76. BGHSt 44, 308, 319.
  77. BGHSt 44, 308, 321.
  78. Schneider, ebenda, S. 66; BGH NStZ-RR 20000, 35 ff.
  79. BGH NJW 2003, 2527.
  80. Vgl. OLG Dresden Beschluss v. 14.5.2013, 21 UF 787/12 (BeckRS 2013, 16540); AG Bautzen, Beschluss v. 28.1.2013 12, F 1032/12 (BeckRS 2013, 16541); AG Bautzen Urteil v. 26.3. 2010, 40 Ls 330 Js 6351/12 (BeckRS 2013, 08655)
  81. BGHSt 44, 308 ff.
  82. Hertle, „Freispruch dank Lügendetektor“, in: Sächsische Zeitung, 27.3.2013, S.6
  83. Vgl. AG Bautzen Urteil v. 26.3. 2010, 40 Ls 330 Js 6351/12 (BeckRS 2013, 08655)
  84. Schneider, ebenda, S. 99.
  85. Seiterle, Lügendetektor im Strafprozess: Weit entfernt vom “Einblick in die Seele”. In: Legal Tribune ONLINE, 08.11.2010, http://www.lto.de/persistent/a_id/1879/ (abgerufen am 28.02.2015); Schneider, ebenda, S. 102.
  86. Langleben et al., Human Brain Mapping 26 ( 2005): 262 – 272 (263)
  87. Weber, „Die Gedanken sind noch frei“, in: Süddeutsche Zeitung SZ, 18. April 2013.
  88. Seiterle, ebenda,S. 97.
  89. Vgl. Langleben/Dattilio/Guthei, Journal of Psychiatry and the Law 34 (3), 2006, 351.
  90. Seiterle, ebenda, S. 98.
  91. Vgl. Schneider, ebenda S. 10.
  92. Markowitsch et al., Right amygdalar and temporofrontal activation during autobiographic, but not during fictinous memory retrieval, in: Behavioural Neurology 12 (2000): 181 – 190.
  93. Weber, Die Gedanken sind noch frei, in: Süddeutsche Zeitung SZ 18. April 2013.
  94. Weber, Die Gedanken sind noch frei, in: Süddeutsche Zeitung SZ 18. April 2013.
  95. BGHSt 44, 308 ff.
  96. BGHSt 44, 308 ff.
  97. BGHSt 44, 308 ff.
  98. Vgl. Ausführungen unter C. II 1. b. „Falsche Erinnerungen“.
  99. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 2015, Rn. 255; Seitele, ebenda, S. 103.
  100. SK-StPO, § 244 Rn. 104 – Frister.
  101. Vgl. Seitele, ebenda, S. 104.
  102. BGHSt 5, 332, 333; 38, 215, 219.
  103. Beulke, Strafprozessrecht, 2010, Rn. 130.
  104. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 2015, Rn. 629.
  105. Löwe-Rosenberg, StPO, § 136a Rn. 8 – Gleß.
  106. Löwe-Rosenberg, StPO, § 136a, Rn. 15 – Gleß
  107. Löwe-Rosenberg, StPO, §136a, Rn. 15 – Gleß.
  108. Schneider, ebenda, S. 154.
  109. Peters, Eine Antwort auf Undeutsch: Die Verwertbarkeit unwillkürlicher Ausdruckserscheinungen bei der Aussagewürdigung, in: ZStW 87 (1975), 663, 671, 674 f.
  110. KK-StPO, § 81a Rn.1 – Senge.
  111. vgl. Schneider, ebenda, S. 155.
  112. Vgl BGHSt 44, 308 ff.
  113. Seiterle, ebenda, S. 117.
  114. Seiterle, ebenda, S. 118
  115. Schenider, ebenda, S. 156.
  116. BGHSt  (GS) 42, S. 139, 149 m.w.N.
  117. Rüthers, Rechtstheorie, 2008, Rn. 889 ff.
  118. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 2015, Rn. 649.
  119. BGHst 44, 308 ff.
  120. vgl. Schneider, ebenda, S.  156 ff.; Seiterle, ebenda, S. 118 ff.
  121. Dreier, GG, Art. 1 I, Rn 52 – Dreier.
  122. Dreier, GG, Art. 1 I, Rn. 62 – Dreier.
  123. BGHSt 5, 332, 334.
  124. Kargel/Kirsch, JUS 2000, 537, 539
  125. Amelung, NSTz, 1982, 38, 39.
  126. Beck, JR 2006, 146, 149
  127. Beckermann, in: Jahrbuch Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen 2002/2003, 25f.
  128. Schneider, ebenda, S. 133.
  129. Beck, JR 2006, 146, 149
  130. Vgl. Ausführungen Manipulation unter C. II. 1. c.
  131. Spranger, JZ 2009, 1033,1036.
  132. Vgl. Beck, JR 2006, 146 ff.; Schneider, ebenda, S. 134; Seiterle, ebenda, S. 154.ff; Spranger, JZ 2009, 1033,1036.
  133. BGHSt 44, 308 ff.
  134. BVerfG (Vorprüfungsschauschuss) NJW 1982, 375.
  135. v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art 2 I Rn. 86 – Starck.
  136. Maunz/Dürig, Art. 2 I Rn. 173ff – Di Fabio.
  137. Dreier, GG, Art 2 I Rn. 83 – Dreier.
  138. BVerfGE 27, 344, 352; BVerfGE 65, 1,42
  139. Peters, ebenda, 666.
  140. Schneider, ebenda, S. 141.
  141. Seiterle, ebenda, S. 157
  142. Laber, Die Verwertbarkeit von Tagebuchaufzeichnungen im Strafverfahren, Frankfurt a.M. 1995, S. 58
  143. BVerfG NJW 1990, 563, 564 f.
  144. Schneider, ebenda, S. 143.
  145. Schneider, ebenda, S. 143; Im Ergebnis auch: Seiterle, ebenda, S. 233f.
  146. Schleim/Spranger/Walter, Von der Neuroethik zum Neurorecht?, 2009, S. 7
  147. Ayan, „Mancher leidet am Gehirn-Übertreibungssyndrom“, bei: spektrum.de, 19.3.2012.

2/2016 – Jubiläumsausgabe

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Liebe Leserinnen und Leser,

in diesem Jahr feiert Freilaw sein zehnjähriges Bestehen. Zum einen gab uns dies den Anlass, Freilaw mit einem neuen modernen Logo zu versehen. Zum anderen möchten wir dieses Ereignis mit der Veröffentlichung einer gedruckten Ausgabe würdigen. Damit einher geht unser Gedanke, der (Mit-)Arbeit der Studierenden in besonderem Maße Wertschätzung zu verleihen – schließlich basiert die Arbeit von Freilaw auf deren freiwilligem Engagement. Ob als Redaktionsmitglied oder Autor, tragen die Studierenden zum Bestand und der Weiterentwicklung Freilaws bei.

In den letzten zehn Jahren konnte sich Freilaw immer mehr als Fakultätszeitschrift etablieren und erfreut sich bei den Studierenden zunehmend größerer Beliebtheit. So wird Freilaw vermehrt dazu genutzt, basierend auf der eigenen Seminararbeit einen Beitrag zu veröffentlichen.

Als studentische Zeitschrift lebt Freilaw davon, nicht nur wissenschaftliche Artikel zu veröffentlichen, sondern auch solche, die über das Fachliche hinausgehen und für einen Jurastudenten lesenswert sind. In dieser Ausgabe gelingt uns dies durch ein Interview mit Prof. Dr. Christian Reiter, der uns den Beruf des Unternehmensjuristen näher bringt, sowie durch den Jura- Slam-Beitrag von Jonathan Dollinger, der Klassiker der deutschen Lyrik im Lichte höchstrichterlicher Rechtsprechung erscheinen lässt.

An dieser Stelle möchten wir uns bei Clifford Chance für die jahrelange finanzielle Unterstützung bedanken, mit der Freilaw bestehen und wachsen konnte. Den Druck dieser Ausgabe verdanken wir außerdem Schrade & Partner Freiburg, CMS Hasche Sigle sowie der Jura Fachschaft Freiburg, die uns Gelder aus dem Studierendenvorschlagsbudget genehmigt hat. Ein Dank gilt außerdem unserem Professorenbeirat, den wir jederzeit zu Rate ziehen können.

Die Freilaw-Redaktion wünscht euch viel Spaß beim Lesen!

Julia Kurth und Sonja Bühler

Chefredaktion

Das reformierte Verbraucherschutzgesetz Chinas

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A. Einleitung

In den vergangenen Jahrzehnten ist der Verbraucherschutz in China immer mehr in den Fokus gesellschaftlicher Aufmerksamkeit und legislativ-regulativer Bemühungen geraten, denn nicht nur im Ausland genießt „Made in China“ einen höchst zweifelhaften Ruhm[1]. Die ständige und notwendige Rechtsfortbildung in China hat nun ihren vorläufigen Höhepunkt in dem kürzlich reformierten Verbraucherschutzgesetz (VSG[2]) gefunden. Und so scheint es geboten, die geänderte Rechtslage in der Volksrepublik darzustellen, zu analysieren und notwendigenfalls kritisch zu bewerten.

B. Entwicklung des Verbraucherrechts

Der Verbraucherschutz kann in China nur auf eine recht kurze Tradition zurückblicken, v.a. weil es in der kommunistischen Planwirtschaft schon konzeptionell kein besonderes Schutzbedürfnis gab und im Zweifel ohnehin zum staatlich‑administrativen Aufgabenkreis zählte. Subjektive Verbraucherrechte existierten soweit ersichtlich nicht.[3]

Mit der Wandlung Chinas zur sozialistischen Marktwirtschaft 1978 und der damit verbundenen wirtschaftlichen Öffnung traten aber auch im Reich der Mitte marktwirtschaftliche Grundprinzipien zutage[4] und mit diesen freilich auch ihre Schattenseiten: Verbraucherinteressen standen nunmehr im Widerstreit zu den strukturell stärker situierten Wirtschaftsinteressen.[5] Vor allem qualitativ minderwertige Waren wurden zu einem bedenklichen Problem,[6] was schließlich die Verbraucher bewog sich zu regionalen Interessenverbänden zusammenzuschließen. Diese wurden zwar bald verstaatlicht und dem 1984 gegründeten nationalen Verbraucherverband[7] untergeordnet, bilden aber bis heute den Grundpfeiler des chinesischen Verbraucherschutzes.[8]

Freilich musste letztlich auch der Gesetzgeber tätig werden und so wurden Einzelaspekte des Verbraucherschutzes etwa in den „Allgemeinen Grundsätze[n] des Zivilrechts“[9] und im „Produktqualitätsgesetz“[10] geregelt.[11] Eine umfassende Normierung erfolgte jedoch erst mit Inkrafttreten des VSG aF[12] am 1.1.1994.[13] Der technische und gesellschaftliche Wandel offenbarte aber bald schon Mängel und Regelungslücken im VSG aF, v.a. Fernabsatzgeschäfte und E‑Commerce betreffend, die eine Reform zeitigten. Gesteigertes Interesse galt dabei dem Vertrags- und Verbraucherrecht der europäischen Acquis communautair.[14] Schließlich wurde das reformierte „Gesetz der VR China zum Schutz der Rechte und Interessen von Verbrauchern“ (VSG)[15] am 25.10.2013 verabschiedet und trat am 15.3.2014 in Kraft. Insgesamt wuchs das Gesetz dabei lediglich um 9 Paragraphen auf nunmehr 63 an, brachte aber bedeutende Neuerungen, von denen die wichtigsten nachfolgend herausgegriffen werden sollen.

C. Das reformierte VSG

 

I. Einordnung in die Verbraucherrechtsquellen

Beim VSG handelt es sich um ein Einzelgesetz, das sowohl Zivil-, Verwaltungs- und Strafgesetze enthält und mithin ein Mischgesetz darstellt.[16] Es bildet dabei das Zentrum des Verbraucherrechts in China, indem es dessen rechtliche Grundlagen schafft[17], ohne aber auf Detailfragen einzugehen.[18]  Im Einzelfall bedarf es folglich auch der Berücksichtigung weiterer spezialgesetzlicher Regelungen; auf nationaler Ebene sind dies insbesondere das Deliktshaftungsgesetz[19], das Produktqualitätsgesetz[20] sowie das Lebensmittelsicherheitsgesetz.[21] Gegebenenfalls dürfen auch die abweichenden lokalen Bestimmungen[22] nicht unbeachtet bleiben.[23]

II. Persönlicher Anwendungsbereich

Eine Legaldefinition des Unternehmers[24] kennt das VSG nicht. Aus dem Normengefüge[25] lässt sich aber ableiten, dass Unternehmer iSd VSG ist, wer zu gewerblichen Zwecken in der Produktion oder im Vertrieb von Waren und Dienstleistungen gegenüber einem Verbraucher tätig ist.

Der Verbraucher wird demgegenüber unverändert in § 2 VSG legaldefiniert, obwohl die Unschärfe dieser Definition schon im VSG aF erhebliche Kritik auf sich zog.[26] So ist nach wie vor Verbraucher, wer zur Deckung des täglichen Lebensbedarfs Waren einkauft und gebraucht oder Dienstleistungen in Anspruch nimmt. Dieser Wortlaut spricht für die Beweisbedürftigkeit der Verbrauchereigenschaft; es ist aber unklar, anhand welcher Kriterien ein solcher Beweis zu führen ist.

a) Deckung des täglichen Lebensbedarfs

Zunächst ist fraglich, was unter die Deckung des täglichen Lebensbedarfs gefasst werden kann. Ein Problem, das vor allem in Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen persönlichem und gewerblichem Bedarf ersichtlich wird. So konnte sich in China auf Grundlage des VSG ein ganzer Wirtschaftssektor entwickeln, der bewusst gefälschte oder mangelhafte Produkte aufkauft, um im Anschluss den profitablen Strafschadenersatz geltend zu machen. Man spricht auch vom Wang Hai Phänomen.[27] Dass es dabei zweifelsohne nicht mehr um eine Bedarfsdeckung geht, schadet der Annahme der Verbrauchereigenschaft offenbar nicht. Teilweise wird in der Literatur versucht, dies mit einem weiten Verständnis zu rechtfertigen, wonach der Verbraucherbegriff unabhängig von den Handlungsmotiven des Käufers ist, etwa der bloßen Gewinnerzielungsabsicht.[28] Auch das Oberste Volksgericht trat bei einer Leitentscheidung für die Unbeachtlichkeit des Kaufmotivs ein.[29] Dies mag im Hinblick auf die abschreckende Funktion des Strafschadenersatzes auch sinnvoll erscheinen[30], kann aber auch als rechtsmissbräuchlich angesehen werden.[31] Entsprechend hat ein anderer Teil der Rspr. die Verbrauchereigenschaft auch schon verneint, wenn der Kauf offensichtlich nur der kommerziellen Geltendmachung des Strafschadenersatzes geschuldet war.[32] Ebenso haben einige lokale Gesetzgeber versucht, den Missbrauch durch Eingrenzung des Verbraucherbegriffs zu stoppen.[33] Auf nationaler Ebene konnte man sich jedoch bis vor kurzem zu keinem klaren Standpunkt durchringen und erst ein jüngst veröffentlichter Entwurf der Staatsverwaltung für Industrie und Handel sieht einen Ausschluss von Markteilnehmern mit bloßer Gewinnerzielungsabsicht vor.[34]

b) Juristische Personen als Verbraucher

Ferner ist fraglich, ob etwa juristische Personen Verbraucher sein können. Diese Fragestellung überrascht aus rechtsvergleichender Perspektive nicht, ist sie doch auch in den europäischen Rechtsordnungen uneinheitlich geregelt. So ist etwa in Frankreich und Österreich die juristische Person als Verbraucher nicht prinzipiell ausgeschlossen. In Deutschland und Italien dagegen können grundsätzlich nur natürliche Personen Verbraucher sein.[35] Dessen ungeachtet wird bzgl. des chinesischen Verbraucherbegriffs dennoch argumentiert, eine Beschränkung auf natürliche Personen stünde im Einklang mit einem „internationalen [...] Muster“.[36] Dies taugt aber freilich als Argument für eine teleologische Reduktion des chinesischen Rechtsbegriffs nicht; an zusätzlichen Indizien besteht indes kein Mangel. Zunächst einmal soll schon der Zweck des Verbraucherschutzes auf natürliche Personen beschränkt sein.[37] Des Weiteren weist das VSG selbst auf einen Verbraucher „aus Fleisch und Blut“ hin, wenn es Haftungstatbestände für Körperverletzung und Tod, für die Verletzung von Persönlichkeitsrechten oder aber auch seelische Schäden vorsieht.[38] Angesichts der Diskrepanz zwischen diesen Indizien und der gesetzgeberischen Untätigkeit kann aber eine eindeutige Aussage nicht getroffen werden.

3. Zwischenergebnis

Es muss mithin konstatiert werden, dass der Verbraucherbegriff bis heute noch unscharf ist, was zulasten der Rechtssicherheit geht. Der Entwurf der Staatsverwaltung für Industrie und Handel verspricht aber in naher Zukunft teilweise Klärung.

III. Gewährleistung und Beweislastumkehr

 

1. Mangel

Entscheidende Änderungen haben sich durch die Gesetzesnovelle im Mängelgewährleistungsrecht ergeben. Zwar muss die Ware/Dienstleistung nach wie vor die gewöhnlichen und gebrauchstypischen Standards bzgl. Qualität, Leistungsvermögen und Haltbarkeit erfüllen[39], dies gilt jedoch nach neuem Wortlaut nicht mehr uneingeschränkt. Nunmehr sind nur noch solche Mängel erfasst, die gleichzeitig auch einen Verstoß gegen zwingende Rechtsbestimmungen darstellen.[40] Womöglich soll damit das Gewährleistungsrecht für nur unerhebliche Mängel ausgeschlossen werden. Darüber hinaus ist es auch dann ausgeschlossen, wenn der Verbraucher den bestehenden Mangel bereits bei Kauf der Ware bzw. Inanspruchnahme der Dienstleistung kannte.[41]

2. Beweislastumkehr

Eine grundlegende Neuerung sieht das VSG im Hinblick auf die Beweislast vor, die bei sog. „langlebigen Waren oder Dienstleistungen“ zugunsten des Verbrauchers umgekehrt wird[42]. Damit ist der Gesetzgeber einer Forderung aus der Wissenschaft nachgekommen.[43] Nunmehr wird Mangelhaftigkeit einer Ware/Dienstleistung angenommen, wenn binnen sechs Monaten nach Erhalt bzw. Inanspruchnahmen derselben, ein Mangel zutage tritt.[44]  Dies erscheint rechtspolitisch sinnvoll, da der Unternehmer regelmäßig ungleich bessere Möglichkeiten zur Warenprüfung hat als der Verbraucher. Im Übrigen profitiert davon auch der Handel, denn der Verbraucher kann auf eine zeitaufwendige Mängelprüfung im Voraus verzichten.[45] Die Beweislastumkehr ist allerdings auf langlebige Waren und Dienstleistungen beschränkt, wozu insbesondere Computer, Kühlschränke, Klimaanlagen und Waschmaschinen zählen; langlebige Dienstleistungen sind etwa Ausbauarbeiten.[46] Trotz dieser Beispiele bleibt fraglich, wie das Merkmal der Langlebigkeit zu verstehen ist, was mittelbar auch Aussagen über die tatsächliche Reichweite der Beweislastumkehr erschwert. Die Auffassungen darüber, wie dieses Tatbestandsmerkmal wirkt, divergieren bisweilen stark und reichen von der Annahme einer weitreichenden Beweiserleichterung für den Verbraucher[47] bis hin zur Befürchtung einer allzu starken tatbestandlichen Einschränkung der Mangelvermutung.[48] Allein diese Differenzen lassen eine mangelnde Bestimmtheit der Norm vermuten. Dem Verbraucherschutz wäre freilich mit einer weiten Auslegung am ehesten gedient. Jedenfalls in Europa wurde eine ähnliche Einschränkung offenbar nicht für nötig erachtet, sodass von der Beweislastumkehr nur solche Sachmängel ausgeschlossen sind, die nach Art der Sache oder des Mangels damit unvereinbar sind.Freilich darf dabei nicht übersehen werden, dass Dienstleistungen schon grundsätzlich nicht von der Richtlinie erfasst sind.[49] Für eine Konkretisierung der langlebigen Waren wird wohl eine Auslegung durch die Rspr. abzuwarten bleiben.

