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Herabsetzung der Geschäftsführervergütung analog § 87 AktG?

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Ein Beitrag zur Corporate Governance in Kapitalgesellschaften

 

Philip Ridder*

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Die Gehälter von „Managern“ großer Unternehmen sind seit langem ein Zankapfel. Im Jahre 2009 wurde die Regelung über die Vorstandsbezüge im Aktiengesetz reformiert; insbesondere wurden entscheidende Rechtsbegriffe in § 87 Abs. 2 AktG geändert, welcher in Krisenzeiten der Gesellschaft die Herabsetzung der Vergütung gebietet. Im GmbH-Gesetz fehlt eine Regelung der Geschäftsleiterbezüge hingegen, obwohl in Notlagen der GmbH ebenfalls ein Anpassungsbedürfnis entstehen kann. Der Beitrag untersucht, wie im Recht der GmbH eine Herabsetzung der Geschäftsführervergütung erreicht wird und ob insbesondere eine Analogie zu § 87 AktG neuer Fassung statthaft ist.

A. Einführung 

Auch mehr als fünf Jahre nach Abschluss des Mannesmann-Verfahrens 1 ist die Vergütung von „Managern“ 2 ständiger Gegenstand einerseits der gesellschaftlichen, andererseits der rechtswissenschaftlichen Diskussion.

Im gesellschaftlichen Bereich zeigt sich dies beispielsweise an der in den Medien umstrittenen Jahresvergütung des Volkswagen-Vorstandsvorsitzenden Winterkorn, die für 2011 mit über 17 Millionen Euro deutlich über dem Durchschnitt seiner Amtskollegen in den Dax-Gesellschaften lag (5,5 Millionen Euro) 3.

Andererseits spielt die Vergütung auch in der rechtswissenschaftlichen Corporate-Governance-Debatte eine wichtige Rolle 4. Wenn nach der optimalen Organisation der Leitung und Überwachung eines Unternehmens gefragt wird, muss die Entlohnung berücksichtigt werden, denn sie ist zumindest ein maßgeblicher Anreiz für die erfolgreiche Ausübung leitender Positionen.

Angefacht wurde die Diskussion durch Änderungen an § 87 AktG, die im Jahr 2009 durch das Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG) 5 erfolgten und insbesondere die Möglichkeit der nachträglichen Herabsetzung vereinbarter Vorstandsvergütungen betreffen, wenn sich die Lage der Gesellschaft verschlechtert 6. Es handelt sich um ein aktienrechtliches Institut, allerdings wird schon länger seine Wirkung und gar entsprechende Anwendbarkeit auf die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) diskutiert 7. Diese Frage bildet den Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung.

Zunächst sollen § 87 AktG und seine Wirkung für die Aktiengesellschaft (AG) aufgezeigt werden (unter B.), wobei hier der Herabsetzungsmechanismus den Schwerpunkt der Darstellung bildet. Anschließend wird die Rechtslage zur Geschäftsführervergütung und ihrer Kürzung im GmbH-Recht erläutert (unter C.). Erst das Verständnis beider Themenkomplexe erlaubt schließlich die Würdigung der Frage, ob § 87 II AktG für die Herabsetzung der Vergütung eines GmbH-Geschäftsführers analog anzuwenden ist (unter D.). Die Ausarbeitung schließt mit einer Zusammenfassung in Thesenform (unter E.), in einem Anhang (unter F.) ist die Vorschrift des § 87 AktG in alter und neuer Fassung wiedergegeben.

 

B. Regelungen des § 87 AktG  für die Aktiengesellschaft

In der AG ist der Aufsichtsrat für die Festsetzung der Vorstandsbezüge zuständig 8. Mit dem Anstellungsvertrag verpflichtet er die Gesellschaft zu Zahlungen aus dem Gesellschaftsvermögen, welches mittels der Anteile im Eigentum der Aktionäre steht. Der Aufsichtsrat bindet also das Vermögen der Aktionäre, ohne dass diese an der Entscheidung mitwirken. Zudem reduziert er den Haftungsfonds, auf den die Gläubiger der AG vertrauen.

Nicht nur in schlechten Zeiten der Gesellschaft birgt das Gefahren 9. Es überrascht deshalb nicht, dass die Vorstandsvergütung gesetzlich geregelt wurde.

 

I. Zweck und Geschichte des § 87 AktG

Eine Regelung zur nachträglichen Herabsetzung der Vorstandsbezüge bestand seit dem AktG 1937 10 weitgehend unverändert bis 2009 (heute § 87 II AktG). Damals sollten nach der Weltwirtschaftskrise „Riesengehälter“ 11 angepasst werden können; man wollte die Aktionäre vor übermäßigem Kapitalabfluss schützen und für die Gläubiger einen ausreichenden Haftungsfonds gewährleisten 12. Zugleich wurden die Aufsichtsräte zu einer generell angemessenen Festsetzung verpflichtet (§ 87 I AktG 13).

II. Festsetzung der Vorstandsvergütung nach § 87 I AktG n.F 14.

§ 87 I AktG greift in die Vertragsfreiheit hinsichtlich des Anstellungsvertrages des Vorstandsmitglieds ein 15. Nach seinem Wortlaut muss („hat“) der Aufsichtsrat 16 die Gesamtbezüge der einzelnen Vorstandsmitglieder so festsetzen, dass sie im Vergleich (1) zur Lage der Gesellschaft und (2) zu den Aufgaben und Leistungen 17 des Vorstandsmitglieds angemessen sind und (3) die übliche Vergütung 18 nicht ohne besondere Gründe übersteigen. Nach Satz 4 19 gilt dies auch für die Versorgungsbezüge nach dem Ausscheiden.

Zusätzlich schreiben die durch das VorstAG neu eingefügten Sätze 2 und 3 für börsennotierte AGs die Ausrichtung der Vergütungsstruktur auf eine nachhaltige Unternehmensentwicklung vor 20.

Detaillierte Ausführungen zu Absatz 1 würden den Rahmen dieser Ausarbeitung sprengen 21. Ohnehin bestand schon vor dem VorstAG Einigkeit darüber, dass für die Angemessenheit der Vergütung alle für die Geschäftsleitung relevanten Aspekte eine Rolle spielen 22.

Angemerkt sei, dass angemessen nicht ein spezifischer Betrag, sondern eine „Bandbreite“ 23 zulässiger Vergütungen ist 24. Eine schlechte gesellschaftliche Lage muss dabei keine niedrige Vergütung erfordern, wenn nur durch attraktive Angebote ein geeigneter Geschäftsleiter gefunden werden kann 25.

III. Die nachträgliche Herabsetzung der Bezüge nach § 87 II AktG

Verschlechtert sich nach Festsetzung der Vergütung die Lage der Gesellschaft so, dass die Weitergewährung der Gesamtbezüge unbillig für die Gesellschaft wäre, gibt § 87 II 1 n.F. AktG dem Aufsichtsrat in einer Soll-Vorschrift auf, die Bezüge so zu reduzieren, dass sie wieder angemessen sind.  Hiervon betroffen sind nach Satz 2 auch die Ruhebezüge, sofern die Herabsetzung spätestens drei Jahre nach Ausscheiden des Vorstandsmitglieds erfolgt – sie wirkt aber freilich für die gesamte Laufzeit 26.

Nicht nur wegen der durch das VorstAG bewirkten Änderungen verdient dieser Mechanismus eine Analyse. Vorab werden zur Verständniserleichterung systematische Probleme beleuchtet.

1. Vertragsrechtliche und systematische Probleme bei § 87 II AktG

Der Wissenschaft fällt es zu Recht nicht leicht, § 87 II AktG mit dem geltenden Recht in Einklang zu bringen. Problematisch ist, dass der einseitige Eingriff der AG in die vertragliche Vereinbarung zulasten des Vorstandsmitglieds 27 eine Durchbrechung der grundsätzlichen Vertragstreuepflicht darstellt (pacta sunt servanda – Verträge sind einzuhalten) 28.

a) Rechtfertigung der Norm

Vielfach wird der Ausnahmecharakter der Norm betont 29. § 87 II AktG a.F. wurde überwiegend als Spezialfall des Wegfalls der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) gesehen, 30 wobei § 313 BGB nach der Vertragsrisikolehre nicht unmittelbar anwendbar ist 31. Die Tatbestandsvoraussetzungen waren aber ähnlich: Nach § 313 BGB kann bei wesentlicher Veränderung grundlegender Verhältnisse eine Partei die Vertragsanpassung durchsetzen, wenn der bisherige Vertrag für sie unzumutbar wird 32.

§ 87 II AktG n.F. weist gegenüber der alten Fassung niedrigere Voraussetzungen auf. Zudem erfolgt die Reduzierung weitergehend, als es für die Beseitigung der Unbilligkeit erforderlich wäre (nämlich auf das angemessene Maß) 33. Schließlich handelt es sich nun um eine „Soll“-Vorschrift 34. All dies bewirkt gegenüber dem anerkannten § 313 BGB 35 einen erhöhten Rechtfertigungsbedarf.

Ein verfassungsrechtliches Problem ergibt sich daraus, dass die Vertragstreuepflicht über das Prinzip der Vertragsfreiheit, deren „notwendiges Korrelat“ 36 sie ist, Grundrechtsschutz genießt 37. Weller rechtfertigt den erleichterten Eingriff des § 87 II AktG n.F. damit, dass erstens die Vertragsfreiheit eine „normativ konstituierte Freiheit“ 38 sei, also nur „im Rahmen der geltenden Gesetze“ 39 wirke und vom Gesetzgeber mal stärker, mal schwächer ausgeformt werden dürfe. Zweitens bedinge die Einordnung des Vorstandsvertrages als fremdinteressenwahrend eine gesteigerte Vertragstreuepflicht des Vorstandsmitglieds und eine schwächere der AG, sodass vorliegend eine vorstandsbenachteiligende Regelung – gerade wegen vorstandsprivilegierender wie § 76 I und § 84 III AktG – sachgemäß sei 40. Die „autonome Finanzierungsfähigkeit“ 41 der AG müsse geschützt werden.

Weller sieht somit § 87 II AktG n.F. als einen (systemkohärenten) Spezialfall des § 313 BGB an 42. Andere sind der Ansicht, für die Geschäftsgrundlagenlehre greife § 87 II AktG n.F. nunmehr zu früh und zu weitgehend ein, sodass die Norm nur auf die organschaftliche Treuepflicht 43 gestützt werden könne 44.

Letztlich ist die Einordnung für die hier betrachtete Frage nicht entscheidend – deutlich muss werden, dass es sich um eine einschneidende Ausnahme des Vertragstreuegrundsatzes handelt.

b) Einbeziehung der Ruhebezüge

Als besonders problematisch gilt der Eingriff in die bereits erdienten Ruhebezüge nach dem Ausscheiden 45. Zwar kann sowohl § 313 BGB schon erbrachte Leistungen einbeziehen 46 als auch die organschaftliche Treuepflicht über die Amtszeit hinauswirken 47. Jedoch wird der erworbene Anspruch teils dem Schutz von Art. 14 GG unterstellt, 48 was hohe Rechtfertigungsanforderungen bedingt.

Die Diskussion um die Rolle des BetrAVG würde den Rahmen dieser Ausarbeitung sprengen 49. Es muss jedoch der besondere Ausnahmecharakter von § 87 II 2 AktG betont 50 und dies bei der Analogiefähigkeit der Regelung berücksichtigt werden. Denn auf das Wohl der Gesellschaft hat der Betroffene nach seinem Ausscheiden nicht nur keinen Einfluss mehr, er kann auch nicht mehr wegen der Herabsetzung die Gesellschaft wechseln 51.

2. Tatbestand des § 87 II AktG

Die Tatbestandsmerkmale der neu gefassten Herabsetzungsvorschrift sind die Verschlechterung der Lage der AG sowie eine daraus folgende Unbilligkeit der Weitergewährung der vereinbarten Bezüge für die Gesellschaft. Beide Merkmale wurden durch Art. 1 Nr. 1 lit. b) VorstAG modifiziert, verlangte die alte Fassung doch (strenger) eine wesentliche Verschlechterung und schwere Unbilligkeit 52. Erst durch das VorstAG wurden zudem die Ruhebezüge der Herabsetzung unterworfen (Satz 2) 53. Für die Rechtsfolgenseite ist bereits hier zu beachten, dass aus der bloßen Berechtigung zur Herabsetzung eine „Soll“-Vorschrift wurde. Nichts änderte sich dagegen an den Sätzen 3 und 4.

Die Auslegung der Vorschrift nach ihren Änderungen wird ausgiebig diskutiert. Bislang erfolgte wegen des Eingriffs in Vertragsrechtsprinzipien eine restriktive Auslegung 54, § 87 II AktG a.F. wurde mitunter als „äußerster Notbehelf“ 55 angesehen und manche attestierten ihm ein „Schattendasein“ 56.

a) Verschlechterung der Lage der Gesellschaft

Die bislang erforderliche wesentliche Verschlechterung der Lage der AG lag erst vor, wenn ihre wirtschaftliche Existenz unmittelbar bedroht war 57. Zu denken ist beispielsweise an eine drohende Insolvenz 58. Selbst Personalabbau oder der Zwang zur Veräußerung von Betriebsteilen reichten nicht aus 59.

Das neue Merkmal wird als „unklarer und unschärfer“ kritisiert 60. Eine Verschlechterung liegt schon bei einem Gewinnrückgang vor 61. Nach der Begründung des Regierungsentwurfs soll der Tatbestand zwar erst greifen, wenn die AG „Entlassungen oder Lohnkürzungen vornehmen muss und keine Gewinne mehr ausschütten kann“ 62. Eine unmittelbare Krise oder Insolvenz seien jedoch nicht erforderlich.

Angesichts der oben aufgezeigten Schärfe des Eingriffs in Privatrechtsprinzipien ist eine weiterhin enge Auslegung überzeugend 63. Damit ist zumindest eine „nicht nur vorübergehende, krisenhafte Situation“ 64 der Gesellschaft zu verlangen. Stellenabbau in einer Sanierung 65 etwa kann nicht ausreichen 66.

Auf eine Zurechnung der Verschlechterung zum Vorstandshandeln kann es zudem nicht ankommen, 67 denn § 87 II AktG ist keine Straf- oder Ersatzvorschrift wie § 93 II 1 AktG 68.

b) Unbilligkeit der Weitergewährung für die Gesellschaft

Nach der a.F. musste in der unveränderten Weitervergütung eine schwere Unbilligkeit für die Gesellschaft liegen. Dies verlangte ein „krasses, völlig unangemessenes Missverhältnis zwischen der wirtschaftlichen Lage der AG und den Vorstandsgehältern“ 69.

Auch hier ist es überzeugend, die neue Fassung eng auszulegen (s. schon oben). Es soll nicht schon unbillig sein, wenn die Vergütung nicht mehr angemessen (§ 87 I 1 AktG) ist 70 Die bisherige Vergütung dürfe „unter Berücksichtigung der Situation der Gesellschaft und ihrer Arbeitnehmer […] nicht mehr vertretbar“ 71 sein. Unbilligkeit ist zu verneinen, wenn durch variable Vergütungsbestandteile schon eine weitgehende Beteiligung des Vorstandsmitglieds an der Gesellschaftslage eintritt 72.

Bemerkenswert ist ein neuer Ansatz von Klöhn, der mit dem Ziel des VorstAG argumentiert 73 und § 87 II AktG n.F. „auch als Norm zur Verhinderung von Fehlanreizen“ 74 ansieht. Er betrachtet neben der Lage der Gesellschaft auch die nachhaltige Vergütungsstruktur (§ 87 I 2+3 AktG) als Geschäftsgrundlage und nimmt Unbilligkeit an, wenn die Vergütungsstruktur nicht mehr nachhaltig ist. 75 Demgegenüber lässt er jede Lageverschlechterung ausreichen, sie müsse jedoch dem Vorstandsmitglied zurechenbar sein.

Allerdings finden sich weder im Wortlaut noch den Materialien zum VorstAG Anhaltspunkte für einen derart starken Umbau der Tatbestandsstruktur; zudem vergisst Klöhn, dass die Nachhaltigkeit zumindest dem Wortlaut nach nur für börsennotierte AGs gilt (§ 87 II AktG jedoch für alle AGs). Ihm wird deshalb hier nicht gefolgt.

c) Ergebnis: Eingriffsschwelle weiterhin hoch

Insgesamt ist es überzeugend, den Tatbestand des § 87 II AktG weiterhin eng zu handhaben. Der gesetzgeberischen Intention ist es aber geschuldet, dass die Eingriffsschwelle gleichwohl gegenüber der a.F. niedriger liegt.

3. Rechtsfolgen der Herabsetzung

§ 87 II AktG gewährt dem Aufsichtsrat ein einseitiges Gestaltungsrecht hinsichtlich der Vergütungsvereinbarung, dessen Wirkung gem. § 315 II BGB mit Zugang der Gestaltungserklärung eintritt 76.

Aus der Soll-Vorschrift folgt die grundsätzliche Pflicht des Aufsichtsrats zur Herabsetzung, wenn nicht besondere Gründe die Beibehaltung rechtfertigen 77 – Ankündigungen eines unentbehrlichen Vorstandsmitglieds, bei Herabsetzung das Sonderkündigungsrecht (§ 87 II 4 AktG) auszuüben, können berücksichtigt werden 78.

Nach der alten Rechtslage durfte der Aufsichtsrat bei der vorgeschriebenen „angemessenen Herabsetzung“ nur die Unbilligkeit beseitigen. 79 In der Neufassung soll auf das angemessene Maß reduziert werden; der Aufsichtsrat kann dabei nur innerhalb der Bandbreite angemessener Vergütungen wählen 80. Die Herabsetzung reicht damit neuerdings „einige Grade“ weiter 81. Der Aufsichtsrat kann jedoch entscheiden, durch Anpassung welcher Vergütungsbestandteile er die Angemessenheit erreicht 82.

Bei Verstoß gegen § 87 II AktG haften die Aufsichtsratsmitglieder nach wie vor gem. §§ 116 S. 1, 93 II 1, I AktG 83. Die Einfügung des § 116 S. 3 AktG, der nur auf § 87 I AktG verweist, sollte daran nichts ändern 84.

IV. Abschließende Bemerkungen

Der Gesetzgeber hat in einem zügigen Gesetzgebungsverfahren die Ausnahmevorschrift des § 87 II AktG deutlich geändert. Den erhöhten Rechtfertigungsbedarf, der mit der erheblich gesenkten Schwelle des Eingriffs in Vorstandsverträge einhergeht, fängt das Schrifttum mit einer auffällig restriktiven Auslegung des Tatbestands auf – nichts ändern kann die Wissenschaft dagegen an den strengeren Rechtsfolgen. Insgesamt ist keineswegs alles beim Alten geblieben; die Einordnung und dogmatische Legitimation der neuen Fassung bereiten zumindest Schwierigkeiten. Dies gilt besonders für die Einbeziehung der Ruhebezüge.

„Klarer und schärfer“ 85 gestaltet sich ebenso wenig die neue Norm wie der Umgang mit ihr.

C. Rechtslage zur Geschäftsführervergütung und ihrer Herabsetzung im GmbH-Recht

Anders als bei der AG besteht bei der GmbH grundsätzlich keine Pflicht zur Einrichtung eines Aufsichtsrats 86. Die organschaftliche Bestellung und schuldrechtliche Anstellung der Geschäftsführer werden von der Gesellschafterversammlung vorgenommen (dazu unter I.), sodass die Anteilseigner Verpflichtungen auf die eigenen Anteile treffen. Zunächst wird diese Ausgangskonstellation betrachtet (unter II. und III.).

Anschließend ist zu fragen, ob etwas anderes für GmbHs mit fakultativem Aufsichtsrat (vgl. § 52 I GmbHG) oder solche gilt, die nach Mitbestimmungsrecht einen Aufsichtsrat bilden müssen (unter IV.).

I. Festsetzung der Geschäftsführervergütung

Das GmbH-Gesetz ist offener konzipiert 87 als das AktG und überlässt vieles der Autonomie des – oft überschaubaren 88 – Gesellschafterkreises. Es enthält keine Regelungen über die Geschäftsführervergütung oder ihre Herabsetzung 89. Lediglich weist § 46 Nr. 5 GmbHG der Gesellschafterversammlung die Zuständigkeit über die organschaftliche Bestellung der Geschäftsführer zu, woraus als Annexkompetenz auch diejenige für Anstellungs- und Vergütungsfragen folgt 90.

Eine unmittelbare Anwendung des § 87 AktG auf die GmbH verbieten dagegen der Wortlaut der Norm („Vorstandsmitglieder“) und die Systematik (AktG) 91.

1. Grenzen der Vertragsfreiheit

Die Vertragsfreiheit bei der Vergütungsvereinbarung erfährt also zunächst nur die Grenze des § 138 BGB 92.

Da bei Gesellschafterbeschlüssen interne Konflikte bestehen können 93 – etwa kann ein beherrschender Gesellschaftergeschäftsführer geneigt sein, sich mittels seiner Stimmenmehrheit (s. § 47 I, II GmbHG) eine überhöhte Vergütung einzuräumen 94 – wurden weitere Beschränkungen herausgearbeitet. So müssen die Bezüge eines wesentlich beteiligten Gesellschaftergeschäftsführers bei einem Fremdvergleich angemessen 95 erscheinen, wobei eine „umfassende Würdigung aller Umstände erforderlich“ 96 ist. Aber auch die Entlohnung eines Fremdgeschäftsführers darf nicht völlig überhöht sein 97.

Die Beschränkungen werden im Wesentlichen auf Treuepflichten gestützt, 98 bei deren Verletzung Ersatzansprüche drohen 99.

2. Beschränkungen aus Treuepflichten

Hierbei ist zwischen zwei Treuepflichten zu unterscheiden: Der Treuepflicht der Gesellschafter und derjenigen der Organmitglieder 100.

a) Die organschaftliche Treuepflicht

Die Gesellschafter überantworten den Geschäftsführern die Lenkung der GmbH und den Umgang mit dem Gesellschaftsvermögen. Die Gewährung so weitreichender Einwirkungsmöglichkeiten und Befugnisse 101 kann nur aufgrund eines erheblichen Vertrauens geschehen 102.

Die Organmitglieder müssen deshalb besonders auf die Wahrung der Gesellschaftsinteressen verpflichtet sein, damit Konflikte mit eigenen oder Drittinteressen nicht der Gesellschaft zum Nachteil gereichen 103. Daraus folgt eine organschaftliche Treuepflicht, nach der die Geschäftsleiter „in allen Angelegenheiten, die das Interesse der Gesellschaft berühren, allein deren und nicht den eigenen Vorteil zu suchen“ haben 104. Damit ist auch das Anstellungsverhältnis erfasst 105.

Die Bindung reicht allerdings nicht so weit, dass ein Geschäftsführer bereits bei der Aushandlung seines Anstellungsvertrages seine Interessen zurücknehmen muss 106. Demnach kann die organschaftliche Treuepflicht die obigen Einschränkungen nicht begründen, auf sie ist aber bei der Reduzierung der Bezüge zurückzukommen.

b) Die gesellschaftliche Treuepflicht

Parallel besteht eine Treuepflicht der Gesellschafter untereinander und gegenüber der Gesellschaft 107. Aus dem Zusammenschluss ergibt sich, dass die Gesellschafter die Gesellschaftsinteressen fördern und alles unterlassen müssen, was der Erreichung des Gesellschaftszwecks zuwiderläuft 108. Insbesondere ist auf die Interessen der Mitgesellschafter Rücksicht zu nehmen 109.

Diese Treuepflicht verbietet dem beherrschenden Gesellschaftergeschäftsführer, sich selbst eine unangemessene Vergütung zuzugestehen – sowie der Gesellschafterversammlung, einem Fremdgeschäftsführer eine maßlos überhöhte Vergütung zu zahlen.

II. Herabsetzung der Geschäftsführervergütung

Da auf den Grundtyp der GmbH § 87 AktG nicht unmittelbar anwendbar ist, kann keine Vergütungsherabsetzung mittels Gestaltungserklärung erfolgen 110. Eine Kürzung ist praktisch nur durch einvernehmliche Änderung des Anstellungsvertrages möglich 111.

1. Anspruch auf Zustimmung zur vertraglichen Reduzierung der Bezüge

Der 2. Senat des Bundesgerichtshofs (BGH) entschied allerdings 1992:

Verschlechtern sich die wirtschaftlichen Verhältnisse der Gesellschaft in wesentlichem Maße, so kann allerdings ein Organmitglied aufgrund der von ihm als solchem geschuldeten Treuepflicht gehalten sein, einer Herabsetzung seiner Bezüge zuzustimmen. Das Aktienrecht sieht dies in § 87 Abs. 2 AktG für Vorstandsmitglieder ausdrücklich vor. Für Geschäftsführer einer GmbH gilt unabhängig davon, ob und in welchem Umfang sie an der Gesellschaft beteiligt sind, im Grundsatz nichts anderes 112.”

Ohne zu einer Anwendbarkeit des § 87 II AktG (a.F.) Stellung zu nehmen, weist der Senat auf die Norm hin und stellt die Zustimmungspflicht des Geschäftsführers aufgrund der organschaftlichen Treuepflicht fest (im Folgenden: Treuepflicht). Der Senat beruft sich dabei auf das Schrifttum 113. Der Mechanismus wurde in der späteren Rechtsprechung bestätigt, 114 zuletzt durch das OLG Düsseldorf im Dezember 2011 115. Gleiches gilt für die wissenschaftliche Literatur 116.

Insgesamt bleibt es also bei der einverständlichen Vertragsanpassung. Die vom BGH festgestellte Zustimmungspflicht ist so zu deuten, dass die Gesellschaft bei Vorliegen der Voraussetzungen wegen der Treuepflicht des Geschäftsführers einen Anspruch aus § 242 BGB 117 gegen diesen auf Abgabe der erforderlichen Willenserklärung erlangt 118.

2. Voraussetzungen des Anspruchs

a) Wesentliche Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse und schwere Unbilligkeit der Weitergewährung

Für die wesentliche Verschlechterung wird überwiegend eine existenzgefährdende Notlage verlangt. Die Auszahlung der Vergütung muss gerade Mittel in Anspruch nehmen, die für die Gesellschaft überlebensnotwendig sind 119.

Mehrheitlich wird verlangt, dass die Weitergewährung der bisherigen Vergütung „besonders“ oder auch „schwer“ unbillig erscheinen muss 120. Nicht jede Lageverschlechterung gebietet also eine Kürzung der Bezüge.

Unbilligkeit kann aber beispielsweise vorliegen, wenn zur Bedienung von Verbindlichkeiten das Stammkapital der GmbH angegriffen werden muss 121. Andererseits wird mit Verweis auf den Insolvenzgrund der drohenden Zahlungsunfähigkeit (§ 18 I InsO) argumentiert, das Überleben der Gesellschaft könne auch schon vor Antastung des Stammkapitals gefährdet sein 122.

b) Ähnlichkeit zu § 87 II AktG a.F.

Hier fallen bereits Ähnlichkeiten zu § 87 II AktG auf (Merkmale der wesentlichen Lageverschlechterung und schweren Unbilligkeit); dies überrascht nicht, immerhin stellte der BGH den Mechanismus auch in Anlehnung an die damalige Fassung des § 87 II AktG fest.

c) Zumutbarkeit für den Geschäftsführer

Zu beachten ist aber, dass überwiegend auch die Zumutbarkeit der Herabsetzung für den Geschäftsführer verlangt wird 123. Die Herabsetzung darf dem Geschäftsleiter nicht die Lebensgrundlage nehmen und muss sich im Rahmen des Erforderlichen halten, insbesondere also gegebenenfalls befristet oder rückgängig gemacht werden 124.

d) Ruhebezüge

Die Treuepflicht des Geschäftsführers wirkt anerkanntermaßen über sein Anstellungsverhältnis hinaus 125. Sie kann deshalb auch eine Zustimmung zur Kürzung der Ruhebezüge im Rahmen der Erforderlichkeit gebieten, wenn die genannten Voraussetzungen vorliegen 126. Freilich müssen hierbei die Grenzen des BetrAVG eingehalten werden 127.

3. Rechtsfolgenseite

Kommt der Geschäftsführer seiner Zustimmungspflicht schuldhaft nicht nach, löst dieser Treuepflichtverstoß einen Schadensersatzanspruch aus 128. Die Gesellschaft kann ihren Anspruch auf Zustimmung zudem klageweise geltend machen.

Oetker stellt zutreffend fest, dass nach § 894 ZPO der Anstellungsvertrag erst mit Rechtskraft des Urteils geändert wird 129. Bis dahin hat der Geschäftsführer Anspruch auf die ursprünglichen Bezüge. Diese können zwar als Schadensersatz zurück zu gewähren sein; diesen muss die Gesellschaft aber ebenfalls erst durchsetzen. Bis zur Rechtskraft kann längst Insolvenz mit irreversiblen Folgen eingetreten sein.

Lunk/Stolz ist deshalb darin Recht zu geben, dass dem Vergütungsanspruch – soweit er nunmehr überhöht ist – die dolo-agit-Einrede 130 entgegengehalten werden kann 131. Es müssen also nur noch die reduzierten Bezüge gezahlt werden 132 .

III. Abweichungen für GmbHs mit Aufsichtsrat?

Fraglich ist, ob bei solchen GmbHs § 87 AktG unmittelbar gilt und wer die Akteure der Kürzung sind.

1. Die GmbH mit fakultativem Aufsichtsrat

Sieht der Gesellschaftsvertrag einen Aufsichtsrat vor, erklärt § 52 I GmbHG einige aktienrechtliche Vorschriften für anwendbar. Dazu gehört aber weder § 87 AktG noch § 84 AktG. Deshalb behält die Gesellschafterversammlung die Kompetenz in Vergütungsfragen (s.o. unter C. I.) 133.

Der Verweis des § 52 I GmbHG auf § 116 AktG ändert daran nichts, denn der neue § 116 S. 3 AktG setzt § 87 I AktG voraus und begründet nicht seine Anwendbarkeit 134.

Wird im Gesellschaftsvertrag die Zuständigkeit für Vergütungsfragen dem Aufsichtsrat zugewiesen (s. §§ 45 II, 46 Nr. 5 GmbHG), tritt dieser diesbezüglich schlicht an die Stelle der Gesellschafterversammlung.