3. Rechtsfolgen des Gewährleistungsfalls

Welche Rechtsfolgen knüpft der Gesetzgeber aber an den Gewährleistungsfall? Die bisherige bloße Verweisung auf andere Rechtsnormen oder den Vertragsinhalt wurde im Gange der Reform um eine eigene, subsidiäre Rechtsfolge ergänzt.[50] Dieser zufolge besteht nunmehr ein Rückgaberecht binnen 7 Tagen. Für die Rückgabe bzw. den Umtausch muss der Verbraucher dem Unternehmer auch nicht mehr zwei Reparaturversuche gewähren.[51]

Ist die 7-tägige Frist abgelaufen, so kann der Verbraucher sich nur noch auf Grundlage anderer gesetzlicher Bestimmungen vom Vertrag lösen. Damit dürfte vor allem das Rücktrittsrecht im Vertragsgesetz gemeint sein, auf welches noch im Entwurf explizit verwiesen wurde.[52] Im Übrigen verbleiben dem Verbraucher ggf. nur noch seine Rechte auf Umtausch oder Reparatur.

IV. Verbraucherrechte und Digitalisierung

1. Fernabsatzhandel

Darüber hinaus, wurde in der Literatur schon länger die Einführung des Widerrufsrechts bzw. einer cooling off period verlangt, um auch bei Fernabsatzgeschäften einen angemessenen Verbraucherschutz zu gewährleisten,[53] denn typischerweise ist der Verbraucher beim Fernabsatz nicht in der Lage, die Ware vor Vertragsschluss in Augenschein zu nehmen[54]; er läuft mithin Gefahr, Fehlvorstellungen zu unterliegen. So wurde nunmehr das Recht auf Rückgabe im Fernabsatz geschaffen.[55] Erste Voraussetzung hierfür ist der Vertrieb und die Bereitstellung von Waren und Dienstleistungen insbesondere über das Internet, Fernsehen, Telefon oder den Versandhandel zu verstehen[56], also der Vertragsschluss über Fernkommunikationsmittel.

a) Recht auf Rückgabe

Binnen 7 Tagen kann der Verbraucher ohne Angabe von Gründen die erworbenen Waren – freilich nicht Dienstleistungen – zurückgeben.[57]Dies ist jedoch ausgeschlossen, wenn die Waren speziell für den Verbraucher hergestellt wurden (Nr.1), frisch bzw. verderblich sind (Nr.2) oder wenn es sich um digitale Waren, namentlich online heruntergeladene oder entpackte audiovisuelle Produkte und Software handelt (Nr.3); für bereits übergebene Zeitungen und Zeitschriften gilt dasselbe (Nr.4).

Nach dem neuen Entwurf der Staatsverwaltung für Industrie und Handel sollen die Fälle des Rückgabeausschlusses sogar noch auf Waren ausgeweitet werden, die durch ihre Aktivierung oder den probeweisen Gebrauch einen wesentlichen Wertverlust erleiden, als solche gekennzeichnete mangelhafte oder bald verfallende Produkte, und Waren, die sich infolge des Auspackens leicht verschlechtern könnten, sodass die Gesundheit und Sicherheit des Verbrauchers beeinträchtigt würde.[58]

Ferner ist das Rückgaberecht für alle übrigen Waren ausgeschlossen, wenn diese ihrer Natur nach nicht zur Rückgabe geeignet sind. Damit dieser Ausschluss aber wirksam wird,  muss der Unternehmer auf die Rückgabeunfähigkeit der Ware hinweisen und sie sich bestätigen lassen.[59] Der bloße Hinweis in der Produktbeschreibung soll dafür nicht genügen. Vielmehr soll dem Verbraucher gesondert z.B. in einem separaten Browserfenster, ein aktives Akzeptieren ermöglicht werden.[60] Wird dieser Hinweisobliegenheit nicht nachgekommen, muss der Unternehmer sich einen Widerruf gefallen lassen. Faktisch handelt es sich hierbei also um einen vertraglichen Ausschluss des Widerrufsrechts bei Waren, die an sich schon nicht zur Rückgabe geeignet sind. Daraus ergibt sich wiederum e contrario, dass das Widerrufsrecht an sich prinzipiell unabdingbar ist.[61]

b) Guter Zustand zurückgegebener Waren

Im Falle der Rückgabe muss die Ware in gutem Zustand sein.[62] Mangels einer weitergehenden Klärung dieses Begriffs bleibt offen und der Rspr. überlassen, ob ausgepackte Ware noch in gutem Zustand ist. Dafür spricht der Zweck des Widerrufsrechts, die Warenprüfung zu ermöglichen.[63]

Für den Fall, dass die Ware tatsächlich nicht mehr in gutem Zustand ist, sind im VSG keine Rechtsfolgen vorgesehen. Es ist mithin anzunehmen, dass der Widerruf versehrter Waren ausgeschlossen ist. Verbraucherfreundlicher wäre hier eine Regelung, wonach der Verbraucher den Wertverlust zu ersetzen hat, soweit dieser auf einen zur Prüfung der Ware nicht notwendigen Umgang zurückzuführen ist.[64]

c) Kostentragung

Fürderhin ist auch die Kostentragung beim Widerruf geregelt.[65] So hat der Verbraucher, vorbehaltlich anderslautender Vereinbarungen, die Kosten für den Rücktransport zu tragen. Auf diese Weise wird der Unternehmer vor missbräuchlichem Widerruf geschützt und der Verbraucher dazu angehalten, auch im Fernabsatz verantwortungsvoll zu handeln.[66]

d) Informationspflichten

Im Übrigen treffen den Unternehmer im Fernabsatz gemäß § 28 VSG noch besondere Informationspflichten, die genauso für Finanzdienstleistungen (auch seitens Versicherungen) gelten. Bereitzustellen sind demzufolge u.a. die Geschäftsanschrift des Unternehmers, Qualitäts-, Quantitäts- und Preisangaben zur Ware oder Dienstleistung, Informationen zur Erfüllungsfrist und ‑form, der Haftung sowie Sicherheitshinweise. Unklar bleibt allerdings, in welcher Form die Informationen zu erteilen sind und auch bzgl. der Rechtsfolgen im Falle der unterlassenen Information.[67]

2. Datenschutz

In engem Zusammenhang mit dem Fernabsatz steht das Internet, das wie kaum ein anderes Medium dazu geeignet ist, Verbraucherdaten zu erfassen, auszuwerten, zu verkaufen und etwa für Zwecke der personalisierten Werbung zu nutzen. Und gerade in China hat man besonders mit dem Problem belästigender Werbung zu kämpfen,[68] was Regelungen im Verbraucherdatenschutz unabdingbar machte.

a) Historisch-gesellschaftliche Grundlage

Im Reich der Mitte kommt erschwerend hinzu, dass Privatsphäre und Datenschutz lange negativ konnotiert waren und mit klassisch chinesisch-konfuzianischen Moralvorstellungen konfligierten.[69] Erst mit Öffnung des chinesischen Marktes rückte diese Thematik in das öffentliche, politische und rechtswissenschaftliche Bewusstsein.[70] Einige wenige Aspekte des Persönlichkeitsrechts fanden zwar bereits in den Allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts (1986) Niederschlag[71], tatsächlich begann man aber erst in den 90ern mit der Analyse amerikanischer und europäischer Erfahrungen auf diesem Gebiet.[72] Mit der zunehmenden Integration in die Weltwirtschaft, insbesondere auch durch den WHO-Beitritt Chinas (2002) und der wachsenden Anzahl an Akademikern nahm die ganze Entwicklung an Fahrt auf. Einen Beitrag dazu leistete sicher auch der rege internationale Austausch; hervorzuheben ist hier vor allem die Zusammenarbeit Chinas mit der EU.[73] Ein Meilenstein der Entwicklung war der „Beschluss zur Stärkung des Online-Datenschutzes“[74], der schließlich formalgesetzlich in der Novelle des VSG aufging und dessen Schutz sogar auf nicht-digitale Inhalte erstreckt wurde.[75]

b) Schutz persönlicher Informationen

Grundlegend für den Verbraucherdatenschutz ist § 14 VSG, der neben der Achtung der Person und der ethnischen Sitten und Gebräuche neuerdings auch ein Recht zum Schutz „persönlicher Informationen“ vorsieht, ohne diesen Begriff aber näher zu bestimmen. Eine Begriffsbestimmung erfolgte am 15. März 2015 mit Inkrafttreten der ersten, das VSG konkretisierenden SAIC-Maßnahmen[76]. Demnach gelten Informationen als persönlich, wenn sie allein oder in Verbindung mit anderen Informationen dazu geeignet sind, den Verbraucher zu identifizieren; gemeint sind etwa Name, Geburtsdatum, ID‑Nummer und Adresse des Verbrauchers.[77] Besagte Aufzählung ist insofern bemerkenswert, als sie den Kreis der bisher anerkannten persönlichen Informationen ausweitet und um Geschlecht, Beruf, Einkommen, Vermögen, Gesundheitszustand und Konsumverhalten ergänzt.[78]

Mit dem Datenschutz geht die Pflicht des Unternehmers einher, den Verbraucher auf den Umfang der Datenerfassung und –nutzung hinzuweisen und dessen ausdrückliches Einverständnis einzuholen.[79] Im Übrigen gilt eine strenge Geheimhaltungspflicht, sodass die Preisgabe, der Verkauf oder das illegale Zurverfügungstellen der Informationen verboten ist; der Unternehmer hat diesbezüglich die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, insbesondere auch um den Datenverlust zu verhindern.[80]

Der jüngste Entwurf[81] der Staatsverwaltung für Industrie und Handel sieht an dieser Stelle einige Konkretisierungen vor. So soll etwa das Sammeln von Daten, die nicht im Zusammenhang mit dem betriebenen Handelsgewerbe stehen, verboten werden. Eine so weitreichende Einschränkung ist freilich auch auf Kritik gestoßen; so sei völlig unklar und schwer einschätzbar welche Informationen im jeweiligen Fall gemeint sind.[82] Vor dem Hintergrund des Zustimmungserfordernisses lässt sich zudem schon generell an der Notwendigkeit dieser Regelung zweifeln. Wenigstens würde der kategorische Ausschluss ein wenig dadurch relativiert, dass es den Unternehmen nach dem Entwurf gestattet sein soll, anonymisierte Daten auch ohne Zustimmung des Verbrauchers weiterzugeben.[83]

Um dem eingangs genannten Problem der unerwünschten Werbung Herr zu werden, ist im VSG außerdem noch einmal ausdrücklich geregelt worden, dass die Zusendung kommerzieller Informationen ohne die Zustimmung des Verbrauchers verboten ist.[84]

c) Rechtsfolgen einer Persönlichkeitsrechtsverletzung

Für den Fall eines Verstoßes gegen die Datenschutzbestimmungen hat der Verbraucher einen Anspruch auf Unterlassung, die Wiederherstellung des guten Rufes, eine Entschuldigung, Schadenersatz sowie einen Folgenbeseitigungsanspruch gegenüber dem Unternehmer.[85] Hinzu treten ggf. verwaltungsrechtliche Sanktionen.[86] Die praktische Durchsetzbarkeit des Beseitigungsanspruchs bei erfolgter Datenweitergabe und die Schadensbemessung dürften sich allerdings schwierig gestalten.[87]

V. Zivilgesellschaftlicher Verbraucherschutz

Verbraucherverbände bilden seit jeher eine treibende Kraft im chinesischen Verbraucherschutz. Entsprechend genießen die Verbraucher laut § 12 VSG das Recht, gesellschaftliche Organisationen zur Wahrung ihrer Rechte und Interessen zu gründen. Das gleicht weitestgehend auch der bisherigen Rechtslage,[88] allerdings wurde der Wortlaut insofern verändert, als nun nicht mehr von Verbraucherverbänden und ‑organisationen als gesellschaftliche Körperschaften, sondern als gesellschaftliche Organisationen die Rede ist. Dasselbe gilt für die Legaldefinition der Verbraucherverbände in § 36 VSG. Dieser Terminologiewechsel wurde in der rechtswissenschaftlichen Literatur dahingehend verstanden, dass neben den bisher erfassten Vereinen bzw. deren chinesischem Funktionsäquivalent nun auch andere Rechtsformen für Verbände möglich sind, z.B. Stiftungen. Die Hürden für die gesellschaftliche Beteiligung am Verbraucherschutz dürften damit merklich abgesenkt worden sein.[89]

Nichtsdestotrotz wird die Chinese Consumer Agency als Dachverband der Verbraucherschutzverbände äußert relevant bleiben. Dabei ist allerdings nicht unproblematisch, dass die Verbände strukturell in hohem Maße von staatlichen Stellen abhängig sind, in personeller wie auch in finanzieller Hinsicht.[90] Dies bietet Raum für einen selektiven Verbraucherrechtsschutz, der sich mehr an parteipolitischen Staatsinteressen, denn an den Verbrauchern orientiert. Vergleichend sei aber auch darauf hingewiesen, dass derartige finanzielle Abhängigkeiten auch den europäischen Verbraucherverbänden nicht fremd sind.[91]

1. „Amtspflichten“ der Verbraucherorganisationen

Die kontinuierliche Ausweitung der Kompetenzen und Bedeutung chinesischer Verbraucherschutzverbände hat mit der Reform des VSG einen neuen Höhepunkt erreicht. Schon ein Vergleich der Aufgaben von Verbraucherverbänden und  ‑organisationen macht dies deutlich.[92] Über die bisher vor allem beratende und informierende Funktion hinaus, sollen sie nun die Verbraucher auch zur Wahrnehmung ihrer Rechte befähigen und diese zugunsten eines zivilisierten, gesunden, ressourcenschonenden und umweltschützenden Konsumverhaltens aufklären.[93] Außerdem genießen die Verbände nun auch das gesetzlich verbriefte Recht, sich an der Verbraucherrechtssetzung zu beteiligen, sodass der Staat ihre Stellungnahmen einzuholen hat.[94] Diese Beteiligungsrechte sind im VSG jedoch nicht weiter ausgestaltet.

2. Notwendigkeit der Verbandsklage

Angesichts ständiger Skandale, v.a. im Bereich der Produktsicherheit, wurde das Vertrauen in chinesische Produkte nachhaltig gestört[95] und mitunter kam es sogar zu regelrechten Klagefluten durch Verbraucher. [96] Auch wenn das chinesische Zivilprozessgesetz (ZPG) seit 1991 Klagemodi für diese Fälle vorsah[97], waren die Gerichte in ihrer Anwendung sehr zurückhaltend. Die Komplexität der Verfahren und das große mediale und politische Interesse wirkten sich hier kontraproduktiv aus. Stattdessen versuchte man sich durch die Bildung von Streitgenossenschaften und durch Musterprozesse zu behelfen.[98] Teilweise hat man aber auch gesetzliche Spielräume ausgereizt und Massenverfahren gänzlich abgewiesen – so geschehen 2008 beim Skandal um melaminverseuchtes Milchpulver. Zur Begründung wurde angeführt, dass es sich um Massenschäden handele, für die nicht die Gerichte, sondern Staat und Verwaltung zuständig seien.[99]

3. Verbandsklage im Kontext des VSG

Diesem Zustand sollte bei der Reform des ZPG 2012 abgeholfen werden, in dem erstmals die „Klage im öffentlichen Interesse“, die Verbandsklage eingeführt wurde.[100] Bisher konnten nur unmittelbar Geschädigte Klage erheben,[101] was aber oft an den mangelnden finanziellen Mitteln scheiterte.[102] Nunmehr tritt neben die Individualklage die Verbandsklage; im Falle rechtswidriger Handlungen wie Umweltverschmutzungen und massenhaft auftretender Verbraucherrechtsverletzungen, die das öffentliche Interesse beeinträchtigen, dürfen gesetzlich bestimmte Behörden und einschlägige Organisationen nunmehr Klage vor den Volksgerichten erheben.[103] Das VSG sieht die erforderliche Klageermächtigung für Verbraucherverbände vor.[104] Was aber unter dem Begriff der „einschlägige[n] Organisationen“ zu fassen sein soll, wird der Gesetzgeber erst spezialgesetzlich regeln müssen. [105] Eine nähere Ausgestaltung der Verbandsklage sind ZPG und VSG aber schuldig geblieben.

Typisch für die chinesische Rechtsschöpfungspraxis hat das Oberste Volksgericht mit Wirkung zum 01.03.2016 eine „Auslegung des OVG bezüglich einiger Fragen die Rechtsanwendung bei der Verbraucherverbandsklage betreffend [106] (AzV) erlassen. Diese Auslegung tritt neben weitere justizielle Interpretationen des ZPG[107], die sich insbesondere auf den Gerichtsstand[108], den Beitritt weiterer Parteien in eine erhobene Verbandsklage[109], sowie die Anordnung der ex officio-Beweiserhebung durch den Richter beziehen[110]. Die AzV geht noch weiter und konkretisiert die Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Verbandsklage.[111] Die dort beispielhaft angeführten Fälle decken sich weitestgehend mit den Pflichten, welche dem Unternehmer durch das VSG auferlegt wurden, sodass eine Verbandsklage nahezu bei jeder Pflichtverletzung zulässig sein dürfte.

Für eine erfolgreiche Klageerhebung müssen hinreichende Indizien für ein verbraucherrechtswidriges Verhalten vorliegen.[112] Außerdem hat der Verbraucherverband den Nachweis darüber zu führen, dass er seinen Pflichten[113] nachgekommen ist, die rechtlichen Verbraucherfragen und Lösungsvorschläge an die „betreffende Abteilung“ weiterzuleiten und einen Schlichtungsversuch zu unternehmen.Vor allem letzteres macht deutlich, dass das Instrument der Verbandsklage als ultima ratio konzipiert ist.

Will der Verbraucher Schadenersatz geltend machen, so bleibt er auf die Erhebung einer Individualklage verwiesen, denn die „Klage im öffentlichen Interesse“ ist dafür offensichtlich ungeeignet. Sie ist nämlich gerade nicht als Klage an Verbraucher statt ausgestaltet, sondern als unmittelbare Klagebefugnis für die Verbände, lediglich im Interesse der Verbraucher. [114] Überdies geht es ja um die Interessen einer unbestimmten Vielzahl von Verbrauchern[115], was einer pekuniären Schadensbemessung entgegensteht. Der einzelne Verbraucher kann jedoch insofern Nutzen aus dem Verbandsklageverfahren ziehen, als die dabei erfolgte Tatsachenfeststellung der Individualklage zugrunde gelegt wird, sofern die Fehlerhaftigkeit der Feststellung nicht bewiesen werden kann.[116] Auch der Prozessökonomie kommt dies zugute.

4. Zusammenfassung

Es ist festzuhalten, dass man in China offenbar bemüht war, den Verbrauchern bzw.  den Verbraucherverbänden ein neues Mittel zur Rechtsdurchsetzung an die Hand zu geben. Diese Bestrebung hat mit der Schaffung der Verbandsklage in § 55 ZPG nun eine rechtliche Ausformung gefunden. Die notwendige weitergehende Konkretisierung dieses neuen prozessualen Instituts bleibt jedoch anzumahnen; die Auslegung durch das OVG stellt dabei zweifelsohne einen vielversprechenden ersten Schritt in die Richtung eines funktionsfähigen prozessualen Instruments dar.

VI. Strafschadenersatz

 

1. Einordnung des Strafschadenersatzes

Obwohl man auch in China vom Grundsatz der Schadenskompensation ausgeht, also nur ein tatsächlicher Schaden ersetzt verlangt werden kann, kennt das chinesische Recht den sog. Strafschadenersatz bzw. punitive damages. [117] Hat gemäß § 49 VSG aF der Unternehmer betrügerisch gehandelt, war der Schadenersatz für tatsächlich erlittene Schäden um den Preis der Ware bzw. Dienstleistung zu erhöhen. Mit anderen Worten konnte der Verbraucher nach alter Rechtslage den doppelten Kaufpreis (zurück‑)verlangen, da der Schadenersatz regelmäßig dem Kaufpreis entspricht.[118] Dies sollte den Verbraucher zur Rechtsdurchsetzung motivieren, auf Unternehmer abschreckend wirken und wird teilweise als Möglichkeit gesehen, z.B. weniger greifbare Schäden zu kompensieren.[119] In Fällen geringen Verschuldens steht aber zu befürchten, dass punitive damages iVm verwaltungsrechtlichen Sanktionen unverhältnismäßig sein könnten[120] oder eine selektive, gewinnorientierte Rechtsdurchsetzung nach sich ziehen.[121] Allen Bedenken zum Trotz hat sich der Strafschadenersatz in China mittlerweile konsolidiert und findet sich heute unter anderem auch in § 59 II Lebensmittelsicherheitsgesetz, § 70 Reisegesetz und § 47 Deliktshaftungsgesetz.[122]

2. Reform der Haftung auf Strafschadenersatz

Mit dieser Entwicklung steht es im Einklang, dass der Strafschadenersatz im reformierten VSG sogar erweitert wurde. Nunmehr werden betrügerische Unternehmerhandlungen mit dem Dreifachen des Kaufpreis bzw. der Dienstleistungsentgelte sanktioniert, mindestens aber mit 500 Yuan.[123] Damit dürfte das Abschreckungsmoment verstärkt worden sein,[124] während der Verbraucher von der Möglichkeit einer noch „lukrativeren“ Rechtsdurchsetzung profitiert oder durch die Untergrenze von ¥500 überhaupt erst zur Klageerhebung motiviert wird.[125]

Aber auch mit den aus dem common law entlehnten punitive damages steht der chinesische Strafschadenersatz nicht ganz im Einklang. So knüpft das anglo-amerikanische Vorbild zumeist an einen gesteigerten Handlungsunwert an.[126] Scheinbar in dieser Tradition setzt auch das VSG eine „betrügerische“ Handlung voraus. Dass hieran insbesondere das Wang Hai Phänomen nicht gescheitert ist, gab Anlass zur Kritik: Wer bewusst Mängelware kauft, kann kaum diesbezüglich betrogen worden sein.[127] Dies wurde auch in Teilen der Rspr. so gesehen.[128] Was jedenfalls unter einer betrügerischen Handlung zu verstehen ist, hat die Staatsverwaltung für Industrie und Handel näher konkretisiert.[129] V.a. wurden dabei aber (teils unwiderlegliche) Vermutungsregeln geschaffen. Eine unwiderlegliche Betrugsvermutung ist demnach bereits bei einer Nichterfüllung des Vertrages zum Zwecke der Erschleichung der Gegenleistung anzunehmen.[130] Bei einem solch weiten Begriff scheint sich die Frage nach dem gesteigerten Unwertgehalt kaum noch zu stellen, sodass die Grenze zwischen Regel (Kompensation) und Ausnahme (punitive damages) verwischt. Die Folgen dürften jedoch dadurch etwas gemildert werden, dass die Strafschadenersatzregelung des VSG nur subsidiär Anwendung findet[131] und insbesondere das vorrangige Produktqualitätsgesetz die punitive damages an gesonderte Tatbestandsmerkmale knüpft.[132]

3. Neue deliktische Haftung auf Strafschadenersatz

Über eine bloße Ausweitung der punitive damages hinaus wurde mit der Reform sogar eine zweite, deliktsrechtliche Anspruchsgrundlage geschaffen.[133] Verursacht demnach ein Unternehmer, trotz der Kenntnis des Waren-/Dienstleistungsmangels den Tod oder einen erheblichen Gesundheitsschaden des Verbrauchers oder einer anderen Person, so hat er den geschuldeten Schadenersatz im schlimmsten Fall dreifach zu leisten. Dass die Norm ausdrücklich von anderen Personen spricht, macht deutlich, dass es keines vertraglichen Verhältnisses zwischen Unternehmer und Geschädigtem bedarf, um eine Haftung auszulösen. Auch auf die Voraussetzung einer betrügerischen Handlung wurde an dieser Stelle bewusst verzichtet.[134]

Zur Bemessung des Strafschadenersatzes ist mithin zunächst der ersatzfähige tatsächliche Schaden zu ermitteln. Neben den körperlichen Schäden, bei denen sich nur marginale Änderungen ergeben haben, ist der Ersatz seelischer Schäden besonders bemerkenswert. Diese dem VSG gänzlich neue Schadenskategorie liegt vor, wenn die Handlung eines Unternehmers eine Person entwürdigt, verleumdet, in der persönlichen Freiheit oder den persönlichen Rechten verletzt.[135] Dem Wortlaut nach handelt es sich um eine verschuldensunabhängige Haftung.[136]

Außerdem räumt das reformierte VSG den punitive damages den Vorrang vor verwaltungsrechtlichen Buß- und Strafgeldern ein, sollte das Vermögen nicht zur vollumfänglichen Deckung der Ansprüche genügen.

4. Zusammenfassung

Die Konsolidierung des chinesischen Strafschadenersatzes ist evident. Der Verbraucher, aber auch Dritte können nun noch mehr Vorteile von ihrer Rechtsdurchsetzung erwarten. Ob dies zu einer signifikanten Änderung im Fallaufkommen führen wird, bleibt abzuwarten. Es ist jedenfalls begrüßenswert, dass der Staat eigene Bußgeldansprüche hinter Ansprüche der Geschädigten zurückstellt.

D. Fazit

Alles in allem ist zu bemerken, dass das chinesische Verbraucherrecht in den vergangenen Jahren einem starken Entwicklungsdrang unterlag. Dies hat zu einer Vielzahl von Neuerungen geführt, von denen sich ein Großteil in der jüngsten Reform des VSG manifestiert hat.

Es ist sehr erfreulich, dass es schließlich gelungen ist, bisweilen klaffende Rechtslücken weitgehend zu schließen und das VSG den heutigen Marktgegebenheiten anzupassen. Allerdings bleibt im Hinblick auf die Einführung neuer Rechtsinstitute – vorliegend sei noch einmal auf die anfänglich rudimentär geregelte Verbandsklage verwiesen – für die Zukunft eine umfassendere gesetzgeberische Herangehensweise zu wünschen. Immerhin bietet die chinesische Rechtssetzungspraxis, insbesondere durch Oberste Volksgericht und die Staatsverwaltung für Industrie und Handel hinreichende Möglichkeiten, das Gesetz weiter zu konkretisieren und ggf. gesetzgeberische Versäumnisse schnell und präzise zu beheben.

Das Rechtsgebiet verspricht also auch in den kommenden Jahren brisant, facettenreich und metamorph zu bleiben und möglicherweise gelingt es sogar, eine spezifisch chinesische Verbraucherschutzdogmatik zu entwickeln – Anfänge hierfür mag man bereits im Strafschadenersatz erkennen. Für den Verbraucher stellt die Reform des VSG jedenfalls einen Schritt in die richtige Richtung dar.

* Der Autor studiert im siebten Semester Rechtswissenschaften an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg mit dem Schwerpunkt „Internationales und europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht“. Er ist studentische Hilfskraft am Institut für Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht mit Schwerpunkt Ostasien bei Prof. Dr. Yuanshi Bu LL.M. (Harvard). Der Artikel beruht auf einer im März 2016 erstellten Seminararbeit zum Thema „Die Reform des Verbraucherschutzrechts“ im Rahmen des von Prof. Dr. Yuanshi Bu LL.M. (Harvard) geleiteten Seminars „Einige ausgewählten Themen des chinesischen Zivil- und Wirtschaftsrechts“.

Die ungekürzte Arbeit wurde online publiziert unter: http://www.jura.uni-freiburg.de/institute/asien/publikation.

 


[1]      Siehe Beattie, Chinese Don’t Trust Food Made In China Either, Seek Baby Formula From Abroad, http://adage.com/article/global-news/chinese-consumers-trust-products-made-china/241165/ [eingesehen am 29.09.2016].

[2]      Alle Paragraphenangaben ohne Gesetzesbezeichnung sind solche des VSG.

[3]      Vgl. Overby, Syracuse J Int’l L & Com 2005-2006, 347 (349); Xu, Loy Consumer L Rev 2011-2012, 22, 24; Zhang/Stadler, RIW 2013, 417, 420.

[4]      Binding, VuR 11/2012, 423, 423.

[5]      Ebenda; Ip/Marschall, Bond L Rev 2014, 38, 38f.

[6]      Overby, Syracuse J Int’l L & Com 2005-2006, 347, 352.

[7]      China Consumers Association.

[8]      Zhang/Qiao/Wang et al., J. of Integrative Agriculture 2015, 2177, 2183f; Binding, VuR 11/2012, 423, 423.

[9]      Allgemeine Grundsätze des Zivilrechts der VR China, erlassen am 12.04.86 durch den 6.NVK. In Kraft getreten am 01.01.1987.

[10]    Am 22.2.1993 verabschiedet vom 7.NVK, in Kraft getreten am 11.09.1993. Geändert am 8.7.2000 durch den Ständigen Ausschuss des 9.NVK.

[11]    Vgl. Williams, UCLA Pac Basin LJ 2000, 252, 261ff.

[12]    Gesetz der VR China zum Schutz der Rechte und Interessen von Verbrauchern, verabschiedet vom Ständigen Ausschusses des 8.NVK am 31.10.1993. Dt. Übersetzung in Newsletter der DCJV 3/1996, 153.

[13]    Ip, Int’l J Bus 6/2001, 112, 115.

[14]    Vgl. Zhang, Freilaw 1/2008, 1, 4f.

[15]    Verabschiedet vom Ständigen Ausschuss des 12.NVK, dt.Übersetzung: ZChinR 2014, 69.

[16]    Vgl. Bu, Recht Chinas, §10 Rn.63.

[17]    Xu, Loy Consumer L Rev 2011-2012, 22, 36.

[18]    Ip, Int’l J Bus 2001, 112, 115.

[19]    Gesetz der VR China über Haftung für die Verletzung von Rechten, verabschiedet am 26.12.2009 vom Ständigen Ausschuss des 11.NVK, in Kraft seit 01.07.2010, dt.Übersetzung: ZChinR 2010, 41.

[20]    Verabschiedet vom Ständigen Ausschuss des 7.NVK am 22.2.93, reformiert am 8.7.2000.

[21]    Verabschiedet vom Ständigen Ausschuss des 11.NVK am 28.2.2009, reformiert am 24.4.2015. Binding/Jiang, ZChinR 2013, 191, 193; vgl. auch Ip/Marschall, Bond L Rev 2014, 35, 45ff.

[22]    In den Grenzen ihrer individuellen Gesetzgebungsbefugnis können etwa Provinzen, Regionen, autonome Gebiete und Städte eigene Bestimmungen erlassen. Vgl. §§ 72, 75, 90 chin. Gesetzgebungsgesetz, dt. Übersetzung: ZChinR 2015, 259.

[23]    Xu, Loy Consumer L Rev 2011-2012, 22, 29.

[24]    Teilweise wird auch vom „Gewerbetreibenden“ gesprochen.

[25]    §§ 3, 4.

[26]    Vgl. Li/Zhou, IJBSS 3/2012, 65, 68; Liao, Beijing L Rev 2014, 163, 167f.

[27]    Vgl. Schmetzer, Chicago Tribune (online) vom 26.2.96; Bu, ZfRV 6/2014, 261, 273

[28]    Zhu/Pan, Frontiers of Law in China 9/2014, 359 (379).

[29]    Vgl. Thomas, Guiding Case No. 23 (SUN Yinshan v. Nanjing Auchan Hypermarket Co., Ltd. Jiangning Store), China Guiding Case Project, 2014.

[30]    So Binding, VuR 11/2012, 423, 424.

[31]    Vgl. Binding/Jiang, ZChinR 2013, 191, 196.

[32]    Vgl. Overby, Syracuse J Int’l L & Com 2005-2006, 347, 374, zitiert nach: Wang Hai Loses Lawsuit in Nanjing, Sinopolis.com.

[33]    Am Beispiel Shanghais: Overby, Syracuse J Int’l L & Com 2005-2006, 347, 374.

[34]    Low/Cheng/Suen, Trending to the positive, http://www.hlmediacomms.com/2016/09/02/trending-to-the-positive-new-draft-regulations-for-consumer-protection-in-china/ [eingesehen am 23.09.16].

[35]    Rösler, Verbraucherschutz, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des europäischen Privatrechts, Band II (2009), 1599, 1601.

[36]    Vgl. Binding/Jiang, ZChinR 2013, 191, 199.

[37]    Vgl. Binding, VuR 11/2012, 423, 424.

[38]    Siehe §§ 49, 50, 41; Vgl. Binding, VuR 11/2012, 423, 424.

[39]    § 23 I 1 VSG und § 22 I Hs. 1 VSG aF.

[40]    § 23 I Hs. 2 Alt.2.

[41]    § 23 I Hs. 2 Alt.1.

[42]    § 23 III.

[43]    Li/Zhou, IJBSS 3/2012, 65, 68.

[44]    Binding/Jiang, ZChinR 2013, 191, 197.

[45]    MüKo/Lorenz § 476 BGB Rn.4.

[46]    Vgl. § 23 III.

[47]    Binding/Jiang, ZChinR 2013, 191, 197.

[48]    Liao, Beijing L Rev 2014, 163, 166.

[49]    Art. 5 III, 1 II lit.b RL 1999/44/EG.

[50]    Vgl. § 23 VSG aF und § 24 I 2.

[51]    § 45 VSG aF ersatzlos gestrichen.

[52]    Vgl. § 24 I VSG-E und § 24 I 2.

[53]    Vgl. Wang, RIW 2014, 265, 268 m.w.N.

[54]    Heinemann, Der neue Online-Handel 2015, 293f.

[55]    §§ 25, 28, 44.

[56]    Vgl. §§ 25, 28.

[57]    § 25 I; Wang, RIW 2014, 265, 269.

[58]    Fn. 34.

[59]    § 25 II.

[60]    Binding/Jiang, ZChinR 2014, 63, 65, zitiert nach: JIA Dongming, Erläuterungen des VSG, Beijing 2013, 109.

[61]    Ebenda, zitiert nach: JIA Dongming, Erläuterungen des VSG, Beijing 2013, 108f.

[62]    § 25 III 1.

[63]    Binding/Jiang, ZChinR 2014, 63, 65.

[64]    Art. 14 II 1 Richtlinie 2011/83/EU; Vgl. Binding/Jiang, ZChinR 2014, 63, 65.

[65]    § 25.

[66]    Wipperfürth, Verbraucherrechte-Richtlinie 2014, 72f.

[67]    Wang, RIW 2014, 265 (267); Binding/Jiang, ZChinR 2013, 191, 195.

[68]    Binding/Jiang, ZChinR 2013, 191, 193.

[69]    Vgl. Sommer, Sex, Law, and Society 2000, 31f.

[70]    Vgl. Gao/O’Sullivan-Gavin, JHRM 2015, 232, 234.

[71]    Vgl. Kap. 5, Abschnitt 4; Allgemeine Grundsätze des Zivilrechts der VR China, erlassen am 12.04.86 durch den 6.NVK. In Kraft getreten am 1.1.1987.

[72]    Vgl. Gao/O’Sullivan-Gavin, JHRM 2015, 232, 236f.

[73]    Vgl. http://eeas.europa.eu/delegations/china/eu_china/food_safety_and_consumer_protection/index_en.htm [eingesehen am 17.3.2016].

[74]    Am 28.12.2012 von Ständigen Ausschuss des NVK verabschiedet und in Kraft getreten.

[75]    Binding/Jiang, ZChinR 2013, 191, 193; Wang, RIW 2014, 265, 269f.

[76]    Maßnahmen zur Bestrafung für Verletzung von Rechten und Interessen der Verbraucher, erlassen von der Staatsverwaltung für Industrie und Handel am 5.1.2015.

[77]    § 11 II SAIC-Maßnahmen.

[78]    Wei/Gong/Shaw, HL Chronicle of Data Protection, 12.02.2015, http://www.hldataprotection.com/2015/02/articles/consumer-privacy/china-clarifies-requirements-regarding-consumers-personal-information/ [eingesehen am 10.03.2016].

[79]    § 29 I.

[80]    § 29 II.

[81]    Fn. 43.

[82]    Vgl. Xie, https://www.dataguidance.com/china-consumer-protection-implementation-draft-too-strict-for-businesses/ [eingesehen am 21.09.2016].

[83]    Kaja/Carlson, https://www.insideprivacy.com/advertising-marketing/china-releases-draft-implementing-regulations-for-consumer-rights-protection-law/ [eingesehen am 21.09.2016].

[84]    § 29 III.

[85]    § 50.

[86]    § 56 Nr. 9.

[87]    Binding/Jiang, ZChinR 2013, 191, 193.

[88]    Vgl. § 12 VSG aF.

[89]    Binding/Jiang, ZChinR 2014, 63, 66.

[90]    Zhang/Qiao/Wang et al., J. of Integrative Agriculture 2015, 2177, 2184.

[91]    Zhang/Stadler, RIW 2013, 417, 432.

[92]    Vgl. § 32 VSG aF und § 37.

[93]    § 37 I Nr. 1.

[94]    § 30.

[95]    Zhang/Stadler, RIW 2013, 417, 418.

[96]    Ebenda.

[97]    Repräsentationsklage (§ 54 ZPG) und ein class-action-Modell (§ 54 ZPG).

[98]    Zhang/Stadler, RIW 2013, 417, 419.

[99]    Dies., RIW 2013, 417, 419f.

[100]   Dies., RIW 2013, 417, 419.

[101]   § 108 Nr.1 ZPG.

[102]   Vgl. Commission on China, Public Interest Lawsuits, 14.1.2016, http://www.cecc.gov/publications/commission-analysis/amendments-to-consumer-protection-law-allows-for-public-interest [eingesehen am 10.03.16].

[103]   § 55 ZPG; Zhang/Stadler, RIW 2013, 417, 420.

[104]   § 47.

[105]   Vgl. Zhang/Stadler, RIW 2013, 417, 423.

[106]   Engl. Wortlaut: Supreme People`s Court Interpretation on Several Issues Concerning the Application of Law in Trial of Public Interest Consumer Civil Litigation Cases. Inoffizielle engl. Fassung: http://chinalawtranslate.com/spc-consumer-protection-int/?lang=en [eingesehen am 18.8.16].

[107]   Binding/Jiang, ZChinR 2013, 191, 198.

[108]   § 285 ZPG-A.

[109]   § 237 ZPG-A.

[110]   § 96 I Nr.3 ZPG-A.

[111]   § 2 AzV.

[112]   § 4 AzV.

[113]   § 37 Nrn. 4, 5.

[114]   Vgl. § 47 iVm. § 37 I Nr. 7.

[115]   § 47 spricht von einer „Vielzahl von Verbrauchern“.

[116]   § 16 AzV.

[117]   Ascher, China-EU Law J 2013, 185, 186f. Vgl. auch § 113 I Vertragsgesetz und § 112 I Allgemeine Grundsätze des Zivilrechts.

[118]   Vgl. Bu, Recht Chinas, §10 Rn.73.

[119]   Zhu/Pan, Frontiers of Law in China 9/2014, 359, 375.

[120]   Siehe u.a. § 56.

[121]   Bu, ZfRV 6/2014, 261, 273.

[122]   Vgl. Bu, ZfRV 6/2014, 261, 273.

[123]   § 55 I 1.

[124]   Vgl. Zhu/Pan, Frontiers of Law in China 9/2014, 359, 375.

[125]   Vgl. Binding/Jiang, ZChinR 2013, 191, 196.

[126]   Vgl. Brooke, Origins of Punitive Damages Rn. 1 in: Koziol/Wilcox, 2009, 1.

[127]   Vgl. Zhu/Pan, Frontiers of Law in China 9/2014, 359, 379; Bu, ZfRV 6/2014, 261, 273.