2. Die drittelmitbestimmte GmbH

Eine GmbH mit mehr als 500 Arbeitnehmern muss nach § 1 I Nr. 3 DrittelbG einen Aufsichtsrat einrichten. Auch hier bleibt die Gesellschafterversammlung für die Anstellung der Geschäftsführer zuständig, denn auch § 1 I Nr. 3 DrittelbG statuiert nichts anderes.

3. Die quasi-paritätisch mitbestimmte GmbH

Für GmbHs mit mehr als 2000 Arbeitnehmern ordnet § 1 I MitbestG die Einrichtung eines Aufsichtsrats an; gemäß § 31 I MitbestG, § 84 I AktG ist der Aufsichtsrat hier zwingend für die Bestellung der Geschäftsführer und damit (kraft Annexkompetenz) auch für ihre Anstellung und Vergütung zuständig 135. §§ 25 I Nr. 2, 31 I MitbestG verweisen jedoch wieder nicht auf § 87 AktG, sodass dieser nicht direkt anwendbar ist 136. Der Aufsichtsrat muss aber bei Vergütungsentscheidungen wiederum an die Stelle der Gesellschafterversammlung treten.

IV. Abschließende Bemerkungen

Auf die GmbH ist § 87 AktG nicht direkt anwendbar. Das GmbH-Recht hat eigene Ansätze für die Schranken der Geschäftsleitervergütung entwickelt – für die Reduktion der Bezüge geschah dies aus der Kenntnis der aktienrechtlichen Lösung heraus. Die Mechanismen fußen nicht auf gesetzlicher Regulierung, sondern auf Prinzipien des Privatrechts; im Folgenden ist gleichwohl auf die Rolle des Aktienrechts zurückzukommen.

D. Zur Herabsetzung der Geschäftsführervergütung analog § 87 II AktG

Wenn es um die Kürzung der Geschäftsführerbezüge geht, wird im GmbH-Recht schon lange auf das kodifizierte Herabsetzungspendant im Aktienrecht geschielt:

I. Blick der GmbH-Rechtsprechung auf § 87 II AktG

Als sich der 2. Zivilsenat des BGH in seinem Urteil aus dem Jahr 1992 (s.o. unter C. II. 1.) wegen der Zustimmungspflicht zwar auf die Treuepflicht der Organmitglieder gegenüber der GmbH berief, 137 wies er schon auf § 87 II AktG für die AG hin und betonte, für GmbH-Geschäftsführer könne „im Grundsatz nichts anderes“ gelten. 1995 sprach der BGH (zwar der 1. Strafsenat) bereits – technisch ungenau – von einem „Anspruch auf Herabsetzung“ aus „§ 242 BGB i. V. m. entsprechender Anwendung von § 87 Abs. 2 AktG“ 138. Im Jahr 2004 nahm das AG Berlin Tempelhof-Kreuzberg schließlich die Möglichkeit einer Zustimmungspflicht „analog § 87 Abs. 2 AktG“ 139 an, eine Entscheidung darüber konnte im Fall jedoch dahinstehen. Zuletzt nahm gar das OLG Köln im Jahr 2008 an, der Geschäftsführer könne „in entsprechender Anwendung des § 87 II AktG verpflichtet sein, sein Gehalt zu reduzieren“ 140.

Zu beachten ist, dass stets die alte Fassung des § 87 II AktG in Bezug genommen wurde. Dessen hohe Voraussetzungen waren ähnlich wie die der Zustimmungspflicht aus der Treuepflicht (s. oben: wesentliche Lageverschlechterung und schwere Unbilligkeit der Weitergewährung; für die GmbH zusätzlich Zumutbarkeit).

Jedoch wurde in den genannten Entscheidungen nur der Tatbestand des § 87 II AktG für den GmbH-Sachverhalt herangezogen. Als Rechtsfolge stand immer eine Zustimmungspflicht im Raum, nie ein Gestaltungsrecht. Technisch ist dies keine saubere Gesetzesanalogie; 141 vielmehr dient danach § 87 II AktG nur als Auslegungshilfe für die Ausformung der Treuepflichtherabsetzung. Darauf ist im Folgenden noch einzugehen (E. I.). Zunächst soll allerdings aus Sicht des heutigen § 87 II AktG erörtert werden, ob eine analoge Anwendung auf die Reduktion der Geschäftsführerbezüge geboten ist.

II. Voraussetzungen der Analogie 142

Die Gesetzesanalogie ist ein anerkanntes Instrument ergänzender Rechtsfindung 143. Dafür müsste erstens im GmbH-Recht eine ausfüllungsbedürftige, planwidrige Regelungslücke hinsichtlich der Herabsetzung von Geschäftsführervergütungen vorliegen. Zweitens müsste die diesbezügliche Interessenlage in der GmbH mit derjenigen vergleichbar sein, die § 87 II AktG n.F. zugrunde liegt 144.

1. Ausfüllungsbedürftige Regelungslücke

Das GmbHG trifft keine Regelungen zur Kürzung der Geschäftsführervergütung (s.o. unter C. I.). Die Vergütung ist aber ein wichtiger Teil des Anstellungsverhältnisses, denn sie ist Entgelt für die Leitungstätigkeit und wesentlicher Anreiz dafür, das Amt zu übernehmen; zudem eine beachtliche Verpflichtung der GmbH.  Es fehlt damit eine Regelung dort, wo sie nach der Regelungsabsicht des Abschnitts über die GmbH-Geschäftsführung zu erwarten wäre. Nach Larenz/Canaris konstituiert dies eine Regelungslücke 145.

Da die Vergütung sich aus dem Anstellungsvertrag ergibt, könnte zwar nach Regelungen im Dienstvertragsrecht gesucht werden. § 612 BGB befasst sich jedoch erstens nicht mit der Anpassung der Vergütung; zweitens zeigt § 87 II im AktG, dass durchaus eine Regelung bei den organschaftlichen Normen zu erwarten ist.

a) Schließung der Lücke durch den Treuepflichtmechanismus?

Gaul/Janz 146, Oetker 147 und Menke 148 wenden ein, die Regelungslücke sei durch den Mechanismus der Zustimmungspflicht zur Herabsetzung von der Rechtsprechung beseitigt worden 149. Dies erscheint ungenau, denn die Lücke ist nur „vom Standpunkt des Gesetzes“ zu beurteilen 150 und liegt mithin vor. Jedoch lässt sich der Einwand dergestalt umformulieren, dass die genannten Autoren ein Analogiebedürfnis ablehnen: Wegen anderweitig existierender Mechanismen müsse keine weitere Regelung getroffen werden.

b) Kein Analogiebedürfnis?

In der Tat ist mit dem Anspruch auf Zustimmung zur Kürzung aus Treuepflichtgesichtspunkten ein Mittel zur Herabsetzung der Geschäftsführerbezüge gefunden. Allerdings sind eine Analogie zu § 87 II AktG und die Treuepflichtlösung sind parallele Versuche, die Regelungslücke im GmbHG zu füllen. Die Anwendung des einen kann dabei die des anderen nicht kategorisch ausschließen. Denn wiese die erste Möglichkeit Unzulänglichkeiten auf und stellte sich heraus, dass diese bei der zweiten Möglichkeit nicht vorliegen, könnte nach der Auffassung der genannten Autoren nicht mehr korrigiert werden. Ein solches Ergebnis könnte freilich nicht überzeugen.

Außerdem muss das Analogiebedürfnis jedenfalls soweit noch bestehen, wie die Analogie über die Treuepflichtlösung hinausreicht. Mithin kann dem Ansatz, das Analogiebedürfnis entfalle von vornherein, nicht gefolgt werden.

Es verfängt dabei nicht, dass sich die Voraussetzungen des Treuepflichtmechanismus nicht punktgenau verallgemeinern lassen. Denn ähnliche Unsicherheit besteht bei § 87 II AktG n.F. (s.o. unter B. III.). Ebenso gewährt die Treuepflichtlösung zwar nur einen Zustimmungsanspruch, der aber durch die dolo-agit-Einrede ähnlich dem Gestaltungsrecht sofort wirkt 151.

Über die Treuepflicht kann die Kürzung nur erzwungen werden, soweit die Unbilligkeit reicht. Nach § 87 II AktG wird dagegen – schärfer – gleich auf eine angemessene Gesamtvergütung herabgesetzt. Insoweit besteht also ein Analogiebedürfnis.

Letztlich durchgreifend ist der Einwand, dass die Eingriffsschwelle des § 87 II AktG n.F. nunmehr – wie oben gezeigt (unter B. III. 2.) – niedriger liegt als beim GmbH-rechtlichen Pendant.

c) Zwischenergebnis: Regelungslücke und Analogiebedürfnis bestehen

Die Regelungslücke besteht. Sie wurde durch die Treuepflichtlösung nicht vollständig ausgefüllt, sodass das Analogiebedürfnis nicht entfällt.

Dieser Ansicht sind denn wohl auch Schneider 152, Marsch-Barner/Diekmann 153 und Raiser/Veil, 154 wenn sie sich sogar insgesamt für eine Analogie zu § 87 II AktG aussprechen. Dennoch wenden auch sie dabei die Rechtsfolge der Norm nicht an.

2. Planwidrigkeit

Weiter ist zu fragen, ob es nach dem gesetzgeberischen Regelungsplan des GmbH-Gesetzes einer Regelung zur Herabsetzung der Geschäftsführervergütung bei Lageverschlechterung bedürfte, so wie § 87 II AktG sie für die AG trifft 155.

a) Ausgangspunkt

Zwar ist das GmbHG offen konzipiert, damit die Gesellschafter die innere Organisation der GmbH ihren Bedürfnissen anpassen können 156. Trotzdem kann eine Vergütungsanpassung an eine instabile Lage der GmbH nötig sein – diese hängt jedoch von der Zustimmung des Geschäftsführers ab. Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb der Gesetzgeber hierfür absichtlich keine Lösungsmöglichkeit vorgesehen haben sollte. Darauf deutet auch historisch nichts hin, im Gegenteil galt die Reichsnotverordnung von 1931 sogar auch für GmbHs (s.u. unter 3. a) ee) ). Traf der Gesetzgeber dagegen keine Regelung, um die Klärung der Frage Wissenschaft und Rechtsprechung zu überlassen, kann das der Analogie gerade nicht schaden 157. Nachdem sich auch im Dienstvertragsrecht nichts zur Herabsetzung der Bezüge findet, ist die Regelungslücke im GmbHG als planwidrig anzusehen 158.

b) Gilt etwas anderes nach dem VorstAG?

Nach der Begründung zum VorstAG soll § 87 AktG n.F. gerade keine Anwendung auf die GmbH finden; auch nicht auf GmbHs mit Aufsichtsrat über § 116 AktG 159.

Mit Verweis auf den eindeutigen gesetzgeberischen Willen lehnen auch Habersack 160, Greven 161, Jaeger 162 und Lunk/Stolz 163 eine Analogie ab, obwohl sie teils eine Vergleichbarkeit der Interessenlage annehmen.

Wenn der Gesetzgeber sich eindeutig gegen eine Anwendbarkeit des § 87 AktG auf die GmbH ausspricht, dann beeinflusst dies zwar zunächst nicht die Regelungslücke im GmbH-Recht – darf aber unter dem hier behandelten Prüfungspunkt nicht unberücksichtigt bleiben.

c) Von der Planwidrigkeit zur Planmäßigkeit

Deshalb muss die ursprüngliche Planwidrigkeit zu einer Planmäßigkeit werden. Diese kann nur relativ wirken, da sie sich nur aus einer gesetzgeberischen Äußerung zum Fall des § 87 II AktG n.F. ergibt. Die Umdeutung rechtspolitischer Fehler in eine planwidrige Regelungslücke ist unzulässig 164. Der Gesetzgeber darf sachwidrige Gesetze erlassen; eine „Emanzipation von dem Willen des Gesetzgebers“ 165 ist abzulehnen.

Damit ergibt sich, dass vor Erlass des VorstAG die Planwidrigkeit bejaht werden konnte 166. Zu § 87 II AktG n.F. ist dies hingegen nicht mehr der Fall. Wegen der relativen Planmäßigkeit ist von der Analogie abzusehen.

 

3. Vergleichbarkeit der Interessenlage

Viele Stimmen gelangen nicht zu diesem Ergebnis, sodass die Vergleichbarkeit der Interessenlage noch immer kontrovers diskutiert wird. Diese soll auch mit Rücksicht auf die Lage zu § 87 II AktG a.F. erörtert werden, denn vor 2009 kam es darauf entscheidend an.

Eine Gesetzesanalogie ist sachgemäß, wenn der in Frage stehende Fall demjenigen ähnlich ist, den die Ausgangsnorm nach ihrer ratio erfassen soll 167. Denn die „Gleichbehandlung des Gleichartigen“ 168 ist ein allgemeines Rechtsprinzip 169. Ähnlichkeit bedeutet, dass wesentliche Aspekte gleichgelagert sind, wohingegen die Unterschiede als vernachlässigbar erscheinen 170.

Fraglich ist also, ob der Fall, den § 87 II AktG regeln will, in für § 87 II AktG gerade wesentlichen Merkmalen mit dem Fall einer Reduzierung der Geschäftsführerbezüge übereinstimmt.

a) Bei der GmbH ohne Aufsichtsrat

Bei AG wie GmbH liegen Anstellungsverträge der Körperschaft mit ihren Geschäftsleitern vor, die zunächst dem Vertragstreuegrundsatz unterfallen. Darüber hinaus sind folgende Gesichtspunkte relevant:

aa) Der GmbH-Geschäftsführer ist weisungsgebunden

Döring/Grau 171 konstatieren, dass die Gesellschafterversammlung ein Weisungsrecht (s. § 37 I GmbHG gegenüber § 76 I AktG) gegenüber den Geschäftsführern hat und somit verhindern könne, dass schlechte Geschäfte abgeschlossen werden. Sie erachten bereits dies als einen wesentlichen Unterschied zur AG, der eine Analogie ausschließe 172. Dem kann jedoch nicht zugestimmt werden: § 87 II AktG soll gerade auch greifen, wenn unabhängig von einem Verschulden eine schlechtere Lage eingetreten ist, beispielsweise wegen einer allgemeinen Finanzmarktkrise (s.o. unter B. III. 2. a) ).

bb) Die GmbH ist häufig personalistisch geprägt

Der oft kleine GmbH-Gesellschafterkreis gegenüber zahllosen Aktionären macht keinen wesentlichen Unterschied, 173 denn in beiden Fällen kann ein Geschäftsleiter Gehaltsreduzierungspläne zunächst blockieren. Es bedarf dann eines Herabsetzungsinstruments. Für eine freiwillige Kürzung der Bezüge ist dagegen in beiden Fällen Raum.

cc) Öffentliches Interesse an der Anpassung der Geschäftsleiterbezüge bei der AG

Schneider/Sethe 174, Lindemann 175 und Lunk/Stolz 176 lehnen die Analogie mit Hinweis auf ein bei der AG bestehendes öffentliches Interesse an der Reduzierung der Bezüge ab, welches bei der GmbH nicht bestehe. Dies kann nur meinen, dass viele große Gesellschaften (gerade Banken) als AG organisiert sind, wohingegen viele GmbHs kleinere Unternehmen tragen.

Es mag zwar zutreffen, dass die Verschärfung zur Soll-Form auch erfolgte, weil in der Finanzmarktkrise bei den durch Steuergelder geretteten AGs Empörung über unverändert hohe Vorstandsbezüge aufkam 177. Die Steuerzahler haben ein berechtigtes Interesse daran, dass alle Mittel ergriffen werden, um die Belastung des Steuerhaushalts gering zu halten 178.

Allerdings erfasst § 87 II AktG auch nichtbörsennotierte AGs. Wübbelsmann konstatiert zutreffend, dass bei diesen kein erhebliches öffentliches Interesse an der Anpassung der Bezüge bestehen kann, 179 indem sie weder am öffentlichen Kapitalmarkt teilnehmen noch sonst von so großem wirtschaftlichem Gewicht sind, dass sie einem öffentlichen Rettungsfonds unterfallen. Zugleich erscheint die Grenze zwischen nichtbörsennotierten AGs und besonders großen GmbHs nicht derart scharf, dass hier eine Differenzierung geboten wäre 180.

Dass bei vielen Anwendungsfällen des § 87 II AktG ein öffentliches Interesse mitschwingt, ist also nicht wesentlich.

dd) Gläubigerschutzwirkung des § 87 II AktG n.F.

Hinzuzufügen ist, dass die Gläubiger von GmbH und AG in ihrem Vertrauen auf den Haftungsfonds vergleichbar schutzwürdig erscheinen. Auch die Ausschüttungssperren bei GmbH und AG liegen ähnlich (§ 30 I 1 GmbHG; § 57 I 1 AktG).

ee) Gesetzgebungsgeschichte

Oetker bemerkt, dass die Herabsetzungsregelung in der Notverordnung von 1931 (s.o. unter B. I.) rechtsformneutral galt 181. Freilich enthielt die damalige Norm weder die erleichterten Eingriffsvoraussetzungen des § 87 II AktG n.F. noch den Soll-Charakter.

ff) Die Anteilseigner entscheiden über die Geschäftsführervergütung

Döring/Grau 182 und Wachter 183 weisen weiter darauf hin, dass in der AG ein Drittorgan über den vergütungsbedingten Kapitalabfluss entscheidet; in der GmbH ohne Aufsichtsrat tun dies die Anteilseigner selbst. Die Autoren sehen hierin einen erheblichen Unterschied.

Zu § 87 II AktG a.F. wäre dies nicht von Belang, sondern beträfe nur Absatz 1. Soweit § 87 II AktG nämlich eine (bloße) Berechtigung zur Herabsetzung normiert, hat er nicht den Zweck, vor einer schon anfangs unangemessenen Vergütung zu schützen. Er geht vielmehr davon aus, dass eine angemessene Vergütung festgesetzt und diese wegen einer Lageverschlechterung angepasst werden muss 184.

Der Einwand verfängt also in diesem Punkt nicht. Die Herabsetzungsvorschrift soll in Zeiten einer schlechten Lage der Gesellschaft – gleich, wodurch diese verursacht wurde (s.o. unter B. III. 2. a.) – die Gesellschaft, ihre Anteilseigner und Gläubiger davor schützen, dass unangemessen viel Kapital als Vergütung der Geschäftsleiter abfließt (s.o. unter B. I.) und letztere nicht freiwillig ihre Bezüge anpassen. Diese Gefahr besteht unabhängig davon, wer für die Vergütung zuständig ist – und damit bei AG und GmbH gleichermaßen.

 

§ 87 II AktG wurde jedoch in eine Soll-Vorschrift geändert. Dies spricht ein Risiko an, welches bei der GmbH ohne Aufsichtsrat nicht besteht: Passt trotz schlechter Lage der Aufsichtsrat die Bezüge nicht an, geschieht dies zum Nachteil von Gesellschaft, Aktionären und Gläubigern. GmbH-Gesellschafter sind insoweit nicht schutzwürdig, da sie selbst die Herabsetzung beschließen können 185. Dass bei einer Weitergewährung überhöhter Bezüge dann die Gläubiger benachteiligt werden, kann diesen Unterschied nicht heilen. Ohnehin können die Gesellschafter außerhalb des § 30 I GmbHG in anderer Weise zum Nachteil der Gläubiger Kapital aus dem Haftungsfonds abziehen.

Die Soll-Anweisung könnte höchstens unter Minderheitenschutzgesichtspunkten in der GmbH berechtigt sein, wenn der beherrschende Gesellschaftergeschäftsführer davon abgehalten werden muss, es unter Missbrauch seiner Mehrheit bei der zu hohen Vergütung für sich selbst zu belassen. In dieser Konstellation liegen die Interessen ähnlich wie in der AG 186.

Döring/Grau und Wachter ist damit grundsätzlich zuzustimmen. Eine Soll-Herabsetzungsvorschrift trifft in der GmbH ohne Aufsichtsrat nicht auf eine Interessenlage, die derjenigen bei der AG im Wesentlichen ähnelt. Anders liegt nur der Fall des beherrschenden Gesellschaftergeschäftsführers.

gg) Niedrigere Eingriffsschwelle und weiterreichende Rechtsfolge – Analogiefähigkeit des § 87 II AktG n.F.?

Fraglich ist weiter, ob § 87 II AktG als Ausnahmevorschrift (s.o. unter B. III. 1.) überhaupt analogiefähig ist. Bei solchen sind erhöhte Anforderungen zu stellen: Eine Analogie ist entgegen einer weit verbreiteten Formel nicht ausgeschlossen, aber „die Vergleichbarkeit muss […] gerade mit dem engeren Zweck der Ausnahmevorschrift gegeben sein“ 187.

Zwar bestätigt die Entwicklung des Treuepflichtmechanismus, dass auch in der GmbH der nachträgliche Eingriff in vertragliche Vergütungsvereinbarungen geboten sein kann. Allerdings ist für die verschärften Parameter des § 87 II AktG n.F. in der GmbH kein spezifisches Bedürfnis zu entdecken, ihre Anwendung ohne gesetzliche Grundlage erscheint bedenklich 188. Hinzu kommt, dass bei der Betrachtung  unter B. III. 1. selbst zum kodifizierten § 87 II AktG n.F. Bedenken verblieben.

hh) Fazit für die GmbH ohne Aufsichtsrat

Für die GmbH ohne Aufsichtsrat liegt hinsichtlich fast aller Punkte Vergleichbarkeit vor. Allerdings zeigt der Charakter als Soll-Vorschrift einen erheblichen Unterschied: Eine solche Regelung ergibt nur in von einem Gesellschaftergeschäftsführer beherrschten GmbHs und in der AG Sinn. Da bei der Analogie Tatbestand und Rechtsfolge des § 87 II AktG angewandt werden müssten 189, ist die Vergleichbarkeit der Interessenlagen bereits hier nur für die enge Konstellation zu bejahen, in der Minderheitsgesellschafter geschützt werden müssen. Im Übrigen ginge es zu weit, eine grundsätzliche Reduzierungspflicht zu statuieren.

Für alle GmbHs scheitert die Ähnlichkeit jedoch an den niedrigeren Voraussetzungen des § 87 II AktG n.F. sowie der ausgedehnten Höhe der Herabsetzung.

Nach § 87 II AktG a.F. lagen die Interessen hingegen vergleichbar, denn neben den höheren Anforderungen war Rechtsfolge nur eine Berechtigung zur Herabsetzung.

b) Bei der GmbH mit Aufsichtsrat

Ist der Aufsichtsrat nicht für die Vergütung zuständig, kann im Ergebnis nichts anderes gelten. Der Aufsichtsrat spielt für die Interessenlage dann keine Rolle.

In der MitbestG-mitbestimmten GmbH nimmt der Aufsichtsrat dagegen eine ähnliche Rolle ein wie in der AG 190. Die Soll-Vorschrift ist hier mithin sinnvoll.

So nehmen denn auch Bosse 191, Oetker 192 und Baeck/Götze/Arnold 193  eine Analogie zu § 87 II AktG n.F. an. Sie verkennen jedoch die mangelnde Planwidrigkeit und, dass auch in der mitbestimmten GmbH nichts dafür spricht, die erleichterte Eingriffsschwelle und die erweiterte Herabsetzung anzuwenden.

III. Gesamtergebnis

Insgesamt ist also eine Herabsetzung der Geschäftsführervergütung analog § 87 II AktG n.F. abzulehnen. Die Regelungslücke ist nicht mehr planwidrig; die Interessenlagen sind zwar weitgehend vergleichbar, aber es verfangen elementar die Verschärfungen in Tatbestand und Rechtsfolge. Mit leichten Abweichungen gelangt man zu demselben Ergebnis für GmbHs mit Aufsichtsrat und solche, die von einem Gesellschaftergeschäftsführer beherrscht sind. Vor 2009 wäre die Analogie bei allen GmbHs jedoch möglich gewesen.

 

E. Zusammenfassung in Thesenform

  1. § 87 II AktG hat durch das VorstAG eine deutliche Verschärfung in Tatbestand und Rechtsfolge erfahren.
  2. Die Herabsetzungsnorm ist weiterhin eng auszulegen, da sie eine Ausnahme von dem elementaren Grundsatz der Vertragstreue darstellt und Bedenken ausgesetzt bleibt.
  3. Eine direkte Anwendung des § 87 II AktG kommt auch für GmbHs mit Aufsichtsrat nicht in Betracht.
  4. Für GmbH-Geschäftsführer ist zu Recht anerkannt, dass sie wegen ihrer organschaftlichen Treuepflicht verpflichtet sein können, einer Reduzierung ihrer Bezüge durch Änderungsvertrag zuzustimmen. Die GmbH erhält dann einen entsprechenden Anspruch aus § 242 BGB.
  5. Das GmbH-Gesetz weist eine Regelungslücke zur Vergütungsherabsetzung auf. Diese ist im Hinblick auf eine analoge Anwendung von § 87 II AktG jedoch nach dem VorstAG nicht mehr planwidrig. Die Analogie scheitert.
  6. Die Interessenlage hinsichtlich der Vergütungskürzung ist in GmbH und AG zwar weitgehend vergleichbar. Dies gilt jedoch nicht für die erleichterten Eingriffsvoraussetzungen des § 87 II AktG n.F. sowie seine Rechtsfolgenseite. Auch daran würde die Analogie scheitern.
  7. Nichts anderes gilt bei GmbHs mit Aufsichtsrat, insbesondere bei mitbestimmten GmbHs.
  8. Die alte Fassung des § 87 II AktG konnte sowohl analog als auch bloß konkretisierend im GmbH-Recht herangezogen werden.

F. Anhang:


§ 87 AktG a.F. (bis 4.8.2009)

Grundsätze für die Bezüge der Vorstandsmitglieder

(1) 1Der Aufsichtsrat hat bei der Festsetzung der Gesamtbezüge des einzelnen Vorstandsmitglieds (Gehalt, Gewinnbeteiligungen, Aufwandsentschädigungen, Versicherungsentgelte, Provisionen und Nebenleistungen jeder Art) dafür zu sorgen, daß die Gesamtbezüge in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben des Vorstandsmitglieds und zur Lage der Gesellschaft stehen. 2Dies gilt sinngemäß für Ruhegehalt, Hinterbliebenenbezüge und Leistungen verwandter Art.

(2) 1Tritt nach der Festsetzung eine so wesentliche Verschlechterung in den Verhältnissen der Gesellschaft ein, daß die Weitergewährung der in Absatz 1 Satz 1 aufgeführten Bezüge eine schwere Unbilligkeit für die Gesellschaft sein würde, so ist der Aufsichtsrat, im Fall des § 85 Abs. 3 das Gericht auf Antrag des Aufsichtsrats, zu einer angemessenen Herabsetzung berechtigt. 2Durch eine Herabsetzung wird der Anstellungsvertrag im übrigen nicht berührt. 3Das Vorstandsmitglied kann jedoch seinen Anstellungsvertrag für den Schluß des nächsten Kalendervierteljahrs mit einer Kündigungsfrist von sechs Wochen kündigen.

(3) Wird über das Vermögen der Gesellschaft das Insolvenzverfahren eröffnet und kündigt der Insolvenzverwalter den Anstellungsvertrag eines Vorstandsmitglieds, so kann es Ersatz für den Schaden, der ihm durch die Aufhebung des Dienstverhältnisses entsteht, nur für zwei Jahre seit dem Ablauf des Dienstverhältnisses verlangen.
§ 87 AktG n.F. (seit 5.8.2009, nach VorstAG)

Grundsätze für die Bezüge der Vorstandsmitglieder

(1) 1Der Aufsichtsrat hat bei der Festsetzung der Gesamtbezüge des einzelnen Vorstandsmitglieds (Gehalt, Gewinnbeteiligungen, Aufwandsentschädigungen, Versicherungsentgelte, Provisionen, anreizorientierte Vergütungszusagen wie zum Beispiel Aktienbezugsrechte und Nebenleistungen jeder Art) dafür zu sorgen, dass diese in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben und Leistungen des Vorstandsmitglieds sowie zur Lage der Gesellschaft stehen und die übliche Vergütung nicht ohne besondere Gründe übersteigen. 2Die Vergütungsstruktur ist bei börsennotierten Gesellschaften auf eine nachhaltige Unternehmensentwicklung auszurichten. 3Variable Vergütungsbestandteile sollen daher eine mehrjährige Bemessungsgrundlage haben; für außerordentliche Entwicklungen soll der Aufsichtsrat eine Begrenzungsmöglichkeit vereinbaren. 4Satz 1 gilt sinngemäß für Ruhegehalt, Hinterbliebenenbezüge und Leistungen verwandter Art.

(2) 1Verschlechtert sich die Lage der Gesellschaft nach der Festsetzung so, dass die Weitergewährung der Bezüge nach Absatz 1 unbillig für die Gesellschaft wäre, so soll der Aufsichtsrat oder im Falle des § 85 Absatz 3 das Gericht auf Antrag des Aufsichtsrats die Bezüge auf die angemessene Höhe herabsetzen. 2Ruhegehalt, Hinterbliebenenbezüge und Leistungen verwandter Art können nur in den ersten drei Jahren nach Ausscheiden aus der Gesellschaft nach Satz 1 herabgesetzt werden. 3Durch eine Herabsetzung wird der Anstellungsvertrag im übrigen nicht berührt. 4Das Vorstandsmitglied kann jedoch seinen Anstellungsvertrag für den Schluß des nächsten Kalendervierteljahrs mit einer Kündigungsfrist von sechs Wochen kündigen.

(3) Wird über das Vermögen der Gesellschaft das Insolvenzverfahren eröffnet und kündigt der Insolvenzverwalter den Anstellungsvertrag eines Vorstandsmitglieds, so kann es Ersatz für den Schaden, der ihm durch die Aufhebung des Dienstverhältnisses entsteht, nur für zwei Jahre seit dem Ablauf des Dienstverhältnisses verlangen.

* Der Autor hat im Sommer 2014 die Erste juristische Prüfung in Freiburg abgelegt und ist nun wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Wirtschaftsrecht von Professor Dr. Barbara Grunewald, Universität zu Köln. Dieser Artikel basiert auf einer Seminararbeit, die im Sommersemester 2012 im Rahmen eines Seminars bei Professor Dr. Marc-Philippe Weller an der Universität Freiburg verfasst wurde. Schrifttum und Rechtsprechung befinden sich noch auf diesem Stand; jedoch ist die Gesetzeslage und, soweit ersichtlich, auch die höchstrichterliche Rechtsprechung bis heute unverändert.