[128]   Vgl. Overby, Syracuse J Int’l L & Com 2005-2006, 347, 374, zitiert nach: Wang Hai Meets Waterloo in Beijing, Sinopolis.com.

[129]   Maßnahmen zur Bestrafung von Verletzungen der Rechte und Interessen von Verbrauchern, erlassen am 5.1.2015, in Kraft seit 15.3.15; engl. Übersetzung: https://www.cov.com/~/media/files/corporate/publications/2015/01/measures_for_penalties_for_infringing_upon_the_rights_and_interest_of_consumers_2015-01_cn_en.pdf [eingesehen am 6.3.15].

[130]   §§ 5, 6, 16 SAIC-Maßnahmen.

[131]   § 55 I 2.

[132]   Etwa § 148 II Produktqualitätsgesetz.

[133]   § 55 II.

[134]   So aber noch in § 54 II VSG-E. Dt. Übersetzung: ZChinR 2013, 227.

[135]   § 51.

[136]   Munzinger/Metzger, RIW 2015, 790, 792.

Online-Durchsuchung und Quellen-TKÜ – Digitale Ermittlungsmethoden der Strafverfolgungsbehörden

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„Aut aliquis latet error; equo ne credite, Teucri“ Vergil, Aeneis 2,48. 1

Mit diesen Worten soll einst Laokoon, ein trojanischer Priester, die Trojaner vor dem „Trojanischen Pferd“ der Griechen gewarnt haben. Das Misstrauen des Laokoon gegenüber verborgenen Angriffen findet sich in der aktuellen Debatte um den sogenannten „Bundestrojaner“ als heimliches Ermittlungsinstrument der Strafverfolgungsbehörden wieder.

Mit dem folgenden Artikel soll dieses natürliche Misstrauen auf einer verfassungsrechtlichen Ebene beleuchtet und dabei die grundlegenden Probleme erläutert werden, die sich bei der Erhebung von Nutzerdaten im Rahmen der strafprozessualen Aufklärung des Internets mittels eines solchen „Trojaners“ stellen.

Die Problematik trifft uns im Zeitalter der Digitalisierung. Unser Handeln verlagert sich zunehmend aus der „analogen Welt“ in die „digitale Welt“. Neben alltäglichen Vorgängen betrifft diese Veränderung auch die Planung und Durchführung krimineller Handlungen. Unabhängig von dieser Verlagerung behält der Staat glücklicherweise auch in diesem digitalen Bereich  sein Gewaltmonopol. Problematisch ist hier allerdings zuweilen dessen Durchsetzbarkeit, da es zur Ermittlung solcher Täter bzw. Straftaten an klassischem Beweismaterial wie Fingerabdrücken oder DNA-Spuren häufig fehlt.

Die Ermittlungsbehörden sind also auf andere Spuren angewiesen. Dabei kommt ihnen zu Gute, dass wir bei jeder digitalisierten Tätigkeit bewusst und unbewusst „Spuren“ in Form von Daten hinterlassen 2. Diese Daten können in einem Ermittlungsverfahren zu wichtigem Beweismaterial werden. Ihre Erhebung ist dann aufgrund des hohen Informationsgehalts für eine effektive Strafverfolgung zwingend notwendig.

Was auf den ersten Blick als eine logische Weiterentwicklung des Gesetzes erscheint, ist auf den zweiten Blick mehr als problematisch: Denn der verfassungsrechtliche Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes gilt weiter fort!

Danach müssen Grundrechtseingriffe, sofern ein Eingriff in den Schutzbereich grundsätzlich gestattet ist, auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, sog. Ermächtigungsgrundlage 3. Da jedoch herkömmliche Ermittlungsmaßnahmen unserer aus dem Jahre 1987 stammenden Strafprozessordnung auf die „analoge“ und nicht die „digitale Spurensuche“ ausgelegt sind, stoßen die Behörden hier mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ermittlungsmaßnahmen an ihre Grenzen, während aus technischer Sicht eine weitaus effektivere Strafverfolgung möglich wäre.

Die Problematik liegt also in der Vereinbarkeit des geltenden Verfassungsrechts mit den theoretisch und technisch möglichen Ermittlungsmaßnahmen zur Erhebung von Daten.

Überblick

Die allgemein geläufige Bezeichnung „Bundestrojaner“ lassen wir nun hinter uns und unterscheiden stattdessen auf rechtlicher Ebene korrekterweise zwischen der Maßnahme der sog. Online-Durchsuchung und der sog. Quellen-Telekommunikationsüberwachung (kurz: Quellen-TKÜ).

Bei beiden Maßnahmen erfolgt die Überwachung durch Infiltration sog. informationstechnischer Systeme des Überwachten. Darunter versteht man ein System, das aus Hard- und Software sowie aus Daten besteht und der Erfassung, Speicherung, Verarbeitung, Übertragung und Anzeige von Informationen und Daten dient 4. Bekannte Vertreter sind hier unser Laptop und unser Smartphone.

Daten sind lediglich magnetische Speicherungen auf einem derartigen Datenträger 5, wobei sie ohne diesen weder körperlich greif- und sichtbar, noch existent wären 6.

I. Online-Durchsuchung

1. Technische Grundlagen

Unter einer Online-Durchsuchung versteht man also den heimlichen Zugriff auf informationstechnische Systeme mit technischen Mitteln zwecks Erlangung der darauf befindlichen Daten 7. Als Ermittlungsmittel dient ein Softwareprogramm (sog. Remote Forensic Software, kurz: RFS), das von staatlicher Seite auf dem jeweiligen System heimlich installiert wird 8. Dieses ermöglicht dann den Zugriff auf das Zielsystem und seine Daten.

a) Ablauf einer Online-Durchsuchung

Um die verfassungsrechtliche Relevanz in einem späteren Schritt zu beleuchten, sollte man sich zunächst einen Überblick über den Ablauf und die technischen Möglichkeiten verschaffen.

Eine Online-Durchsuchung lässt sich grds. in zwei Kernmaßnahmen unterteilen: Die Primärmaßnahme in Form der eigentlichen Durchsuchung und Sicherung, und die sie ermöglichende Infiltration als Sekundärmaßnahme in Form der Software-Installation 9.

Letztere kann beispielsweise durch eine manuell entfernte Installation erfolgen. IT-Systeme enthalten regelmäßig unbeabsichtigte sicherheitsrelevante Schwachstellen 10. Dabei nutzt die staatliche Stelle sog. „Less-Than-Zero-Day-Exploits11. Das sind Angriffsprogramme, die bislang nicht bekannte Sicherheitslücken des Systems zur Installation einer Durchsuchungssoftware ausnutzen 12.

Nach erfolgreicher Installation wird der Durchsuchungsvorgang durch einen Online-Fernzugriff oder anhand vorgegebener Such-Kommandos automatisiert gestartet und durchgeführt 13. Die Übertragung der gewonnenen Daten erfolgt dann via Internet an die Behörden 14. Dort werden sie offline auf einem portablen Datenträger gespeichert und ausgewertet 15. Erhobene Daten aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung müssen die Beamten dabei unverzüglich löschen 16. Mit der automatischen Deinstallation der Software wird die Online-Durchsuchung beendet 17.

b) Technische Möglichkeiten

Die technischen Möglichkeiten der Software sind unglaublich weit. In erster Linie dient sie der Erlangung gespeicherter Daten und Informationen über das System selbst (sog. Sysinfo) 18. Bei einer fortlaufenden Online-Überwachung können zusätzlich auch flüchtige Daten erfasst werden 19. Dabei verfügt die RFS bspw. über die Möglichkeit Tastatureingaben mittels sog. Keylogger zu protokollieren (bspw. zur Erfassung von Passwörtern) 20. Darüber hinaus können fortlaufende Erkenntnisse bzgl. interner und externer Systemschnittstellen erlangt werden, z.B. über Screenshots von Bildschirmen 21. Auch möglich ist die Fernsteuerung des Computers, wodurch Systemgeräte wie Mikrofone oder Webcams heimlich eingeschaltet werden könnten 22.

Inwieweit der Einsatz dieser Software mit ihren vielen Facetten im Rahmen einer Online-Durchsuchung nun de lege lata (also nach aktueller Gesetzeslage) verfassungskonform ist, untersuchen wir jetzt.

2. Verfassungsrechtliche Grundlagen

Im Jahre 2007 entschied der dritte Senat des BGH erstmals über die Online-Durchsuchung. Danach sei sie de lege lata mangels einer Ermächtigungsgrundlage in der StPO unzulässig 23.

Indessen wurde mit der Änderung des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzgesetzes (VSG NRW) erstmals die Online-Durchsuchung für den präventiven Bereich mit § 5 II Nr. 11 VSG NRW gesetzlich geregelt 24. Gegen die Rechtmäßigkeit dieses Änderungsgesetzes richtete sich 2007 eine Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG 25. Der erste Senat des BVerfG erklärte in seinem Urteil die Vorschrift für nichtig, da sie der grundrechtlichen Eingriffsintensität nicht gerecht werde. Dabei entwickelte der Senat das neue, sog. „Grundrecht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer System“ (kurz: GGIViS), an dessen Maßstab eine verfassungskonforme Ermächtigungsgrundlage für die Online-Durchsuchung zu messen ist 26.  Obwohl das Urteil des BVerfG zu einer Regelung im präventiven Bereich fiel, ist seine universelle Geltung anzunehmen, sodass das GGIViS auch für den Bereich der Strafverfolgung maßgeblich ist 27. Das BVerfG verwehrt also aktuell den Behörden, trotz des technischen Fortschritts, die Nutzung dieses Ermittlungsmittels.

Versuchen wir nun den Gedankengang und damit die Entscheidung des BVerfG nachzuvollziehen. Dabei müssen wir uns insbesondere die Frage nach dem Schutzbedürfnis informationstechnischer Systeme und der grundrechtlichen Gewährleistung desselben stellen.

a) Bedeutung und Schutzbedürfnis unserer Laptops, Smartphones etc.

Angesichts der technischen Reichweite könnten mit einer Online-Durchsuchung große Datenmengen von Systemen des Nutzers erlangt werden. Diese Daten ermöglichen in ihrer Gesamtauswertung die Erstellung eines weitreichenden Persönlichkeitsprofils und eine Rundumüberwachung des betroffenen Nutzers 28. Die Gefährdung des Datenschutzes wird durch die Vernetzung und Komplexität der Systeme und das hohe Missbrauchspotentials vertieft 29.

Das grundrechtsrelevante Schutzbedürfnis informationstechnischer Systeme ergibt sich aus der Bedeutung für den Nutzer 30. Neben der Verwaltung privater und geschäftlicher Dokumente dient es insbesondere auch durch die Vernetzung zu anderen Systemen in vielfältiger Hinsicht der persönlichen Lebensgestaltung 31. Seine Nutzung ist daher für viele Menschen Ausdruck der Persönlichkeitsentfaltung nach Art. 2 I iVm 1 I GG und für die Lebensführung von zentraler Bedeutung 32.

Diesem Schutzbedürfnis wird der Staat erst gerecht, wenn er sicherstellt, dass trotz des Wandels und der neuen Gefahren der Schutz der Persönlichkeit gewährleistet ist 33. Die rechtlichen Rahmenbedingungen dazu ergeben sich für die Online-Durchsuchung wesentlich aus den Grundrechten 34. Um einen umfassenden Schutz gewährleisten zu können, müssen daher zunächst die Schutzgehalte der durch Online-Durchsuchungen tangierten Grundrechte erfasst und auf mögliche Schutzlücken überprüft werden.

b) Grundrechtliche Gewährleistung dieses Schutzbedürfnisses

aa) Abgrenzung zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung

Um dem Schutzbedürfnis hinreichend gerecht zu werden, entwickelte das BVerfG das GGIViS aus Art. 2 I iVm 1 I GG als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts 35. Dessen Schutzgehalt bedarf es nach Ansicht des ersten Senats, um die faktische Angewiesenheit des Nutzers zur Wahrnehmung und Verwirklichung seiner Grundrechte auszugleichen 36. Erst das GGIViS werde einer daraus resultierenden Schutzerwartung bzgl. Vertraulichkeit und Integrität der informationstechnischen Systeme gerecht 37. Dabei sei die Entscheidung gegen die Nutzung nicht mehr der Freiheitsausübung zuzurechnen, sondern stelle eine Form des Freiheitsverzichts dar 38.

Der Senat wollte mit diesem neuen Grundrecht eine nach seiner Ansicht bestehende Schutzlücke insbesondere des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 I iVm 1 I GG, schließen 39.

Beide Grundrechte sollen dem Einzelnen den Schutz seiner persönlichen Daten gewährleisten. Der Staat soll also daran gehindert werden, ungehindert auf Daten zugreifen und Informationen sammeln zu können 40.

Dabei gewährleistet das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dem Einzelnen selbst über die jeweilige Preisgabe und Verwendung seiner Daten bestimmen zu können 41. Es bietet also einen punktuellen Schutz vor Zugriffen auf einzelne persönliche Daten 42.

Demgegenüber erfolgt bei einer Online-Durchsuchung der Zugriff auf den gesamten gespeicherten Datenbestand des Systems. Die daraus resultierende gesteigerte Gefährdung der Persönlichkeit durch die Möglichkeit der Erstellung eines Persönlichkeitsbildes übersteigt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts den Schutzgehalt des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung 43.

Darüber hinaus wird schon mit der Infiltration des Systems, also noch vor dem tatsächlichen Zugriff auf die Daten, das Vertrauen des Nutzers in die Integrität verletzt und damit die freie Persönlichkeitsentfaltung gefährdet 44! Hier wird also die entscheidende Hürde für einen Zugriff auf Daten des Systems genommen, die ja wiederum auch über das Recht auf informationelle Selbstbestimmung geschützt sind 45.

Das neue Grundrecht dient also nach Ansicht des Gerichtes auch dem Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung 46. Es geht ihm vorweg, indem es den Schutz der Persönlichkeit vorverlagert 47.

bb) Grundrecht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme auf Art. 2 Abs. 1 iVm 1 Abs. 1 GG

Prüfen wir nun Schritt für Schritt in klassischer Manier – wie aus dem öffentlichen Recht bekannt – ob die Online-Durchsuchung einen verfassungsrechtlich gerechtfertigten Eingriff in den Schutzbereich des GGIViS darstellt (Prüfungsreihenfolge: (1.) Schutzbereich, (2.) Eingriff, (3.) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung).

(1) Schutzbereich

Der Schutzbereich umfasst die Vertraulichkeit der Daten des informationstechnischen Systems und seine Integrität 48.

Das Schutzelement der Vertraulichkeit, das vor Zugriffen durch die Primärmaßnahme der Online-Durchsuchung schützt, stellt eine Konkretisierung des Rechts auf Selbstbewahrung als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts dar 49. Geschützt wird das Vertrauen des Nutzers in den Schutz seiner im System gespeicherten und von ihm erzeugten Daten vor staatlicher Überwachung 50.

Das Schutzelement der Integrität mit Schutzrichtung Sekundärmaßnahme der Online-Durchsuchung meint den Schutz der Unversehrtheit des Systems vor Überwachung und Manipulation 51. Nicht erforderlich für die Verletzung der Integrität ist ein tatsächlicher Zugriff auf die personenbezogenen Daten, ausreichend ist die Gefährdung durch die Möglichkeit eines späteren Zugriffs 52. Dieser hohe Schutz beruht auf der besonderen Bedeutung der informationstechnischen Systeme für die Persönlichkeitsentfaltung 53.

(2) Eingriff

Die Elemente des Grundrechts stehen nebeneinander, in sie greift der Staat durch die in funktionalem Zusammenhang stehenden, aber grds. getrennten Vorgänge der Primär- und Sekundärmaßnahmen ein 54.

Ein solcher Eingriff ist nicht per se rechtswidrig. Er kann verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, da auch Art. 2 I iVm 1 I GG nicht schrankenlos gewährleistet wird. Jedoch erfordern alle grundrechtsrelevanten staatlichen Maßnahmen nach dem Prinzip des Vorbehalts des Gesetzes eine formell-gesetzliche Ermächtigungsgrundlage 55.

(3) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung – Ermächtigungsgrundlage

Eine spezielle Ermächtigungsgrundlage für die Online-Durchsuchung existiert in der StPO nicht. Ob und inwieweit sie de lege lata im Strafprozessrecht legitim ist, bedarf daher der näheren Betrachtung.

(a) § 102 StPO

In Betracht kommt die Heranziehung des § 102 StPO als Ermächtigungsgrundlage. Wie auch eine klassische Durchsuchung dient die Online-Durchsuchung dem Auffinden von Beweismitteln 56. Prägend für eine rechtmäßige klassische Durchsuchung sind jedoch gerade die körperliche Anwesenheit der Ermittlungspersonen und die Offenheit der Ermittlungen 57, während eine Online-Durchsuchung heimlich erfolgt. § 102 StPO weist nicht die gesteigerten formellen und materiellen Anforderungen für einen solch grundrechtsintensiven Eingriff auf 58. Er wird im Ergebnis den Anforderungen an eine Eingriffsermächtigung in das GGIViS nicht gerecht. Die Online-Durchsuchung kann nicht auf § 102 StPO gestützt werden 59.

(b) § 100a StPO

In Betracht käme auch § 100a StPO, der die Überwachung und Aufzeichnung eines laufenden Telekommunikationsvorgangs erlaubt. Telekommunikation meint entsprechend der Legaldefinition des § 3 Nr. 22 TKG alle Formen der Nachrichtenübermittlung unter Raumüberwindung in nicht-körperlicher Weise mittels technischer Einrichtungen 60.

Bei Online-Durchsuchungen wird nach auf dem Endgerät befindlichen Daten gesucht, es findet gerade keine Überwachung eines laufenden Telekommunikationsvorgangs zwischen dem Betroffenen und einem Dritten statt 61.

Ein Vorgang iSd § 100a StPO ist auch nicht in der Übermittlung der Daten an die Behörden vom System des Überwachten zu sehen 62. Hier wird der Kommunikationsvorgang gezielt durch die Behörden künstlich erzeugt, um dann wiederum die quasi eigene Kommunikation zu überwachen 63. Der stattfindende Datenfluss zwischen Verdächtigem und Ermittlungsbehörde erfolgt lediglich aus technischen Gründen 64. Ein Telekommunikationsvorgang liegt nicht vor. § 100a StPO ermächtigt nicht zu einer Online-Durchsuchung.

Weitere Ermächtigungsgrundlagen kommen nicht in Betracht. Mangels einer Ermächtigungsgrundlage ist die heimliche Online-Durchsuchung zum Zwecke der Strafverfolgung damit de lege lata unzulässig 65.

c) Ermächtigungsgrundlage de lege ferenda

Das BVerfG hat in seiner Entscheidung die Online-Durchsuchung nicht generell für unzulässig erklärt, das GGIViS wird also nicht schrankenlos gewährleistet 66. Sowohl Eingriffe in präventiver als auch repressiver Hinsicht können verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein 67. Kernproblem ist dabei einerseits angesichts der noch lange nicht abgeschlossenen, fortschreitenden Digitalisierung den Ermittlungsansatz für genügend Strafverfahren offen zu halten und dennoch den verfassungsrechtlichen Anforderungen gerecht zu werden. Dabei muss nach dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes eine Ermächtigungsgrundlage de lege ferenda dem Bestimmtheitsgebot und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gerecht werden 68.

3. Fazit zur Online-Durchsuchung

De lege ferenda ist eine Ermächtigungsgrundlage also grds. für die repressive Online-Durchsuchung in der StPO möglich. Es bleibt abzuwarten, welche Vorstöße der Gesetzgeber in dieser Hinsicht wagen wird. Angesichts der Reichweite und Effizienz besteht durchaus ein Bedürfnis für die Einführung der Online-Durchsuchung. Diese muss dabei aber unter Berücksichtigung der Schwere des Eingriffs und der Risiken hohen rechtsstaatlichen Anforderungen genügen und den weitreichenden technischen Möglichkeiten einen rechtsstaatlichen Rahmen bieten.