Fußnoten:

  1. Ausführlich Hoffmann-Becking, NZG 2006, 127 ff.
  2. Darunter verstehen Tilch/Arloth, Dt. Rechts-Lexikon, S. 2791 „die Leitungs- oder Führungspersonen von Unternehmen“.
  3. S. Ankenbrand/Meck, F.A.S. 18.03.2010, S. 33 und Löhr, F.A.Z. 14.03.2012, S. 16.
  4. So auch Seibert, WM 2009, 1489 (1489) und Hopt, ZHR 175 (2011), 444 (489 f.) mwN.
  5. Verabschiedet am 18. Juni 2009, verkündet am 4. August 2009 im BGBl. I S. 2509-2511 (Nr. 50).
  6. § 87 AktG wurde geändert durch Art. 1 Nr. 1 VorstAG. Auf die Änderungen wird noch eingegangen.
  7. S. nur Scholz/Schneider/Sethe, § 35 Rn. 241 + 218 (Stand 2007) sowie die Nachweise in Teil D. dieser Ausarbeitung.
  8. Dazu sogleich unter B. II.
  9. S. nur Greven, BB 2009, 2154 (2154).
  10. Damals § 78 II (nicht: 87) AktG 1937. S. Schlegelberger/Quassowski, Aktiengesetz, § 78 Rn. 1 ff.
  11. Begriff aus Schlegelberger/Quassowski, Aktiengesetz, § 78 Rn. 1.
  12. Hüffer, AktG, § 87 Rn. 1; auch Geßler, JW 1937, 497 (500).
  13. Im AktG 1937 noch § 78 I.
  14. Mit „a.F.“ wird die Fassung vor dem VorstAG, mit „n.F.“ die geänderte Fassung bezeichnet.
  15. S. die Begründung zum Regierungsentwurf des VorstAG, BT-Drs. 16/12278, S. 5.
  16. Die zwingende und ausschließliche Zuständigkeit des Aufsichtsrats für die Vergütungsabrede, die Teil des Anstellungsvertrags ist, ergibt sich aus § 84 I 5 AktG. S. Spindler, DStR 2004, 36 (36) mwN; GroßkommAktG/Kort, § 87 Rn. 19 mwN.
  17. Das Leistungskriterium wurde durch Art. 1 Nr. 1 lit. a) VorstAG neu eingefügt, s.a.  BT-Drs. 16/12278, S. 5.
  18. Die Üblichkeit war vor der Einfügung durch das VorstAG ein anerkannter Gesichtspunkt der Angemessenheit, s. Peltzer, FS Lutter, 571 (575); Tegtmeier, Vorstandsvergütung, S. 278.
  19. Dasselbe war vor der Änderung durch das VorstAG in Satz 2 geregelt.
  20. Ausführlich Marsch-Barner, ZHR 175 (2011), 737 ff.
  21. Ausführlich Bauer/Arnold, AG 2009, 717 ff.
  22. Statt aller KölnKommAktG/Mertens/Cahn, § 87 Rn. 14 mwN.
  23. Wörtl. Zitat aus KölnKommAktG/Mertens/Cahn, aaO. S.a. Peltzer, FS Lutter, 571 (577).
  24. Und das ist ausreichend, s. Hoffmann-Becking, ZHR 169 (2005), 155 (157).
  25. Statt aller GroßkommAktG/Kort, § 87 Rn. 35 mwN.
  26. Seibert, WM 2009, 1489 (1491).
  27. Im Einzelnen dazu s. unter B. III. 3.
  28. So auch DIHK, NZG 2009, 538 (539); Spindler/Stilz/Fleischer, § 87 Rn. 60; KölnKommAktG/Mertens/Cahn, § 87 Rn. 104.
  29. S. nur Dauner-Lieb/Friedrich, NZG 2010, 688 (689); Menke F.A.Z. 02.09.2009, S. 21; Klöhn, ZGR 2012, 1 (5).
  30. S. nur Spindler/Stilz/Fleischer, § 87 Rn. 60 mwN; GroßkommAktG/Kort, § 87 Rn. 73; ähnl. KölnKommAktG/Mertens/Cahn, § 87 Rn. 94.
  31. Kuntz, WM 2009, 1257 (1259 f.); ausführlich Weller, NZG 2010, 7 (8).
  32. Zum Tatbestand des § 87 II AktG a.F. s. sogleich unter B. IV. 3.
  33. So auch Thüsing, AG 2009, 517 (523); Klöhn, ZGR 2012, 1 (4).
  34. Zu allem s. B. III. 3.
  35. S. nur MünchKommBGB/Roth, § 313 Rn. 42.
  36. Wörtl. Zitat aus Weller, Vertragstreue, S. 153. In der Sache auch schon Soergel/Siebert/Schmidt, Vor § 241 Rn. 11.
  37. BVerfGE 8, 274 (328) u. 72, 155 (170); BVerfG NJW 2006, 596 (598).
  38. Wörtl. Zitat aus Weller, NZG 2010, 7 (9).
  39. Wörtl. Zitat aus BVerfG NJW 1990, 1469 (1470).
  40. Weller, NZG 2010, 7 (9 ff.).
  41. Wörtl. Zitat aus  Weller, NZG 2010, 7 (11 f.).
  42. Weller, NZG 2010, 7 (12). So auch Dauner-Lieb/Friedrich, NZG 2010, 688 (691); Spindler/Stilz/Fleischer, § 87 Rn. 60.
  43. Dazu s.u. C. I. 2. a)
  44. Oetker, ZHR 175 (2011), 527 (535); Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 87 AktG Rn. 35 aE; Baeck/Götze/Arnold, NZG 2009, 1121 (1124).
  45. S. nur DAV-Handelsrechtsausschuss, NZG 2009, 612 (614 f.); Hohenstatt, ZIP 2009, 1349 (1351).
  46. Jauernig/Stadler, § 313 Rn. 27.
  47. Dazu s.u. C. II. 2. d)
  48. S. nur KölnKommAktG/Mertens/Cahn, § 87 Rn. 94.
  49. S. nur Bauer/Arnold, AG 2009, 717 (729); Hohenstatt, ZIP 2009, 1349 (1353); dagegen Thüsing, AG 2009, 517 (523).
  50. So zu Recht Oetker, ZHR 175 (2011), 527 (544). Auch Weller, NZG 2010, 7 (11) sieht in § 87 II 2 AktG eine nur „noch vertretbare“ Norm.
  51. So auch DAV-Handelsrechtsausschuss, NZG 2009, 612 (614).
  52. S. nur die Entwurfsbegründung in BT-Drs. 16/12278, S. 6.
  53. Insoweit wird auf B. III. 1. b. verwiesen.
  54. Diese vornehmend auch LG Essen NZG 2006, 356 f. und OLG Düsseldorf ZIP 2004, 1850 ff.
  55. Wörtl. Zitat aus Gaul/Janz, NZA 2009, 809 (812).
  56. Wörtl. Zitat aus Dauner-Lieb/Friedrich, NZG 2010, 688. Um § 87 II AktG ging es aber immerhin in OLG Frankfurt WM 2011, 2226 ff.; LG Duisburg BB 1971, 145 f.; LG Essen NZG 2006, 356 f.; OLG Düsseldorf NZG 2004, 141 (142 f.).
  57. LG Essen NZG 2006, 356 (356); Wagner/Wittgens, BB 2009, 906 (910); Weisner/Kölling, NZG 2003, 465 (466).
  58. S. Koch, WM 2010, 49 (53).
  59. OLG Düsseldorf NZG 2004, 141 (142 f.); LG Essen NZG 2006, 356; Wagner/Wittgens, BB 2009, 906 (910).
  60. So DAV-Handelsrechtsausschuss, NZG 2009, 612 (613 Rn. 13).
  61. So auch Diller, NZG 2009, 1006 (1006); vgl. Koch, WM 2010, 49 (50 f.).
  62. BT-Drs. 16/12278, S. 6.
  63. So auch Koch, WM 2010, 49 (51).
  64. So Weppner, NZG 2010, 1056 (1056) (Wörtl. Zitat) mit Verweis auf Bauer/Arnold, AG 2009, 718 (725).
  65. Sanierungsmaßnahmen können erforderlich sein und dürfen dem Vorstand nicht automatisch zum Nachteil gereichen. S. Hohenstatt, ZIP 2009, 1349 (1352); Thüsing, Stellungnahme VorstAG, S. 8.
  66. Diller, NZG 2009, 1006 (1006).
  67. BT-Drs. 16/12278, S. 6  kann nur die Zurechnung zur allgemeinen Vorstandsverantwortung während der Amtszeit meinen, s. Diller, NZG 2009, 1006 (1007); Bosse, BB 2009, 1650 (1651).
  68. Dauner-Lieb/Friedrich, NZG 2010, 688 (690); Wittuhn/Hamann, ZGR 2009, 847 (861).
  69. Diller, NZG 2009, 1006 mit Verweis auf Wilsing/Kleißl, BB 2008, 2422 (2423).
  70. Gaul/Janz, NZA 2009, 809 (812).
  71. Wörtl. Zitat aus Gaul/Janz, aaO. Seibert, WM 2009, 1489 (1490) verlangt Unzumutbarkeit der Weiterzahlung.
  72. Gaul/Janz, NZA 2009, 809 (811).
  73. Nach BT-Drs. 16/12278, S. 1 besteht dieses darin, „die Anreize in der Vergütungsstruktur für Vorstandsmitglieder in Richtung einer nachhaltigen und auf Langfristigkeit ausgerichteten Unternehmensführung zu stärken“.
  74. Wörtl. Zitat aus Klöhn, ZGR 2012, 1 (34).
  75. Klöhn, ZGR 2012, 1 (22).
  76. S. zuletzt OLG Frankfurt, AG 2011, 790 (Rn. 50); auch Oetker, ZHR 175 (2011), 527 (537).
  77. Oetker, ZHR 175 (2011), 527 (540); Gaul/Janz, NZA 2009, 809 (811).
  78. Bosse, BB 2009, 1651; Bauer/Arnold, AG 2009, 717 (727); im Ergebnis auch Hohenstatt, ZIP 2009, 1349 (1352).
  79. Oetker, ZHR 175 (2011), 527 (539); ähnl. Spindler/Stilz/Fleischer, 1. Aufl., § 87 Rn. 33.
  80. Oetker, aaO.
  81. Waldenberger/Kaufmann, BB 2010, 2257 (2261); Wittuhn/Hamann, ZGR 2009, 847 (865) mwN; Greven, BB 2009, 2154 (2155). Wörtl. Zitat aus Hdb. VorstandsR/Thüsing, § 6 Rn. 32 aE.
  82. Bauer/Arnold, AG 2009, 717 (727).
  83. Keiser, RdA 2010, 280 (281 f.); Diller, NZG 2009, 1006 (1009).
  84. Angedeutet bereits in BT-Drs. 16/12278, S. 6; präziser Seibert, WM 2009, 1489 (1491); Fleischer, NZG 2009, 801 (804).
  85. So sah die Bundesregierung die neue Fassung, BT-Drs. 16/12278, S. 6.
  86. S.  nur Ulmer/Raiser/Heermann, § 52 Rn. 1; Michalski/Heyder, § 52 Rn. 1. Der Beirat bleibt im Folgenden außer Betracht.
  87. Vgl. Oetker, ZHR 175 (2011), 527 (536).
  88. S. MünchKommGmbHG/Fleischer, Einl. Rn. 37.
  89. So auch Wübbelsmann, GmbHR 2009, 988 (989); Bosse, BOARD 2011, 142 (143).
  90. S. Baeck/Götze/Arnold, NZG 2009, 1121 (1122); Keiluweit, BB 2011, 1795 (1798) mwN.
  91. So im Ergebnis auch Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, § 35 Rn. 183.
  92. Rowedder/Schmidt-Leithoff/Koppensteiner, § 35 Rn. 98 mwN.
  93. So auch Fleischer, DStR 2005, 1279 (1281).
  94. Ein Stimmverbot nach § 47 IV GmbHG greift hier noch nicht, s. MünchKommGmbHG/Drescher, § 47 Rn. 165 f. mwN.
  95. Zuletzt BGH GmbHR 2008, 1092 (1094), s. schon BGHZ 111, 224 (227 f.); BGH BB 1992, 1583 (1585). Auch die Ausschüttungssperre des § 30 I GmbHG ist freilich zu beachten.
  96. Wörtl. Zitat aus BGHZ 111, 224 (228).
  97. So auch Mohr, GmbHR 2011, 402 (402); Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, § 35 Rn. 183.
  98. BGHZ 111, 224 (227); Mohr, GmbHR 2011, 402; LG Mainz NZG 2002, 918 (918).
  99. Rowedder/Schmidt-Leithoff/Pentz, § 13 Rn. 82 ff.
  100. So für die AG bereits Hüffer, AktG, § 84 Rn. 9 mwN; für die GmbH Fleischer, WM 2003, 1045 (1047).
  101. Münchener Hdb. GesR/Marsch-Barner/Diekmann § 45 Rn. 2.
  102. BGHZ 13, 188 (192 f.) u. 20, 239 (246).
  103. S. nur Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, § 35 Rn. 38; Scholz/Schneider, § 43 Rn. 151 ff.
  104. Wörtl. Zitat aus dem Leitsatz von BGH NJW 1986, 586.
  105. Fleischer, WM 2003, 1045 (1946).
  106. KölnKommAktG/Mertens/Cahn, § 87 Rn. 5; Klöhn, ZGR 2012, 1 (30); Fleischer, WM 2003, 1045 (1047).
  107. Fleischer, WM 2003, 1045 (1047) mwN;  Baumbach/Hueck/Hueck/Fastrich, § 13 Rn. 20.
  108. Baumbach/Hueck/Hueck/Fastrich, § 13 Rn. 21.
  109. So letztlich auch BGHZ 65, 15 (18).
  110. Andererseits zur hohen Schwelle einer Änderungskündigung s. Lunk/Stolz, NZA 2010, 121 (122 f.) mwN.
  111. Anders, wenn vertraglich eine Anpassungsmöglichkeit vereinbart ist; Lunk/Stolz, NZA 2010, 121 (122).
  112. Wörtl. Zitat aus BGH BB 1992, 1583 (1585). Hervorhebungen vom Verfasser.
  113. Erwähnt werden Fleck, FS Hilger/Stumpf, 197 (219); Scholz/Schneider, 7. Aufl., § 35 Rn. 191; Lutter/Hommelhoff 13. Aufl., Anh. § 6 Rn. 34; Rowedder/Koppensteiner, 2. Aufl., § 35 Rn. 85.
  114. S. nur OLG Naumburg GmbHR 2004, 423 (423). Für weitere Entscheidungen mit z.T. abweichenden Begründungen der Pflicht siehe unter D. I.
  115. OLG Düsseldorf DStR 2012, 309 (313).
  116. S. nur Scholz/Schneider/Sethe, § 35 Rn. 241; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, § 35 Rn. 187 mwN; Baeck/Götze/Arnold, NZG 2009, 1121 (1124).
  117. S. nur Ulmer/Paefgen, § 35 Rn. 237 mwN.
  118. So schon Bauder, BB 1993, 369 (371); auch OLG Düsseldorf DStR 2012, 309 (313) mwN.
  119. MünchKommGmbHG/Jaeger, § 35 Rn. 325; Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, Anh. § 6 Rn. 34a; OLG Naumburg GmbHR 2004, 423.
  120. So auch Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, § 35 Rn. 187 (mit dem Begriff „schwer“); Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, Anh. § 6 Rn. 34a (mit dem Begriff „besonders“).
  121. So Bauder, BB 1993, 369 (370); OLG Naumburg GmbHR 2004, 423 (424).
  122. Lindemann, GmbHR 2009, 737 (741); Ulmer/Paefgen, § 35 Rn. 193.
  123. So Scholz/Schneider/Sethe, § 35 Rn. 241; MünchKommGmbHG/Jaeger, § 35 Rn. 325; OLG Naumburg GmbHR 2004, 423 (424); Eingehend OLG Köln NZG 2008, 637 (637).
  124. MünchKommGmbHG/Jaeger, aaO.
  125. Fleischer, WM 2003, 1045 (1058); BGH WM 1977, 194 (194).
  126. Ulmer/Paefgen, § 35 Rn. 237; Lunk/Stolz, NZA 2010, 121 (125).
  127. S. dazu Lunk/Stolz, aaO; Ulmer/Paefgen, aaO.
  128. Im Einzelnen Bauder, BB 1993, 369 (373); Lunk/Stolz, NZA 2010, 121 (125).
  129. Oetker, ZHR 175 (2011), 527 (532).
  130. „Dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est” – Danach ist es rechtsmissbräuchlich (und mithin nach § 242 BGB unzulässig) etwas zu verlangen, das sofort wieder zurückzugewähren ist. S. nur Erman/Hohloch, § 242 Rn. 111.
  131. Lunk/Stolz, NZA 2010, 121 (125).
  132. So auch Wimmer, DStR 1997, 247 (249).
  133. Lutter/Hommelhoff/Bayer, § 46 Rn. 24; Greven, BB 2009, 2154 (2157).
  134. Habersack, ZHR 174 (2010), 2 (6); Greven, BB 2009, 2154 (2157).
  135. So bereits BGHZ 89, 48 sowie Greven, BB 2009, 2154 (2158) mwN.
  136. So auch Lunk/Stolz, NZA 2010, 121 (127).
  137. BGH BB 1992, 1583 (1585).
  138. Wörtl. Zitate aus BGH GmbHR 1995, 654 (655).
  139. Wörtl. Zitat aus AG Berlin Tempelhof-Kreuzberg FPR 2004, 507 (508).
  140. Wörtl. Zitat aus OLG Köln NZG 2008, 637 (637).
  141. Auch Adrian, Methodenlehre, S. 903 erkennt: „Analogie ist die Zuordnung einer Rechtsfolge […] zu einem anderen Tatbestand“. Hervorhebung vom Verfasser.
  142. Im Folgenden wird aus Platzgründen auf dogmatische Details der Analogie nicht eingegangen. Soweit es auf solche ankommt, werden sie freilich im Überblick dargelegt.
  143. Bydlinski, Methodenlehre, S. 475; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 202.
  144. Zu den Analogievoraussetzungen s. nur BGHZ 149, 165 (174).
  145. Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 194.
  146. Gaul/Janz, GmbHR 2009, 959 (961).
  147. Oetker, ZHR 175 (2011), 527 (533).
  148. Menke, F.A.Z. 02.09.2009, S. 21.
  149. Zweifelnd auch Baeck/Götze/Arnold, NZG 2009, 1121 (1124 f.).
  150. Wörtl. Zitat aus BGHZ 149, 165 (174).
  151. S. unter C. II. 3.
  152. Scholz/Schneider, 9. Aufl., § 35 Rn. 191.
  153. Münchener Hdb. GesR/Marsch-Barner/Diekmann, § 43 Rn. 24.
  154. Raiser/Veil, KapitalgesellschaftsR, § 32 Rn. 50.
  155. So im Ergebnis Bork, BGB AT, Rn. 144.
  156. Vgl. Kübler/Assmann, Gesellschaftsrecht, S. 285.
  157. Bork, BGB AT, Rn. 145.
  158. Vgl. MünchKommGmbHG/Stephan/Tieves, aaO.
  159. BT-Drs. 16/13433, S. 10. Bestätigend BMJ-Referatsleiter Seibert, WM 2009, 1489 (1490).
  160. Habersack, ZHR 174 (2010), 2 (9).
  161. Greven, BB 2009, 2154 (2158).
  162. MünchKommGmbHG/Jaeger, § 35 Rn. 324.
  163. Lunk/Stolz, NZA 2010, 121 (126).
  164. Dazu Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 194; Adrian, Methodenlehre, S. 895.
  165. Treffend erkennt dahingehende Bestrebungen (Wörtl. Zitat) Oetker, ZHR 175 (2011), 527 (529).
  166. So wohl auch OLG Köln NZG 2008, 637 (637); Scholz/Schneider 9.Aufl., § 35 Rn. 191; Münchener Hdb. GesR/Marsch-Barner/Diekmann § 43 Rn. 24.
  167. S. Bydlinski, Methodenlehre, S. 475.
  168. Wörtl. Zitat aus Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 195.
  169. Soergel/Hefermehl, § 133 Anh. Rn. 13. S nur Art. 3 I GG.
  170. Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 202.
  171. Döring/Grau, DB 2009, 2139 (2141).
  172. Nach Weller, NZG 2010, 7 (11) diene § 87 II AktG gerade der Kompensation der Vorstandsunabhängigkeit, sodass auch er die Vergleichbarkeit wohl ablehnen würde. Dieser Aspekt ist jedoch eher als ein Gesichtspunkt bei der dogmatischen Einordnung zu sehen.
  173. So aber Döring/Grau, DB 2009, 2139 (2140 f.).
  174. Scholz/Schneider/Sethe, § 35 Rn. 218.
  175. Lindemann, GmbHR 2009, 737 (739).
  176. Lunk/Stolz, NZA 2010, 121 (126).
  177. Vgl. zur Ansicht der „Öffentlichkeit“ Bauer/Arnold, AG 2009, 717 (717).
  178. So auch Hopt, ZHR 175 (2011), 444 (491 f.).
  179. Wübbelsmann, GmbHR 2009, 988 (990 f.).
  180. Beispielsweise machte die Robert Bosch GmbH 2011 mit über 300.000 Beschäftigten einen Jahresumsatz von über 50 Milliarden Euro (s. den Pressebereich der Unternehmenswebsite: www.bosch-presse.de). Die nichtbörsennotierte Jowat AG produziert demgegenüber in Detmold mit rund 700 Beschäftigten Klebstoffe (s. Geschäftsbericht 2010 im Bundesanzeiger, abrufbar unter www.unternehmensregister.de).
  181. Oetker, ZHR 175 (2011), 527 (532 f.).
  182. Döring/Grau, DB 2009, 2139 (2140 f.).
  183. Wachter, GmbHR 2009, 953 (957).
  184. Vgl. Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 87 AktG Rn. 35; Hohenstatt, ZIP 2009, 1349 (1357).
  185. Im Gegenteil wäre es überzogen, die GmbH grundsätzlich zur Herabsetzung zu zwingen und sie dem Sonderkündigungsrecht (§ 87 II 4 AktG) auszusetzen.
  186. Details zum Minderheitenschutz in der GmbH bleiben hier außer Betracht.
  187. Wörtl. Zitat aus Larenz/Wolf, BGB AT, § 4 Rn. 80. So auch Soergel/Hefermehl, § 133 Anh. Rn. 13.
  188. S. nur Oetker, ZHR 175 (2011), 527 (533).
  189. Adrian, Methodenlehre, S. 903.
  190. So auch MünchKommGmbHG/Jaeger, § 35 Rn. 305.
  191. Bosse, BOARD 2009, 142 (144).
  192. Oetker, ZHR 175 (2011), 527 (535 f.).
  193. Baeck/Götze/Arnold, NZG 2009, 1121 (1124 f.).

Feststellung des Jahresabschlusses durch rückwirkend beschlussunfähig gewordenen Aufsichtsrat

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 Julian M. Egelhof*

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Mit Urteil vom 19.2.2013 1 hat der BGH die Streitfrage, ob die Lehre vom fehlerhaften Organ auf die Stimmabgabe der Mitglieder des Aufsichtsrats der Aktiengesellschaft anwendbar ist, verneint. Dies führt insbesondere dann zu Rechtsunsicherheit, wenn der Aufsichtsrat nach Feststellung des Jahresabschlusses rückwirkend seine Beschlussfähigkeit durch wirksame Anfechtung der Wahlbeschlüsse der Hauptversammlung verliert. Nach Ansicht des Verfassers können Gesellschaften dieser Rechtsunsicherheit vorbeugen, indem sie Aufsichtsratsmitglieder, gegen deren Wahlbeschluss Anfechtungsklage erhoben wurde, analog § 104 Abs. 1 S. 1 AktG bis zur nächsten Hauptversammlung gerichtlich bestellen lassen.

A. Einführung

Die Bestellung der Mitglieder des Aufsichtsrates erfolgt grundsätzlich 2 durch Wahlbeschluss der Hauptversammlung gemäß § 101 Abs. 1 S. 1 AktG. Dieser Wahlbeschluss ist gemäß § 251 AktG anfechtbar, wenn er Beschlussmängel aufweist. Die Anfechtung des Wahlbeschlusses erfolgt durch Anfechtungsklage gemäß §§ 246 Abs. 1, 251 Abs. 3 AktG. Gibt das Gericht der Anfechtungsklage statt, erklärt es den Wahlbeschluss durch Urteil für nichtig 3.

Die Nichtigerklärung entfaltet Rückwirkung, sodass der Wahlbeschluss als von Anfang an (ex tunc) nichtig gilt. Zwar lässt sich diese Rückwirkung dem Gesetzeswortlaut nicht unmittelbar entnehmen, doch stellt § 241 Nr. 5 AktG Hauptversammlungsbeschlüsse, die auf Anfechtungsklage durch Urteil für nichtig erklärt worden sind, Hauptversammlungsbeschlüssen gleich, die schon qua Gesetz nichtig sind. Für letztere wiederum sieht der Wortlaut des § 241 HS 1 AktG die Nichtigkeit ex tunc vor 4.

Damit ist jedoch noch nicht geklärt, welche Auswirkungen die Nichtigkeit des Wahlbeschlusses auf die Stimmabgabe des betroffenen Mitglieds des Aufsichtsrats hat.

B. Auswirkung der wirksamen Anfechtung des Wahlbeschlusses der Hautversammlung auf die Stimmabgabe des betroffenen Aufsichtsratsmitglieds

Grundsätzlich müsste die Rückwirkung der Nichtigkeit des Wahlbeschluss dazu führen, dass der Betroffene niemals Mitglied des Aufsichtsrates geworden ist und mithin auch niemals wirksam seine Stimme bei Beschlussfassungen des Aufsichtsrates abgeben oder auch nur an Sitzungen des Aufsichtsrates teilnehmen konnte. Nach dem gesetzlichen Regelfall besteht der Aufsichtsrat aus drei Mitgliedern, § 95 S. 1 AktG; zugleich ist gemäß § 108 Abs. 2 S. 3 AktG der Aufsichtsrat beschlussunfähig, wenn an der Beschlussfassung weniger als drei Mitglieder teilnehmen. Bliebe es vorbehaltlos bei der Rückwirkung der Nichtigkeit, würde im gesetzlichen Regelfall der Aufsichtsrat bei erfolgreicher Anfechtung nur eines Wahlbeschlusses rückwirkend beschlussunfähig und hätte seit der Wahl des betroffenen Mitglieds keinen wirksamen Beschluss fassen können.

Es ist jedoch methodisch zulässig, die Rechtsfolgen der Rückwirkung der Nichtigkeit teleologisch zu reduzieren, soweit sie auf gesellschaftsrechtliche Rechtsverhältnisse nicht passen 5. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn ein Rechtsverhältnis aufgrund seiner vielfältigen Wirkungen nicht sinnvollerweise rückabgewickelt werden kann. So liegt es etwa bei der anerkannten Rechtsfigur der fehlerhaften Gesellschaft 6. Eine ähnliche Problematik ergibt sich, wenn der Vorstand einer AG oder Geschäftsführer einer GmbH zwar bestellt wurde, aber der Bestellungsakt an Wirksamkeitsmängeln leidet. Wird die Bestellung dennoch vollzogen, ist der Geschäftsleiter an einer Vielzahl von Geschäften im Innen- oder Außenverhältnis beteiligt, die kaum rückabzuwickeln sind 7. Mithin können Mängel bei der Berufung von Geschäftsleitern nur mit Wirkung für die Zukunft geltend gemacht werden; die vollzogene Bestellung ist vorläufig wirksam 8 („Lehre vom fehlerhaften Organ“) 9.

Diese Grundsätze könnten auf die Stimmabgabe des Aufsichtsrats übertragen werden. Das Aufsichtsratsmitglied, dessen Wahlbeschluss wirksam angefochten ist, verlöre dann zwar ex tunc seine Amtsstellung, seine bisherige Stimmabgabe bliebe jedoch wirksam 10. Davon wäre eine Ausnahme zu machen, wenn – angelehnt an die funktional entsprechenden Grundsätze der fehlerhaften Gesellschaft 11 – eine Wirksamkeit des Aufsichtsratsbeschlusses mit höherrangigen Interessen der Aktionäre an der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung der Gesellschaft unvereinbar wäre 12.

Eine Anwendung der Lehre vom fehlerhaften Organ auf den Aufsichtsrat setzt jedoch voraus, dass Rückabwicklungsschwierigkeiten, wie sie in Bezug auf die fehlerhafte Bestellung von Geschäftsleitern bestehen, auch in Bezug auf die Beschlussfassungen des Aufsichtsrates bestehen.

Gerade solche Rückabwicklungsschwierigkeiten hat der BGH jüngst verneint 13 und somit eine Anwendung der Lehre vom fehlerhaften Organ auf die Stimmabgabe 14 der Mitglieder des Aufsichtsrates grundsätzlich abgelehnt. Vielmehr sei ein Aufsichtsratsmitglied, dessen Wahlbeschluss wirksam angefochten wurde, einem Nichtmitglied gleich zu achten: Rückabwicklungsschwierigkeiten bestünden insbesondere deshalb nicht, weil Dritte, gegenüber denen Aufsichtsratsbeschlüsse im Außenverhältnis vollzogen werden, schon nach Rechtsscheinrundsätzen ausreichend geschützt seien; der durch den Aufsichtsrat fehlerhaft bestellte Vorstand nach den Grundsätzen der fehlerhaften Bestellung geschützt sei und die Nichtigerklärung der Wahl ohne Auswirkung auf Beschlussvorschläge des Aufsichtsrates zur Beschlussfassung der Hauptversammlung bliebe 15.

Diese Argumentation des BGH ist in der Literatur auf Kritik gestoßen 16. Vorliegend soll jedoch nur auf die Folgen der Nichtanwendung der Lehre vom fehlerhaften Organ auf die Feststellung des Jahresabschlusses durch den Aufsichtsrat eingegangen werden.