II. Quellen-TKÜ

1. Technische Grundlagen

Schauen wir uns nun eine weitere Möglichkeit zur Erlangung von Daten beim Nutzer im Strafprozess an: Die Quellen-TKÜ. Bezeichnet wird damit die Überwachung der Internet-Telekommunikation (sog. Voice-over-IP-Verbindungen, kurz: VoIP) 69. Bekanntester Vertreter dieser VoIP-Verbindungen ist sicherlich der Dienst „Skype“.

Ziel der Quellen-TKÜ ist die Erhebung von Daten eines laufenden Telekommunikationsvorgangs in unverschlüsselter Form, und zwar neben den Inhalten der Kommunikation auch die Verkehrsdaten 70.

Grundsätzlich fällt die Überwachung der Telekommunikation unter die Ermittlungsmaßnahme der klassischen Telekommunikationsüberwachung (kurz: TKÜ) nach §§ 100a, 100b StPO. Aber anders als bei klassischen Telefonverbindungen werden bei der „end-to-end“ verschlüsselten VoIP die Audio-Daten regelmäßig zu ihrer Übertragung verschlüsselt 71. Der zunächst digitalisierte Datenstrom wird mittels mathematischer Verfahren so verändert, dass eine Wiederherstellung nur bei Kenntnis der entsprechenden Verfahren (sog. Algorithmus) und Rechenparametern (sog. Schlüssel) möglich ist 72. Mit der klassischen TKÜ, die auf dem Übertragungsvorgang zugreift, könnten nur kryptierte Daten mitgeschnitten werden 73. Die Entschlüsselung wäre ohne größere zeitliche Verzögerungen nicht möglich 74 bzw. je nach Verschlüsselungsverfahren auch gar nicht 75.

Da ohne Entschlüsselung der Audio-Daten die Sprache nicht hörbar ist 76, gibt es die Möglichkeit der Quellen-TKÜ, mit deren Hilfe man diese Verschlüsselungsproblematik umgehen kann. Dabei werden die Audio-Daten mittels einer Software direkt am jeweiligen Endgerät einer der Kommunikationsteilnehmer, also an der Quelle, aufgezeichnet und an die Behörden weitergeleitet 77. Dies erfolgt vor Verschlüsselung bzw. nach Entschlüsselung der Dateien. 78 Aus technischer Sicht ist dabei für die Aufzeichnung und Übermittlung der unverschlüsselten Daten die Installation einer Software notwendig 79.

Diese technische Vorgehensweise kommt uns bekannt vor: sie gleicht der einer Online-Durchsuchung! Wie auch die Online-Durchsuchung dient die Quellen-TKÜ der Erlangung ermittlungsrelevanter Erkenntnisse mittels heimlichen Zugriffs, wobei die Online-Durchsuchung aufgrund der Dimension der erfassten Daten deutlich intensiver in Grundrechte eingreift 80. Die Maßnahme der Quellen-TKÜ soll sich inhaltlich ausschließlich auf Daten laufender Telekommunikationsvorgänge beschränken 81.

2. Verfassungsrechtliche Grundlagen

a) bisherige Entwicklungen

In seiner Entscheidung zur Online-Durchsuchung legt das BVerfG 2007/2008 als alleinigen grundrechtlichen Maßstab für die Quellen-TKÜ den Art. 10 I GG fest 82. Allerdings nur insofern, als dass Daten eines laufenden Telekommunikationsvorgangs überwacht werden 83. In der Folgezeit wurde die Quellen-TKÜ unter Verwendung einer „Trojaner-Software“ zur Strafverfolgung eingesetzt. Insbesondere brisant war ein Fall des LG Landshut 84. Hier hatten Zollbeamte des Münchner Flughafens manuell den Laptop eines Tatverdächtigen auf Grundlage des § 100a StPO infiltriert 85. Über die Überwachung der Telekommunikation hinaus wurden u.a. auch Screenshots gemacht 86. Im Anschluss daran veröffentlichte der Chaos Computer Club 87 im Jahr 2011 ein Gutachten, wonach insbesondere der in München installierte Trojaner in seinen technischen Möglichkeiten und Modulen die Überwachung der Telekommunikation bei weitem überschreitet. 88

Angesichts dieses Gefährdungspotentials erscheint es fraglich, ob bei der Quellen-TKÜ tatsächlich Art. 10 I GG alleiniger Maßstab bleibt, oder ob nicht das GGIViS als Auffanggrundrecht greift, um Schutzlücken des Art. 10 I GG zu schließen. Dies hätte zur Folge, dass die herangezogenen §§ 100a, 100b StPO nicht als Ermächtigungsgrundlage dienen können, da sie nicht zu Eingriffen in das GGIViS ermächtigen.

Im Folgenden gilt es festzustellen, welcher grundrechtliche Maßstab an die Quellen-TKÜ anzulegen ist. Auch hier ergeben sich die rechtlichen Rahmenbedingungen im Wesentlichen aus den betroffenen Grundrechten. 89

b) Grundrechtlicher Schutz

Die Quellen-TKÜ dient der Überwachung der Internet-Kommunikation. Der Begriff der Telekommunikation erfasst alle Formen der Nachrichtenübermittlung mittels Übertragungstechnik, damit auch diese über das Internet 90. Grundrechtlicher Schutz erfährt sie von Art. 10 I GG, dieser schützt „die unkörperliche Übermittlung von Informationen an individuelle Empfänger mit Hilfe des Telekommunikationsverkehrs“ 91.

Schutzzweck ist die Vertraulichkeit der Telekommunikation vor staatlichen Zugriffen 92. Dabei gefährdet auch die am Endgerät greifende Quellen-TKÜ die freie, durch staatlichen Zugriff unbeeinflusste Kommunikation 93. So ist also, auch wenn man zum Zeitpunkt der Verschlüsselung nicht von einem laufenden Telekommunikationsvorgang ausgeht, dieser Vorgang als eine Vorstufe dem Kommunikationsvorgang zuzurechnen 94. Der Zugriff am Endgerät erfolgt hier also gerade zur Überwachung eines durch Art. 10 I GG geschützten laufenden Telekommunikationsvorgangs 95. Ein Eingriff in Art. 10 I GG liegt vor.

Diese Ausführungen können aber nur gelten, soweit tatsächlich ausschließlich auf Daten der Telekommunikation zugegriffen wird. Problematisch ist, dass mit der Infiltration die „entscheidende Hürde“ der umfassenden Ausspähung des gesamten Systems genommen wurde 96. Damit einher geht eine den Schutzgehalt des Art. 10 GG übersteigende Gefährdung der Schutzbedürftigkeit informationstechnischer Systeme. Soweit kein hinreichender Schutz des Systems geboten werden kann, tritt das GGIViS aus Art. 2 I iVm 1 I GG als grundrechtlicher Maßstab für die Ermittlungsmaßnahme hinzu 97.

Ausgeschlossen werden kann diese Gefährdung durch die Infiltration mit entsprechenden Vorkehrungen 98. Ist rechtlich und technisch sichergestellt, dass trotz der Infiltration des Systems sich die Software ausschließlich auf die Überwachung eines laufenden Telekommunikationsvorgangs beschränkt, bleibt alleiniger grundrechtlicher Maßstab für den rechtlichen Rahmen der Quellen-TKÜ Art. 10 I GG 99.

aa) Rechtliche Sicherstellung der Begrenzung auf Telekommunikationsdaten

Um den Anforderungen an eine rechtliche Beschränkung auf Telekommunikationsdaten zu genügen, bedarf es einer den Eingriff in Art. 10 I GG rechtfertigende Ermächtigungsgrundlage, die hinreichend bestimmt ist und den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt.

Eine explizite Regelung für die Quellen-TKÜ besteht de lege lata nicht.

Um dennoch zulässig zu sein, müsste die Maßnahme der Quellen-TKÜ trotz ihrer weiterreichenden, neuen Technologie unter bestehende strafprozessuale Ermächtigungsnormen subsumierbar sein, die einen hinreichenden Schutz der informationstechnischen Systeme vor weiterreichender Überwachung gewährleisten.

(1) Ermächtigung zur Primärmaßnahme über § 100a StPO

Die Primärmaßnahme kann über § 100a StPO unter der Annahme erfolgen, dass unabhängig von der Übertragungstechnik das Überwachen von Internettelefonaten unter denselben Voraussetzungen nach der Strafprozessordnung zulässig sein sollte wie auch die klassische Telefonie 100. Wertungsmäßig besteht auf der Ebene der Primärmaßnahme kein Unterschied 101. Für die Überwachung von Internettelekommunikation findet sich folglich eine Ermächtigungsgrundlage in § 100a StPO.

(2) Ermächtigung zur Sekundärmaßnahme über §§ 100a, 100b StPO

Auch die Sekundärmaßnahme bedarf als eigener Grundrechtseingriff einer Ermächtigungsgrundlage. Mangels ausdrücklicher Ermächtigung ist in Betracht zu ziehen ist, ob sich die Infiltration als notwendige Begleitmaßnahme im Rahmen einer sog. Annexkompetenz der Strafverfolgungsbehörden auf § 100a StPO stützen lässt 102.

Über eine Annexkompetenz können wir einen, in den jeweiligen Ermächtigungsnormen nicht ausdrücklich geregelten, aber notwendigen Begleiteingriff von grds. zulässigen Primärmaßnahmen legitimieren 103.

Um hierbei dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes aus Art. 20 III GG gerecht zu werden, muss die Begleitmaßnahme typischerweise mit der Primärmaßnahme verbunden und verhältnismäßig sein 104. Nur dann kann davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber die nicht ausdrücklich benannte Maßnahme jedenfalls in „sachgedanklichem Mitbewusstsein“ erkannt hat und damit die Einbeziehung noch aus seinem Kompetenzbereich stammt 105.

Für den gesamten Anwendungsbereich der Telekommunikationsüberwachung stellt die Infiltration gerade keine typische Vorbereitungsmaßnahme dar 106; vielmehr erfolgt die Überwachung hier typischerweise mit Hilfe des Providers 107. Von einem sachgedanklichen Mitbewusstsein des Gesetzgebers bzgl. der Notwendigkeit von Infiltrationen zur Ermöglichung der TKÜ kann nicht ausgegangen werden 108. Eine Annexkompetenz scheitert bereits an der Typizität.

Darüber hinaus ist auch die Erforderlichkeit der Infiltration fraglich. Als mildere Mittel könnte wie auch bei der klassischen TKÜ gem. § 100b Abs. 3 StPO der Provider herangezogen werden 109. In Betracht kommt einmal das Verschaffen des Verschlüsselungscodes. Damit bestünde die Möglichkeit, die Daten auf klassischem Wege auf dem Übertragungsvorgang abzuziehen und dann mit Hilfe des Schlüssels lesbar zu machen 110. Problematisch ist aber neben der Frage, ob die Anbieter die Schlüssel überhaupt freigeben würden, die Vielfalt der Anbieter und damit zugleich der Schlüssel, wobei pro Anbieter wahrscheinlich auch nicht nur ein Universalschlüssel anfällt 111.

Alternativ käme ebenso das Nutzen technischer „Hintertüren“ (sog. Backdoors) in Betracht. Dabei stellt der Provider bereits eingerichtete Abhörschnittstellen zur Verfügung 112, soweit diese rechtmäßig durch Ermittlungsbehörden angefordert werden. Allerdings mangelt es derzeit an der Verpflichtung der Provider und der praktischen Umsetzbarkeit 113.

Aufgrund dieser grundrechtsschonenderen Alternativen ist die Quellen-TKÜ im Einzelfall jedenfalls erst dann erforderlich, wenn konkret nachweisbar diese Methoden erfolglos ausgeschöpft wurden 114.

Auch bei Alternativlosigkeit muss die Infiltration angemessen sein, d.h. die mit der Infiltration einhergehende Grundrechtsbeeinträchtigung dürfte im Verhältnis zu der Grundrechtsbeeinträchtigung durch die Primärmaßnahme/Überwachung eine nur verhältnismäßig geringfügigere grundrechtliche Beeinträchtigung darstellen 115.

Durch die Infiltration wird in die aufgrund ihrer Bedeutung für die Persönlichkeitsentfaltung sensiblen informationstechnischen Systeme eingegriffen. Die Gefahren bei TKÜ und Infiltration zum Zwecke der Quellen-TKÜ sind nicht auf einem Niveau. Sie bestehen insbesondere bzgl. der Datensicherheit und des Missbrauchsschutzes 116. Zwar wird aufgrund der Begrenzung auf Telekommunikationsdaten das GGIViS nicht unmittelbar durch eine Quellen-TKÜ betroffen, jedoch mindert allein die Programmierung der Software auf die begrenzte Ausspähung von Telekommunikationsdaten nicht die Schwere des Eingriffs in das informationstechnische System 117.

Es besteht ferner die Gefahr der Betroffenheit unbeteiligter Dritter durch versehentliche Installation. 118 Darüber hinaus zeigt die Möglichkeit der staatlichen Infiltration, dass das System auch durch Dritte „gehackt“ werden kann 119. Damit sinkt der Beweiswert der erhobenen Daten. Ein Missbrauchsrisiko besteht auch durch die Beamten. Sowohl technisch als auch gedanklich muss mit einem einfachen Nachladen von Modulen nur eine kleine Hürde genommen werden, die Möglichkeit der Manipulation ist quasi schon eingebaut 120.

In der Gesamtschau stellt schon allein die Infiltration, insbesondere aufgrund ihrer technischen Nähe zur unzulässigen Online-Durchsuchung, schon einen so schwerwiegenden Eingriff dar 121, dass dieser jedenfalls nicht geringfügiger im Verhältnis zur Maßnahme der Überwachung ist und damit auch nicht angemessen sein kann.

Die Infiltration ist weder typisch noch verhältnismäßig und kann daher nicht im Wege einer Annexkompetenz legitimiert werden. Es fehlt an einer Ermächtigung zur Infiltration der Systeme zum Zwecke der Quellen-TKÜ.

bb) Technische Sicherstellung

Bejaht man dennoch die §§ 100a, 100b StPO als Ermächtigungsgrundlage für die Quellen-TKÜ, müsste über sie für ihre Zulässigkeit auch technisch eine Begrenzung auf Telekommunikationsdaten sichergestellt sein 122. Nur dann kann der lediglich Eingriffe in Art. 10 GG rechtfertigende § 100a StPO als Ermächtigungsgrundlage herangezogen werden.

Nach aktuellen Entwicklungen erscheint jedoch eine tatsächliche technische Begrenzungsmöglichkeit mehr als zweifelhaft 123. Nach Angaben des Chaos Computer Clubs überschreitet die momentan eingesetzte Überwachungssoftware in ihrem Funktionsumfang, unabhängig ihrer tatsächlichen Konfiguration, die Vorgaben des BVerfG 124.

Allerdings betrifft die Frage der tatsächlichen Begrenzbarkeit auf die laufende Telekommunikation auf technischem Wege die Anwendung einer solchen Ermächtigungsgrundlage, nicht aber ihre Gültigkeit 125.

So muss nach einer Entscheidung des BVerfG vom April 2016 die jeweilige Ermächtigungsgrundlage jedenfalls sicherstellen, dass sie die Behörden lediglich zur Überwachung der laufenden Telekommunikation ermächtigt 126. Nach obigen Ausführungen ist dies bei den §§ 100a, 100b StPO aber mangels spezifischer Ausführungen zur Sekundärmaßnahme gerade nicht der Fall.

3. Fazit zur Quellen-TKÜ

Es fehlt an Vorgaben in rechtlicher Hinsicht, die eine Beschränkung auf Telekommunikationsdaten sicher gewährleisten. Die Quellen-TKÜ ist de lege lata unzulässig. Eine Regelung de lege ferenda müsste u.a. mit ausreichend hohen Eingriffsschwellen, wie Verdachtsgrad, Kernbereichsschutz und Richtervorbehalt, auch die Art und Weise der Infiltration regeln und den Betroffenenkreis beschränken und damit dem Bestimmtheitsgebot und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gerecht werden 127.

Schlusswort

Nach eingängiger Untersuchung der Hülle und auch des Inhalts der „Trojanischen Pferde“ Online-Durchsuchung und Quellen-TKÜ sind die Bedenken des Laokoons bzw. des Bundesverfassungsgerichtes nicht unbegründet: In einem Rechtsstaat wie dem Unseren darf nicht das Prinzip der Strafverfolgung um jeden Preis gelten!

Einerseits muss der Staat in seiner staatlichen Strafverfolgung als Inhaber des Gewaltmonopols natürlich funktionsfähig bleiben; Ziel der Anpassungen darf andererseits aber nicht annähernd ein Überwachungsstaat sein. Diesen Eindruck hinterlässt die mediale Resonanz hinsichtlich des „Staatstrojaners“. Schlagzeilen wie „Der Staat liest mit“ 128 vermitteln den Eindruck eines gläsernen Bürgers. Um den Schutz der Bürger vor ungerechtfertigter Überwachung zu gewährleisten, ist gerade eine gesetzliche Regelung notwendig. Das Interesse des Otto-Normal-Bürgers an einer klaren Regelung liegt darin, dass er als Mitglied eines demokratischen Rechtsstaates immer auch ein Interesse daran hat, dass Strafverfahren gerecht und unter Einhaltung der Verfahrensvorschriften stattfinden. Jeder kann, auch unschuldig, Beschuldigter in einem Ermittlungsverfahren werden.

Die aktuelle Gesetzeslage schöpft angesichts der fortschreitenden Technologie und Verlagerung in den digitalen Bereich, die Möglichkeiten zur Strafverfolgung noch nicht vollständig aus. Die aus dem Ende des 19. Jahrhunderts stammende Strafprozessordnung zeigt sich zwar noch recht anpassungsfähig, dennoch müssen zu viele offene Fragen über die Judikative geklärt werden. Dabei ist es eigentlich Aufgabe des demokratisch legitimierten Gesetzgebers die gesetzlichen und rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen für Ermittlungsmaßnahmen und ihre technischen Möglichkeiten zu setzen.

Der Koalitionsvertrag sieht derzeit die „rechtsstaatliche Präzisierung“ der Vorschriften über die Quellen-TKÜ vor 129 Koalitionsvertrag 18. Legislaturperiode, S. 102; abrufbar unter https://www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/2013/2013-12-17-koalitionsvertrag.pdf?__blob=publicationFile.[/ref]; die Legitimierung der Online-Durchsuchung im repressiven Bereich ist nicht vorgesehen.

Es bedarf daher jedenfalls zwingend einer eingehenden Erörterung und Debatte auf Seiten des Gesetzgebers. Im Anschluss sollte eine explizite, verfassungskonforme Regelung der digitalen strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen gefunden werden, um so dem „Bundestrojaner“ eine rechtsstaatliche Grundlage zu bieten.

* Die Autorin studiert im neunten Fachsemester Rechtswissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Der Artikel basiert auf einer Studienarbeit im Rahmen eines interdisziplinären Seminars im Wintersemester 2015/2016 bei Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ulrich Sieber zum Thema „Geheimdienstliche und strafrechtliche Aufklärung des Internets – Erlangung von Daten beim Nutzer“.


Fußnoten:

  1. zitiert nach Vergil, Aeneis, hrsg. Johannes Götte, Bamberg 1958, Zweites Buch, S. 50f, Rn 48.
  2. vgl. Hilgendorf/Valerius, Computer- und Internetstrafrecht, 2. Aufl., 2012, § 2, Rn 249.
  3.   Michael/Morlok, Grundrechte, 5. Aufl., 2015, § 22 Rn 554.
  4.     Bundesministerium des Inneren, Fragenkatalog BMJ, S. 2, abrufbar: http://www.netzpolitik.org/wp-upload/fragen-onlinedurchsuchung-BMJ.pdf.
  5. Kemper in Neue Zeitschrift für Strafrecht (kurz: NStZ) 2005, 538, 540.
  6.   Kemper in NStZ 2005, 538 540.
  7. Bruns in Karlsruher Kommentar StPO, 7. Aufl., 2013, § 100a Rn 26.
  8.   vgl. Fragenkatalog BMJ (Fn 4), S. 1; vgl. auch Ziercke in Informatik Spektrum 1/2008, S. 64.
  9. vgl. Sieber, Ulrich: Stellungnahme für BVerfG, 1 BvR 370/07, S. 4, abrufbar: https://www.mpicc.de/files/pdf1/bverfg-sieber-1-endg.pdf.
  10.      Pohl in Datenschutz und Datensicherheit (kurz: DuD) 2007, 684, 685.
  11. Pohl in DuD 2007, 684, 685; Sieber, (Fn 9), S. 6; Abate in DuD 2011, 122.
  12.   Kohlmann in Online-Durchsuchungen und andere Maßnahmen mit Technikeinsatz, 1. Aufl., 2012, S. 45;.Fox in DuD 2007, 827, 829; Abate in DuD 2011, 122; Pohl in DuD 2007, 684, 685.
  13. Fox in DuD 2007, 827, 830.
  14. Fox in DuD 2007, 827, 830; Pohl in DuD 2007, 684, 686.
  15. Pohl in DuD 2007, 684, 686; Kohlmann S. 46.
  16.   Kohlmann, (Fn 12), S. 46.
  17. Kohlmann, (Fn 12), S. 47.
  18. Fragenkatalog BMJ, (Fn 4), S. 6.
  19. Sieber (Fn 9), S. 16.
  20. Bratke, Die Quellen-Telekommunikationsüberwachung im Strafverfahren, 2013, S. 50; Fragenkatalog BMJ, (Fn 4), S. 6.
  21. Bratke, (Fn 20), S. 50.
  22. Bratke, (Fn 20), S. 51; Sieber (Fn 9), S. 16.
  23.   BGH NJW 2007, 930ff.
  24. Gesetzes- und Verordnungsblatt NRW 2006, 620; Kohlmann, (Fn 12), S. 97.
  25.   BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 27. Februar 2008 – 1 BvR 370/07.
  26. BVerfGE 120, 274, 274.
  27.   Bode, Verdeckte strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen, 2012, S. 99.
  28. Kohlmann, (Fn  12), S. 99f.; BVerfGE 120, 274, 305; Valerius in Juristische Rundschau (kurz: JR) 2007, 274, 279.
  29. BVerfGE 120, 274, 306.
  30. BVerfGE 120, 274, 306.
  31.       Valerius in JR 2007, 275, 279; vgl. Kohlmann, (Fn 12), S. 99; BVerfGE 120, 274, 304.
  32. vgl. BVerfGE 120, 274, 303.
  33.      vgl. BVerfGE 120, 274, 306.
  34. vgl. Singelnstein in NStZ 2012, 593, 594.
  35. BVerfGE 120, 274, 274.
  36.     Gusy in DuD 2009, 33, 34, 41.
  37.        Kohlmann, (Fn 12), S. 113.
  38. Gusy in DuD 2009, 33, 34.
  39. BVerfGE 120, 274, 313.
  40. BVerfGE 120, 274, 313.
  41. BVerfGE 65, 1, 43; 117, 202, 228; 118, 168, 184; 120, 274, 312; 128, 1, 42.
  42. Gersdorf in BeckOK InfoMedienR GG, 8. Edition, 2015, Art 2 Rn 24.
  43. BVerfGE 120, 274, 312 f.
  44. BVerfGE 120, 274, 313.
  45.    Luch in Multimedia und Recht (kurz: MMR) 2011, 75.; BVerfGE 120, 274, 308.
  46. Luch in MMR 2011, 75, 76.
  47. BVerfGE 120, 274, 313.
  48. BVerfGE 120, 274, 314.
  49. Gersdorf in BeckOK InfoMedienR GG, 8. Edition, 2015, Art 2 Rn 28.
  50. Böckenförde in JuristenZeitung (kurz: JZ) 2008, 925, 928.
  51. Kohlmann, (Fn 12), S. 112.
  52.         Gersdorf in BeckOK InfoMedienR GG, 8. Edition, 2015, Art. 2 Rn 28.
  53.   Kohlmann, (Fn 12), S. 112.
  54. Gersdorf in BeckOK InfoMedienR GG, 8. Edition, 2015 Art 2 Rn 28.
  55. Michael/Morlok, (Fn 3), § 22 Rn 554.
  56.   vgl. Hilgendorf/Valerius, (Fn 2), Rn 786; vgl. Burhoff, Strafrechtliches Ermittlungsverfahren, 5. Aufl., 2010, Rn 527.
  57. BGH NJW 2007, 930, 931; Hilgendorf/Valerius, (Fn 2), Rn 789.
  58. Kohlmann, (Fn 12), S. 69.
  59. Kohlmann, (Fn 12), S. 71.
  60. BGH 2 BGs 42/01, Beschluss v. 21.02.2001, HRRS-Datenbank.
  61. BGH NJW 2007, 930, 932; BVerfGE 120, 274, 307.
  62.   BVerfGE 120, 274, 308; Hilgendorf/Valerius, (Fn 2), Rn 797.
  63.    vgl. Hofmann in NStZ 2005, 121, 123.
  64. Kohlmann, (Fn 12), S. 73
  65. BGH NJW 2007, 930 932.
  66.       BVerfGE 120, 274, 315.
  67. BVerfGE 120, 274, 315.
  68. Bode, (Fn 27), S. 207.
  69. Buermeyer/Bäcker in Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht (kurz: HRRS) 2009, 433, 434.
  70. Bratke, (Fn 20), S. 45f.
  71.   Buermeyer/Bäcker in HRRS 2009, 433, 434; Bratke, (Fn 20), S. 40.
  72. Becker/Meinicke in StV 2011, 50.
  73. Graf in BeckOK StPO, 21. Edition, 2015, § 100a Rn 107b.
  74. Graf in BeckOK StPO, 21. Edition, 2015, § 100a Rn 107b.
  75. Buermeyer/Bäcker in HRRS 2009, 433, 434.
  76. Buermeyer/Bäcker in HRRS 2009, 433, 434.
  77. Becker/Meinicke in Strafverteidiger (kurz: StV) 2011, 50f.
  78. Buermeyer/Bäcker in HRRS 2009, 433, 434.
  79.      Becker/Meinicke in StV 2011, 50.
  80. Bratke, (Fn 20), S. 53.
  81.   Bratke, (Fn 20), S. 48.
  82.   BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 27. Februar 2008 – 1 BvR 370/07.
  83. BVerfGE 120, 274, 309.
  84.   LG Landshut, NStZ 2011, 479ff.
  85. Braun/Roggenkamp in Kommunikation und Recht (kurz: K&R) 2011, 681, 683.
  86. LG Landshut, NStZ 2011, 479, 480; Braun/Roggenkamp in K&R 2011, 681, 683.
  87. Der Chaos Computer Club e. V. (CCC) ist nach eigenen Angaben die größte europäische Hackervereinigung. Die Aktivitäten des Clubs reichen von technischer Forschung und Erkundung am Rande des Technologieuniversums über Kampagnen, Veranstaltungen, Politikberatung, Pressemitteilungen und Publikationen bis zum Betrieb von Anonymisierungsdiensten und Kommunikationsmitteln. Quelle: https://www.ccc.de/.
  88. Analysebericht des Chaos Computer Clubs, abrufbar unter http://ccc.de/de/updates/2011/staatstrojaner; Braun/Roggenkamp in K&R 2011, 681, 683.
  89. Singelnstein in NStZ 2012, 593, 594.
  90.   BVerfGE 120, 274, 307; BVerfG NJW 2009, 2431, 2432.
  91. BVerfG NJW 2009, 2431, 2432.
  92. Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 27. Aufl., 2011, § 19 Rn 837.
  93. BVerfGE 106, 28, 37 f.; 115, 166, 186 f; 120, 274,  307.
  94. Graf in BeckOK StPO, 21. Edition, 2015, § 100a Rn 107c.
  95. BVerfG NJW 2006, 976, 979; BVerfGE 120, 274, 307.
  96. BVerfGE 120, 274, 308.
  97. BVerfGE 120 , 274, 313.
  98. BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20. April 2016 – 1 BvR 966/09 – Online Rn 228.
  99. BVerfGE 120, 274, 309.
  100.    Buermeyer/Bäcker in HRRS 2009, 433, 437.
  101. Stadler in MMR 2012, 18, 20.
  102. Bratke, (Fn 20), S. 265.
  103.   Bratke, (Fn 20), S. 265.
  104. Bratke, (Fn 20), S. 265f.
  105. vgl. LG Hamburg, MMR 2011, 693, 694; Bratke, (Fn 20), S. 267.
  106.     vgl. AG Hamburg CR 2010, 249, 250.
  107. AG Hamburg CR 2010, 249, 251.
  108. vgl. diesen Abschnitt: AG Hamburg CR 2010, 249, 251.
  109. Buermeyer, Quellen-TKÜ – ein kleines Einmaleins (nicht nur) für Ermittlungsrichter, abrufbar: http://ijure.org/wp/archives/756.
  110. Bratke, (Fn 20), S. 287f.
  111. Bratke, (Fn 20), S. 288.
  112.   Bratke, (Fn 20), S. 292f.
  113.          Bratke, (Fn 20),  S. 292.
  114. Buermeyer (Fn 109), abrufbar http://ijure.org/wp/archives/756.
  115. vgl. LG Hamburg MMR 2008, 423, 424f.; AG Hamburg, CR 2010, 249, 250; Rudolphi in Systematischer Kommentar StPO, 4. Aufl., § 94 Rn 34f.
  116. Bratke, (Fn 20), S. 300.
  117. AG Hamburg CR 2010, 249, 251f.
  118.   Bratke, (Fn 20), S. 300;
  119.   vgl. Braun/Roggenkamp in K&R 2011, 681, 682; Bratke, (Fn 20), S. 301.
  120.   Braun/Roggenkamp in K&R 2011, 686; Bratke, (Fn 20), S. 30.
  121. AG Hamburg CR 2010, 249, 251.
  122. BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 20. April 2016 – 1 BvR 966/09 – Online Rn 234.
  123.      Singelnstein in NStZ 2012, 593, 598.
  124. Braun/Roggenkamp in K&R 2011, 681, 685.
  125.   BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20. April 2016 – 1 BvR 966/09 – Online Rn 234.
  126. BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20. April 2016 – 1 BvR 966/09 – Online Rn 234.
  127.   Braun/Roggenkamp in K&R 2011, 681, 685; Bode, (Fn 27), S. 207.
  128. Süddeutsche Zeitung v. 13.10.2011.

Ökonomische Effizienz im Produkthaftungsrecht: Der law & economics-Ansatz – Kommentar zu Guido Calabresi: „Some Thoughts on Risk Distribution and the Law of Torts“ (1961)

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Nicole Grohmann*

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A. Einführung

„First, it must be just or fair; second, it must reduce the costs of accidents“ 1.

Diese zwei Hauptziele formuliert Guido Calabresi für das amerikanische tort law 2. Schaffung von Gerechtigkeit und ökonomische Effizienz bei der Schadensverteilung – Calabresi zeigt in seinem Aufsatz „Some Thoughts on Risk Distribution and the Law of Torts“ aus dem Jahr 1961 3, dass eine verschuldensunabhängige Herstellerhaftung sogar beide Ziele erreichen kann. Auch deswegen gehörte Calabresis Aufsatz noch im Jahr 2012 zu den meist zitierten Aufsätzen aller Zeiten 4.

B. Die Ausgangsproblematik

Ausgangspunkt ist eine typische Konstellation des Produkthaftungsrechts: Ein Hersteller (H), ein großes und vermögendes Unternehmen, stellt ein Produkt her, das durch einen Zwischenhändler (Z) an den Endverbraucher (E), unwissend und unversichert, veräußert wird. E kommt durch das Produkt zu Schaden und begehrt Schadensersatz.

Für viele Autoren und Richter in den USA war die überzeugendste Lösung einer solchen Konstellation schnell klar: Vorhersehbarkeit, Vermögen und Verschulden lagen grundsätzlich beim Hersteller, somit war es gerecht, die Kosten diesem aufzuerlegen 5. In wenigen Jahrzehnten an Rechtsprechung wurde die strict liability 6, eine strenge, verschuldensunabhängige Herstellerhaftung für das amerikanische Produkthaftungsrecht etabliert 7, ohne dass über die weiteren Auswirkungen nachgedacht wurde 8.

Calabresi behandelt in seinem Aufsatz die Frage einer Rechtfertigung für eine verschuldensunabhängige Herstellerhaftung 9. Dabei fokussiert er sich jedoch auf ein viertes V – eine Verteilung der Schäden –, wodurch die Kosten eines Unfalls in Ausgleich gebracht werden sollen. Calabresi stellt drei Möglichkeiten einer Verteilung vor, die eine verschuldensunabhängige Herstellerhaftung rechtfertigen können und sucht die gerechteste Lösung anhand eines dem tort law bisher fremden Maßstabes – der Ökonomie.

C. Die Ausgangssituation – Auf dem Weg zur strict liability

Mit seinem Aufsatz 10 bezieht sich Calabresi insbesondere auf eine der „bahnbrechendsten“ Rechtsentwicklungen im amerikanischen tort law – das Produkthaftungsrecht 11. Innerhalb einer Generation wurde dieser Rechtsbereich grundlegend durch die Rechtsprechung reformiert und zu einer „blühenden Metropole“ des juristischen Austausches 12.

I. Industrialisierung – Das Leben wird gefährlicher

Der Grundstein für die Herstellerhaftung wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelegt 13. Dies geschah als Folge der Industrialisierung, die durch die angehende Mechanisierung großes Unfallpotential mit sich brachte 14. Insbesondere konnte dies in der Automobilindustrie beobachtet werden, bei der die immens ansteigende Anzahl von Autounfällen in den juristischen und politischen Fokus rückte 15. Dabei ist zu beachten, dass es in den USA kein Sozialversicherungssystem gab, das im Schadensfall einstehen würde 16. Die Modifikation des Produkthaftungsrechts war ein Versuch, die Lücken der sozialen Sicherung durch privatrechtlichen Schadensausgleich zu füllen 17.

II. Rechtliche Reaktion

Die Entwicklung der Produkthaftung von einer verschuldensabhängigen, vertraglichen Haftung zur strict liability der Hersteller fand fast ausschließlich in den amerikanischen Gerichtssälen statt 18.

Eine vertragliche Haftung des Herstellers gegenüber dem Endverbraucher scheiterte zuvor häufig am Erfordernis des Vertragsverhältnisses, welches oft nicht direkt zwischen Produkthersteller und verletztem Endverbraucher bestand 19. Da dieses Ergebnis nicht zufriedenstellend war 20, führte dies bald zu einer Ausweitung der unternehmerischen Pflichtenstellung, nämlich bei Produkten, die das Leben eines Menschen in unmittelbare Gefahr brachten 21. Der zuständige Richter Cardozo stellte in der Entscheidung aus dem Jahr 1916 zu MacPherson v. Buick Motors Co. ferner Folgendes fest: „it is possible to use almost anything in a way that will make it dangerous if defective“ 22. Damit wurde eine allgemeine Pflicht des Herstellers zur fehlerfreien Produktion entwickelt 23 – und dies gegenüber jedermann, von dem der Hersteller ausgehen musste, dass er mit dem Produkt in Berührung kam 24.

Ein weiteres Problem in Produkthaftungsfällen bildeten die eingeschränkten Beweismöglichkeiten des Klägers, dass der Hersteller den Schaden verursacht hatte 25. Im Fall Escola vs. Coca-Cola Bottling Co. im Jahr 1944 wurde eine Mitarbeiterin eines Restaurants durch eine explodierende Glasflasche schwer an der Hand verletzt 26. Die genaue Ursache der Explosion war nicht feststellbar, weswegen das Gericht den sog. res ipsa loquitur Grundsatz aufstellte 27. Dieser besagt, dass negligence auf Seiten des Herstellers angenommen werden kann, weil es zu einem Unfall kam 28.

Richter Traynor stellte schon damals in seiner concurring opinion fest, dass mit dieser Doktrin eigentlich eine „absolute liability“ des Herstellers bestätigt werde 29: Er rügte, dass wenn eine Haftung unabhängig von der negligence des Herstellers begründet werde, offen zugegeben werden solle, dass von nun an eine strenge Herstellerhaftung im Produkthaftungsrecht gelte 30.

Bis zu dieser Offenlegung sollte es noch weitere 19 Jahre dauern 31. Dabei mochte es kein Zufall sein, dass der eben genannte Richter Traynor, nun Chief Judge des kalifornischen Supreme Court, Verfasser des grundlegenden Urteils in Greeman v. Yuba Powers Prods. war 32. Hier hieß es nun, dass Fälle der Produkthaftung nach dem Grundsatz von strict liablity entschieden werden sollten 33.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mit der Doktrin von res ipsa loquitur die Hersteller von einer verschuldensunabhängigen Haftung für defekte Produkte ausgehen mussten 34. Von den drei Vs – Vermögen, Vorhersehbarkeit und Verschulden –, die vorher als Rechtfertigung angeführt wurden, wurden zwei wichtige Elemente, Verschulden und Vorhersehbarkeit, eliminiert.

Jedoch trat in die Diskussion ein viertes V hinzu: eine Schadens- und Risiko-Verteilung: Bereits in Escola wurde argumentiert, dass der Hersteller als Haftender am geeignetsten sei, da er die Schäden auf seine Endverbraucher verteilen könnte 35. Doch wie ist diese Schadensverteilung vorzunehmen?

D. Zusammenfassung der Ansätze von Calabresi

Calabresi setzt sich in seinem Aufsatz „Some Thoughts on Risk Distribution and the Law of Torts“ mit der Frage einer Schadensverteilung auseinander. Für den Autor gibt es dafür drei Möglichkeiten 36:

Der Schaden wird so weit wie möglich verteilt, interpersonell und intertemporal.

Diejenigen zahlen, die den Schaden finanziell am besten tragen können.

Die produzierenden Unternehmen haben die Schäden zu tragen, unabhängig davon, ob dies mit der ersten oder zweiten Möglichkeit in Einklang steht.

Dabei ist herauszustellen, dass Calabresi nicht herauszufinden versucht, welche Haftungsform eine „gerechte“ Lösung darstellt 37. Vielmehr geht er von dem Haftungsmodell einer strengen Herstellerhaftung aus und versucht hierfür, die „gerechteste“ Lösung zu finden. Für die Bewertung legt Calabresi den Schwerpunkt auf ihre ökonomische Tauglichkeit 38.

I. Die Enterprise Liability

Als ersten Ansatz stellt Calabresi die enterprise liability vor. Unabhängig von einem Verschulden werden dem Unternehmen die Kosten der Unfälle auferlegt 39. Die überzeugendste Rechtfertigung für eine strikte Unternehmenshaftung stellt für Calabresi die sog. Ressourcenallokation dar 40. Dabei wird die strikte Haftung des Unternehmens und die daraus folgenden ökonomischen Folgen als Instrument zur Wirtschaftsregulierung benutzt 41.

1. Beispiel einer Ressourcenallokation

Um die Wirkungen einer Allokation einfacher nachvollziehen zu können, sei zunächst auf Calabresis Beispiel von Mr. Taney, der den Kauf eines Zweitwagens beabsichtigt, verwiesen 42:

In der Gesellschaftsform „Athen“ müssen alle Kosten für Schäden vom Verursacher des Schadens getragen werden. Dies bedeutet, dass neben den $200 im Jahr an Unterhalt eines Zweitwagens, zusätzliche $200 für eine Versicherung anfallen würden, die Mr. Taney im Schadensfall gegen sogenannte accident costs 43 absichere. Dagegen würden alternative Fortbewegungsmöglichkeiten, die den Komfort eines Zweitwagens ermöglichen, $250 kosten. Somit verzichte Mr. Taney nach diesem Modell auf den Kauf eines Zweitwagens.

Als Gegensatz stellt Calabresi nun die Gesellschaftsform „Sparta“ vor. In „Sparta“ werden alle Kosten auf die Gesellschaft im Rahmen einer allgemeinen Unfallsteuer verteilt. Diese müsse Mr. Taney unabhängig vom Kauf eines Zweitwagens bezahlen. Somit entscheide er sich für den Zweitwagen, da lediglich die Unterhaltskosten von $200 anfallen würden. Die alternativen Mittel würden auf $250 kommen.