 

C. Rechtsunsicherheit bei Feststellung des Jahresabschlusses durch anfechtbar gewählte Aufsichtsratsmitglieder

Gemäß § 172 S. 1 AktG ist der Jahresabschluss festgestellt, wenn der Aufsichtsrat ihn billigt. Die Billigung erfolgt durch Beschluss gemäß § 108 Abs. 1 AktG. Nach § 256 Abs. 2 AktG ist der Jahresabschluss nichtig, wenn der Aufsichtsrat bei seiner Feststellung nicht ordnungsgemäß mitwirkt. Eine nicht ordnungsgemäße Mitwirkung liegt vor, wenn der Beschluss des Aufsichtsrates nicht ergangen ist 17. Nicht ergangen ist der Beschluss, wenn es an der erforderlichen Mehrheit fehlt oder der Aufsichtsrat bei der Beschlussfassung nicht beschlussfähig war. Deshalb müsste im gesetzlichen Regelfall der Besetzung des Aufsichtsrates mit drei Mitgliedern (s.o.) die Nichtanwendung der Lehre vom fehlerhaften Organ bei erfolgreicher Anfechtung des Wahlbeschlusses auch nur eines Mitglieds des Aufsichtsrats zur rückwirkenden Nichtigkeit des Jahresabschlusses führen.

Davon abweichend lässt der BGH in seiner oben zitierten Entscheidung ausdrücklich offen, „ob die Mitwirkung eines lediglich anfechtbar gewählten Mitglieds, dessen Wahl bis zur Nichtigerklärung als wirksam zu behandeln ist, überhaupt als fehlerhafte Mitwirkung des Aufsichtsrates anzusehen ist“ 18. Dies weckt Zweifel an der dogmatischen Stringenz der Entscheidung: Entfaltet die Nichtigerklärung Wirkung für die Vergangenheit, so kann es gerade nicht darauf ankommen, ob die Wahl bis zur Nichtigerklärung wirksam war 19. Anderenfalls läge nur eine Nichtigkeit mit Wirkung für die Zukunft (ex nunc) vor, doch gerade dies lehnt der BGH ausdrücklich ab 20.

Mithin müsste bei stringenter Anwendung der dogmatischen Grundsätze des BGH der Jahresabschluss in der hier diskutierten Konstellation nichtig sein 21. Der Jahresabschluss ist gemäß § 174 AktG Grundlage der Gewinnverwendung. Seine Nichtigkeit hat nicht zuletzt deshalb komplexe Abwicklungsprobleme zur Folge. Folglich wäre schon wegen der Gefahr eines nichtigen Jahresabschlusses eine Anwendung der Lehre vom fehlerhaften Organ auf die Stimmabgabe des Aufsichtsrates vorzugswürdig.

Darin läge auch keine Umgehung des § 256 Abs. 6 AktG, der zum Schutz der Gesellschaft Spezialregelungen in Bezug auf die Geltendmachung der Nichtigkeit des Jahresabschlusses enthält 22. Denn erstens ist § 256 Abs. 6 AktG nicht auf die Besonderheiten der fehlerhaften Aufsichtsratswahl zugeschnitten und insoweit nicht abschließend 23. Zweitens verhilft die Lehre vom fehlerhaften Organ nicht jedem Aufsichtsratsbeschluss zur Wirksamkeit (s.o.), sodass für § 256 Abs. 6 AktG ein eigener Anwendungsbereich verbliebe.

Nach der Entscheidung des BGH verbleibt somit eine nicht unerhebliche Rechtsunsicherheit, wenn Aufsichtsratsmitglieder, gegen deren Wahlbeschluss Anfechtungsklage erhoben worden ist, an der Feststellung des Jahresabschlusses mitwirken und eine Nichtigerklärung des Wahlbeschlusses der Hauptversammlung den Feststellungsbeschluss des Aufsichtsrates rückwirkend beseitigt, im gesetzlichen Regelfall also schon bei wirksamer Anfechtung nur eines Wahlbeschlusses 24.

D. Gerichtliche Bestellung der Aufsichtsratsmitglieder analog § 104 Abs. 1 S. 1 AktG

Für die Gesellschaften folgt daraus ein Bedürfnis nach der Beseitigung dieser Rechtsunsicherheit. Nach hier vertretener Auffassung ist es zulässig, Aufsichtsratsmitglieder, deren Wahl durch Erhebung einer Anfechtungsklage gemäß § 251 Abs. 1 AktG angefochten ist, analog § 104 Abs. 1 S. 1 AktG bis zur nächsten Hauptversammlung gerichtlich bestellen zu lassen, ohne dass ihre Position im Aufsichtsrat zuvor vakant würde, wenn die erfolgreiche Anfechtung rückwirkend zur Beschlussunfähigkeit des Aufsichtsrates führte 25. So wird die Mitgliedschaft der Betroffenen im Aufsichtsrat für die Zukunft auf eine neue rechtliche Grundlage gestellt und der Aufsichtsrat bleibt uneingeschränkt handlungsfähig, ohne dass eine außerordentliche Hauptversammlung einberufen werden müsste.

Dem Wortlaut nach setzt § 104 Abs. 1 S. 1 AktG zunächst voraus, dass dem Aufsichtsrat weniger Mitglieder angehören, als für die Beschlussfähigkeit erforderlich wären. Zwar entfällt diese später rückwirkend, doch kann sich die Gesellschaft freilich bei Stellung des Antrages darauf noch nicht berufen, da andernfalls die Entscheidung des über die Anfechtungsklage befindenden Gerichts gleichsam vorweggenommen würde.

Mithin scheidet eine direkte Anwendung der Norm aus. Eine analoge Anwendung ist jedoch statthaft, da in Bezug auf die rückwirkende Beschlussunfähigkeit des Aufsichtsrates eine planwidrige Regelungslücke vorliegt und die Interessenlage bei erhobener Anfechtungslage der Interessenlage bei aktueller Handlungs- und Funktionsunfähigkeit des Aufsichtsrates entspricht.

 

I. Planwidrige Regelungslücke

Eine Ergänzung des Aufsichtsrates durch gerichtliche Bestellung ist nur für den Fall der aktuellen Beschlussunfähigkeit des Aufsichtsrates geregelt, nicht hingegen für den Fall, dass diese rückwirkend entfällt. Diese Regelungslücke ist auch planwidrig.

Erstens ist schon aus den Gesetzesmaterialien nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber bei der Abfassung von § 104 AktG an den Fall der rückwirkend wegfallenden Beschlussunfähigkeit gedacht hätte 26. Zweitens ist § 104 AktG gerade darauf gerichtet, die Handlungs- und Funktionsfähigkeit des Aufsichtsrates zu sichern, sowie den Bestand und die Vollständigkeit des Aufsichtsrates sicherzustellen 27. Vor dem Hintergrund dieses gesetzgeberischen Plans wäre es sinnwidrig, eine gerichtliche Bestellung des Aufsichtsrates zuzulassen, wenn der Aufsichtsrat gegenwärtig keinen Beschluss fassen kann, diese Möglichkeit aber zu versagen, wenn absehbar ist, dass gefasste Beschlüsse nach wirksamer Anfechtung rückwirkend als nicht gefasst gelten werden.

Zwar könnte argumentiert werden, der Gesetzgeber habe an der gegenwärtigen Fassung des § 104 AktG festgehalten, obwohl ihm die vorliegende Problematik bekannt sei und – etwa im Rahmen des UMAG 28 – Gelegenheit zur Änderung der Rechtslage bestanden habe 29. Doch kann von dieser Untätigkeit des Gesetzgebers nicht auf eine planvolle Bestätigung der Regelungslücke geschlossen werden. Vielmehr lässt der Gesetzgeber etwa in der Gesetzesbegründung des ARUG 30 erkennen, dass er durch spätere Gesetzesentwürfe eine umfassende Regelung des Beschlussmängelrechts zu schaffen gedenkt und es sich insoweit bei den vorherigen Reformen des Beschlussmängelrechts lediglich um „erste Schritte“ handelt. 31 Mithin hat der Gesetzgeber die Regelungslücke nicht bestätigt.

Die Analogie scheitert auch nicht an einer vorrangigen Zuständigkeit des Gesetzgebers, die planwidrige Regelungslücke zu schließen 32. Denn aufgrund der begrenzten Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers ist es auch und gerade den Gerichten anheimgegeben, innerhalb der durch Art. 20 Abs. 2, 3 GG vorgegebenen Schranken das Recht an veränderte Umstände anzupassen 33. Als veränderter Umstand, den der Gesetzgeber zwar erkannt, aber auf den er nicht reagiert hat, kommt auch die vermehrte missbräuchliche Erhebung von Anfechtungsklagen gegen die Wahlbeschlüsse der Hauptversammlung durch „räuberische Aktionäre“ 34 in Betracht.

Damit liegt eine planwidrige Regelungslücke vor, die den Weg einer analogen Anwendung des § 104 AktG auf Aufsichtsratsmitglieder, deren Wahl angefochten ist, eröffnet.

II. Vergleichbare Interessenlage

Die Interessenlage bei erhobener Anfechtungslage entspricht der Interessenlage bei aktueller Handlungs- und Funktionsunfähigkeit des Aufsichtsrates, wenn die Nichtigerklärung durch Anfechtungsurteil rückwirkend die Beschlussfähigkeit des Aufsichtsrates beseitigt. Denn wie unter C. gezeigt, besteht insbesondere im Falle der Mitwirkung anfechtbar gewählter Aufsichtsratsmitglieder an der Feststellung des Jahresabschlusses ein besonderes Bestandsschutzinteresse der Gesellschaft. Der Aufsichtsrat wäre andernfalls gezwungen, weitreichende Beschlüsse zu fassen, über deren Bestandskraft Unklarheit herrscht. Dies führt zu nicht hinnehmbarer Rechtsunsicherheit, die geeignet ist, den Aufsichtsrat zu lähmen. Da die gerichtliche Bestellung nur vorläufig bis zur nächsten Hauptversammlung wirken soll, liegt ein schonender Interessenausgleich zwischen dem Bestandsschutzinteresse der Gesellschaft und dem Interesse des klagenden Aktionärs an der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung der Gesellschaft vor. Nicht zuletzt muss es auch im Interesse des klagenden Aktionärs liegen, die Handlungsfähigkeit des Aufsichtsrates zu erhalten.

E. Fazit

Der BGH lässt ausdrücklich offen, ob die Mitwirkung anfechtbar gewählter Aufsichtsratsmitglieder an der Feststellung des Jahresabschlusses eine nicht ordnungsgemäße Mitwirkung des Aufsichtsrates im Sinne von § 256 Abs. 2 AktG darstellt. Doch bei stringenter Anwendung der dogmatischen Grundsätze des BGH ist ein Jahresabschluss dann nichtig, wenn nach erfolgreicher Anfechtungsklage gegen den Wahlbeschluss eines Aufsichtsratsmitgliedes der Beschluss des Aufsichtsrates über die Feststellung des Jahresabschlusses entfällt. Dies ist im gesetzlichen Regelfall des mit drei Personen besetzten Aufsichtsrates schon dann der Fall, wenn nur ein Wahlbeschluss wirksam angefochten ist, da der Aufsichtsrat dann rückwirkend beschlussunfähig wird. Gesellschaften können deshalb nach hier vertretener Auffassung Aufsichtsratsmitglieder, gegen deren Wahlbeschluss Anfechtungsklage erhoben wurde, bis zur nächsten Hauptversammlung analog § 104 Abs. 1 S. 1 AktG gerichtlich bestellen lassen.

 

* Der Autor ist Student der Rechtswissenschaften an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Mitarbeiter am dortigen Lehrstuhl für Betriebswirtschaftliche Steuerlehre (Lehrstuhlinhaber StB Prof. Dr. Wolfgang Kessler). Dieser Artikel beruht auf einem Kapitel einer im Sommersemester 2014 erstellten Arbeit im Rahmen des Seminars „Internationales Unternehmensrecht und aktuelle Gesellschaftsrechtsdogmatik“ bei Prof. Dr. Marc-Philippe Weller.


Fußnoten:

  1. II ZR 56/12, NJW 2013, 1535.
  2. Die Satzung kann auch Entsendungsrechte vorsehen, § 101 Abs. 2 AktG.
  3. Die bloße Erhebung der Anfechtungsklage zieht hingegen nach allg. M. keine Rechtsfolgen nach sich, vgl. nur Bayer/Lieder NZG 2012, 1, 7 f; Lieder, GWR 2010, 552.
  4. E. Vetter ZIP 2012, 701, 702; a.A. noch Würdinger, Aktienrecht und das Recht der verbundenen Unternehmen 1981, S. 155.
  5. Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht 2002, S. 141; weitergehend Schultz NZG 1999, 89.
  6. Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht 2002, S. 141.
  7. Schürnbrand, Organschaft im Recht der privaten Verbände 2007, S. 268.
  8. BGH, 6.4.1964, II ZR 75/62, NJW 1964, 1367.
  9. Schürnbrand, Organschaft im Recht der privaten Verbände 2007, S. 268.
  10. Happ, FS-Hüffer 2010, S. 293, 307.
  11. Zu den entsprechenden Fallgruppen siehe Goette DStR 1996, 266.
  12. Vgl. Schürnbrand, Organschaft im Recht der privaten Verbände 2007, S. 290.
  13. BGH, 19.2.2013, II ZR 56/12, NJW 2013, 1535, 1537 f.
  14. Anwendbar ist die Lehre vom fehlerhaften Organ hinsichtlich der Pflichten, Haftung und Vergütung des Aufsichtsrates; so bereits BGH, 3.7.2006, II ZR 151/04, NZG 2006, 712.
  15. BGH, 19.2.2013, II ZR 56/12, NJW 2013, 1535, 1537 f.
  16. Vgl. statt vieler Cziupka/Pitz NJW 2013, 1539.
  17. E. Vetter ZIP 2012, 701, 710 m.w.N.
  18. BGH, 19.2.2013, II ZR 56/12, NJW 2013, 1535, 1538.
  19. Vgl. Schürnbrand NZG 2013, 481, 482.
  20. BGH, 19.2.2013, II ZR 56/12, NJW 2013, 1535, 1537.
  21. Vgl. Cziupka/Pitz NJW 2013, 1539.
  22. A.A.BGH, 19.2.2013, II ZR 56/12, NJW 2013, 1535, 1538.
  23. Schürnbrand NZG 2013, 481, 482.
  24. Unproblematisch ist freilich der Fall, in dem der Aufsichtsrat aus mehr als drei Personen besteht und auch nach rückwirkendem Wegfall einer Stimme genug Stimmen verbleiben, um den Feststellungsbeschluss zu tragen.
  25. Dafür OLG München, 18.1.2006, 7 U 3729/05, BeckRS 2007, 04374; Kocher NZG 2007, 372; Marsch-Barner FS-Karsten Schmidt 2009, 1120; Schroeder/Pussar BB 2011, 1930; dagegen OLG Köln, 29.3.2007, 2 Wx 4/07, WM 2007, 837; OLG Köln 23.2.2011, 2 Wx 41/11, NZG 2011, 508; Hüffer/Hüffer § 104 AktG Rn. 6, 10. Auflage 2012; Schürnbrand, NZG 2013, 481, 484; offengelassen BayObLG, 9.7.2004, 3Z BR 99/04, ZIP 2004, 2190.
  26. Kocher NZG 2007, 372, 373.
  27. BayVerfGH, 24.8.2005, Vf. 80/VI-04, NZG 2006, 25, 26.
  28. Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts, BGBl. I 2005, 2802.
  29. So OLG Köln, 29.3.2007, 2 Wx 4/07, WM 2007, 837, 838.
  30. Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrichtlinie, BGBl. I 2009, 2479.
  31. Vgl. Schroeder/Pussar BB 2011, 1930, 1933 f.
  32. So aber OLG Köln 23.2.2011, 2 Wx 41/11, NZG 2011, 508.
  33. BGH 14.12.2006, IX ZR 92/05, NJW 2007, 992, 994.
  34. Zum Phänomen missbräuchlich erhobener Anfechtungsklagen durch räuberische Aktionäre oder Berufskläger vgl. Ehmann ZIP 2008, 584; Kiethe NZG 2004, 489; Paulus BB 2012, 1556.

Der Speyer-Report

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Peter Zoth*

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I. Einleitung

Die „Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften (DUV)“ in Speyer bietet seit 1947 ein „Ergänzungsstudium“ für Rechtsreferendare an. Ca. 30.000 Juristinnen und Juristen haben seitdem dieses Angebot genutzt. Die DUV wurde schon unter den französischen Besatzungsmächten als „Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften (DHV)“ gegründet. Heute wird sie vom Bund und den 16 Bundesländern getragen. Sie ist eine Postgraduierten-Universität. Das heißt, in Speyer kann nur studieren, wer bereits einen Universitätsabschluss erworben hat.

Das Ergänzungsstudium dauert jeweils drei Monate und beginnt zum 1. Mai und 1. November des Jahres. Im WS 2014/2015 war ich einer von ca. 170 Referendaren, die sich entschlossen, nach Speyer zu gehen. Speyer ist eine Stadt mit 49.000 Einwohnern im Süd-Osten von Rheinland-Pfalz. Sie ist vor allem berühmt für den romanischen Speyrer Dom (UNESCO-Weltkulturerbe). Die S-Bahn verbindet Speyer mit Heidelberg (ca. 25 km Luftlinie), Mannheim (ca. 35 km) und Karlsruhe (50 km).  Auf dem Campus tummeln sich aber keineswegs nur Juristen. Die Uni Speyer bietet neben dem Ergänzungsstudium für Rechtsreferndare noch ein Magister-Studium in Verwaltungswissenschaften, die Master-Studiengänge „Administrative Science“ und „Öffentliche Wirtschaft“ sowie den neuen LL.M.-Studiengang „Staat und Verwaltung in Europa“ an. So entsteht eine bunte Mischung aus Juristen und anderen Geisteswissenschaftlern.

 

II. Speyer ist, was du draus machst

An meinem Speyer-Semester hat mich vor allem das vielfältige Angebot von fachlichen wie sozialen Veranstaltungen fasziniert. In Speyer wird großen Wert auf Eigenverantwortung gelegt. Hier gilt das Credo: Speyer ist, was du draus machst!

An der DUV gibt es ein für Universitäten paradiesisches Betreuungsverhältnis: Auf ca. 300 Studierende kommen 17 Lehrstühle und etwa 65 Lehrbeauftrage. Ca. 100 Veranstaltungen aus den Disziplinen Verwaltungswissenschaften, Wirtschaftswissenschaften, Sozialwissenschaften und Rechtswissenschaften sowie Sprachkurse standen für uns zur Wahl. Unter den Kursen fand sich Klassisches wie auch Exotisches. So zum Beispiel ein Seminar zum „Öffentlichen Dienstrecht“ wie auch das „Leadership Training AMNE“ von Oberstleutnant a.D. Rudolf Hartmann.

Um „Speyer“ erfolgreich zu absolvieren, mussten 20 Semesterwochenstunden belegt werden, davon ein „Seminar“ und eine „Arbeitsgemeinschaft“.  Ansonsten waren bei der Auswahl der Kurse der Phantasie des Einzelnen keine Grenzen gesetzt.

Als Seminar habe ich beispielsweise  „Public Management“ bei Herrn Prof. Dr. Hermann Hill gewählt. In „Public Management“ beschäftigten wir uns mit der Frage, wie und ob Ansätze aus dem modernen Management auf die öffentliche Verwaltung übertragen werden können.  Am Anfang war es noch sehr ungewohnt, sich als Jurist auf wirtschaftswissenschaftliche Denkmuster einzulassen. Am  Ende machte es aber riesigen Spaß, die Konzepte mit den mehrheitlich nicht-juristischen Teilnehmern zu diskutieren.

In der Arbeitsgemeinschaft „Vertragsgestaltung im öffentlichen Baurecht“ erarbeiteten wir gemeinsam einen Vertragsentwurf für den Bau eines großen Einzelhandelsmarktes.  Herr RA Dr. Curt Jeromin gewährte uns dabei spannende Einblicke in den Berufsalltag  einen Rechtsanwaltes, welcher auf die Vertragsverhandlungen zwischen Kommunen und privaten Investoren spezialisiert ist.

 

*Der Autor ist seit Oktober 2013 Rechtsreferendar am LG Offenburg (Baden-Württemberg). Von November 2014 bis Januar 2015 verbrachte er die Verwaltungsstation an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften (DUV) in Speyer.

 

Als Leistungsnachweis diente im Seminar eine schriftliche Arbeit von 15 Seiten. In der Arbeitsgemeinschaft hielt ich einen Vortrag über ein Urteil des EuGH zur Vergabe von Bauleistungen. Die an der DUV erworbenen Leistungen sind keineswegs nur auf die Verwaltungsstation beschränkt. Man kann sich die erworbenen ECTS-Punkte auf ein späteres Magister- oder LL.M.-Studium in Speyer anrechnen lassen. So bietet sich die Möglichkeit, nach dem Ende des Referendariats in einem zweiten Speyer-Semester noch einen weiteren universitären Abschluss zu erwerben. Da man selten unmittelbar nach dem Referendariat gleich eine Stelle findet, sind so drei Monate sinnvoll überbrückt.

Als besonders Angebot der DUV sind die Kurse zur Vorbereitung auf das Zweite Staatsexamen hervorzuheben.  Sie sind in ihrer Anzahl und Konzeption einmalig in Deutschland. Vergleichbares gibt es nur bei kommerziellen Repetitorien.  In Speyer kostenfrei.

Exemplarisch dafür steht der Kurs „Öffentliches Recht im Assessorexamen“ von Herrn RiVG Roland Kintz. Herr Kintz ist Autor des gleichnamigen Buches in der JuS-Schriftenreihe und „Altmeister“ der Referendarausbildung. Er kennt sich im Landesrecht aller 16 Bundesländer aus,  sodass bei ihm keine Frage offen blieb.  Des Weiteren gibt es Übungen im Zivil-, Straf- und Zwangsvollstreckungsrecht sowie eine Praxisübung im Aktenvortrag, welche von erfahren Prüfern geleitet werden. Zusätzlich hierzu verfügt die DUV Speyer über eine der größten Bibliotheken für öffentliches Recht in Deutschland.  Hier ist aktuelle fächerübergreifende Ausbildungsliteratur für Rechtsreferendare verfügbar. „Speyer“ ist also nicht nur Party fern von Examensvorbereitung und Berufsalltag, wie von manchen Nicht-Speyer-Absolventen behauptet wird! Von solchen Vorurteilen sollte man sich nicht abhalten lassen, nach Speyer zu gehen.

Speyer lebt vom Engagement der Studierenden. Bei 300 zumeist unbekannten Gesichtern fiel es nicht schwer, neue Kontakte zu knüpfen. Das vielbeschworene „Networking“ ergibt sich so fast von selbst. Die DUV bietet viele Möglichkeiten, sich einzubringen. Die „Hörerschaft“ genannte Studierendenvertretung besteht neben dem Vorstand aus den Referaten Sport, Kultur, Integration,  Almuni-Betreuung, Party, Medien, EDV und Bierbar. Hier ist für jeden etwas dabei. Weitere kulturelle Angebote gab es durch die Hochschulseelsorge,  wie z.B.  eine große Domführung und die Weinprobe mit Pfälzer Essen. Der festliche Abschlussball ist das Highlight eines jeden Speyer-Semesters.

 

III. Fazit und Organisatorisches

Wer seinem Referendariat neben Ausbilder, Akten und Arbeitsgemeinschaft Farbe verleihen möchte, ist in Speyer richtig. Die DUV bietet die Möglichkeit, sich fachlich weiterzubilden und auch in Bereiche vorzudringen, die für Juristen eher ungewohnt sind. Gleichzeitig kommen an der DUV die Examensvorbereitung und auch das soziale Leben nicht zu kurz. Einfach gesagt: Es lohnt sich!

Die Abordnung nach Speyer verläuft in Baden-Württemberg  unbürokratisch. Es ist ausreichend, den Entsendewunsch an die DUV beim Ausbildungsleiter des Landgerichts anzuzeigen. Zwar sind theoretisch die Plätze begrenzt. Praktisch standen sie aber in den letzten Jahren immer ausreichend zur Verfügung. Zur Unterbringung in Speyer kann man entweder die Online-Privatzimmerkartei der Universität konsultieren oder sich um ein Zimmer in den beiden Wohnheimen Freiherr-vom-Stein und Otto Mayer bewerben. Als Miete sind 280-350 Euro pro Monat im möblierten Zimmer realistisch. In Baden-Württemberg erhält man für die Zeit in Speyer ein Trennungsgeld von insgesamt 450 Euro. Es empfiehlt sich auf jeden Fall, ein Zimmer in Speyer oder Umgebung zu nehmen. An der DUV gibt es einige Dozenten aus der Berufspraxis, die von außerhalb anreisen. Die interessantesten Veranstaltungen finden daher meist abends statt. Ich selbst habe in Speyer in einer WG mit zwei Referendaren aus Bremen und Mainz gelebt und die Zeit dort sehr genossen. Weitere Informationen finden sich auf www.dhv-speyer.de (sic). Demnächst soll ein Relaunch der Homepage stattfinden.

*Der Autor ist seit Oktober 2013 Rechtsreferendar am LG Offenburg (Baden-Württemberg). Von November 2014 bis Januar 2015 verbrachte er die Verwaltungsstation an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften (DUV) in Speyer.

Vom schwierigen Kampf gegen Grabsteine aus Kinderarbeit

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Klaus Krebs*

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Die Klausur behandelt vor allem Fragen des Verwaltungsprozess- sowie des Kommunal- und Bestattungsrechts. Entsprechend ihrem Schwierigkeitsgrad richtet sie sich vor allem an Examenskandidaten. Die Klausur war in wesentlichen Teilen Gegenstand des Probeexamens an der Universität Freiburg im Sommersemester 2014.

 

Sachverhalt

Über zwei Drittel der Grabsteine, die auf deutschen Friedhöfen aufgestellt werden, stammen ursprünglich aus Indien. Nach Angaben der ILO, einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen, arbeiten weit mehr als 150.000 Kinder in der indischen Steinindustrie. Die Bedingungen, unter denen die Kinder arbeiten, gelten als gefährlich.

In der baden-württembergischen Gemeinde K wurden zwischen November 2011 und September 2012 insgesamt 112 neue Grabmale errichtet. Davon wurden in 99 Fällen Grabsteine aus Indien verwendet.

S ist Inhaber eines in K ansässigen Steinmetzbetriebes. Die Anfertigung und Errichtung von Grabmalen bildet den Schwerpunkt seiner beruflichen Tätigkeit als Steinmetz; er hat in der Vergangenheit Grabsteine auf den Friedhöfen in K aufgestellt und beabsichtigt dies auch zukünftig zu tun.

Unter dem drittletzten Tagesordnungspunkt der öffentlichen Gemeinderatssitzung vom 12.9.2012 („TOP 12: Änderung der Friedhofssatzung – neue Regelungen gegen Grabsteine aus Kinderarbeit“) beschließt der Gemeinderat einstimmig die neuen § 13 Abs. 2 Satz 2 bis Satz 5, § 19 Nr. 1a der Friedhofssatzung (FS). Die so geänderte Friedhofssatzung wird ordnungsgemäß ausgefertigt und am 29.9.2012 im Amtsblatt der Gemeinde bekannt gemacht.

S hält die neuen Vorschriften gegen Grabsteine aus Kinderarbeit aus mehreren Gründen für „grob rechtswidrig“. S lehnt zwar jede Form der Kinderarbeit entschieden ab. Ihm sei jedoch nach eigenen Angaben „völlig unklar“, wie er den von § 13 Abs. 2 verlangten Nachweis führen soll. Er meint, dass es derzeit keine verlässlichen Zertifizierungssysteme oder sonstige Nachweismöglichkeiten für Steinmetzbetriebe gebe, die garantieren können, dass Grabsteine „frei von Kinderarbeit“ sind. Das trifft zu. Auch besteht derzeit keine allgemeine Verkehrsauffassung darüber, welche Zertifikate als vertrauenswürdig einzustufen sind. Vor diesem Hintergrund behauptet S, dass ihn die neuen Vorschriften auch unverhältnismäßig in seiner Geschäftstätigkeit beschränken.

Zudem seien die neuen Satzungsvorschriften auch deshalb fehlerhaft, weil – wie sich zwischenzeitlich tatsächlich herausgestellt hat – der Gemeindebedienstete G kurz nach Aufruf von TOP 13 den einzigen Zugang zu dem Ratssaal, in dem die Gemeinderatssitzung am 12.9.2014 stattfand, verschlossen hat. Der seit Jahrzehnten für K tätige G, der sonst stets zuverlässig arbeitet, ging fälschlich davon aus, dass die Ratssitzung, die bereits um 16 Uhr begonnen hatte, zum Zeitpunkt der Schließung der Eingangstüre um 21 Uhr längst beendet sei. Der Bürgermeister B hat von dem Malheur erst erfahren, nachdem er die Sitzung geschlossen hatte. Nur dank seines Generalschlüssels für alle Rathaustüren konnte er den ebenso erschöpften wie von der verriegelten Türe überraschten Räten den Weg nach Hause frei machen. S hält diesen Sitzungsverlauf „für ein Zeugnis intransparenter Rathauspolitik“, die seine Rechte als Gemeindeeinwohner verletze. Er habe schließlich noch um 21.05 Uhr vergeblich versucht der Gemeinderatssitzung als Zuhörer beizuwohnen.

Ferner bemängelt S, dass die Bekämpfung von Kinderarbeit nicht in erster Linie ein kommunales, sondern ein allgemeinpolitisches Thema sei. Den neuen Satzungsbestimmungen fehle schließlich jeglicher Hinweis auf eine Ermächtigungsnorm im Landesgesetz. Eine Ermächtigungsgrundlage, die es der Gemeinde erlaube, seine beruflichen Freiheiten durch Satzungsrecht zu beschneiden, gebe es ohnehin nicht.

K räumt ein, in dem Beschluss über die neuen Vorschriften keine Angaben zur gemeindlichen Normsetzungsbefugnis gemacht zu haben. Das sei jedoch unschädlich, da sie als Gemeinde beim Erlass von Satzungen nicht jedes Mal die Gesetzesvorschrift nennen müsse, die sie zum Erlass der jeweiligen Satzung ermächtige. Sie ist sich zudem sicher, dass es eine entsprechende Satzungsermächtigung mittlerweile gibt, da der Landtag von Baden-Württemberg das Bestattungsgesetz erst kürzlich reformiert habe.

Auch S meint sich zu erinnern, von einer solchen Gesetzesänderung im Jahr 2012 gehört zu haben, er bezweifelt jedoch, dass Bundesländer Gesetze erlassen dürfen, die Importe aus Indien und damit den ausländischen Warenverkehr betreffen. Die Länder dürften vielleicht noch das Friedhofswesen reglementieren, aber doch nicht das Recht der Wirtschaft und das Recht des Handwerks.

Der Rechtsanwalt des S stellt am 16.9.2012 beim Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg einen Normenkontrollantrag gegen § 13 Abs. 2 und § 19 Nr. 1a der Friedhofssatzung von K in der Fassung der Änderungssatzung vom 12.9.2012. Als Antragsgegnerin bezeichnet er K.

 

Aufgabe

Prüfen Sie in einem Gutachten, das – ggf. hilfsgutachterlich – auf alle aufgeworfenen Rechtsfragen eingeht, ob der Antrag des S Aussicht auf Erfolg hat.

Bearbeitungshinweise:

1. Der Bund hat bislang keine Vorschriften erlassen, wonach Steinmetze bestimmte Produkte wegen ihres Herstellungsprozesses nicht oder jedenfalls nicht für bestimmte Zwecke verwenden dürfen.

2. Auf Europa- und Völkerrecht ist nicht einzugehen.

3. Nach der Friedhofssatzung von K (§ 35 Abs. 1) bedarf die Errichtung, Wiederverwendung und jede Veränderung eines Grabmals der vorherigen schriftlichen Genehmigung durch die Friedhofsverwaltung.

4. Auszüge von § 13 und § 19 der Friedhofssatzung von K in der Fassung der Änderungssatzung vom 12.9.2012:

„§ 13 Allgemeine Gestaltungsvorschriften

(1) Grabmale und sonstige Grabausstattungen müssen der Würde des Ortes entsprechen.

(2) 1Für Grabmale und sonstige Grabausstattungen dürfen nur Naturstein, Holz, Schmiedeeisen, Bronze, Stahl, bruchsicheres Glas oder Hartplastik verwendet werden.2 Es dürfen nur Grabsteine verwendet werden, die nachweislich aus fairem Handel stammen und ohne ausbeuterische Kinderarbeit im Sinne der Konvention 182 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) hergestellt sind. 3Bei Steinen, die ausschließlich aus Deutschland oder dem Europäischen Wirtschaftsraum stammen, reicht der Nachweis der ausschließlichen Herkunft aus diesen Ländern.4 Im Übrigen wird der Nachweis in der Regel durch ein vertrauenswürdiges, allgemein anerkanntes Zertifikat erbracht.5 Die zuständige Friedhofsverwaltung führt und aktualisiert fortlaufend ein Verzeichnis der vertrauenswürdigen Zertifikate und hält dieses zur Einsicht der Friedhofsbenutzer, die ein Grabmal aufstellen wollen, und ihrer bevollmächtigten Beauftragten bereit.

§ 19 Ordnungswidrigkeiten

(1) Ordnungswidrig im Sinne von § 49 Abs. 3 Nr. 2 BestattG BW handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig (…)

1a. entgegen § 13 Absatz 2 Satz 4 Grabsteine ohne Zertifizierung aufstellt, (…).“

 

 

Lösungsvorschlag 1

Der Antrag des S hat Aussicht auf Erfolg, wenn er zulässig und begründet ist.

A. Zulässigkeit des Antrags

Der Antrag ist zulässig, wenn alle für eine Sachentscheidung notwendigen Voraussetzungen vorliegen.

I. Allgemeine Sachentscheidungsvoraussetzungen

1. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs
(§§ 47 Abs. 1, 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO)

Nach § 47 Abs. 1 VwGO entscheidet das Oberverwaltungsgericht, das in Baden-Württemberg gem. § 184 VwGO, § 1 Abs. 1 AGVwGO die Bezeichnung „Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg“ (VGH BW) führt, „im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit“. Das setzt zum einen voraus, dass die zu kontrollierenden Normen dem öffentlichen Recht angehören; zum anderen müssen sich aus der Anwendung der angegriffenen Rechtsvorschriften Rechtsstreitigkeiten ergeben können, für die der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffnet ist. 2 Letztere Beschränkung der gerichtlichen Kontrollbefugnis soll vor allem verhindern, dass Oberverwaltungsgerichte die Gerichte anderer Gerichtszweige für Streitigkeiten präjudizieren, für deren Entscheidung im Einzelfall letztere ausschließlich zuständig sind. 3

Alle angegriffenen Vorschriften der Friedhofssatzung von K in der Fassung der Änderungssatzung vom 12.9.2012 (im Folgenden kurz: FS) sind Normen des öffentlichen Rechts. Sie weisen indes einen gemischten Inhalt auf. Während sich aus dem Vollzug von § 13 Abs. 2 Satz 2 bis Satz 5 FS im Einzelfall auch öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art ergeben können, insbesondere solche um die Genehmigung nach § 35 Abs. 1 FS, können gegen auf § 19 Nr. 1a FS iVm. § 49 Abs. 3 Nr. 2, Abs. 5 BestattG BW gestützte Bußgeldbescheide der Verwaltungsbehörde nach § 68 OWiG allein die ordentlichen Gerichte angerufen werden. Da die Anwendung von § 13 Abs. 2 Satz 2 bis Satz 5 FS zu Verfahren vor den Verwaltungsgerichten führen können, ist der Rechtsweg zum VGH BW insoweit eröffnet. Da der Vollzug der Ordnungswidrigkeitsbestimmung in § 19 Nr. 1a FS demgegenüber nicht zu öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten i.S.d. § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO führen kann, scheidet eine Kontrolle dieser Vorschrift durch den VGH BW aus. 4

Deshalb ist der Normenkontrollantrag insoweit unzulässig, als er sich gegen § 19 Nr. 1a FS richtet. Insbesondere kommt auch keine Verweisung des Antrags an die ordentlichen Gerichte nach § 173 VwGO iVm. § 17a, § 17b GVG in Betracht, da für Bußgeldsachen nach §§ 68 ff. OWiG keine abstrakte Normenkontrolle vorgesehen ist.

2. Zuständigkeit

Für Normenkontrollen nach § 47 Abs. 1 VwGO ist in Baden-Württemberg ausschließlich der VGH BW mit Sitz in Mannheim zuständig.

3. Beteiligungsfähigkeit (§§ 47 Abs. 2 VwGO)

Die Beteiligungsfähigkeit richtet sich primär nach § 47 Abs. 2 VwGO; § 61 VwGO kommt nur subsidiär zur Anwendung. 5 S ist als natürliche Person gem. § 47 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 VwGO beteiligungsfähig. Beteiligungsfähig als Antragsgegner ist die Gebietskörperschaft K (§ 1 Abs. 4 GemO BW) gem. § 47 Abs. 2 Satz 2 Var. 1 VwGO.

4. Prozess- und Postulationsfähigkeit
(§§ 62 Abs. 1 , Abs. 3, 67 Abs. 1 VwGO)

S ist gem. § 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO prozessfähig. Vor dem VGH BW muss er sich gem. § 67 Abs. 4 VwGO durch einen Prozessbevollmächtigten – dazu zählen Rechtsanwälte (§ 67 Abs. 4 Satz 3 iVm. Abs. 2 Satz 1 VwGO) – vertreten lassen. S hat dies bei der Antragsstellung berücksichtigt.

Als ihr gesetzlicher Vertreter vertritt der Bürgermeister B die Gemeinde K gem. § 62 Abs. 3 VwGO, § 42 Abs. 1 Satz 2 GemO BW. Auch er bedarf eines Prozessbevollmächtigten, § 67 Abs. 4 Satz 1, Satz 3 VwGO.

II. Statthaftigkeit des Antrags
(§ 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO)

Gem. § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO iVm. § 4 AGVwGO ist die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle statthaft zur Überprüfung der Gültigkeit von im Rang unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschriften.

Fraglich ist, ob hier bereits eine Rechtsvorschrift vorliegt, da die Satzungsänderung zum Zeitpunkt der Antragsstellung noch nicht verkündet wurde.

Verfahrensgegenstand einer Normenkontrolle kann grundsätzlich nur eine bereits verkündete Vorschrift sein. Erst mit Verkündung kann es sich um eine Vorschrift mit formeller Geltungskraft und damit um eine Rechtsvorschrift i.S.d. § 47 VwGO handeln; eine vorbeugende Normenkontrolle gibt es im Grundsatz nicht. 6 Maßgeblicher Zeitpunkt für die Existenz der Rechtsvorschrift ist indes der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung. Insoweit ist es durchaus möglich, einen Antrag nach § 47 VwGO bereits vor Verkündung zu stellen. Der Antragssteller begibt sich dann allerdings in die Gefahr, dass der jeweilige Normentwurf bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung noch nicht verkündet worden ist. 7

Hier wurde der Antrag auf Normenkontrolle am 16.9.2012 und damit noch vor der Verkündung am 29.9.2012 gestellt. Indes ist bei lebensnaher Betrachtung davon auszugehen, dass mit einer Entscheidung des Gerichts über die Gültigkeit der Satzung nicht vor dem 29.9.2012, also nicht vor der Verkündung der Satzung zu rechnen ist, da der Antrag nicht einmal zwei Wochen vor der Verkündung der Änderungssatzung beim VGH BW gestellt wurde. Da es für das Vorliegen eines zulässigen Normenkontrollantrags nach zutreffender herrschender Ansicht nicht auf den Zeitpunkt der Antragsstellung, sondern auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ankommt, ist hier von einem zulässigen Verfahrensgegenstand auszugehen. 8 Einer Prüfung im Hinblick auf die besonderen Voraussetzungen des vorbeugenden Rechtsschutzes bedarf es daher nicht.

Der Antrag auf Überprüfung von § 13 Abs. 2 Satz 2 bis Satz 5 FS ist folglich statthaft.

III. Besondere Sachentscheidungsvoraussetzungen

1. Antragsbefugnis (§ 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO)

Während es für die Begründetheit eines Normenkontrollantrags nach § 47 VwGO nicht auf eine subjektive Rechtsverletzung ankommt, wird auf Zulässigkeitsebene eine Antragsbefugnis verlangt, um Popularanträge auszuschließen. 9 S müsste nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO geltend machen können, durch § 13 Abs. 2 Satz 2 bis Satz 5 FS oder deren Anwendung in seinen subjektiven Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit zu werden. Für die Antragsbefugnis gelten dabei im Grundsatz die gleichen Anforderungen wie für die Klagebefugnis im Rahmen des § 42 Abs. 2 VwGO: Insoweit genügt zwar schon die bloße Möglichkeit einer Rechtsverletzung, die Betroffenheit in eigenen Rechten muss jedoch feststehen. 10

Als subjektive Rechte kommen hier nur Vorschriften des höherrangigen Rechts, insbesondere solche des Unions- oder Verfassungsrechts sowie durch Parlamentsgesetz verliehene Rechte in Frage. 11

Möglicherweise wurde die Änderungssatzung unter Verletzung des in § 35 Abs. 1 GemO BW verbürgten Öffentlichkeitsgrundsatzes beschlossen. Ob sich daraus eine subjektive Rechtsverletzung des S ergeben kann, ist indes fraglich. Die Rechtsprechung verneint heute überwiegend ein Recht des Bürgers auf Einhaltung der Vorschriften über die Sitzungsöffentlichkeit. 12 Zur Begründung wird u.a. angeführt, dass die Regelungen über die Sitzungsöffentlichkeit nach Wortlaut und Zweck ausschließlich dem allgemeinen öffentlichen Interesse dienen. 13 In der Literatur hingegen wird wohl mehrheitlich angenommen, dass sich insbesondere mit Blick auf die Kontrollfunktion des Öffentlichkeitsprinzips ein subjektives Recht des Bürgers auf Sitzungsöffentlichkeit ergeben kann. 14

Die Frage kann hier letztlich dahinstehen, 15 wenn S möglicherweise zumindest in seiner Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG betroffen ist.

Der Schutz der Berufsfreiheit erfasst auch die gewerbliche Betätigung innerhalb einer öffentlichen Einrichtung, die wie ein gemeindlicher Friedhof mit Anstaltscharakter betrieben wird. 16

Die Möglichkeit einer Verletzung der Berufsfreiheit des S wäre jedenfalls dann gegeben, wenn sich § 13 Abs. 2 Satz 2 bis Satz 5 FS unmittelbar auf die berufliche Tätigkeit des S beziehen würden. § 13 Abs. 2 Satz 2 bis Satz 5 FS regeln unmittelbar die Nutzungsmöglichkeiten und Nachweispflichten der Grabstätteninhaber auf den Friedhöfen in K. Die Vorschriften betreffen also das Benutzungsverhältnis zwischen den Grabstättenberechtigten und K, enthalten jedoch keine Regelungen zur Berufstätigkeit des S selbst. Steinmetze sind nicht direkte Adressaten der Neuregelungen. Ein finaler Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG zulasten des S scheidet daher aus.

S könnte aber in absehbarer Zeit mittelbar in seiner Berufsfreiheit betroffen sein. Ein mittelbarer Eingriff ist anzunehmen, wenn die Regelung in einem engen Zusammenhang mit der Berufsausübung steht oder objektiv eine berufsregelnde Tendenz aufweist. 17 Dieser notwendige Berufsbezug besteht für Steinmetze, die wie S die Möglichkeit haben, aufgrund eines Auftrags eines Grabnutzungsberechtigten ein Grabmal für einen Friedhof in K zu gestalten. 18 Für S ist dies mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit zu erwarten, da er in der Vergangenheit zahlreiche Grabsteine auf den Friedhöfen der K aufgestellt hat und dies auch zukünftig beabsichtigt. Er ist daher in erheblicher Weise faktisch den Beschränkungen des § 13 Abs. 2 Satz 2 bis Satz 5 FS unterworfen, weil er seine berufliche Dienstleistung, die gegenüber dem Nutzungsberechtigten als Kunden erbracht wird, an den Bestimmungen tatsächlich ausrichten muss. Die Grabnutzungsberechtigten werden bei Vertragsschluss mit einem Steinmetz aufgrund des § 13 Abs. 2 Satz 2 bis Satz 5 FS regelmäßig verlangen, dass dieser nur Steine verwendet, die den Bestimmungen entsprechen und dass er hierüber einen ausreichenden Nachweis vorlegt. Die Kosten und Mühen der Nachweisbeschaffung hat der S zu tragen. Folglich ist nicht auszuschließen, dass S durch § 13 Abs. 2 Satz 2 bis Satz 5 FS mittelbar in seinem Recht aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt wird. S ist mithin antragsbefugt.

2. Passive Antragsbefugnis
(§ 47 Abs. 2 Satz 2 Var. 1 VwGO)

Richtiger Antragsgegner ist nach § 47 Abs. 2 Satz 2 Var. 1 die Körperschaft, die § 13 Abs. 2 Satz 2 bis Satz 5 FS erlassen hat, hier also K. 19

3. Antragsfrist (§ 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO)

Die Jahresfrist des § 47 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist noch nicht abgelaufen.

 

IV. Zwischenergebnis

Soweit sich der Antrag des gegen die Ordnungswidrigkeitsbestimmung des § 19 Nr. 1a FS richtet, ist er unzulässig; im Übrigen ist der Antrag zulässig.

B. Begründetheit des Antrags

Der Antrag des S ist begründet, wenn § 13 Abs. 2 Satz 2 bis Satz 5 FS ungültig sind, vgl. § 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO. § 13 Abs. 2 Satz 2 bis Satz 5 FS sind ungültig, wenn die Bestimmungen unwirksam sind, dh. gegen höherrangiges Recht verstoßen. 20 Ein Verstoß liegt vor, sofern § 13 Abs. 2 Satz 2 bis Satz 5 FS ohne verfassungskonforme Ermächtigungsgrundlage erlassen wurden bzw. gegen formelles oder materielles höherrangiges Recht verstoßen.

I. Satzungsermächtigung

Es müsste zunächst eine Satzungsermächtigung bestehen. Dieses Erfordernis folgt aus dem Grundsatz des Vorbehalt des Gesetzes als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG), dem die Rechtssetzungstätigkeit des Gemeinderats als Verwaltungsorgan unterliegt. 21 Als Satzungsermächtigung kommen Art. 28 Abs. 2 GG, Art. 71 Abs. 2 LV BW, § 4 Abs. 1 Satz 1 GemO BW, § 15 Abs. 1, 3 BestattG BW und § 15 Abs. 2, 3 BestattG BW in Betracht. Es gilt der Grundsatz lex specialis derogat legi generali.

1. § 4 Abs. 1 Satz 1 GemO BW

Denkbare Satzungsermächtigung könnte § 4 Abs. 1 Satz 1 GemO BW sein, wonach Gemeinden ihre weisungsfreien Angelegenheiten durch Satzung regeln dürfen. Bei dem vorliegenden Eingriff in die Rechtsstellung des S erscheint es jedoch bedenklich, eine derart weite Norm wie § 4 Abs. 1 Satz 1 GemO BW als Ermächtigungsgrundlage ausreichen zu lassen. Der Eingriffsvorbehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG verlangt eine gesetzliche Grundlage, die Umfang und Grenzen des Eingriffs deutlich erkennen lässt. 22 Der demokratisch legitimierte (Landes-)Gesetzgeber darf die wesentlichen Entscheidungen nicht auf die Gemeinden delegieren, sondern hat diese selbst zu treffen. 23 Die Ermächtigung in § 4 Abs. 1 Satz 1 GemO BW genügt diesen Erfordernissen nicht. Sie ist zu unbestimmt, um Eingriffe in die (Berufs‑)Freiheit zu rechtfertigen und wird dem Wesentlichkeitsprinzip nicht gerecht. § 4 Abs. 1 Satz 1 GemO BW scheidet daher als Ermächtigungsgrundlage aus. 24

2. § 15 Abs. 1, 3 BestattG BW

In Betracht kommt jedoch die durch Gesetz vom 26.6.2012 25 neu geschaffene Ermächtigungsgrundlage in § 15 Abs. 1, 3 BestattG BW und § 15 Abs. 2, 3 BestattG BW. 26 Vorliegend wurde der Friedhof innerhalb einer Gemeinde durch Satzung geregelt. Es handelt sich damit um einen Gemeindefriedhof im Sinne von § 15 Abs. 1 BestattG BW iVm. § 1 Abs. 1 Satz 1 BestattG BW. Ein anderer Bestattungsplatz im Sinne von § 15 Abs.  2 BestattG BW liegt daher nicht vor. Nur § 15 Abs. 1, 3 BestattG BW kann daher eine taugliche Ermächtigungsgrundlage begründen. Diese müsste allerdings selbst mit höherrangigem Recht vereinbar, dh. insbesondere verfassungsgemäß sein.

II. Verfassungsmäßigkeit des
§ 15 Abs. 1, 3 BestattG BW

Der VGH BW besitzt zwar nicht die Befugnis, Parlamentsgesetze mit inter omnes-Wirkung für ungültig zu erklären. Gleichwohl prüft er inzident die Verfassungsmäßigkeit der Satzungsermächtigung, da die Satzungsbestimmungen nur rechtmäßig sein können, wenn sie auf einer verfassungsgemäßen Ermächtigungsgrundlage beruhen, also in formeller und materieller Hinsicht der Verfassung entsprechen.

1. Formelle Verfassungsmäßigkeit

Im Rahmen der formellen Verfassungsmäßigkeit ist allein fraglich, ob das Land die für den Erlass von § 15 Abs. 3 BestattG BW notwendige Regelungskompetenz besitzt.

Nach Art. 70 GG haben die Länder das Recht der Gesetzgebung, soweit sich nichts anderes aus Art. 71 – 74 GG ergibt. Allein die Stellung des § 15 Abs. 3 BestattG BW im Friedhofs- und Bestattungswesen, das der Regelungskompetenz der Länder unterfällt, schließt für sich das Bestehen einer vorrangigen Kompetenz des Bundes nicht aus. 27

a) Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 Var. 4 GG
(„Warenverkehr mit dem Ausland“)

Aufgrund von Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG 28 steht dem Bund die ausschließliche Regelungskompetenz für alle Wareneinfuhrverbote zu. 29 § 15 Abs. 3 BestattG BW statuiert indes kein Wareneinfuhrverbot, sondern lediglich ein Verwendungsverbot, das sich zumindest formal auch nicht ausschließlich auf ausländische Produkte bezieht. 30 Es wird nicht die Einfuhr der Ware selbst aus außenpolitischen Gründen allgemein verboten. Die Regelung hat allenfalls mittelbar Auswirkungen auf den Import und Handel von Grabmalen. 31 Die Kompetenzgrundlage des Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG steht der Regelung in § 15 Abs. 3 BestattG BW daher nicht entgegen. 32

b) Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG
(Recht der Wirtschaft, Handwerk)

Erwägenswert erscheint die Annahme einer konkurrierenden Gesetzgebung gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG. Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat (Art. 72 Abs. 1 GG). Ob das Verbot der Verwendung von Grabmalen aus Kinderarbeit unter Art. 72 Abs. 1 Nr. 11 GG fällt, kann hier folglich dahinstehen, da der Bund bislang keine Vorschriften erlassen hat, wonach Steinmetze bestimmte Produkte wegen ihres Herstellungsprozesses nicht oder jedenfalls nicht für bestimmte Zwecke verwenden dürfen. Es besteht daher keine vorrangige Kompetenz des Bundes. Der Landesgesetzgeber besitzt mithin die für den Erlass des § 15 Abs. 3 BestattG notwendige Regelungskompetenz. § 15 Abs. 3 BestattG ist formell verfassungsgemäß.

2. Materielle Verfassungsmäßigkeit

a) Verstoß gegen höherrangiges Recht

aa) Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1 GG

Fraglich ist, ob § 15 Abs. 3 BestattG mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar ist 33.

Der mittelbare Eingriff in den Schutzbereich kann unter den Voraussetzungen des Regelungsvorbehalts in Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG kann die Berufsausübung durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes geregelt werden.

Grundsätzlich konnte der baden-württembergische Gesetzgeber durch das formelle Gesetz des § 15 Abs. 3 Satz 1 BestattG die Berufsausübung regeln. Er hat dadurch selbst die grundlegende Entscheidung getroffen, dass die Berufsfreiheit der Steinmetze, in die Satzungsregelungen wie die streitige eingreifen, gegenüber dem allgemeinen Interesse an der Bekämpfung von Kinderarbeit gegebenenfalls zurücktreten muss. 34

Fraglich ist jedoch, ob der Gesetzgeber die Regelungen der Nachweisanforderungen zulässigerweise gem. § 15 Abs. 3 Satz 2 BestattG den Gemeinden überantworten durfte oder ob er diese nicht mit Blick auf den Wesentlichkeitsvorbehalt selbst regeln musste.

Es gibt derzeit keine verlässlichen Zertifizierungssysteme oder sonstige Nachweismöglichkeiten für Steinmetzbetriebe, die garantieren können, dass Grabsteine „frei von Kinderarbeit“ sind. Wenn es der Gesetzgeber vor diesem Hintergrund den Gemeinden überlässt, wie der Nachweis, dass Grabsteine und Grabmale „nachweislich aus fairem Handel stammen“, zu erbringen ist, lässt er eine für die Berufsausübung von Steinmetzen elementare Frage vollständig offen. Jede Gemeinde könnte insoweit unterschiedliche Nachweisforderungen aufstellen, wodurch die Wettbewerbsgleichheit unter Steinmetzen beeinträchtigt werden könnte. Aufgrund des erheblichen Eingriffs in Art. 12 Abs. 1 GG hätte der Gesetzgeber wenigsten die Grundzüge der an das Nachweissystem zu stellenden Anforderungen regeln müssen. § 15 Abs. 3 BestattG verstößt daher gegen Art. 12 Abs. 1 GG. 35

bb) Verstoß gegen Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG,
Art. 71 LV

Zudem könnte Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG im Hinblick darauf verletzt sein, dass die durch § 15 Abs. 3 Satz 1 BestattG BW eingeräumte Satzungsbefugnis die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft übersteigt. Nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 71 LV sind die Gemeinden befugt, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze eigenverantwortlich zu regeln. Hierbei handelt es sich um diejenigen Angelegenheiten, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf diese einen spezifischen Bezug haben und von ihr eigenständig und selbstverantwortlich bewältigt werden können, die also den Gemeindeeinwohnern gerade als solchen gemeinsam sind, indem sie das Zusammenleben und -wohnen der Menschen in der (politischen) Gemeinde betreffen. 36

Ob § 15 Abs. 3 Satz 1 BestattG den Gemeinden die Regelung von Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft oder stattdessen von überörtlichen Angelegenheiten erlaubt, kann dahinstehen, da Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 71 LV lediglich eine Mindestgarantie enthält, die es nicht ausschließt, dass der Gesetzgeber den Gemeinden darüber hinausgehende Aufgaben zuweist. 37 Es dürfte insoweit lediglich zu fordern sein, dass die Satzungsermächtigung einen Gemeindebezug aufweist. 38 § 15 Abs. 3 BestattG sieht eine Ermächtigung für Regelungen zur Benutzung kommunaler Friedhöfe, also von öffentlichen Einrichtungen der Gemeinde vor. Damit ist bereits ein hinreichender Gemeindebezug gegeben. § 15 Abs. 3 BestattG verstößt nicht gegen Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG.

b) Zwischenergebnis

§ 15 Abs. 3 BestattG ist wegen Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG materiell verfassungswidrig (a.A. vertretbar). Das Bundesverfassungsgericht würde dies nach Vorlage gem. Art. 100 Abs. 1 Satz 2 GG feststellen. Da mithin § 13 Abs. 2 Satz 2 bis Satz 5 FS auf keiner wirksamen Ermächtigungsgrundlage beruht, sind die Vorschriften bereits aus diesem Grund nichtig (a.A. vertretbar).

III. Rechtmäßigkeit der Satzung
(ggf. hilfsgutachterlich zu prüfen)

Gem. § 15 Abs. 1, 3 Satz 1, § 50 Abs. 2 BestattG BW iVm. § 31 Abs. 3 BestattVO iVm. § 62 Abs. 3 Satz 1 PolG BW können Gemeinden in ihren als Satzung zu erlassenden Friedhofsordnungen (§ 15 Abs. 1 Satz 1 BestattG BW) festlegen, dass nur Grabsteine und Grabeinfassungen verwendet dürfen, die nachweislich aus fairem Handel stammen und ohne ausbeuterische Kinderarbeit im Sinne der Konvention 182 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) hergestellt sind. Gem. § 15 Abs. 3 Satz 2 BestattG BW sind die Anforderungen an den Nachweis nach Satz 1 sind in den Friedhofsordnungen und Polizeiverordnungen festzulegen.

1. Formelle Rechtmäßigkeit der Satzung

a) Zuständigkeit

aa) Verbandskompetenz

Die gemeindliche Verbandskompetenz für den Erlass von § 13 Abs. 2 Satz 2 bis Satz 5 FS folgt aus § 15 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 BestattG BW. Da Gemeinden  vom Gesetzgeber auch zu Satzungsregelungen mit überörtlichem Charakter ermächtigt werden dürfen, kommt es auf Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG in diesem Zusammenhang nicht entscheidend an.

bb) Organkompetenz

Der Erlass und damit auch die Änderung von Satzungen fällt in den (nach § 39 Abs. 2 Nr. 3 GemO BW unübertragbaren) Zuständigkeitsbereich des Gemeinderats, § 24 Abs. 1 GemO BW. 39

b) Verfahren

Zweifel an einem ordnungsgemäßen Beschlussverfahren bestehen lediglich im Hinblick auf den in § 35 Abs. 1 GemO BW konstituierten Öffentlichkeitsgrundsatz. Nach dem darin festgelegten Grundsatz der Sitzungsöffentlichkeit muss prinzipiell jedermann Zutritt zum öffentlichen Teil einer Gemeinderatssitzung haben. 40 Die Zutrittsmöglichkeit muss für die gesamte Dauer der öffentlichen Ratssitzung bestehen.

Eine Verletzung von § 35 Abs. 1 Satz 1 GemO BW könnte sich zunächst aus dem Sitzungsbeginn um 16 Uhr ableiten. Nach einer Ansicht müssen „breite Teile aller Bevölkerungsgruppen – insbesondere auch der Berufstätigen –“ grundsätzlich die Möglichkeit zur Teilnahme an öffentlichen Ratssitzungen haben. 41 An dem Vorliegen dieser Voraussetzung könnte man bei einem Sitzungsbeginn durchaus zweifeln. Nach der Rechtsprechung des VGH BW ist jedoch ein Sitzungsbeginn um 16 Uhr zulässig, da „auf irgendwelche Hinderungsgründe“ interessierter Zuhörer keine Rücksicht zu nehmen sei. 42 Dem ist schon aus praktischen Erwägungen zu folgen. 43

Bedenken an der Wahrung des Öffentlichkeitsgrundsatzes könnten sich aber ferner aus der Schließung der Eingangstüre zum Ratssaal um 21 Uhr ergeben. Ein solches Zugangshindernis führt nach der Rechtsprechung allerdings nur dann zu einer Verletzung des Öffentlichkeitsprinzips, wenn es dem Ratsvorsitzenden zuzurechnen ist. 44 Daran fehlt es, wenn der Ratsvorsitzende weder Kenntnis vom Hindernis hatte noch bei entsprechender Sorgfalt haben musste. 45 Abgeleitet wird dieses Ergebnis aus einer Parallelwertung zum gerichtlichen Öffentlichkeitsprinzip. 46

Vorliegend wussten weder der Ratsvorsitzende noch der Gemeinderat von dem Zugangshindernis. Mit einem Fehlverhalten des G mussten sie auch nicht rechnen, da der G bereits seit Jahrzehnten zuverlässig für K arbeitete. Damit scheidet auf der Grundlage der Rechtsprechung des VGH BW eine Verletzung des Öffentlichkeitsgebotes aus. 47

c) Form

Eine Formvorschrift für den Erlass kommunaler Satzungen findet sich in § 4 Abs. 3 GemO BW. Danach müssen Satzungen öffentlich bekannt gemacht werden. Die öffentliche Bekanntmachung durch die Gemeinde kann u.a. durch Einrücken in das eigene Amtsblatt der Gemeinde durchgeführt werden, § 1 Abs. 1 Nr. 1 DVO GemO BW. K hat die geänderte Satzung in ihrem Gemeindeblatt veröffentlicht und damit ordnungsgemäß öffentlich bekannt gemacht.