In der zweiten Gesellschaftsform ist der Preis eines Autos niedriger, da im Schadensfall alle Schäden von einem allgemeinen Regierungsfonds getragen würden 44. Somit würden sich mehr Personen für den Kauf eines Autos entscheiden, da eine Versicherung nicht notwendig sei. Allerdings müssen alle Bewohner die Steuer zahlen und damit das Produkt unterstützen, unabhängig davon, ob sie einen Kauf beabsichtigen 45.

Der Kaufpreis des Wagens in „Sparta“ reflektiert folglich nicht den „wirklichen Preis“, der sowohl den Wert als auch die Schadensfolgekosten (accident costs) beinhalten müsse 46. Nach Calabresi nehme der Wirtschaftler in diesem Fall eine Fehlallokation der Ressourcen an.

2. Ziel einer Ressourcenallokation

Was ist also unter einer Ressourcenallokation zu verstehen? Nach der Definition im Wirtschaftslexikon ist eine Allokation grds. die Zuweisung von Gütern im Hinblick auf Personen und Produktionsprozesse 47.

Besondere Bedeutung hat der Güterpreis 48. Der Güterpreis eines Produkts soll in erster Linie den „wirklichen Preis“ eines Produkts reflektieren, um somit dem Verbraucher eine Einschätzung über seine Anschaffungen zu ermöglichen. 49 Calabresi geht hier von einer freien Marktwirtschaft aus: Die Gesellschaft solle entscheiden, was gut für sie sei und was sie an Produkten dafür benötige 50. Die Produktwünsche der Gesellschaft sind folglich ausschlaggebend, was und in welcher Höhe produziert wird 51. Damit die Gesellschaft weiß, was sie begehrt, müsse sie den „wirklichen Preis“ eines Produktes kennen.

Beispiel für die Addition von accident costs 52:

Wie im Beispiel angezeigt, wird durch die Addition der accident costs die Dose, welche in der Produktion teurer war, als die Flasche, insgesamt günstiger. Dadurch werden die Verbraucher aufgrund des billigeren Preises dazu angehalten, eher die Dose als die Flasche zu kaufen, womit die Industrie mit den sicheren Produkten angekurbelt wird 53. Ferner wären alle Schäden, die durch die Dose verursacht werden, durch die Addition der accident costs auf jede Dose abgedeckt.

3. Juristische Betrachtung der Ressourcenallokation

In einem weiteren Punkt stellt Calabresi einen wichtigen Unterschied zwischen der reinen ökonomischen Theorie und einer juristischen Verwendung dieser Theorie heraus 54.

Für den Wirtschaftler mache es bei der Allokation keinen Unterschied, auf wen die Kosten letztlich fallen. Effizienz wird grds. bei der Allokation erreicht, wenn keine Umstrukturierung der Produktion denkbar ist, bei der alle Mitglieder einer Gesellschaft besserstünden 55.

Calabresi fragt sich, welche Partei in der juristischen Diskussion die Lasten tragen solle. Dies definiert er als diejenige Person, die in der besseren Position ist, die Kosten zu verteilen 56. Für Calabresi ist derjenige der sogenannte cheapest cost avoider 57 – im vorliegenden Fall der Hersteller – und eine Allokation erfordere, dass derjenige die Last eines Schadens tragen muss 58.

II. Das Spreading of Losses

Als zweite Rechtfertigungslösung stellt Calabresi das spreading of losses vor 59. Eine derartige Schadensverteilung liegt vor, wenn alle Kosten auf mehrere Personen über einen langen Zeitraum verteilt werden 60. Für diese Verteilung der Schäden sprechen zwei Gründe: Die finanzielle Last wird kleiner, wenn man sie auf mehrere Personen und über einen längeren Zeitraum verteilt 61.

Aus ökonomischer Betrachtungsweise ist lediglich zu beachten, dass ein sehr kleiner Betrag zu einem großen Schaden für jemanden werden kann, wenn es eine Änderung des sozialen Status mit sich bringt 62. Dennoch kommt Calabresi zu dem Schluss, dass ein Schaden, der einer Person auferlegt wird, mit höherer Wahrscheinlichkeit zu einem sozialen Schaden führt und daher eine Verteilung auf mehrere Personen grundsätzlich solche Auswirkungen verhindern könne. Aus Allokationsgesichtspunkten sei es laut Calabresi am vorzugswürdigsten, das Risiko auf so viele Personen und über so einen langen Zeitraum wie möglich aufzuteilen, z.B. im Rahmen eines staatlichen Unfallhilfsprogramms, das durch Steuern auf die Bevölkerung übertragen werde.

III. Deep pocket

Als letzte Rechtfertigungsmöglichkeit stellt Calabresi die deep pocket-Methode dar 63. Diese beruht auf dem Gedanken, dass ein Dollar, der von einer reichen Person genommen wird, diesem weniger Schaden zufügt, als wenn einer armen Person ein Dollar entzogen wird 64. Eine solche Praxis, wie Robin Hood von den Reichen zu nehmen und den Armen zu geben, werde bereits in der Steuerordnung vorgezeigt.

Dennoch kommt Calabresi zu dem Schluss, dass diese Methode keine Rechtfertigung darstellen könne. Anstatt es dem Reicheren willkürlich im Rahmen der Unternehmenshaftung aufzuerlegen, spricht der Autor sich dafür aus, dass „Robin Hooding“ öffentlich im Wege der sozialen Versicherung und Besteuerung vorzunehmen. Dieses System hätte den Vorteil der Konsistenz und Fairness 65.

IV. Calabresis Lösung und deren Auswirkungen

Für Calabresi stellt die enterprise liability die effizienteste Lösung dar. Dies läge daran, dass die Gesellschaft die freie Marktwirtschaft wertschätzt und die enterprise liability unmittelbar an dieses System, das durch die Produktwünsche der Gesellschaft bestimmt wird, anknüpft 66. Durch die Forderung, dass die Unternehmen den „wirklichen Preis“, ergo inklusive Einberechnung der Schadensfolgekosten, verlangen, werde der Gesellschaft eine bessere Kalkulation ihrer Produktwünsche ermöglicht und somit dauerhaft eine sinnvolle Verteilung der Ressourcen erreicht.

Mit dieser Darstellung der verschiedenen Ansätze einer Schadensverteilung verlieh Calabresi der strict liability eine ganz neue Bedeutung 67. Dank seiner Evaluation wandelte sich die Zielsetzung einer strengen Herstellerhaftung immens: Neben das ethisch-veranlagte Ziel, die schutzlosen Verbraucher vor den modernen Produkten der Unternehmen zu schützen 68, trat für die Produkthaftungsrechtsprechung in den 1960er und 1970er Jahren eine neue Aufgabe: die Verluststreuung 69.

Zunächst ist erneut zu betonen, dass Calabresi einer der ersten war, der das tort law anhand ökonomischer Theorien analysierte 70. Dabei sind einige essenzielle Ergebnisse im Besonderen herauszustellen:

Das erste wichtige Ergebnis ist, dass eine Unternehmenshaftung die Funktion einer marktregelnden und kostenverteilenden Lösung haben kann 71. Das ursprüngliche Ziel, Kompensation für die verletzten Parteien zu erreichen und dabei im Wege der Herstellerhaftung eine Verluststreuung zu bewirken, sind nur Mittel zum Zweck, um eine sinnvolle Ressourcenallokation zu erhalten 72. Um der freien Marktwirtschaft zu einer Wohlfahrt zu verhelfen, muss im Wege der strikten Haftung eine Verteilung dahingehend gemacht werden, dass die Preise akkurat die Kosten für Schäden reflektieren 73. Ferner wird der Hersteller dadurch dazu angehalten, präventiv gegen Schäden vorzugehen 74.

Der zweite wichtige Schluss ist, dass Calabresi die als Individualhaftung charakterisierte 75, strikte Herstellerhaftung durch ökonomische Analyse als Haftung mit Charakter verteilender Gerechtigkeit offenbart 76. Anstatt von einer „risk-bearing society“ auszugehen, in der eine Partei die Schäden tragen muss, wird der Schritt zu einer „risk-sharing society“ gegangen 77.

Letztlich überrascht der Autor mit einem weiteren Ergebnis. Anhand der ökonomischen Analyse stellt Calabresi fest, dass das tort law-System schlecht geeignet ist, um eine Kompensation der verletzten Partei zu erreichen und das beste System dafür eine allgemeine Sozialversicherung darstellen würde 78. In der Praxis sollte sich herausstellen, dass das Ziel, die Opfer über eine strikte Herstellerhaftung zu entschädigen, mit hohen Kosten sowie langsamen und zufälligen Zahlungen verbunden sein würde 79.

E. Wirtschaft im Recht: Die law & economics-Bewegung

Calabresis Aufsatz ist nicht nur als Einzelstück herauszustellen, sondern fügt sich in eine ganze Bewegung ein, die sogenannte law & economics-Bewegung.

I. Entstehung und Ansätze der law & economics-Bewegung

Moderne Werke bringen mit der law & economics- Bewegung drei Namen in Verbindung: Coase, Calabresi und Posner, die als „Gründerväter“ des ökonomischen Ansatzes bezeichnet werden 80.

1. Coase Theorem

Die Entwicklung des law & economics-Ansatzes wurde primär durch einen Mann geprägt, den Wirtschaftler Ronald Coase 81. In seinem Aufsatz „The Problem of Social Cost“ 82, löste Coase zwei „Revolutionen“ für die law & economics-Bewegung aus 83. Einerseits erkannte er, dass sog. „Transaktionskosten 84“ die Funktionstüchtigkeit eines vollkommenen Marktes beeinflussen 85. Des Weiteren stellte er den zwingenden Austausch von Recht und Wirtschaft für die Lösung von ökonomischen Problemen fest 86. Bis dahin wurde die Ökonomie als strikt vom Recht getrennt angesehen 87. Coase beurteilte zum ersten Mal rechtliche Institutionen anhand ökonomischer Kriterien an, was später als die sog. „Institutionenökonomik“ bekannt wurde 88.

In Coases berühmtesten Aufsatz fand die Ökonomie Anwendung auf das property law 89. Dabei griff er auf die Darstellung von Fällen von nuisance 90 zurück, um das Problem genauer zu illustrieren 91. Dies sind insbesondere Fälle des Nachbarrechts, in welchen eine Kollision von Eigentümerinteressen besteht und entweder dem „gestörten“ Eigentümer Ersatzansprüche oder umgekehrt Duldungspflichten zugesprochen werden 92.

Hier war eine Gegenseitigkeit der Problemstellung ersichtlich, da eine Partei eine Belastung ertragen musste 93. Die Lösung, die Coase anstrebte, bestand darin, den größeren Schaden zu vermeiden 94. Rechtlich gesehen musste eine Neuverteilung der Eigentumsrechte vorgenommen werden 95.

Hier spielen nun die sog. „Transaktionskosten“ eine Rolle: Diese müssen bei der Neuverteilung der Eigentumsrechte berücksichtigt werden, da eine Verteilung der Rechte nur effizient sein kann, wenn der Wert der Produktion, der aus der Neuverteilung der Rechte für die Unternehmen folgt, größer ist, als die Kosten, die involviert sind, um diese Verteilung herbeizuführen 96.

Aus diesem „Coase Theorem“ ergibt sich für das Recht Folgendes: Eine ökonomische Lösung dieser Fälle von nuisance fordert die Abwägung, ob die Verhinderung des Schadens nicht mit höheren Kosten verbunden ist als die Schädigung selbst 97. Der Staat wird von Coase aufgerufen, Schädigungen zu legalisieren, wenn der geschaffene Gewinn diese übersteigt 98. Rechtliche Vorschriften sollen erst in Betracht gezogen werden, insoweit sie ökonomische Aktivitäten beeinflussen und damit den Fluss der Wirtschaftsmärkte sicherstellen können 99.

2. Calabresis cheapest cost avoider

Calabresis Ansatz der Ermittlung des cheapest cost avoiders durch Ressourcenallokation und spreading of losses stellt die konventionelle ökonomische Analyse des tort law dar 100. Aus seiner Analyse ergeben sich zwei Ziele: In einem ersten Schritt sind die risikoreichen Parteien zu ermitteln, die zu einer kosten-effektiven Fürsorge durch die Auferlegung der Schadensfolgekosten gezwungen werden, und in einem zweiten Schritt sind die übriggebliebenen Kosten so weit wie möglich zu verteilen, um die Versicherungskosten zu minimieren 101.

Die herausgestellten Grundsätze seines Aufsatzes bildeten die Grundlage für Calabresi spätere Ausführungen in seinem Buch „Cost of Accidents“ aus dem Jahr 1970 102. Den Versuch, ökonomische Effizienz im tort law zu erreichen, baute er in seinem Buch zu einem dreistufigen Modell aus 103:

Auf der ersten Stufe stehen die Kosten, die durch die Anzahl und Schwere der Unfälle verursacht werden 104. Diese können anhand zweier Methoden gemindert werden: Der general deterrence, wodurch gefährliche Aktivitäten teurer und damit unattraktiver für die Gesellschaft werden, oder der specific deterrence, bei der gefährliche Aktivitäten gänzlich verboten werden 105.

Auf der zweiten Stufe stehen die societal costs 106, die im Aufsatz genannten Schadensfolgekosten. Hier kommt Calabresi auf eine Schadensverteilung nach den in Aufsatz genannten Methoden zurück 107.

Auf der dritten Stufe stehen die Kosten für die Verwaltung von Unfällen 108. Hier kommt das „Effizienz“-Argument zu tragen, dass man sich ständig fragen muss, ob eine gewisse Methode, die Kosten ersten oder zweiten Grades zu reduzieren, auch ökonomisch effizient ist 109.

Calabresi entfernte sich damit etwas von den Ansätzen in seinem Aufsatz 110: Dort fokussierte er sich auf eine sinnvolle ökonomische Allokation. In späteren Aufsätzen sowie in seinem Buch nimmt er eine Allokation jedoch nur insoweit vor, wie es im Vornherein in den Grenzen des Rechts und der Fairness möglich ist 111.

3. Posner und die ökonomische Analyse des Rechts

Ein weiterer wichtiger Vertreter der Bewegung ist Richard Posner, der mit seinem Buch „The Economic Analysis of Law“ aus dem Jahr 1973 eine Art Lehrbuch erstellte, in welchem die ökonomische Analyse für die verschiedenen Rechtsgebiete aufgearbeitet wurde 112.

Seine Ausführungen basieren auf zwei ökonomischen Grundprinzipien. Erstens: Das Hauptziel einer ökonomischen Analyse und damit des common law müsse die Förderung der ökonomischen Wohlfahrt sein 113. Zweitens: Menschen seien sog. homines oeconomici, d.h. sie handeln rational und nutzenmaximierend 114. Daraus folge, dass die Menschen auf Anreize, wie z.B. Preise, reagieren und damit, sobald sich die Umgebung ändert, die Person ihr Verhalten (z.B. das Kaufverhalten) ändern wird, wenn dies eine Steigerung ihrer Zufriedenheit mit sich bringt 115. Ein solches Verhalten lässt sich auch aus der oben angeführten Tabelle entnehmen (unter C. 2.)

II. Weiterentwicklung & Kritik

In den folgenden Jahrzehnten wurde die ökonomische Analyse des Rechts weiter ausgedehnt und stieß damit auf Kritik.

Bereits Calabresi erkannte, dass die ökonomische Analyse für viele Teile des Rechts eine große Hilfe sein kann 116. Dies führte dazu, dass Juristen und Wirtschaftler begannen, die wirtschaftlichen Auswirkungen jedes Aspekts des Rechts zu erkunden 117. Letztlich fand die ökonomische Analyse sogar Anwendung auf Fälle des Strafrechts oder der Rassendiskriminierung 118. Die Ökonomie wurde sogar bei neuen Gesetzesentwürfen berücksichtigt, wie z.B. der Reform im Kartellrecht in den 1970er und 1980er oder als Stütze für eine Kommission, die den Strafvollzug reformierte 119.

Von Anfang an kam es zu Rivalitäten zwischen Juristen und Volkswirtschaftlern, wie z.B. im National Committee for the Study of the Antitrust Laws, in welchem die teilnehmenden Juristen einmal versuchten, die in der Minderheit anwesenden Wirtschaftler aus dem Entwurf eines Berichts herauszuhalten 120.

Eine grundlegende Kritik war der Verlust der Bedeutung des Rechts 121. Recht sollte als eigenständiger Bereich gelten, da nur das Recht entscheiden könne, was als Recht zählt 122. Ferner fehle es am abschreckenden Effekt der Schadensfolgekosten, vielmehr sollte das alleinige Hauptziel sein, die Kosten des Verletzten zu kompensieren 123.

Auf große Kritik stieß auch die Einbindung der Ökonomie in den Lehrplan der Universitäten 124. Die ökonomische Analyse sei viel zu eng im Vergleich zur elaborierten Methode des Rechts, die an den Law Schools unterrichtet wird 125.

III. Der law & economics-Ansatz in Europa

Nach dem großen Erfolg der law & economics-Bewegung in den USA, stellt sich die Frage, wie diese Bewegung in Europa aufgenommen wurde.

In Europa ergaben sich die gleichen Probleme im Produkthaftungsrecht 126: Durch die zunehmenden Unfälle in der Industrie wurde die Herstellerhaftung vom Verschuldensprinzip gelöst und durch eine Gefährdungshaftung ersetzt 127. In Deutschland wird eine „praktisch unwiderlegbare“ Verschuldensvermutung auf § 823 BGB gestützt 128. Spätestens mit der Europäischen Produkthaftungsrichtlinie von 1985 129 wurde eine verschuldensunabhängige Herstellerhaftung in allen Mitgliedstaaten als Haftungsmaßstab festgesetzt 130. Doch inwiefern spielten ökonomische Erwägungen in der Entwicklung eine Rolle?

1. Eigene Ansätze der ökonomischen Analyse

Vereinzelt sind eigene Ansätze eines law & economics-Ansatzes zu finden. Ein erster ökonomischer Ansatz wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts vom Österreicher Victor Mataja für das Schadensersatzrecht begründet 131. Bereits Mataja nannte als Hauptziele die Prävention von weiteren Schäden und die Verteilung des eingetretenen Schadens zwischen den Parteien nach den „Forderungen der Gerechtigkeit und der volkswirtschaftlichen Interessen“ 132. Mataja sprach sich gegen eine Verschuldenshaftung aus 133. Die Anreize, den Schaden zu verhindern, würden unter dem sozialen Optimum liegen, da der Schädiger nur so viel Sorgfalt aufwende, wie das Gesetz vorschreibe 134. Bei zufälligen Schäden solle derjenige den Schaden tragen, der den Schaden am besten verhindern könne 135.

Mit dieser Argumentation nahm Mataja bereits einige zentrale Erkenntnisse der ökonomischen Analyse im Schadensrecht voraus 136. Dennoch führten die fortschrittlichen Ansätze von Mataja zu keiner kontinentaleuropäischen Diskussion um eine ökonomische Analyse des Rechts 137. Obwohl Interesse für diesen Ansatz bestand, setzte sich die Ansicht durch, dass volkswirtschaftliche Erwägungen nicht Sache des Juristen seien 138.

2. Rezeption der Ansätze der law & economics-Bewegung

Bereits die Gründungsväter des BGB haben ökonomische Prinzipien in Bezug auf das Schadensrecht diskutiert 139. Ab 1960 war eine Anwendung der law & economics-Ansätze im Besonderen im westlichen Teil Europas zu beobachten 140. Besonders in Deutschland sind die Ansätze an verschiedenen Stellen zu finden:

Vergleichbar ist die Rechtsprechung für das Produkthaftungsrecht seit 1960, bei der ähnlich wie im amerikanischen Recht „public policy“ Erwägungen einfließen 141. Die Ökonomie kann in der Rechtsprechung als Auslegungsprinzip gelten 142. Dies ist im Wege von teleologischen Auslegungen, Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen, wie z.B. bei § 251 Abs. 2 BGB bei der Auslegung von „unverhältnismäßigen Aufwendungen“, zu beobachten 143. Letztlich finden ökonomische Aspekte, wie der amerikanische risk-utility-test ihre Anwendung 144.