Es könnte jedoch eine Verletzung des Zitiergebotes vorliegen, da K in der neu gefassten Friedhofssatzung keinerlei Angaben zur gemeindlichen Normsetzungsbefugnis gemacht hat. Fraglich ist indes, ob überhaupt eine Pflicht zur Angabe von Satzungsermächtigungen besteht. In der GemO BW ist eine solche Verpflichtung nicht vorgesehen. Eine entsprechende Pflicht lässt sich auch nicht aus Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG, Art. 61 Abs. 1 Satz 1 Satz LV ableiten, die das Zitiergebot auf Rechtsverordnungen begrenzt. Auch eine analoge Anwendung dieser Normen kommt nicht in Frage, da sich Rechtsverordnungen und Satzungen kategorial unterscheiden und auch keine planwidrige Regelungslücke gegeben ist. Der Erlass kommunaler Satzungen unterliegt daher nicht dem Zitiergebot. 48

Die Satzung ist daher in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden.

2. Materielle Rechtmäßigkeit der Satzung

a) Verstoß gegen höherrangiges Recht

Die Änderungssatzung könnte gegen das Gebot aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abzuleitende Gebot der Klarheit und Bestimmtheit der Norm verstoßen.

aa) Verstoß gegen den Grundsatz der Normenklarheit und -bestimmtheit (Art. 20 Abs. 3 GG)

(1) Anforderungen des Grundsatzes der Normenklarheit und -bestimmtheit

Rechtsstaatliche Grundsätze verlangen, dass Normen mit ausreichender Bestimmbarkeit zum Ausdruck bringen, was von den Normbetroffenen verlangt wird. 49 Die Normbetroffenen müssen wissen, wozu sie verpflichtet bzw. berechtigt werden, um ihr Verhalten danach ausrichten zu können. 50 Der hinreichenden Bestimmtheit fehlt es nicht, wenn die entsprechenden Normen Auslegungsprobleme aufwerfen, die mit herkömmlichen juristischen Methoden bewältigt werden können. 51 Die Anforderungen an die Bestimmtheit steigen dabei mit der Intensität, mit der auf der Grundlage der betreffenden Regelung in grundrechtlich geschützte Bereiche eingegriffen wird. 52

(2) Vorliegen einer Unklarheit im Hinblick auf § 13 Abs. 2 Satz 5 FS

§ 13 Abs. 2 Satz 5 FS geben selbst keinen Aufschluss darüber, welche Möglichkeiten für den Nachweis bestehen, dass die verwendeten Grabsteine aus fairem Handel stammen und ohne ausbeuterische Kinderarbeit hergestellt sind. Nach § 13 Abs. 2 Satz 5 FS führt die Friedhofsverwaltung ein Verzeichnis darüber, welche Zertifikate als vertrauenswürdig i.S.d. § 13 Abs. 2 Satz 4 FS anzuerkennen sind. Die im Zusammenhang mit der Anwendung der § 13 Abs. 2 Satz 2 FS bestehenden Nachweisprobleme werden dadurch in den Normenvollzug verlagert. 53 Da es bislang keine verlässlichen Zertifizierungssysteme oder sonstige Nachweismöglichkeiten für Steinmetzbetriebe gibt, lässt die Satzung den Normbetroffenen im Unklaren darüber, welche Nachweise ausreichen, um zu belegen, dass Grabsteine „frei von Kinderarbeit“ sind. Da es auch keine allgemeine Verkehrsauffassung dazu gibt, welche Zertifikate als vertrauenswürdig einzustufen sind, hätte der Gemeinderat selbst Regelungen dazu erlassen müssen, welche Nachweise als ausreichend angesehen werden. Daran fehlt es. Stattdessen delegiert § 13 Abs. 2 Satz 5 FS die Entscheidung über die anzuerkennenden Zertifikate unzulässiger Weise auf die Friedhofsverwaltung. Folglich wird § 13 Abs. 2 Satz 5 FS dem Grundsatz der Normenklarheit und ‑bestimmtheit nicht gerecht.

bb) Unverhältnismäßiger Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG durch § 13 Abs. 2 Satz 4 FS

Zudem könnte der mit § 13 Abs. 2 Satz 4 FS verbundene mittelbare Eingriff, in Art. 12 Abs. 1 GG, der grundsätzlich auch durch kommunales Satzungsrecht („auf Grund eines Gesetzes“) zu rechtfertigen ist, 54 unverhältnismäßig sein. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird für Art. 12 Abs. 1 GG durch die sog. Dreistufentheorie konkretisiert. 55

Die Anforderungen an den verfassungslegitimen Zweck bestimmen sich nach der Dreistufentheorie. Die Anforderungen hängen demnach davon ab, ob es sich um eine Berufsausübungsregelung oder eine subjektive bzw. objektive Berufszulassungsregelung handelt. Da hier nur das „Wie des Berufes“, also die Berufsausübung betroffen ist, verfolgt schon dann einen verfassungslegitimen Zweck, wenn sie vernünftigen Zwecken des Allgemeinwohls dienen. Das Verwendungsverbot soll der Würde des Gemeindefriedhofs dienen und ausbeuterischer Kinderarbeit in Drittländern entgegenwirken. Das sind verfassungslegitime Zwecke. Dem nationalen Allgemeinwohl, welches das Grundgesetz schützt, sind auch internationale Zwecke immanent, sofern diese zumindest mittelbaren Einfluss auf die nationalen Zwecke nehmen.

Eine Regelung ist geeignet, wenn mit ihrer Hilfe der erstrebte Erfolg gefördert werden kann; dem Normgeber kommt bei der Beurteilung der Geeignetheit ein Beurteilungsspielraum zu. 56 § 13 Abs. 2 Satz 4 FS ist mangels eines allgemein anerkannten Zertifikates nicht vollzugsfähig und damit auch nicht geeignet, den verfolgten Zweck, dass Grabsteine aus ausbeuterischer Kinderarbeit auf Gemeindefriedhöfen nicht verwendet werden, zu fördern.

Solange nicht klar geregelt ist, welcher Art der geforderte Nachweis zu sein hat und welche Nachweise als ausreichend angesehen werden, ist die Regelung zudem auch unverhältnismäßig im engeren Sinne.

§ 13 Abs. 2 Satze 4 und 5 FS sind somit materiell rechtsfehlerhaft.

c) Reichweite der Unwirksamkeit

Materiell fehlerhafte Satzungsbestimmungen haben grundsätzlich ihre Nichtigkeit zur Rechtsfolge. 57

Fraglich ist hier allein, welche Bestimmungen von der Nichtigkeit des § 13 Abs. 2 Sätze 4 und 5 FS erfasst werden. Die Nichtigkeit einzelner Satzungsbestimmungen führt grundsätzlich nicht zur Gesamtnichtigkeit einer Satzung, da der gemeindliche Wille regelmäßig darauf gerichtet sein wird, das von der Nichtigkeit nicht unmittelbar erfasste Satzungsrecht aufrecht zu erhalten. 58 Anderseits sind all diejenigen Vorschriften nichtig, die in einem untrennbaren Zusammenhang zu der unwirksamen Vorschrift stehen. 59 Als rechtlicher Maßstab kann insoweit auf § 139 BGB analog oder den Rechtsgedanken des § 78 BVerfGG zurückgegriffen werden. 60

Der Ortsgesetzgeber wird § 13 Abs. 2 Satz 2 bis 5 FS keine so große Bedeutung beigemessen haben, dass die Nichtigkeit des gesamten § 13 FS oder gar der gesamten Satzung eine adäquate Rechtsfolge wäre. Diese Vorschriften können vielmehr selbstständig bestehen bleiben und bilden als solche weiterhin eine sinnvolle Einheit. Auch eine Unwirksamkeit von § 13 Abs. 2 Satz 1 FS ist nicht anzunehmen, da sie eine von den übrigen Bestimmungen dieses Absatzes eigenständige Regelung darstellt. § 13 Abs. 2 Satz 2 bis 5 FS stellen demgegenüber ein geschlossenes System dar. Das Verwendungsverbot kann ohne ein damit verbundenes Nachweissystem nicht aufrechterhalten werden. Hier ist daher davon auszugehen, dass sich die Unwirksamkeit auf die angegriffenen Regelungen der § 13 Abs. 2 Satz 2 bis 5 FS erstreckt. Diese Vorschriften sind ungültig und damit für unwirksam zu erklären (§ 47 Abs. 5 Satz 2 Hs.1 VwGO).

C. Gesamtergebnis

Soweit der Antrag zulässig ist, ist er auch begründet. Er hat daher teilweise Aussicht auf Erfolg.

 

* Der Autor ist Rechtsanwalt in der Kanzlei SCHRADE & PARTNER sowie Doktorand am Institut für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie, Abt. 2 (Prof. Dr. Ralf Poscher), der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.


Fußnoten:

  1. Wesentliche Teile des Falles basieren vor allem auf der Entscheidung VGH BW, Urteil v. 29.04.2012, Az. 1 S 1458/12 (nach Abschluss der Arbeiten an dieser Klausur wurde dieses Urteil abgedruckt in VBlBW 2014, 462 ff.), sowie den Entscheidungen BVerwG, BVerwGE 148, 133; BVerwG, LKV 2010, 509; BayVerfGH, NVwZ-RR 2012, 50; BayVGH, BayVBl., 2009, 367 und OVG Koblenz, NVwZ-RR 2009, 394; vgl. zu dieser Fallkonstellation nach hessischem Landesrecht jüngst Winkler, Granit und Gewissen LKRZ 2015, 41 ff.
  2. Unruh, in: Fehling/Kastner/Störmer, VwR, 3. Aufl. 2013, § 47 VwGO Rn. 23 m.w.N.
  3. VGH BW, VBlBW 1983, 302; zu weiteren Begründungen Unruh (Fn. 2), § 47 VwGO Rn. 22.
  4. Diesem Ergebnis könnte noch entgegenstehen, dass sich die Feststellung der Ungültigkeit von § 13 Abs. 2 Satz 2 bis Satz 5 FS auch auf Bußgeldbescheide auf der Grundlage des § 19 Nr. 1a FS auswirken würde, das Normenkontrollverfahren in diesem Fall also doch eine präjudizierende Wirkung auf Gerichte anderer Gerichtszweige für Streitigkeiten hätte, für deren Entscheidung diese im Einzelfall ausschließlich zuständig sind. Bußgeldtatbestände können nach der Rechtsprechung jedoch auch dann keiner gerichtlichen Kontrolle unterzogen werden, wenn – wie hier – der Tatbestand der Ordnungswidrigkeit auf andere der Normenkontrolle durch die Verwaltungsgerichte unterliegenden Rechtsvorschriften Bezug nimmt und im Fall der Unwirksamkeitserklärung dieser in Bezug genommenen Rechtsvorschriften die Bußgeldbestimmung leerläuft (siehe hierzu nur VGH BW, 1983, 302). Ausführungen hierzu wurden nicht erwartet.
  5. Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 9. Aufl. 2013, § 19 Rn. 8.
  6. Statt vieler Kerkmann/Lambrecht, in: Gärditz, Kommentar zur VwGO mit Nebengesetzen, § 47 VwGO Rn. 53; zu einer ähnlich gelagerten europarechtlichen Problematik EuGH, EuZW 2014, 118 ff. 
  7. Siehe zum Ganzen Kerkmann/Lambrecht (Fn. 6), § 47 VwGO Rn. 53 mit weiteren Hinweisen (auch zur Gegenansicht).
  8. A.A. ebenso vertretbar. Dann ist die Normenkontrolle insgesamt unzulässig. Die weitere Prüfung erfolgt dann im Hilfsgutachten.
  9. BVerwGE 82, 225, 232.
  10. Gerhardt/Bier, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Kommentar zur VwGO, Band I, § 47 Rn. 41; Kopp/Schenke, Kommentar zur VwGO, 20. Aufl. 2014, § 47 Rn. 46.
  11. Ehlers, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 27 Rn. 40; Kopp/Schenke (Fn. 10), § 47 Rn. 47.
  12. OVG RP, DÖV 1990, 622 = NVwZ-RR 1990, 322; OVG NRW, NWVBl. 2011, 182; anders noch OVG NRW, NWVBl. 2002, 31, 32; an letzterer Entscheidung anknüpfend VG Münster, NWVBl. 2009, 163.
  13. VGH BW, NVwZ-RR 1992, 373; OVG MV, LKV 1999, 109.
  14. Schnapp, VerwArch 78 (1987), 407, 431 m.w.N.; Lange/Rönn, Der Städtetag 1982, 592, 594; im Ergebnis auch Faber, NVwZ 2003, 1317, 1321; a.A. Aker, in: Aker/Hafner/Notheis, Kommentar zur Gemeindeordnung und Gemeindehaushaltsverordnung Baden-Württemberg, § 35 Rn. 21; Püttner, Kommunalrecht, 3. Aufl. 2004, Rn. 228 Fn. 48; zu weiteren Nachweisen Striedl/Troidl, BayVBl. 2008, 289, 298.
  15. Die Möglichkeit einer subjektiven Rechtsverletzung im Hinblick auf § 35 Abs. 1 GemO BW an dieser Stelle offenzulassen, dürfte sich anbieten, ist aber selbstverständlich keinesfalls zwingend. Auch wenn man die Möglichkeit einer subjektiven Rechtsverletzung an dieser Stelle ablehnt, wird im Rahmen der Begründetheit auf eine Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes einzugehen sein.
  16. VGH BW, VBlBW 2003, 65, 66.
  17. BVerfGE 113, 29, 48 m.w.N.; BVerwGE 148, 133, 142.
  18. Vgl. hierzu und zum Folgenden VGH BW, Urteil vom 29.04.2012, Az. 1 S 1458/12, Rn. 39; OVG RP, NVwZ-RR 2009, 394 f.
  19. Vgl. hierzu Ehlers (Fn. 11), § 27 Rn. 46.
  20. Da es sich bei der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle um ein objektives Beanstandungsverfahren handelt, kommt es auf die eigene Rechtsverletzung des Antragsstellers nicht an.
  21. Die Einordnung des Gemeinderats als Exekutivorgan entspricht ganz h.M., siehe nur BVerfGE 120, 82, 112; 78, 344, 348; BVerwG, NVwZ 2010, 834, 835; BGH, NJW 2006, 2050, 2053.
  22. BVerwGE 148, 133, 144.
  23. BVerwGE 148, 133, 142 f.; Lange, KommunalR, Kap. 12 Rn. 17.
  24. Vgl. hierzu BVerwGE 148, 133, 144 sowie BayVGH, BayVBl., 2009, 367, 368 (§ 23 Satz 1 GO BY entspricht inhaltlich § 4 Satz 1 GemO BW); Kaltenborn/Reit, NVwZ 2012, 925, 928 m.w.N.; Misera/Kessler, KommJur 2009, 52, 53 f.; anders unter Berücksichtigung völkerrechtlicher Erwägungen Lorenzmeier, BayVBl. 2011, 485 ff.
  25. GBl. BW, S. 437.
  26. Vergleichbar spezielle Ermächtigungsgrundlagen bestehen bisher lediglich in Bremen (§ 4 Abs. 5 des Gesetz über das Friedhofs- und Bestattungswesen in der Fassung vom 24.1.2012 [BremGBl., S. 24]) und dem Saarland (§ 8 Abs. 4 BestattG in der Fassung vom 15.9.2012 [Amtsbl. I S. 1384]). NRW wird diesen Beispielen voraussichtlich bald folgen, wobei hier gleichzeitig spezielle Vorschriften zur Zertifizierung geplant sind, s. LT NRW, Drucks. 16/6138.
  27. Näher hierzu Kaltenborn/Reit, NVwZ 2012, 925, 929.
  28. Eine Prüfung von Art. 73 Nr. 1 GG, siehe hierzu Kaltenborn/Reit, NVwZ 2012, 925, 929, legt der Sachverhalt nicht nahe und wurde nicht erwartet. Das BVerwG hat hierzu keinerlei Ausführungen gemacht. 
  29. Kunig, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 5. Aufl. 2003, Art. 73 Rn. 25 m.w.N.
  30. Kaltenborn/Reit, NVwZ 2012, 925, 929.
  31. BVerwG 148, 133, 140.
  32. A.A. vertretbar, in diese Richtung etwa auch Hoppe, LKV 2010, 497, 498.
  33. Es ist an dieser Stelle ebenso vertretbar, in der bloßen Ermächtigung der Gemeinden noch keinen entsprechenden Eingriff zu sehen. In diesem Fall müsste im Anschluss an die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Ermächtigungsgrundlage eine Problematisierung auf der Ebene der Vereinbarkeit der FS mit höherrangigem Recht stattfinden.
  34. VGH BW, Urteil v. 29.04.2012, Az. 1 S 1458/12, Rn. 44.
  35. Vgl. BVerwGE 148, 133, 145; so tendenziell, aber letztlich offenlassend, auch VGH BW, Urteil v. 29.04.2012, Az. 1 S 1458/12, Rn. 46; a.A. mit entsprechender Argumentation vertretbar.
  36. BVerfGE 79, 127, 151 f.
  37. BVerwGE 148, 133, 138 m.w.N.; Lange (Fn. 23), Kap. 12 Rn. 4.
  38. Lange (Fn. 23), Kap. 12 Rn. 4.
  39. Vgl. Lange (Fn. 23), Kap. 4 Rn. 104.
  40. Aker (Fn. 14), § 35 Rn. 3.
  41. OVG Saarlouis, DÖV 1993, 964.
  42. VGH BW, VBlBW 1983, 106, 107.
  43. A.A. vertretbar.
  44. VGH BW, VBlBW 1983, 106, 107.
  45. Aker (Fn. 14), § 35 Rn. 4.
  46. s. VGH BW, VBlBW 1983, 106, 107, wo auf BVerwG, Urt. v. 15. 12. 1978 – 6 C 14/77 sowie BGH, NJW 1980, 249 Bezug genommen wird.
  47. Vgl. nochmals VGH BW, VBlBW 1983, 106, 107. Mit entsprechender Argumentation konnte auch vertreten werden, dass eine Verletzung des § 35 Abs. 1 Satz 1 GemO BW deshalb ausscheidet, weil bei der Verhandlung von TOP 12 die Tür zum Sitzungssaal noch offen stand.
  48. Näher Dols/Plate/Schulze, KommunalR BW, Rn. 55 m.w.N.
  49. BVerwGE 148, 133 140.
  50. BVerfGE 21, 73, 79; 51, 1, 41.
  51. BVerfGE 90, 1, 16 f.
  52. BVerfGE 83, 130, 145.
  53. Vgl. BVerwGE 148, 133, 141.
  54. BVerfGE 98, 106,117 m.w.N.; im konkreten Fall zweifelnd BVerwGE 148, 133, 142 f.
  55. Nolte/Tams, JuS 2006, 130, 131.
  56. VGH BW, Urteil v. 29.04.2012, Az. 1 S 1458/12, Rn. 49 m.w.N.
  57. Näher Lange (Fn. 23), Kap. 12 Rn. 28 ff.
  58. Stober, KommunalR, 3. Aufl. 1996 m.w.N.
  59. BVerwGE 117, 58, 61.
  60. Näher zum Ganzen Gern, NVwZ 1987, 851, 852 m.w.N..

Bernhard Schlink – ein Leben zwischen Prosa und Jurisprudenz

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Evelina Will*

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Vielleicht, weil die Wahrheit des Rechts ebenso in Worten und Sätzen liegt wie die Wahrheit von Geschichten und weil die Dinge hier wie dort zu ihrem Ende gebracht werden müssen.1.

So lautet Bernhard Schlinks Antwort auf die Frage nach seinem Motiv für die Doppeltätigkeit als Jurist und Schriftsteller. Mit dieser Doppelbegabung ist er unter den Juristen jedoch kein Einzelfall. Denn auch Goethe, Kafka und Tucholsky widmeten sich beiden Disziplinen. Bernhard Schlinks Œuvre sowie sein juristisches Schaffen – vornehmlich an der Humboldt-Universität zu Berlin – verdienen kurz nach seinem 70. Geburtstag und dem Erscheinen des Romans „Die Frau auf der Treppe“ eine eingehende Würdigung.

Der emeritierte Rechtsprofessor schrieb nicht nur mit Bodo Pieroth das juristische Standardwerk „Staatsrecht II Grundrechte“ (fortgeführt von Thorsten Kingreen und Ralf Poscher), um welches kein Student der Rechtswissenschaft herumkommt, sondern ist auch Verfasser des 1995 erschienenen Bestsellers „Der Vorleser“, der mittlerweile in dreiundfünfzig Sprachen übersetzt und auch in Hollywood verfilmt wurde 2.

Geboren wurde Bernhard Schlink am 06. Juli 1944 in Großdornberg bei Bielefeld. Er wuchs in einem evangelischen Theologenhaushalt in Heidelberg auf. Um die gleiche Laufbahn wie die seines Vaters als evangelischen Pfarrer einzuschlagen, war sein Glaube nicht tiefgehend genug. So entschied er sich die Gesellschaft im Wege der Juristerei zu verbessern 3 und nahm nach dem Abitur das Studium der Rechtswissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg auf. Später wechselte er an die Freie Universität Berlin. Schließlich wurde er 1975 in Heidelberg promoviert. 1981 folgte die Habilitation an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

Von 1982 bis 1991 lehrte er an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Öffentliches Recht. 4 Im Anschluss daran war er bis 1992 Professor für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Rechtsphilosophie an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main. 1992, kurz nach der Wende, ging er nach Berlin und übernahm an der Humboldt-Universität zu Berlin den Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie, wo er bis zu seiner Emeritierung 2009 lehrte. Zu seinen bekanntesten Schülern zählt Prof. Dr. Ralf Poscher, welcher gegenwärtig an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte und Rechtsphilosophie lehrt.

Darüber hinaus war Bernhard Schlink in der Zeit von 1987 bis 2006 als Richter am Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster tätig und wirkte zwischen Dezember 1989 und April 1990 als Berater am Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches der DDR mit.

Schon seit längerer Zeit zählt Bernhard Schlink zu den verlässlichen Bestsellerautoren. Exemplarisch hierfür ist das Werk „Die Frau auf der Treppe“, das im vergangenen Jahr erschien und direkt eine Spitzenreiterposition in einschlägigen Bestsellerlisten einnahm. Regelmäßig werden seine klare, schnörkellose Sprache, seine souveräne Erzählweise und seine Raffinesse im Konstruieren von Handlungen von Kritikern gewürdigt. Es ist nicht ganz fernliegend, dass Schlinks nüchterne und schmucklose Sprache seiner juristischen Herkunft zuzurechnen ist. Denn auch in dieser Disziplin gilt die Sprache als bedeutsames, ja unumgängliches Handwerkszeug.

Bernhard Schlink, der sich das Schreiben von Unterhaltungsliteratur durch begeistertes Lesen von Kriminalromanen angeeignet hat, schrieb während eines Freisemester in Aix-en-Provence mit Walter Popp seinen ersten Roman „Selbs Justiz“ (1987), der von einem etwa siebzigjährigen pensionierten Staatsanwalt und Detektiv mit einer „braunen Vergangenheit“ handelt. Auch in seinem folgenden Buch „Selbs Betrug“ (1992), das Schlink als alleiniger Autor verfasste und das sogar mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde, lässt er den Protagonisten Gerhard Selbs als Privatdetektive Kriminalfälle ermitteln. 2001 schließt Schlink die Selbs-Buchreihe mit dem Buch „Selbs Mord“ ab.

Zwischenzeitlich schrieb er den Kriminalroman „Die gordische Schleife“ (1988), wofür er 1989 den Friedrich-Glauser-Preis erhielt.

Weltweite Bekanntheit erlangte Bernhard Schlink jedoch mit seinem 1995 in Deutschland erschienenen Roman „Der Vorleser“, einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte zwischen einem fünfzehnjährigen Gymnasiasten und einer ehemaligen KZ-Aufseherin. Hierzulande wird das Werk zunächst wegen seiner inhaltlichen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit in der Leserschaft sehr verhalten aufgenommen. Entertainerin Oprah Winfrey war es, die „The Reader“ nach dem US-Start 1999 zum Buch des Monats ernannte und das Interesse der Öffentlichkeit an Bernhard Schlinks Werk weckte 5. Hierauf folgten eine rasante und außergewöhnliche (internationale) Erfolgsgeschichte und diverse Literaturpreise. Schließlich wurde das Werk „Der Vorleser“ auch in eine erfolgreiche, englischsprachige Verfilmung umgesetzt, in welcher Kate Winslet die weibliche und David Kross die männliche Hauptrolle übernahmen.

Trotz seines sensationellen Erfolges schrieb Bernhard Schlink weiter. Es folgten die Romane „Die Heimkehr“ (2006), „Das Wochenende“ (2008), „Sommerlügen“ (2010), „Gedanken über das Schreiben“ (2011) und zuletzt das o.g. Werk „Die Frau auf der Treppe“. Auch diese Bücher fanden beim Publikum immer große Resonanz.

In seinen Romanen beschäftigt sich Schlink regelmäßig mit der Vergangenheitsbewältigung und insbesondere mit der Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich in der Gegenwart. In seinen Büchern geht es primär um Lebensbilanzen, Sehnsüchte und Abgründe sowie um Verstrickungen und Schuld. Mit seinen literarischen Werken bietet er also Gelegenheit, sich noch einmal an die Vergangenheit und der dort entstandenen Schuld zu erinnern. Gleichzeitigt wirkt er auf diesem Wege dem Verdrängen und Vergessen entgegen und trägt mithin zum öffentlichen Diskurs bei. 6 So lösten Schlinks Bücher, insbesondere der Roman „Der Vorleser“, Debatten über den Umgang mit dem Holocaust in der Literatur aus. 7 Schlink musste sich Kritikern stellen, die ihm vorwarfen, dass er die Schuld der Deutschen in der Zeit des Dritten Reichs verharmlose und die Täter zur Helden seiner Romane mache. 8 Dem entgegnet der stets zurückhaltend auftretende Autor jedoch, dass die Welt sich nun mal nicht in Gut und Böse teilen ließe und „dass Menschen, die monströse Verbrechen begehen, nicht immer einfach Monster sind“ 9.

Der besondere Charakter der Romane sowie sein juristisches Schaffen machen Bernhard Schlink zu einer herausragenden Persönlichkeit. Es bleibt zu hoffen, dass er auch in den kommenden Jahren zum öffentlichen und auch fachspezifisch-juristischen Diskurs beiträgt.

 

* Die Autorin ist Studentin der Rechtswissenschaften an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im vierten Semester.

 

 


Fußnoten:

  1. Güntner, Fabulierender Jurist mit klarer Prosa – Bernhard Schlink wird 70, http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/fabulierender-jurist-mit-klarer-prosa-1.18336895 vom 06.07.2014, 05:30 Uhr.
  2. Kegel, Vergangenheit, Schuld und Sühne, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/dem-autor-bernhard-schlink-zum-siebzigsten-13017359.html vom 06.07.2014, 00:01 Uhr.
  3. dpa, Welterfolg mit „Der Vorleser“ – Bernhard Schlink wird 70, http://www.derwesten.de/kultur/literatur/welterfolg-mit-der-vorleser-bernhard-schlink-wird-70-id9545003.html .vom 01.07.2014, 19:00 Uhr.
  4. dpa, Welterfolg mit „Der Vorleser“ – Bernhard Schlink wird 70, http://www.derwesten.de/kultur/literatur/welterfolg-mit-der-vorleser-bernhard-schlink-wird-70-id9545003.html .vom 01.07.2014, 19:00 Uhr.

  5. dpa, Welterfolg mit „Der Vorleser“ – Bernhard Schlink wird 70, http://www.derwesten.de/kultur/literatur/welterfolg-mit-der-vorleser-bernhard-schlink-wird-70-id9545003.html .vom 01.07.2014, 19:00 Uhr.
  6. Kilb, Herr Schlink, ist „Der Vorleser“ Geschichte?, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/im-gespraech-bernhard-schlink-herr-schlink-ist-der-vorleser-geschichte-1100720.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 vom 20.02.2009, 16:35 Uhr.
  7. Kegel, Vergangenheit, Schuld und Sühne, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/dem-autor-bernhard-schlink-zum-siebzigsten-13017359.html vom 06.07.2014, 00:01 Uhr.
  8. dpa, Welterfolg mit „Der Vorleser“ – Bernhard Schlink wird 70, http://www.derwesten.de/kultur/literatur/welterfolg-mit-der-vorleser-bernhard-schlink-wird-70-id9545003.html .vom 01.07.2014, 19:00 Uhr.
  9. dpa, Welterfolg mit „Der Vorleser“ – Bernhard Schlink wird 70, http://www.derwesten.de/kultur/literatur/welterfolg-mit-der-vorleser-bernhard-schlink-wird-70-id9545003.html .vom 01.07.2014, 19:00 Uhr.

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- Lange, Schuldrecht AT
- Fahl/Winkler, Definitionen und Schemata Strafrecht
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- Herdegen, Völkerrecht
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Arbeitsrecht

 

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  • Die Bedeutung des Tarifeinheitsgesetzes
  • Das neue Bildungszeitgesetz Baden-Württemberg – Bedeutung und Auswirkungen des neuen § 41 Satz 3 SGB VI
  • Datenschutz im Lichte des Arbeitsrechts
  • Der Arbeitgeber als Dienstleister im Sinne des TKG – Fernmeldegeheimnis im Betrieb?
  • Anwendung der Leiharbeitsrichtlinie auf Rote-Kreuz-Schwestern? (BAG, Beschluss vom17. März 2015 – 1 ABR62/12 (A))
  • Sonstige Fragen des individuellen oder kollektiven Arbeitsrechts

Bitte verwende für die Formatierung deines Artikels den Freilaw-Autorenleitfaden, den du hier herunterladen kannst. (Stand 09/2013)

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2/2015 – Arbeitsrecht

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Das Arbeitsrecht bietet nicht nur für interessierte Studenten und Praktiker eine Vielzahl von Herausforderungen, sondern weist auch eine hohe gesellschaftliche Brisanz auf. Dies zeigen nicht zuletzt die kontrovers diskutierten Streiks der Lokführer und Postbediensteten.

Die arbeitsrechtliche Situation stellte sich in der jüngeren Vergangenheit vielfach als unübersichtliche Baustelle dar. Mit einer Menge Krach, Elan und Pressluft wurden in der letzten Bauphase gewichtige Neuerungen vorgenommen, denen sich die Ausgabe „Baustelle Arbeitsrecht“ zumindest in Teilen widmet.

In unserem Leitartikel „Studentenstatus und Nebenbeschäftigung“ beschäftigt sich Andreas Schubert mit zahlreichen arbeitsrechtlichen Fragestellungen zum Thema studentische Nebenjobs. Behandelt werden wiederkehrende Grundsatzfragen und Neuerungen im Bereich des Mindestlohngesetzes.

Im zweiten Artikel analysiert Nikita Karavaev aktuelle Fragen der „Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen“, die nicht zuletzt seit dem neuen Tarifeinheitsgesetz wieder diskutiert werden.

Es folgt eine Auseinandersetzung von Tobias Mandler mit den vieldiskutierten Dokumentationspflichten des neuen Mindestlohngesetzes. Geklärt wird die Frage, inwieweit die neuen Dokumentationspflichten auch auf Praktikanten Anwendung finden müssen.

Schließlich geben zwei Berichte Auskunft über aktuelle Neuerungen des Urlaubsrechts. Markus Meißner veranschaulicht zwei aktuelle Urteile des Bundesarbeitsgerichtes. Dargestellt werden zwei taggleich ergangene Urteile vom 10.02.2015 zur Urlaubsgewährung bei fristloser Kündigung und – im Anschluss an die Brandes-Rechtsprechung des EuGH vom 13.06.2013 – Berechnung der Urlaubshöhe bei Wechsel von Voll- in Teilzeit.

Zudem stellt Evelina Will das neue Bildungszeitgesetz Baden-Württemberg vor. Das Gesetz gewährt den Beschäftigten in Baden-Württemberg zusätzliche Urlaubstage zur Bildung in bestimmten beruflichen, politischen und ehrenamtlichen Angelegenheiten.

Den themenbezogenen Texten folgt eine Abhandlung von Tobias Ackermann, die insbesondere Klarheit in Bezug auf Versammlungsverbote betreffend Pegida und Co. zu schaffen sucht. Es werden Möglichkeiten und Grenzen bestimmt, die mit Blick auf aktuelle Entwicklungen wohl spürbar häufiger betroffen sein werden.

Darüber hinaus findet sich in der Ausgabe eine zivilrechtliche Examensklausur von Dr. Jörg Domisch zur Unterstützung der Examensvorbereitung. Zu lösen sind hier vornehmlich examensrelevante mietrechtliche Fragestellungen.

Nicht zuletzt bietet die neue Ausgabe diverse Kurzbeiträge. Manuel Leidinger stellt mit Elisabeth Selbert nicht nur eine der Mütter des Grundgesetzes vor, sondern gibt auch Einblicke in ihre bedeutende rechtliche Einflussnahme für die Handhabung des heute selbstverständlichen Art. 3 Abs. 2 GG. Daneben berichten Hannah Beck und Claire Presting über ihre Erfahrungen mit dem Willem C. Vis International Commercial Arbitration Moot 2014/2015. Schließlich gibt das von Julia Kurth geführte Interview mit Bookboon.com und campushelfer Aufschluss über deren Funktionen und Angebote. Gerade letztere sind für Studierende der Rechtswissenschaften interessant und lohnen einen genaueren Blick.

Die Redaktion wünscht viel Spaß beim Lesen!

Studentenstatus und Nebenbeschäftigung

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Andreas Schubert*

(Diesen Artikel als PDF herunterladen)

Studenten, die neben dem Studium einer Beschäftigung nachgehen möchten, sehen sich häufig einer Vielzahl nicht nur arbeitsrechtlicher Fragen gegenüber. Der folgende Beitrag soll den sich im Rahmen der Nebentätigkeit während des Studiums eröffnenden grundlegenden Frage- und Problemkreisen eine Basis zur Antwortfindung sein. Er richtet sich an Studenten aller Fachrichtungen. Im Überblick werden die wichtigsten rechtlichen Problemkreise dargestellt. Die Rechtsfragen, die sich im Rahmen dualer Studiengänge ergeben, wurden nicht berücksichtigt.

A. Grundlegendes

Vorab gilt es festzuhalten, dass sich allein aus dem Studentenstatus in arbeitsrechtlicher Hinsicht grundsätzlich keine Besonderheiten zu den gewöhnlichen Arbeitnehmern ergibt. Ein Studentenarbeitsrecht existiert nicht. Es gelten die vielmehr die allgemeinen arbeitsrechtlichen Grundsätze nach den jeweils einschlägigen Gesetzen. Diese enthalten jedoch teilweise Besonderheiten und Ausnahmeregelungen, die im Einzelfall zu berücksichtigen sind.

I. Arbeitnehmereigenschaft von Studenten

Häufig ist die Anwendbarkeit der jeweiligen Vorschriften jedoch davon abhängig, ob der Student unter den Begriff des Arbeitnehmers fällt oder nicht. Auch hier gilt es allgemein danach abzugrenzen, ob die betreffende Person sich im Rahmen eines privatrechtlichen Vertrages verpflichtet hat, Dienste in unselbstständiger Arbeit zu erbringen. 1 Wichtig ist diesbezüglich, dass es auf eine wirtschaftliche Abhängigkeit des die Arbeit Leistenden nicht ankommt, sondern die persönliche Abhängigkeit und somit die Fremdbestimmtheit der Arbeitsleistung maßgebend ist. 2

Diese Trias des Arbeitnehmerbegriffes aus privatrechtlichem Vertrag, Leistung von Diensten und Unselbstständigkeit, ist bei herkömmlichen und beliebten Nebenjobs wie beispielsweise der Kellnerei oder auch der wissenschaftliche Hilfstätigkeit an einem Lehrstuhl erfüllt.

Schwieriger kann die Zuordnung jedoch dann werden, wenn Studenten etwa im Rahmen von Promotionjobs als „Selbstständige“ bzw. „freie Mitarbeiter“ tätig werden sollen. Hier gilt es stets sorgfältig zu prüfen, ob die genannten Voraussetzungen vorliegen. Dies ist unter anderem deshalb entscheidend, weil eine Vielzahl von Arbeitnehmerrechten, wie beispielsweise der Kündigungsschutz nach dem KSchG 3, der Anspruch auf Urlaub nach dem BUrlG 4 oder auch die Fortzahlung des Entgelts im Krankheitsfall nach dem EFZG 5, davon abhängig sind, ob das in Frage stehende Verhältnis einem arbeitsvertraglichen Dienstverhältnis entspricht oder nicht. Häufig versuchen sich Arbeitgeber durch die Bezeichnung des Vertragsinhalts als „freie Mitarbeit“ oder „selbstständige Tätigkeit“ Arbeitnehmerrechten bzw. Arbeitgeberverpflichtungen zu entziehen. 6 Die Betitelung einer vertraglichen Abrede ist jedoch zweitrangig, sofern sich das Vertragsverhältnis faktisch anders darstellt. Maßgebend ist der tatsächliche Geschäftsinhalt der Tätigkeit. 7

Zur Abgrenzung ist neben der genannten Trias stets auch eine Gesamtschau des jeweiligen Falles vorzunehmen. So kann ein häufiges Tätigwerden für ein und denselben „Auftraggeber“ an sich zwar noch kein finales Indiz für eine Arbeitnehmereigenschaft sein, kommt jedoch hinzu, dass der Vertragspartner weitreichende inhaltlichen Vorgaben bezüglich der Ausführung der Tätigkeit sowie Ort und Zeit fix vorgibt, überwiegen in der Regel die Argumente für eine abhängige Tätigkeit. Eine Arbeitsvertrag ist dann zu bejahen. Arbeitnehmerbegrifflichkeit. Als Abgrenzungshilfe kann auch auf § 84 I S. 2 HGB rekurriert werden. Hiernach ist selbstständig, „wer im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann“. Im Umkehrschluss heißt das, dass als nicht selbstständig zu betrachten ist, wer wie im aufgeführten Beispiel umfangreiche Vorgaben hinsichtlich Ort und Zeit der zu erbringenden Leistung erhält. Letztlich ist jedoch stets im Einzelfall zu prüfen, ob die Voraussetzungen für ein klassisches Arbeitsverhältnis vorliegen oder nicht.

II. Versicherungspflicht

1. Krankenversicherung – Arbeitslosenversicherung

Hat man sich für eine Tätigkeit entschieden, so gilt es darauf zu achten, eine gewisse Arbeitsstundenzahl bzw. ein bestimmtes Höchsteinkommen nicht zu überschreiten. Denn Personen, die während der Dauer ihres Studiums als ordentliche Studierende einer Hochschule gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind, sind gem. § 6 Abs. 1 Nr. 3 SGB V und § 27 Abs. 4 SGB III im Rahmen der Beschäftigung von der Versicherungspflicht in der Krankenversicherung sowie der Arbeitslosenversicherung befreit. 8 Für die Zeit der Versicherungsfreiheit ist der Student in der Regel gem. § 10 SGBV über den Vater bzw. die Mutter beitragsfrei mitversichert. Die Familienversicherung geht der allgemeinen Versicherungspflicht vor, vgl. § 5 Abs. 7 S. 1 SGB V. Beschränkungen gelten diesbezüglich nur dann, wenn iSd. § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 SGB V eine gewisse Einkommensgrenze oder die Altersgrenze von 25 Jahren iSd. § 10 Abs. 2 Nr. 3 SGB V überschritten wird. Als versicherungsrelevante Einkommensgrenzen, ab denen die volle Versicherungsfreiheit nicht mehr eingreift, gelten für den Minijob derzeit noch 450 Euro, vgl. § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV. Ab 450,01 Euro bis 850,00 Euro, den sog. Midijob, ist eine gestaffelte Sozialversicherungspflichtigkeit gegeben, § 20 Abs. 2 SGB IV . 9

Die aufgenommene Tätigkeit darf überdies nicht im Vordergrund stehen. Arbeitskraft und Zeit müssen überwiegend dem Studium gewidmet werden. 10 Die Nebentätigkeit muss somit dem Studium nach Zweck und Dauer untergeordnet sein. 11 Dies ist nach der Rechtsprechung immer dann anzunehmen, wenn die Tätigkeit einen zeitlichen Umfang von 20 Stunden pro Woche nicht übersteigt. 12 Ausnahmsweise kann der Höchstumfang von 20 Stunden auch überschritten werden. Dies ist dann der Fall, wenn die Tätigkeit überwiegend am Wochenende oder in den Abend- bzw. Nachtstunden absolviert wird. 13 Dies ist jedoch vom jeweiligen Einzelfall abhängig. Werden beispielsweise als Sitzwache im Krankenhaus von Freitag bis Mittwoch Nachtschichten „geschoben“, wird kaum noch anzunehmen sein, dass das Studium den Vorrang vor der Beschäftigung im Klinikum genießt. Zudem gilt die Beschränkung nicht in der vorlesungsfreien Zeit. 14 Während dieser Phase kann also unter Beachtung der versicherungsrechtlichen Grenzen so viel gearbeitet werden, wie die eigene Körperkraft hergibt und es die gesetzlichen Bestimmungen, insbesondere das ArbZG, erlauben.

Anders ist dies jedoch, wenn ein Urlaubssemester eingelegt wird, um etwa die Studentenkasse aufzufüllen. Dann greift das Werkstudentenprivileg nicht. 15

Bei Absolventen der Rechtswissenschaften ist überdies erwähnenswert, dass die Versicherungsfreiheit weiterbesteht, wenn der Erstversuch der juristischen Staatsprüfung bestanden wurde, man jedoch immatrikuliert bleibt, um den Verbesserungsversuch wahrzunehmen. 16 Relevant ist allerdings auch dort der zeitliche Umfang der Nebentätigkeit. 17 Nicht von der Versicherungspflicht befreit ist im Gegensatz zum weiterführenden Zweit- oder Drittstudium 18 indes der Promotionsstudiengang. 19

2. Rentenversicherung

In der Rentenversicherung existiert kein vergleichbares Werkstudentenprivileg. Nach dem SGB VI ist grundsätzlich jedermann versicherungspflichtig. Für Studenten sind insofern die Einkommensgrenzen maßgebend. Das bedeutet, Versicherungsfreiheit tritt dann ein, wenn das Gehalt die 450,00 Euro nicht überschreitet. Doch besteht auch dann die Möglichkeit, sich von der Versicherungsfreiheit befreien zu lassen, vgl. § 6 Abs. 1b SGB VI. Wer also frühzeitig rentenversicherungstechnische Vorsorge betreiben will und auf die Abführungsbeiträge nicht angewiesen ist, kann auch im Nebenjob für das Rentenalter Beiträge leisten.

3. Pflegeversicherung

Die Pflegeversicherung knüpft wiederum in § 20 Abs. 1 S. 1 Nr. 9 SGB IX an die Versicherungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung des SGB V an. Insofern gelten die diesbezüglich gemachten Ausführungen entsprechend. 20

B. Rechte während der Nebenbeschäftigung

I. Kündigungsschutz

1. Gesetzlicher Kündigungsschutz und allgemeine Kündigungsvoraussetzungen

Wird neben dem Studium eine Beschäftigung ausgeübt, so geschieht es nicht selten, dass gerade die geringfügig beschäftigten Personen, wozu Studenten allein aufgrund versicherungstechnischen Gründen (s.o.) häufig gehören, nach dem amerikanischen Prinzip hire and fire einfach „vor die Tür“ gesetzt werden.

Das Kündigungsschutzgesetz (KSchG) differenziert jedoch nicht danach, in welchem Umfang eine Person tätig wird. Sofern der betriebliche Anwendungsbereich des § 23 Abs. 1 KSchG eröffnet ist 21, ist es ausreichend, wenn die betreffende Person nach den o.g. Kriterien die Stellung eines Arbeitnehmers inne hat und das Arbeitsverhältnis mindestens sechs Monate bestand, vgl. § 1 Abs. 1 KschG. In diesem Fall kann die betreffende Person die sich aus dem KSchG ergebenden Rechte gerichtlich geltend machen. Zwingend ist jedoch dann die Beachtung der dreiwöchigen Frist nach Zugang der Kündigung, § 4 Abs. 1 KschG. Anderenfalls präkludiert der Arbeitnehmer mit seinem Begehren.

Überdies ist auch im Rahmen von Kündigungen geringfügig Beschäftigter der Sonderkündigungsschutz, etwa des MuSchG, zu beachten. Wer also neben dem Studium jobbt und schwanger wird, unterfällt dem Anwendungsbereich des MuSchG ist über § 9 MuSchG geschützt. 22 Wird dies seitens des Arbeitgebers nicht berücksichtigt, ist die Kündigung offensichtlich unwirksam und das Arbeitsverhältnis besteht fort.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass eine wirksame Kündigung stets den Zugang einer schriftlichen Kündigungserklärung voraussetzt, vgl. § 623 BGB. Eine lediglich mündlich oder elektronisch erfolgte Kündigungserklärung ist von vornherein unwirksam. Ebenfalls ist gem. § 623 Hs. 2.BGB die elektronische Form der Kündigung ausgeschlossen. Eine Kündigung per E-Mail oder Kurznachricht erfüllt die Schriftformvoraussetzung somit nicht. Nach § 126 Abs. 1 BGB muss die Kündigung vielmehr die schriftliche Erklärung, dass gekündigt werden soll sowie die Unterschrift des Kündigenden enthalten. 23 Ist dies nicht der Fall ist die Kündigungserklärung bereits nichtig, vgl.§ 125 S. 1 BGB.

Zudem ist zwingende Kündigungsvoraussetzung, dass der Betriebsrat, soweit vorhanden, vor Ausspruch der Kündigung angehört wird. Zwar ist ein Widerspruch des Betriebsrates für den Arbeitgeber kein Hinderungsgrund die Kündigung dennoch auszusprechen. 24 Erfolgt jedoch keine Betriebsratsbeteiligung, so ist die Kündigung bereits offensichtlich unwirksam, vgl. § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG.

Erhält man eine aus den o.g. Gründen offensichtlich unwirksame Kündigung, so hat man grundsätzlich einen gerichtlich einklagbaren Anspruch auf Weiterbeschäftigung. 25 Bei Zweifelsfragen, auch wenn die überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine offensichtliche Unwirksamkeit spricht, ist jedoch Vorsicht geboten. 26 Dann sollten, sofern ein Interesse an der Beibehaltung der Arbeitsstelle besteht, innerhalb von drei Wochen Kündigungsschutzklage erhoben werden.

2. Gesetzliche Kündigungsfristen

Neben den genannten Kündigungsvoraussetzungen sind seitens des Arbeitgebers auch bestimmte Kündigungsfristen einzuhalten. Diese ergeben sich im Wesentlichen aus § 622 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1-7 BGB. Grundsätzlich gilt also eine Kündigungsfrist von vier Wochen zum Fünfzehnten oder zum Ende eines Kalendermonats. Für Arbeitsverhältnisse, die länger als die in Abs. 2 genannten Zeiträume bestanden haben, gelten gesonderte Kündigungsfristen.

So schreibt § 622 Abs. 2 Nr. 1 BGB beispielsweise für ein Arbeitsverhältnis das länger als zwei Jahre bestanden hat, einen Monat zum Ende eines Kalendermonats vor. Bestand das Arbeitsverhältnis bereits fünf Jahre, beträgt die Kündigungsfrist nach § 622 Abs. 2 Nr. 2 BGB bereits zwei Monate. Gem. § 622 Abs. 4 und Abs. 5 BGB können jedoch aufgrund Tarifvertrag oder individualvertraglicher Vereinbarung andere und nach Tarifvertrag vor allen Dingen auch kürzere Fristen gelten. 27

Die durch den Arbeitnehmer einzuhaltenden Kündigungsfristen ergeben sich grundsätzlich aus dem Arbeitsvertrag. § 622 BGB gilt nur für den Arbeitgeber, schreibt in Abs. 6 jedoch vor, dass für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses keine längere Frist vereinbart werden darf als für die Kündigung durch den Arbeitgeber. Hierdurch wird der Arbeitnehmer vor einseitig festgelegten, überlangen Kündigungsfristen und -erschwernissen geschützt. 28

II. Anspruch auf Erholungsurlaub

1. Grundsätzlicher Anspruch auf Erholungsurlaub

Ein weiteres elementares Arbeitnehmerrecht, welches im Rahmen von geringfügigen Beschäftigungen gerne „unter den Teppich gekehrt“ wird, ist der Anspruch auf Erholungsurlaub. Nach § 1 BurlG hat jeder Arbeitnehmer in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub. Dieser steht jedem Arbeitnehmer, also auch dem geringfügig Beschäftigten, nach Erfüllung der Wartezeit von sechs Monaten 29 zu und beträgt bei in Vollzeit Beschäftigten mindestens 24 Werktage, vgl. § 3 Abs. 1 und § 4 BUrlG. Dem Arbeitgeber bleibt es überlassen mehr Urlaub zu gewähren. Von der in § 3 BUrlG vorgeschriebenen Urlaubsdauer kann individualvertraglich nicht zuungunsten des Arbeitnehmers abgewichen werden. Dies ist nur durch Tarifvertrag möglich, auf welchen auch durch arbeitsvertragliche Bezugnahme rekurriert werden kann. 30 Etwaige Aussagen von Arbeitgebern, dass geringfügige Beschäftigte keinen Anspruch auf Urlaub haben, sind juristisch bedeutungslos.

Für Personen im Nebenjob ist die Anzahl der Urlaubstage entsprechend auf die Anzahl der Wochenarbeitstage „herunterzurechnen“. Dies geschieht nach allgemeiner Ansicht 31 folgendermaßen: Urlaubsdauer (24 Tage)/Werktage pro Woche (grds. 6 pro Woche/ggf. 5) 32 x Arbeitstage pro Woche. Arbeitete man also einen Wochenarbeitstag pro Monat neben dem Studium so stünden einem 4 Tage Urlaub auf das Jahr gerechnet zu (24/6×1=4).

Gem. § 7 Abs. 3 S. 1 BurlG muss der Urlaub im laufenden Kalenderjahr genommen und gewährt werden. Eine Übertragung in das Folgejahr ist zwar möglich. Allerdings muss der Urlaub dann bis spätestens 31.3. des Folgejahres genommen und gewährt werden. Anderenfalls verfällt der Urlaubsanspruch. 33

b) Abgeltung des Urlaubsanspruchs

Kann der Urlaub aufgrund einer vorzeitigen Kündigung oder Vertragsauflösung nicht genommen werden, ist er gem. § 7 Abs. 4 BUrlG abzugelten. Dieser Anspruch stellt einen Geldanspruch für den wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr erfüllbaren Anspruch auf Befreiung von der Arbeitspflicht dar. 34 Der Anspruch entsteht mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses und wird iSd. sofort fällig, vgl. § 271 Abs. 1 BGB. Verzug setzt jedoch erst mit Geltendmachung des Anspruches ein. 35 Hinsichtlich der Verjährung des Abgeltungsanspruchs gelten die allgemeinen Verjährungsvorschriften des BGB, so dass gem. § 195 BGB der Anspruch grundsätzlich innerhalb von drei Jahren verjährt. Nach dem BAG gilt dies jedoch nur dann, sofern nicht etwa ein Tarifvertrag kürzere Ausschlussfristen vorsieht. 36 Insofern gilt es auch hier, sich den Arbeitsvertrag genau anzusehen.

III. Entgeltfortzahlungsansprüche

Neben dem Urlaubsanspruch sind Entgeltfortzahlungsansprüche nicht zu unterschätzende Arbeitnehmerrechte, welche bei geringfügig Beschäftigten häufig missachtet werden.

1. Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall

Denn im Falle unverschuldeter Krankheit 37 steht, bei mindestens vierwöchiger Beschäftigungsdauer, auch dem Studenten in seinem Nebenjob gem. § 3 Abs. 1, 3 EFZG ein Anspruch auf Fortzahlung des arbeitsvertraglich festgelegten Entgelts zu. Das EFZG differenziert im Rahmen der Fortzahlungspflicht nicht nach Einkommenshöhe, so dass auch geringfügig Beschäftigte erfasst sind. 38 Der Anspruch entsteht mit dem ersten Krankheitstag und endet spätestens nach sechs Wochen, § 3 Abs. 1 EFZG. Wird man als Student also beispielsweise im Winter von der Grippewelle erfasst und kann daher Nebentätigkeit nicht ausführen, steht einem, ggf. nur unter Vorlage eines ärztlichen Attestes, der Arbeitslohn für die Krankheitszeit dennoch zu. Die Höhe des fortzuzahlenden Entgelts richtet sich gem. § 4 Abs. 1 EFZG nach dem ihm für die maßgebende regelmäßige Arbeitszeit zustehenden Entgelts. Hierbei handelt es sich in der Regel lediglich um die allgemeine Grundvergütung. 39 Trinkgeld beispielsweise gehört nicht hierzu. 40 Sehr wohl erfasst sind jedoch alle Zulagen und Zuschläge, die außergewöhnliche Arbeitsleistungen zusätzlich zum Entgelt honorieren sollen. Dies sind beispielsweise bestimmte Gefahren-, Erschwernis- oder auch Sonn-, Feiertags- und Nachtzulagen. 41.

Nach Ablauf der sechs Wochen springt bei „normalen Arbeitnehmern“ in der Regel die Krankenversicherung des Beschäftigten ein. Da der Minijob jedoch grundsätzlich nicht von der Krankenversicherung erfasst wird, entfallen dort auch die Bezüge von Krankengeld. 42

2. Feiertagsvergütung

Fällt der eigentliche Arbeitstag auf einen Feiertag, so steht dem geringfügig beschäftigten Arbeitnehmer gem. § 2 Abs. 1 EFZG das Arbeitsentgelt zu, das er ohne den Arbeitsausfall erhalten hätte. Das EFZG differenziert auch diesbezüglich nicht hinsichtlich des Umfanges der Tätigkeit. Somit gilt das allgemeine Lohnausfallprinzip. Hiernach muss der Arbeitgeber den Arbeitnehmer inklusive etwaigen Zuschlägen 43 so stellen, wie er gestanden hätte, wenn die Arbeit nicht infolge des Feiertages ausgefallen wäre. 44

Ist der regelmäßige Arbeitstag der betreffenden Person beispielsweise der Mittwoch und fällt auf diesen einen gesetzlicher Feiertag, so hat der Beschäftigte den Lohn zu erhalten, den er erhalten hätte, wenn er tatsächlich gearbeitet hätte. Ein Anspruch auf Feiertagsvergütung besteht jedoch nicht, wenn der Beschäftigte an dem in Frage stehenden Feiertag seinen freien Tag hatte, oder nach dem Dienstplan nicht eingeteilt war. 45 Auch bei Arbeit auf Abruf besteht grundsätzlich ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Allerdings muss die betreffende Person nachweisen können, dass ihre Arbeitskraft ohne Feiertag mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit abgerufen worden wäre. 46

IV. Mindestlohn

Seit dem 1. Januar 2015 gilt in Deutschland der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro. Dieser erstreckt sich nach § 1 Abs. 1 MiLoG zunächst einmal auf jeden Arbeitnehmer. Somit entfaltet das MiLoG seine Wirksamkeit auch im Rahmen von geringfügigen Nebenbeschäftigungen.

Die Frage, die sich jedoch stellt, ist, ob der Mindestlohn auch im Rahmen von Praktika gilt, die aufgrund der jeweiligen Prüfungsordnung verpflichtend im Rahmen des Studiums abzuleisten sind. § 22 Abs. 1 Nr. 1 MiLoG schreibt diesbezüglich vor, dass Praktikanten, „die ein Praktikum verpflichtend auf Grund einer schulrechtlichen Bestimmung, einer Ausbildungsordnung, einer hochschulrechtlichen Bestimmung oder im Rahmen einer Ausbildung an einer gesetzlich geregelten Berufsakademie leisten“ nicht unter den Anwendungsbereich des MiLoG fallen. Dies bedeutet also, dass studienbedingte Pflichtpraktika von der Mindestlohnvergütung ausgenommen sind und ein Anspruch auf Zahlung des Mindestlohnes nicht besteht. Die praktische Studienzeit im Rahmen der Juristenausbildung etwa, die Famulatur oder das praktische Jahr im Rahmen der Medizinerausbildung oder das Pflichtpraxissemester im Rahmen eines Lehramtsstudiums sind nicht vom Mindestlohn erfasst.

V. Mitbestimmung

Ein weiteres Arbeitnehmerrecht ist die Mitbestimmung im Betrieb. Auch diesbezüglich wird im Gesetz grundsätzlich nicht danach differenziert, welches Volumen der jeweilige Arbeitsvertrag vorsieht. 47 Geringfügig Beschäftigte fallen unter den Arbeitnehmerbegriff des BetrVG 48 und sind hinsichtlich der Betriebsratswahl sowohl aktiv als auch passiv wahlberechtigt. 49 Allein die Beschäftigungsdauer von mehr als drei Monaten iSd. § 7 BetrVG stellt eine Hürde hinsichtlich der Wahlberechtigung dar. Wer sich also als Betriebsrats um die Belange der Arbeitnehmerschaft kümmern möchte, kann dies unabhängig von Arbeitsdauer und Verdienst tun – vorausgesetzt man wird gewählt.

C. Fazit

Die Auseinandersetzung mit den Arbeitnehmerrechten und ein Blick in die einschlägigen Gesetze lohnt sich. Studenten stehen grundsätzlich alle Arbeitnehmerrechte zu. Dies gilt unabhängig davon, in welchem Umfang man letztlich für seinen Arbeitgeber tätig wird und ob man neben dem Studium oder in Vollzeit arbeitet. Gerade in Sachen Kündigung, Urlaub und Entgeltfortzahlung liegen wichtige arbeitsrechtliche Bausteine, die einem, einmal im Grundsatz verstanden, ein Leben lang wertvolle Helfer sein können. Vor allem im Rahmen geringfügiger Beschäftigungen und schnell neu besetzbarer Arbeitsplätze wird oftmals Schindluder mit den Angestellten getrieben. Derartigem Verhalten kann man jedoch häufig schon durch einen bloßen Hinweis auf die anders liegende Rechtslage wirksam entgegentreten.

 

*Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle für Hochschularbeitsrecht, Prof. Dr. Dr. h.c. Manfred Löwisch.