Als Beispiel für die Einbeziehung einer ökonomischen Betrachtung kann eine Fahrlässigkeitsbegründung nach § 276 Abs. 2 BGB dienen 145. Nach § 276 Abs. 2 BGB handelt jeder fahrlässig, der die erforderliche Sorgfalt im Verkehr außer Acht lässt. Hier bietet sich für den Richter ein breiter Beurteilungsspielraum 146. In einem Fall von Fahrlässigkeit durch Unterlassen würde eine ökonomische Analyse von dem Punkt ausgehen, dass jeder durch Fahrlässigkeit erzeugte Schaden durch einen entsprechenden ökonomischen Vorsorgeaufwand hätte vermieden werden können 147. Die Fahrlässigkeit ergibt sich aus dem Verhältnis zwischen Vorsorgeaufwand und dem zu erwartenden Schaden 148. Diese Analyse wird auch von der Lehre unterstützt: Im Palandt wird in der Kommentierung zu § 276 BGB eine Nutzen-Kosten-Analyse zur Bestimmung der Fahrlässigkeit vorgeschlagen 149.

3. Erklärungsversuche für die schleppende law & economics-Bewegung in Europa

In Europa sind Orientierungen am amerikanischen law & economics-Ansatz zu finden, dennoch fehlt es an einer weitverbreiteten Bewegung wie in den USA. Einige Autoren begründen dies mit den verschiedenen Rechtstraditionen des civil und common law 150.

Zwischen den Rechtstraditionen sind einige Unterschiede feststellbar: Z.B. geht die deutschsprachige Rechtsdogmatik von einer systeminternen Weiterentwicklung des Rechts aus 151. Recht gilt als eigenständige Disziplin 152, weswegen es schwieriger erscheint, die ökonomische Analyse in diese Methodik zu integrieren 153. In den USA wird das Recht von einem externen Blickwinkel aus analysiert, d.h. in Bezug auf seine Auswirkungen auf die Gesellschaft mit Einbeziehung von Soziologie, Politik, Philosophie und seit den 1960er Jahren auch der Ökonomie 154. Hier ist der ökonomische Ansatz als politikorientierter Ansatz leichter kompatibel 155.

Diese systematischen Unterschiede sind auf die historischen Unterschiede zurückzuführen: In Europa ist der rechtliche Formalismus, das Gegenteil zum amerikanischen legal realism und der soziologischen Rechtsprechung, vorherrschend 156. Dieser geht zurück auf die historische Schule um Savigny im 19. Jahrhundert, die sich auf die Gewinnung rechtspolitischer Argumente aus bestehendem Recht konzentrierte 157. Der Volksgeist solle von gesellschaftspolitischen und sozialen Bewegungen weitgehend frei bleiben 158. Es wurde größere Betonung darauf gelegt, dass das Recht einen neutralen Rahmen für die private Lebensgestaltung darstelle 159. Ferner wurde der Einfluss von public policy-Argumenten in der Rechtsprechung mit dem Nationalsozialismus verbunden 160. In dieser Zeit wurde das Recht durch die Einbeziehung rechtsferner Prinzipien wie denen der Nationalsozialisten geändert 161. Folglich wurde danach erneut eine strikte Interpretation von rechtlichen Vorschriften verfolgt 162.

Letztlich sind einige strukturelle Gründe anzuführen. Eine große Rolle bei der ökonomischen Analyse spielt der Richter 163. Hier zeigt sich ein großer Unterschied zwischen dem „starken Richter“ in den USA und dem traditionellen kontinentaleuropäischen Richter als „bloßem Interpret“ des Gesetzes auf 164. Letzterer dürfe nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung nur anhand der bestehenden Gesetze eine Auslegung vornehmen, wodurch eine Einbeziehung nicht-juristischer Argumente nicht möglich sei 165. Die Gerichte in den USA sagen den Richtern zum Teil sogar eine eigene Kompetenz zur Gesetzgebung zu 166. Dies ist das genaue Gegenteil zum deutschen Modell, bei welchem der Richter die Wünsche der Legislative durch Interpretation der vorgesetzten rechtlichen Normen erfüllt 167.

Auch wenn die Entwicklung langsam voranschreitet, ist ein Interesse Europas an der law & economics-Bewegung festzustellen. An einigen Stellen findet die ökonomische Analyse bereits ihre Anwendung und durch das wachsende Interesse am amerikanischen Recht gehen einige Autoren von einer zunehmenden Einbeziehung im europäischen Recht aus 168. Die EU hat die Ökonomik bereits in ihr Politikrepertoire aufgenommen 169.

F. Fazit

Wieso gehört Calabresis Aufsatz somit zu den meist zitierten seiner Art?

Krier hat einmal an der ökonomischen Analyse kritisiert, dass die Ökonomie vielleicht bessere Fragen stellt, jedoch nicht die besseren Antworten gibt 170. Dennoch ist festzuhalten, dass Calabresi mit seiner ökonomischen Analyse sehr gute Antworten geliefert hat:

Die wichtigste Antwort ist, dass dort wo das Recht keine Antwort mehr weiß, die Ökonomie zur Seite stehen kann. Unabhängig von rechtlichen und ethischen Argumenten fand Calabresi eine Rechtfertigung für die strikte Herstellerhaftung allein anhand der wirtschaftlichen Betrachtung der Möglichkeiten. Durch das Herausstellen, dass durch sie die Schäden zwischen Hersteller und Verbraucher verteilt werden, fand Calabresi eine gerechte und ökonomische Lösung.

Dies hat nicht nur die Rechtsprechung und Lehre in den USA inspiriert, sondern ihren Weg über den Ozean bis nach Europa gefunden. Die law & economics-Bewegung wirkt auch heute nach 55 Jahren weiter fort. Der Gedanke der Risikoverteilung hat es sogar in die Präambel der Europäischen Produkthaftungsrichtlinie geschafft 171. Dennoch „fürchten“ sich noch viele Juristen vor der ökonomischen Analyse, da ihre Grenzen nicht definiert erscheinen.

Fakt ist, dass Recht und Ökonomie sich gegenseitig bereichern können. Beide bieten wichtige Aspekte: Das Recht die Grundlagen der Fairness und Ethik sowie lebensnahe Fallkonstellationen, die Ökonomie abstrakte und perfektionierte mathematische Formeln, die die Effizienz jeglicher Transaktionen bestimmen können.

Somit gilt es für den weiteren Erfolg einer ökonomischen Analyse des Rechts in Europa eine für beide Disziplinen vertretbare Allokation vorzunehmen, zwischen rechtlichen und ökonomischen Aspekten.

* Die Autorin studiert im siebten Semester Rechtswissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg mit dem Schwerpunkt „Internationales und europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht“ und ist studentische Hilfskraft am Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Abt. 3 (Prof. Dr. Jan von Hein). Der Artikel beruht auf einer im März 2016 erstellten Seminararbeit zu dem Thema „Guido Calabresi: Some Thoughts on Risk Distribution and the Law of Torts (1961)“ im Rahmen des von Prof. Dr. Sonja Meier geleiteten Seminars „Das Privatrecht der Moderne – Schlüsseltexte zur neueren Privatrechtsgeschichte“.


Fußnoten:

  1. Calabresi, The Cost of Accidents 1970, S. 24.
  2. „tort“ ist jedes zivile Delikt, für welches dem Geschädigten ein Rechtsbehelf wie z.B. Schadensersatz zusteht, Black’s Law Dictionary 2004, „tort“.
  3. Calabresi, (1961) 70 Yale L.J. 499 ff.
  4. Shapiro/Pearse, (2012) 110 Mich. L. Rev. 1483, 1491.
  5. O’Connell/Guinivan, (1988) 49 Ohio St.L.J. 757, 763; James, (1955) 34 Tex. L. Rev. 192, 202 f.
  6. Verschuldensunabhängige Haftung, die auf der Verletzung einer Sicherungspflicht basiert, Black’s Law Dictionary 2004, „strict liability“.
  7. Wantzen, Unternehmenshaftung 2007, S. 191.
  8. Epstein, (1989) 9 Tel Aviv U. Stud. L. 49, 52.
  9. Calabresi, (1961) 70 Yale L.J. 499.
  10. Ebenda.
  11. Wade, (1989) 19 Brief 8.
  12. Epstein, (1989) 9 Tel Aviv U. Stud. L. 49, 52.
  13. Wantzen, Unternehmenshaftung 2007, S. 191.
  14. Micklitz, Privatrechtstheorie Band II 2015, S. 1145.
  15. Calabresi, Cost of Accidents 1970, S. 3; Feezer, (1930) 78 U. Pa. L. Rev. 805, 812.
  16. O’Connell/Guinivan, (1988) 49 Ohio St.L.J. 757, 762.
  17. Wantzen, Unternehmenshaftung 2007, S. 149; James, (1946) 55 Yale L.J. 365, 399.
  18. Epstein, (1989) 10 Cardozo L.R. 2193, 2195.
  19. Wade, (1989) 19 Brief 8, 10.
  20. James, (1955) 34 Tex. L. Rev. 192, 195.
  21. Thomas v. Winchester, (1852) 6 N.Y. 397.
  22. MacPherson v. Buick Motors Co., (1916) 217 N.Y. 382, 389, 111 N.E. 1050.
  23. Wantzen, Unternehmenshaftung 2007, S. 206.
  24. MacPherson v. Buick Motor Co., (1916) 217 N.Y. 382, 391, 111 N.E. 1050.
  25. Wantzen, Unternehmenshaftung 2007, S. 209.
  26. Escola v. Coca-Cola Bottling Co. of Fresno, (1944) 24 Cal.2d 453, 456.
  27. Ebenda.
  28. Black’s Law Dictionary 2004, „res ipsa loquitur“.
  29. Escola v. Coca Cola Bottling Co. of Fresno, (1944) 24 Cal.2d 453, 461.
  30. Ebenda, 463.
  31. Greenman v. Yuba Powers Products Inc., (1963) 59 Cal.2d 57.
  32. Wantzen, Unternehmenshaftung 2007, S. 210.
  33. Greenman v. Yuba Power Products Inc., (1963) 59 Cal.2d 57, 63.
  34. Keating, (2001) 54 Vand. L. Rev. 1285, 1297.
  35. Escola v. Coca Cola Bottling Co. of Fresno, (1944) 24 Cal.2d 453, 461.
  36. Calabresi, (1961) 70 Yale L.J. 499.
  37. Ebenda, 500.
  38. Ebenda, 500.
  39. Wantzen, Unternehmenshaftung 2007, S. 35.
  40. Calabresi, (1961) 70 Yale L.J. 499, 502.
  41. Wantzen, Unternehmenshaftung 2007, S. 230.
  42. Calabresi, (1961) 70 Yale L.J. 499, 502 f.
  43. Die Kosten, welche als Folge eines Unfalls anfallen. Hier im Folgenden „Schadensfolgekosten“ genannt.
  44. Calabresi, (1961) 70 Yale L.J. 499, 503.
  45. Auch Colombatto, (2014) 77 L.C.P. 117, 120.
  46. Auch Shavell, (1980) 9 J. Legal Stud. 1, 4.
  47. Gabler Wirtschaftslexikon 2004, „Allokation“.
  48. Calabresi, (1961) 70 Yale L.J. 499, 502.
  49. Ebenda, 514.
  50. Ebenda, 531.
  51. Ebenda, 502.
  52. Folgende Grafik aus: Polinsky, An Introduction to Law and Economics 2011, S. 114.
  53. Ebenda, S. 114 f.
  54. Calabresi, (1961) 70 Yale L.J. 499, 505 f.
  55. Samuelson/Nordhaus, Volkswirtschaftslehre, Grundlagen der Makro- und Mikroökonomie Band 2 1987, S. 93.
  56. Calabresi, (1961) 70 Yale L.J. 499, 506.
  57. Micklitz, Privatrechtstheorie Band II 2015, S. 1152.
  58. Calabresi, (1961) 70 Yale L.J. 499, 506 f.
  59. Ebenda, 517 ff.
  60. Ebenda, 517.
  61. auch: Mataja, Schadensersatz 1888, S. 27.
  62. Calabresi, (1961) 70 Yale L.J. 499, 518.
  63. Ebenda, 527.
  64. Ebenda.
  65. Ebenda, 528.
  66. Ebenda, 531.
  67. Wantzen, Unternehmenshaftung 2007, S. 163.
  68. Feezer, (1930) 78 U. Pa. L. Rev. 805, 808.
  69. Nolan/Ursin, (1996) 75 Or. L. Rev. 467.
  70. Geistfeld, (2014) 77 L.C.P. 165.
  71. Wantzen, Unternehmenshaftung 2007, S. 163.
  72. Ebenda, S. 166.
  73. Siehe auch Medema, (2014) 77 L.C.P. 65, 68.
  74. Shavell, Economic Analysis 2004, S. 180.
  75. James, (1952) 27 N.Y.U. L. Rev. 537, 539.
  76. Micklitz, Privatrechtstheorie Band II 2015, S. 1148.
  77. Brietzke, (1996) 30. Val. U.L. Rev. 885, 887.
  78. Calabresi, (1961) 70 Yale L.J. 499, 534.
  79. O’Connell/Guinivan, (1988) 49 Ohio St. L.J. 757, 758.
  80. Micklitz, Privatrechtstheorie Band II 2015, S. 1148.
  81. Horn, AcP 1976, 307; Stigler, (1992) 35 J. L. & Econ. 455, 456.
  82. Coase, (1960) 3 J. L. & Econ. 1.
  83. Grundmann, Privatrechtstheorie Band I 2015, S. 170.
  84. nach Coase Marktbenutzungskosten, z.B. Entscheidungskosten bei der Neukundengewinnung, etc.; siehe auch Behrens, Ökonomische Grundlagen 1986, S. 108.
  85. Ebenda, S. 170 f.; Medema, (2014) 77 L.C.P. 65, 66.
  86. Ebenda, S. 171.
  87. Stigler, (1992) 35 J. L. & Econ. 455.
  88. Grundmann, Privatrechtstheorie Band I 2015, S. 167.
  89. „property“ ist das Recht eine Sache zu besitzen und zu benutzen, Black’s Law Dictionary 2004, „property“.
  90. „nuisance“ ist jeder Zustand, der mit einem Nutzungsrecht von Eigentum kollidiert; Black’s Law Dictionary 2004, „nuisance“.
  91. Coase, (1993) 36 J. L. & Econ. 239, 251.
  92. Horn, AcP 1976, 307, 313.
  93. Coase, (1960) 3 J. L. & Econ. 1, 2.
  94. Ebenda.
  95. Ebenda, 15; Horn, AcP 1976, 307, 313.
  96. Ebenda, 15 f.
  97. Coase, (1960) 3 J. L. & Econ. 1, 27.
  98. Grundmann, Privatrechtstheorie Band I 2015, S. 180.
  99. Marciano/Ramello, (2014) 77 L.C.P. 97; Stigler, (1992) 35 J. L. & Econ. 455, 457.
  100. Geistfeld, (2014) 77 L.C:P. 165.
  101. Ebenda; Faure, (2008) 1 Erasmus L. Rev. 75, 76.
  102. Micklitz, Privatrechtstheorie Band II 2015, S. 1143.
  103. Calabresi, Cost of Accidents 1970, S. 26 ff.
  104. Ebenda, S. 26.
  105. Ebenda, S. 26 f.
  106. Ebenda, S. 27.
  107. Ebenda, S. 28.
  108. Ebenda.
  109. Ebenda.
  110. Geistfeld, (2014) 77 L.C.P. 165 f.
  111. Calabresi/Melamed, (1972) 85 Harv. L. Rev. 1089, 1090.
  112. Krier, (1974) 122 U. Pa. L. Rev. 1664, 1671 f.
  113. Posner, Economic Analysis 2014, S. 32; Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip 2005, S. 4.
  114. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip 2005, S. 4; Posner, Economic Analysis 2014, S. 3 f.
  115. Posner, Economic Analysis 2014, S. 4 f.; auch Cooter/Ulen, Law & Economics 2014, S. 3.
  116. Calabresi, (1983) 33 J. Legal Educ. 359, 364.
  117. Trebilcock, (1993) 16 Dalhousie L.J. 360, 361.
  118. Krier, (1974) 122 U. Pa. L. Rev. 1664, 1670.
  119. Cooter/Ulen, Law & Economics 2014, S. 2.
  120. Stigler, (1992) 35 J. L. & Econ. 455.
  121. Summers, (1983) 33 J. Legal Educ. 337, 344.
  122. Ebenda.
  123. Faure, (2008) 1 Erasmus L. Rev. 75, 79.
  124. Summers, (1983) 33 J. Legal Educ. 337, 344 ff.
  125. Ebenda, 346.
  126. Micklitz, Privatrechtstheorie Band II 2015, S. 1142.
  127. Ebenda.
  128. Riehm, EuZW 2010, 567, 568.
  129. EG-Richtlinie 85/374/EWG.
  130. Riehm, EuZW 2010, 567.
  131. Grechenig/Gelter, RabelsZ 2008, 513, 540; Mataja, Schadensersatz 1888, S. 19 ff.
  132. Mataja, Schadensersatz 1888, S. 19.
  133. Ebenda, S. 24.
  134. Grechenig/Gelter, RablesZ 2008, 513, 540; Mataja, Schadensersatz 1888, S. 24.
  135. Ebenda; Mataja, Schadensersatz 1888, S. 23.
  136. Grechenig/Gelter, RabelsZ 2008, 513, 540.
  137. Ebenda, 541.
  138. Ebenda, 542.
  139. Taupitz, AcP 1996, 114, 149.
  140. Cooter/Gordley, (1991) 11 Int’l Rev. L. & Econ. 261.
  141. Mattei/Pardolesi, (1991) 11 Int’l Rev. L. & Econ. 265, 269.
  142. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip 2005, S. 452.
  143. Taupitz, AcP 1996, 114, 127 f.
  144. BGH, 16. 6. 2009, VI ZR 107/08, NJW 2009, 2952, 2953 f.
  145. Baumann, RNotZ 2007, 297, 298.
  146. Ebenda.
  147. Ebenda, 299.
  148. Ebenda; Taupitz, AcP 1996, 114, 157.
  149. Palandt/Grüneberg, 74. Aufl. 2015, §276 Rn 19.
  150. Mattei/Pardolesi, (1991) 11 Int’l Rev. L. & Econ. 265, 266.
  151. Grechenig/Gelter RabelsZ 2008 513, 514.
  152. Ebenda, 515.
  153. Ebenda, 543.
  154. Ebenda, 514 f.
  155. Cooter/Gordley, (1991) 11 Int’l Rev. L. & Econ. 261.
  156. Kirchner, (1991) 11 Int’l Rev. L. & Econ. 277, 281.
  157. Grechenig/Gelter, RabelsZ 2008, 513, 545.
  158. Ebenda, 546.
  159. Posner, Economic Analysis 2014, S. 33.
  160. Cooter/Gordley, (1991) 11 Int’l Rev. L. & Econ.261, 262.
  161. Kirchner, (1991) 11 Int’l Rev. L. & Econ. 277, 281.
  162. Ebenda.
  163. Taupitz, AcP 1996, 114, 125.
  164. Mattei/Pardolesi, (1991) 11 Int’l Rev. L. & Econ. 265, 267.
  165. Kirchner, (1991) 11 Int’l Rev. L. & Econ. 277, 284.
  166. Taupitz, AcP 1996, 114, 130.
  167. Kirchner, (1991) 11 Int’l Rev. L. & Econ. 265, 285.
  168. Mattei/Pardolesi, (1991) 11 Int’l Rev. L .& Econ. 265, 270.
  169. Micklitz, Privatrechtstheorie Band II 2015, S. 1149.
  170. Krier, (1974) 122 U. Pa. L. Rev. 1664, 1704.
  171. EG-Richtlinie 85/374/EWG.
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