Fußnoten:

  1. Zum Arbeitnehmerbegriff und seinen Abgrenzungen im Einzelnen siehe Löwisch/Caspers/Klumpp, AR, 10. Auflage 2014, Rn. 4 ff.
  2. BAG vom. 12.12.2001 – 5 AZR 253/00, AP Nr. 111 zu § 611 BGB Abhängigkeit = NZA 2002, 787, 788. Wirtschaftliche Abhängigkeit ist vor allem kennzeichnend für die arbeitnehmerähnlichen Personen, vgl. bspw. § 5 Abs. 1 S. 2 ArbGG oder § 2 S. 2 BurlG, vgl. hierzu und zur Abgrenzung zum herkömmlichen Arbeitnehmer Kolbe, in: Dornbusch/Fischermeier/Löwisch (Hrsg.), AR, 7. Auflage 2015, § 6 GewO, Rn. 70 ff.
  3. Hierzu sogleich unter II.1.
  4. Hierzu sogleich unter II.2.
  5. Hierzu sogleich unter II.3.
  6. Wichtig ist hierbei auch, dass nach Ansicht des BAG, sofern aus einem sozialversicherungsfreien ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis wird, kein Kündigungsgrund gegeben ist, vgl. für den Minijob BAG vom 18.1.2007 – 2 AZR 731/05, NZA 2007, S. 680.
  7. Löwisch/Caspers/Klumpp, Arbeitsrecht, 10. Auflage 2014, Rn. 4; neu für den Begriff des Praktikanten siehe § 22 Abs.1 S. 2 MiLoG.
  8. Eine Versicherungspflicht als Student besteht dennoch, vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 9 und 10 SGB V. Allerdings ist die Beitragsabführung nicht prozentual an das Einkommen gekoppelt. Zudem besteht die Möglichkeit bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres über die Familienversicherung mitversichert zu werden.
  9. Vgl.zudem Artikel I des Gesetzes vom 23. Dezember 1976, BGBl. I S. 3845.
  10. Just, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, 4. Auflage 2014, § 6, Rn. 24.
  11. BSG, SozR 3-2500, § 6 Nr. 16, S. 54 f.
  12. BSG NZS 2004, 270 , SozR 4-2500 § 6 Nr. 3; Just, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, 4. Auflage 2014, § 6, Rn. 24.
  13. BSG NZS 2004, 270, SozR 4-2500 § 6 Nr. 3.
  14. Just, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, 4. Auflage 2014, § 6, Rn. 24.
  15. BSG 29.9.1992 SozR 3-2500 § 6 Nr. 2.
  16. Just, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, 4. Auflage 2014, § 6, Rn. 23.
  17. BSG NZS 2004, 270 , SozR 4-2500 § 6 Nr. 3; BAG AP BGB § 611 Werkstudent Nr. 8.
  18. BSG LSK 1993, 210050 , SozR 3-2200 § 172 Nr. 2.
  19. BayLSG BeckRS 2010, 65581.
  20. Vgl. etwa Baier, in: Krauskopf (Hrsg.), Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, 87. Ergänzungslieferung Februar 2015, § 20 SGB IX, Rn. 21.
  21. Grundsätzlich müssen im Betrieb mehr als 10 Arbeitnehmer beschäftigt sein. Wer alles zu den Arbeitnehmern zu zählen ist, ist im Einzelfall schwer zu beantworten. Vgl. umfassend hierzu Löwisch, in: Löwisch/Spinner/Wertheimer(Hrsg.), KSchG, § 23, Rn. 21ff.
  22. Vgl. Buchner/Becker, in: Buchner/Becker (Hrsg.), Mutterschutzgesetz und Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz, 8. Auflage 2008, Rn. 39ff.
  23. Löwisch, in: Löwisch/Spinner/Wertheimer (Hrsg.), KSchG, Vor. § 1, Rn. 72.
  24. Koch, in: Ascheid/Preis/Schmidt (Hrsg.), Kündigungsrecht, 4. Auflage 2012, § 102 BetrVG, Rn. 237f.
  25. Koch, in: Ascheid/Preis/Schmidt (Hrsg.), Kündigungsrecht, 4. Auflage 2012, § 102 BetrVG, Rn. 237f.
  26. Koch, in: Ascheid/Preis/Schmidt (Hrsg.), Kündigungsrecht, 4. Auflage 2012, § 102 BetrVG, Rn. 238.
  27. Siehe hierzu Fischermeier, in: Dornbusch/Fischermeier/Löwisch (Hrsg.), Arbeitsrecht, 7. Auflage 2015, § 622 BGB, Rn. 9.
  28. Fischermeier, in: Dornbusch/Fischermeier/Löwisch (Hrsg.), Arbeitsrecht, 7. Auflage 2015, § 622 BGB, Rn. 19.
  29. Diese kann vertraglich abbedungen werden, vgl. Gutzeit, in: Dornbusch/Fischermeier/Löwisch (Hrsg.), Arbeitsrecht, 7. Auflage 2015, § 13 BUrlG, Rn. 12.
  30. Vgl. umfangreich hierzu Gutzeit, in: Dornbusch/Fischermeier/Löwisch (Hrsg.), Arbeitsrecht, 7. Auflage 2015, § 13 BUrlG, Rn. 1 und 10ff.
  31. Str. siehe Gutzeit, in: Dornbusch/Fischermeier/Löwisch (Hrsg.), Arbeitsrecht, 7. Auflage 2015, § 3 BUrlG, Rn. 5.
  32. Zur Festlegung der Sechstage-Woche als Berechnungsgrundlage Gutzeit, in: Dornbusch/Fischermeier/Löwisch (Hrsg.), Arbeitsrecht, 7. Auflage 2015, § 3 BUrlG, Rn. 5.
  33. Weiterführend Gutzeit, in: Dornbusch/Fischermeier/Löwisch (Hrsg.), Arbeitsrecht, 7. Auflage 2015, § 7 BUrlG, Rn. 30ff.
  34. Grds. noch zur heute aufgegebenen Surrogationstheorie, BAG vom 18.6.1980, 6 AZR 328/78, AP BurlG § 13 Unabdingbarkeit Nr. 6. Zur europarechtlichen Problematik der vom BAG angewandten Surrogationstheorie für Abgeltungsansprüchen bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit siehe EuGH vom 20.1.2009, C-520/06 , NZA 2009, S. 135.
  35. BAG vom 12.3.2013, 9 AZR 292/11 , NZA 2014, S. 51.
  36. BAG vom 9.8.2011, 9 AZR 365/10. Vom BAG anerkannt und unionsrechtlich als nicht beanstandungsfähig erachtet wurde auch eine tarifliche Ausschlussfrist von drei Monaten, BAG vom 13.12.2011, 9 AZR 399/10.
  37. Zum Begriff des Verschuldens siehe Vossen, in: Dornbusch/Fischermeier/Löwisch (Hrsg.), Arbeitsrecht, 7. Auflage 2015, § 3 EFZG, Rn. 29.
  38. Ricken, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching (Hrsg.), Beck’scher Onlinekommentar zum EFZG, Stand 1.6.2015, § 3, Rn. 4.
  39. Weiterführend Vossen, in: Dornbusch/Fischermeier/Löwisch (Hrsg.), Arbeitsrecht, 7. Auflage 2015, § 4 EFZG, Rn. 9 ff.
  40. LAG Rheinland-Pfalz vom 9.12.2010, 10 Sa 483/10, LAGE § 107 GewO 2003 Nr. 1; BAG vom 28.6.1995 7 AZR 1001/94, EzA § 11 BUrlG Nr. 38.
  41. BAG vom 1.12.2004, 5 AZR 68/04, EzA § 4 EFZG Tarifvertrag Nr. 52; 14.1.2009.
  42. Vgl. Waltermann, NJW 2013, S. 118, 120.
  43. BAG vom 18.3.1992, DB 1992, S. 1939.
  44. BAG vom 14.8.2002, 5 AZR 417/01, EzA § 2 EFZG Nr. 4; BAG vom 27.3.2014, 6 AZR 621/12, juris.
  45. BAG vom 24.1.2001, 4 AZR 538/99, NZA 2001, S. 1026.
  46. BAG vom 24.10.2001, 5 AZR 245/00, ArbuR 2002, S. 197.
  47. Allgemein zur Wahlberechtigung siehe Löwisch/Kaiser, BetrVG, 6. Auflage 2010, § 7, Rn. 1 ff sowie Koch, in: Schaub (Hrsg.), Arbeitsrechts-Handbuch, 15. Auflage 2013, § 217,Rn 11ff.
  48. BAG vom 30.10.1991, 7 ABR 19/91, BB 1992, S. 1356.
  49. BAG vom 29.1.1992, AP BetrVG 1972 § 7 Nr 1; in der Literatur str. siehe Thüsing, in Richardi (Hrsg.), BetrVG, § 7, Rn. 31 ff.; a.A. unter Verweis auf die geringfügigkeitsgrenze des § 8 SGB IV Hanau, FS G. Müller, S.  169, 172 ff.; Berger-Delhey, AfP 1990, S.  340, 344 f. und 1991, S.  566, 569 f.

Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen – Zwischen Vision und Realität

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Nikita Karavaev*

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Dieser Beitrag beruht auf einem Einführungsvortrag des Autors zu einem Vortrag von Prof. Dr. Wolfgang Däubler am 05.11.2014 in den Räumen der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

I. Einleitung

Es tut sich was im Arbeitsrecht: Das Tarifautonomiestärkungsgesetz mit Mindestlohn und neugeregelter Allgemeinverbindlichkeitserklärung 1, das Tarifeinheitsgesetz 2 – in kurzer Zeit wurden – ungeachtet ihrer Bewertung im Einzelnen – weitgehende, um nicht zu sagen historische Reformen verabschiedet. Der letzte ambitioniertere Reformversuch bei der betrieblichen Beteiligung und Mitbestimmung der Arbeitnehmer ist indes mit der Novelle des BetrVG im Jahr 2001 3 zum einen bald 15 Jahre her und blieb zum andern weit hinter den Erwartungen zurück 4. Über Reformen der deutschen Gesetze über die Beteiligung der Arbeitnehmer in Aufsichtsräten größerer Kapitalgesellschaften wurde zwar immer wieder intensiv diskutiert 5 – geschehen ist wenig. Angesichts gravierender wirtschaftlicher und rechtlicher Veränderungen im Zuge der europäischen Marktintegration und der weltweiten Deregulierung der Märkte sowie der erwarteten strukturellen Veränderungen im Zuge der Digitalisierung der Arbeitswelt, die in jüngster Zeit zunehmend diskutiert werden 6, stellt sich die Frage: Wo steht gegenwärtig die Mitbestimmung im Betrieb und Unternehmen? Hat sie noch mit der Realität der heutigen – sich schnell wandelnden – Wirtschafts- und Arbeitswelt zu tun oder ist sie nur noch ein Relikt des 20. Jahrhunderts? Was ist aus der Vision der Demokratisierung der Wirtschaft geworden, über die spätestens seit der Finanz- und Wirtschafskrise von 2008 wieder vermehrt diskutiert wird 7? Auf diese Fragen wird im Folgenden eingegangen.

II. Von der Vision zur Realität: Zur Entwicklung und ideengeschichtlichen Einordnung der Mitbestimmung

Irgendwo zwischen Vision und Realität – meist etwa auf halber Strecke – liegt das Gesetz. Trotz der zuweilen größeren Diskrepanz zwischen Gesetzen und der Wirklichkeit – auch und gerade bei der Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen 8 – war es ein Erkenntnisfortschritt als Henri Lacordaire, ein bekannter französischer Prediger des 19. Jahrhunderts, einmal meinte: „Zwischen dem Starken und dem Schwachen, zwischen dem Reichen und dem Armen, zwischen dem Herrn und dem Diener ist es die Freiheit, die unterdrückt und das Gesetz, das befreit“ 9. War es doch die klare Einsicht in eine Realität, die zeigte, dass die Gewährleistung des Eigentums, der Vertrags- und Gewerbefreiheit zur Verwirklichung der klassischen liberalen Vision von der freien Entfaltung der Menschen nicht genügt. In besonderer Schärfe zeigte sich dies im Verhältnis von Fabrikeigentümern und Arbeitern: Zwar war das Arbeitsverhältnis kein sachenrechtliches Verhältnis mehr, der Arbeiter nicht mehr – als Sklave oder Leibeigener – Eigentum seines Herren, sondern formal freiwillig Vertragspartner seines Arbeitgebers 10. Auf den Inhalt des Arbeitsverhältnisses, also die genaue Tätigkeit, die Reichweite des Weisungsrechts des Arbeitgebers, das Arbeitsentgelt und sonstige Pflichten des Arbeitgebers, Kündigungs-, Urlaubsregelungen, etc. hatte der Arbeitnehmer, infolge seiner in den gesellschaftlichen Strukturen – insbesondere in den Eigentumsverhältnissen – begründeten Unterlegenheit gegenüber dem Arbeitgeber 11, faktisch keinen Einfluss. Angesichts dieser – von sich zuspitzenden sozialen Konflikten gekennzeichneten – Realität der Industrialisierung rückten Forderungen nach der Verbesserung der Rechtsstellung der Arbeitnehmer ins Zentrum gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen.

>Die zunehmende Etablierung der parlamentarischen Demokratie brachte politische Freiheit. Das Machtungleichgewicht in Betrieb und Unternehmen zulasten der Arbeitnehmer, deren Abhängigkeit und Unterordnung unter das Bestimmungsrecht der Betriebs- und Unternehmenseigentümer blieben aber – zunächst jedenfalls – weitgehend unangetastet 12. Ja selbst die tatsächliche Reichweite der politischen Freiheit kann angesichts der zunehmenden Konzentration wirtschaftlicher Macht zumindest kritisch hinterfragt werden. Es war ein Vordenker einer liberalen wirtschaftswissenschaftlichen Denkschule, des sogenannten Ordoliberalismus, nämlich Walter Eucken, der in den 1940er Jahren den bekannten Satz äußerte: “Es sind also nicht die sogenannten Missbräuche wirtschaftlicher Macht zu bekämpfen, sondern wirtschaftliche Macht selbst.” 13 Ein Gedanke, dem auch in den Auseinandersetzungen um die Mitbestimmung der Arbeitnehmer auf Unternehmensebene eine bedeutende Rolle zukam 14.

Der Versuch, die Idee von der Befreiung der Arbeiterschaft aus ihrer kapitalistischen Unterordnung in der Weise durchzusetzen, dass eine sich als „Avantgarde“ der Arbeiterschaft verstehende politische Führungsriege die ungeteilte Macht übernahm, brachte nicht nur keine wirtschaftliche Freiheit, sondern beseitigte auch die politische und erwies sich als Irrweg 15.

Als Alternative entwickelten in der Weimarer Republik Vordenker wie Hugo Sinzheimer und Fritz Naphtali im Auftrag des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes die Vision einer Wirtschaftsdemokratie 16. Sie wurde als notwendige Ergänzung der politischen Demokratie zur Verwirklichung der Vision einer Gesellschaft angesehen, in der – wie zwei andere Vordenker es einst formulierten – „die freie Entwicklung eines jeden, die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ 17. Als erste Elemente der Wirtschaftsdemokratie sahen Naphtali und die anderen die – als Errungenschaften der Novemberrevolution von 1918 – in der Weimarer Republik bestehenden rechtlichen Vorgängereinrichtungen des heutigen kollektiven Arbeitsrechts an 18.

Dem heutigen kollektiven Arbeitsrecht, zu dem auch die Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen gehört, liegen mithin visionäre Vorstellungen von einer freien und gerechten Gesellschaft zugrunde, wie sie in vergangenen Jahrhunderten entwickelt und weiterentwickelt wurden. Zu den auf diesem Weg gewonnen Erkenntnissen gehört vor allem folgende: Wirkliche Freiheit kann es nur zwischen annährend gleich starken Personen oder Gruppen geben und Aufgabe des Gesetzgebers – zumal eines demokratischen und dem Gemeinwohl verpflichteten – ist es, wo es geht, ein entsprechendes Gleichgewicht der Kräfte zu gewährleisten und wo es nicht geht, mit Gesetzen zum Schutz des Schwächeren direkt in die Verhältnisse zwischen den Privatpersonen einzugreifen. Auf diesem Gedanken beruhen mit dem Gegengewichts- und Paritätsprinzip 19 auch Prinzipien, die unserem heutigen kollektiven Arbeitsrecht zugrunde liegen. Sie besagen in etwa, dass Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite etwa gleiche Durchsetzungschancen haben müssen, damit die Vertragsfreiheit aller Seiten zur Geltung und ein gerechter Interessenausgleich zustande kommen kann.

Das heutige kollektive Arbeitsrecht besteht aus – je nach Einteilung – drei bis vier Einrichtungen, die von Arbeitnehmerseite über die Jahrzehnte erkämpft wurden und sich spätestens in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts etabliert haben: Das – in Deutschland seit 1949 im TVG geregelte – Recht der Arbeitnehmer, Arbeitsbedingungen kollektiv und verbindlich mit den Arbeitgebern auszuhandeln, das aus der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG abgeleitete Streikrecht und die Beteiligung und Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Betrieb und auf Unternehmensebene; letzteres besonders in den Aufsichtsräten größerer Kapitalgesellschaften. In ihrem Bericht von 2006 verglichen die wissenschaftlichen Mitglieder der von der Bundesregierung eingerichteten Kommission zur Modernisierung der deutschen Unternehmensmitbestimmung das mit einem „System kommunizierender Röhren“ im Sinne sich ergänzender Instrumente eines kollektiven Interessensausgleichs 20. Letzterer sollte – jedenfalls der Idee nach – die reine Ausbeutung der Arbeitskraft durch eine Verhandlungsordnung ersetzen, die der Arbeitnehmerseite reale Durchsetzungschancen bietet. Dieser Gedanke trug auch der in der Bundesrepublik entwickelten Grundrechtsordnung, besonders auch dem ihr zugrunde liegenden Würdeschutz, sowie der sozialen Marktwirtschaft Rechnung 21.

Trotz ihrer so grundlegenden Bedeutung für die Gestaltung der Wirtschafts- und Arbeitsbeziehungen in der Bundesrepublik waren die genannten Einrichtungen in der Realität zu keinem Zeitpunkt unumstritten. Abseits der Ideale und visionären Grundsätze mussten sie vielmehr immer wieder in intensiven Auseinandersetzungen und Arbeitskämpfen erstritten und verteidigt werden. Erwähnt seien etwa der politische Zeitungsstreik für paritätische Mitbestimmung im Jahr 1952 22 oder die langen und umfassenden, dem Mitbestimmungsgesetz von 1976 vorausgegangenen Auseinandersetzungen; die zum Teil nicht nur über den Tag, sondern auch über die Grenzen der überkommenen marktwirtschaftlichen Arbeitsbeziehungen hinaus reichten 23.

III. Aktueller Stand und Probleme der Mitbestimmung

So fortschrittlich das kollektive Arbeitsrecht und die Mitbestimmung auch waren, so klare Grenzen hatten sie. Diese lagen stets in den sogenannten wirtschaftlichen Angelegenheiten, zu denen etwa Standortfragen, Schließungen und anderweitige Betriebsänderungen gehören 24. Die Entscheidung darüber war und ist nach deutschem Recht grundsätzlich allein Sache des Unternehmers. Zwar stehen betroffene Arbeitnehmer dem nicht rechtlos gegenüber. Jedoch gehen die Beteiligungsrechte der betrieblichen Arbeitnehmervertretung – des Betriebsrats – über Information, Beratung und Folgenmilderung nicht hinaus 25. Auf Unternehmensebene ist auch in und gegenüber den Aufsichtsräten von Kapitalgesellschaften, die gesetzlich teils mit Arbeitnehmervertretern zu besetzen sind, die Letztentscheidungsmacht der Kapitaleigentümer sichergestellt 26. Und selbst der zulässige Inhalt von Tarifverträgen und Streikzielen wurde dahingehend schon begrenzt 27. Mitbestimmung auf gleicher Augenhöhe? In diesem Bereich: Fehlanzeige!

Etwa seit Ende der 1980er Jahre erleben wir eine tiefgreifende Veränderung der rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Dafür stehen besonders die europäische Marktintegration und die weltweite Öffnung und Deregulierung der Märkte. Diese Entwicklungen haben einerseits den Wettbewerbs- und Kostendruck auf Unternehmen erheblich erhöht, es ihnen andererseits erleichtert, ihre Arbeitskosten durch Zurückgreifen auf atypische Arbeitsverhältnisse und einen größeren Niedriglohnsektor zu senken sowie über nationale Grenzen hinweg den günstigeren Standort auszuwählen und nationale Regelwerke zu umgehen. Das hat die Spielräume und Durchsetzungschancen der Arbeitnehmerseite in kollektiven Verhandlungen auf Betriebs-, Unternehmens- und Verbandsebene nachhaltig verringert. In diesem Zusammenhang werden seit Jahren besonders Outsourcing, also Ausgliederung und Fremdvergabe von Tätigkeiten, und Offshoring, also die Verlagerung von einzelnen Tätigkeiten bis hin zu ganzen Betrieben und Unternehmen in Low-Cost-Standorte, problematisiert: Selbst in Tarifauseinandersetzungen hätte die Arbeitnehmerseite dem kaum etwas entgegenzusetzen 28. Tarifabschlüsse unterhalb der Preissteigerungsraten und die anhaltend schwache allgemeine Lohnentwicklung der vergangenen 20 Jahre bestätigen das 29. Auf der anderen Seite haben die Einkommen aus Kapitalvermögen sowie deren Konzentration überproportional zugenommen 30. Auch konnten die Arbeitgeber etwa ihre Forderung nach Flexibilisierung von Tarifverträgen durch betriebliche Öffnungsklauseln weitegehend durchsetzen 31. Damit wurde der Tarifverhandlungsdruck zum Teil auf die Betriebsräte verlagert, die bereits wegen des Streikverbots, § 74 Abs. 2 Satz 1 BetrVG, eine schwächere Verhandlungsposition als die Gewerkschaften haben. Mit all dem sind auch die Anforderungen an die Arbeitnehmervertretung in Betrieb und Unternehmen gestiegen. Immer schnellere und komplexere Entscheidungen im Unternehmen machen die Professionalisierung der Vertretungsarbeit erforderlich 32. Die Dringlichkeit dieser Entwicklung wird besonders in den zunehmend geführten Diskussionen über die erwarteten strukturellen Veränderungen im Zuge der Digitalisierung der Arbeitswelt deutlich. „Crowdsourcing“, „Cloudworking“, „Home-Office“ und „cyber-physical-systems“ sind die Begriffe der neuen Arbeitswelt, die im Zuge einer vierten industriellen Revolution, die durch Digitalisierung gekennzeichnet ist, oder kurz „Industrie 4.0“, entstehen soll 33. Der betrieblichen Mitbestimmung aber auch den Tarifparteien drohen ihre klassischen Regelungsfelder, wie Arbeitszeit und Arbeitsentgelt, abhanden zu kommen. Wie lassen sich kollektiv Arbeitsbedingungen von Menschen regeln, die ohne feste vertragliche Grundlage von zu Hause arbeiten, um einem Unternehmen eine Lösung für ein ausgeschriebenes Projekt anzubieten, und dabei mit anderen „Crowdworkern“ rund um den Globus konkurrieren?

Nicht hinreichend erkannt ist bislang, dass es sich bei der Schwächung der kollektiven Verhandlungsposition der Arbeitnehmerseite, in Deutschland potenziell auch um ein verfassungsrechtliches Problem handelt. Aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt der Koalitionsfreiheit, Art. 9 Abs. 3 GG, wird die Pflicht des Gesetzgebers abgeleitet, ein funktionsfähiges Tarifvertragssystem bereitzustellen 34. Sieht man mit der wohl herrschenden Rechtsauffassung – gemäß dem erwähnten Paritätsprinzip – ein annäherndes Kräftegleichgewicht der Tarifvertragsparteien als Funktionsvoraussetzung des Tarifvertragssystems 35 und in der Schwächung der Arbeitnehmerseite zumindest partiell eine Störung oder Aufhebung dieses Gleichgewichts 36, folgt daraus, dass der Gesetzgeber insoweit seiner Bereitstellungspflicht aus Art. 9 Abs. 3 GG seit geraumer Zeit nicht nachkommt. Im Einzelnen ist hier vieles stark umstritten 37. Wenn der Arbeitnehmerseite aber kein effektives Durchsetzungsmittel bleibt, was zumindest beim Offshoring regelmäßig der Fall zu sein scheint, handelt es sich bei Tarifverhandlungen nach dem berühmten Satz des BAG um nicht mehr, als „kollektives Betteln“ 38. Das hat erkennbar nicht viel mit einem wie auch immer verstandenen Gleichgewicht zu tun.

Zur Korrektur der strukturellen Schwächung der Arbeitnehmerseite durch den mittels Deregulierung des nationalen Arbeitsmarkts stark ausgeweiteten Niedriglohnsektor ist der Gesetzgeber mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz tätig geworden. Das ist – gerade mit dem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn – ein durchaus historischer Schritt. Gleichwohl werden damit die zuvor erläuterten Probleme nur partiell angegangen, zumal nur eine – wenn auch erhebliche – Minderheit der Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor beschäftigt ist 39. Für eine ganzheitliche Lösung wird man nicht umhin kommen, die überkommenen Strukturen der Arbeitnehmerbeteiligung den veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. In der Reformdebatte finden sich diesbezüglich sowohl alte Konfliktlinien, wie die zur Frage der Parität zwischen Kapitalanteilseigner- und Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat, aber auch neuere Ansätze, wie die Flexibilisierung der Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat nach dem Vorbild der Verhandlungslösung bei der SE 40. Obwohl bei dieser Debatte der Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat erhöhte Aufmerksamkeit zukommt, muss sie sich, wegen der mehrfach sichergestellten Letztentscheidungsmacht der Kapitalseite 41, den Einwand entgegenhalten lassen, letztlich „nur“ ein qualifiziertes Informationsrecht der Arbeitnehmer zu sein; wirkliche Mitbestimmung findet in Betriebsräten, Einigungsstellen und Tarifverhandlungen statt 42. Vielfach wird derzeit über gesetzliche Möglichkeiten diskutiert, einer Zunahme von Streiks entgegenzuwirken, was nun auch zur Verabschiedung des Tarifeinheitsgesetzes geführt hat. Letzteres sowie die meisten Vorschläge dazu dürften, soweit sie jedenfalls das Streikrecht unmittelbar betreffen, spätestens vor dem BVerfG scheitern und im Übrigen eine Zunahme von Streiks nicht verhindern 43. Eine friedlichere kollektive Verhandlungsordnung ist verfassungskonform und effektiv – wenn überhaupt – nur über eine Erweiterung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Betrieb und Unternehmen zu erreichen 44. Angesichts der teilweisen Verlagerung tariflichen Verhandlungsdrucks auf die betriebliche Ebene sowie der Machtlosigkeit der Arbeitnehmerseite gegenüber Offshoring, die durch die Rechtsprechung des EuGH 45 in den vergangenen Jahren noch verschärft wurde, erscheint der Vorschlag der Erweiterung der Arbeitnehmerbeteiligungsrechte bei Betriebsänderungen 46 – zu denen Offshoring und Outsourcing regelmäßig gehören – besonders erwägenswert. Wegen der schwachen Entwicklung der Löhne und der starken Zunahme und Konzentration der Kapitalvermögen – und damit der wirtschaftlichen Macht – scheint auch die Förderung der stimmberechtigten Kapitalbeteiligung der Arbeitnehmer ein interessanter und zukunftsweisender Ansatz zu sein. Seit geraumer Zeit stößt die Kapitalbeteiligung der Arbeitnehmer auch bei den Gewerkschaften 47, vor allem aber auch international 48 auf größeres Interesse. Dabei müsste es nicht nur um die Vermögensbildung der Arbeitnehmer und steuerliche Vergünstigungen für Arbeitgeber, sondern auch um eine Erweiterung der Mitbestimmung für Arbeitnehmer gehen.

IV. Fazit

Die rechts- und gesellschaftspolitischen Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen ergeben, sind vielseitig und deren gesellschaftspolitische Tragweite kaum zu überschätzen. Bestimmt doch der Umfang der Beteiligung und Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Betrieb und Unternehmen maßgeblich das Verhältnis der beiden grundlegenden Produktionsfaktoren „Kapital“ und „Arbeit“ und damit die soziale und wirtschaftliche Grundordnung unserer Gesellschaft. Als grundlegender Bestandteil der Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland war die Mitbestimmung für den unvergleichlichen Wohlstandsanstieg im vergangenen Jahrhundert mitursächlich und konnte auch in Krisenzeiten einen sozialen Ausgleich gewährleisten. Der Gesetzgeber ist aufgerufen, die Mitbestimmung entsprechend den veränderten und sich rasch weiter verändernden Rahmenbedingungen so weiter zu entwickeln, dass sie auch heute und in Zukunft einen sozialen Ausgleich sicherzustellen vermag.

 

*Der Autor ist Student der Rechtswissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg mit abgeschlossener Schwerpunktausbildung im Bereich Arbeit und Soziale Sicherung. Der Beitrag gibt ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.


Fußnoten:

  1.  BGBl. 2014 I, S. 1348 ff.
  2. BT-Plenarprotokoll 18/107, S. 10245 (B, C).
  3.  BGBl. 2001 I, S. 1852.
  4. BDA/BDI, Mitbestimmung modernisieren, Bericht der Kommission Mitbestimmung, Berlin 2004, S. III, 45 ff.; DGB-Bundesvorstand, Betriebsverfassung im 21. Jahrhundert – Rechtspolitische Empfehlungen zur Mitbestimmung im Betrieb, Berlin 2009, S. 7; Däubler, in: Däubler/Kittner/Klebe/Wedde (Hrsg.), BetrVG, Kommentar für die Praxis (DKKW), 14. Aufl., Frankfurt a.M. 2014, Einl. Rn. 266 f.
  5. https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2011/33961973 _kw19_pa_arbeit_soziales/205048 (28.06.2015); Kommission zur Modernisierung der deutschen Unternehmensmitbestimmung (Mitbestimmungskommission 2006), Bericht der wissenschaftlichen Mitglieder der Kommission mit Stellungnahmen der Vertreter der Unternehmen und der Vertreter der Arbeitnehmer, 2006, S. 5 ff.; Deutscher Juristentag e.V., 66. Deutscher Juristentag, Stuttgart 19. bis 22. September 2006, Beschlüsse, S. 6.
  6. Redaktion FD-ArbR, FD-ArbR 2012, 339843; http://www.rechtspolitischer-kongress.de/pdf/nebe-katja-folien.pdf (28.06.2015).
  7. https://www.verdi.de/service/veranstaltungen/++co++5e82f450-3410-11e4-b720-5254008a33df (28.06.2015).
  8. Zu der von der sozialpartnerschaftlichen „Idealvorstellung“ des kollektiven Arbeitsrechts deutlich abweichenden Realität im Zusammenhang mit zunehmendem „Union-Busting“: Rügemer/Wigand, Union-Busting in Deutschland, die Bekämpfung von Betriebsräten und Gewerkschaften als professionelle Dienstleistung, Frankfurt a.M. 2014; Kritik der Diskrepanz zwischen dem hohen Anspruch der deutschen Gesetze über die Beteiligung von Arbeitnehmern in Aufsichtsräten und der Wirklichkeit: Junker, NJW 2004, 728 ff.
  9. Lacordaire, Conférences de Notre-Dame de Paris, Tome Troisième: 1848-1850, Paris 1855, S. 246.
  10. Naphtali (, Wirtschaftsdemokratie: Ihr Wesen, Weg und Ziel, Berlin 1928, S. 129 ff.
  11. Naphtali (et al.), Wirtschaftsdemokratie (Fn. 10), S. 130 ff.
  12. Naphtali (et al.), Wirtschaftsdemokratie (Fn. 10), S. 8 f.
  13. http://www.eucken.org/deutschsprachig/Paperback_Titel.html (28.06.2015).
  14. BT-Drs. 6/334, S. 20, 55.
  15. Naphtali (et al.), Wirtschaftsdemokratie (Fn. 10), S. 9.
  16. Naphtali (et al.), Wirtschaftsdemokratie (Fn. 10), S. 3.
  17. Marx/Engels, Marx-Engels-Werke, Band 4, 6. Auflage, Berlin 1972, S. 482.
  18. Naphtali (et al.), Wirtschaftsdemokratie (Fn. 10), S. 16 ff.
  19. Junker, Grundkurs Arbeitsrecht, 14. Aufl., München 2015, Rn. 20, 609; Erbguth, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts zum Grundsatz der Parität im Arbeitskampfrecht, Sinzheim 2001 (zugl. Regensburg, Univ., Diss. 2000), S. 14 ff. mwN.
  20. Mitbestimmungskommission 2006, Bericht der wissenschaftlichen Mitglieder der Kommission, 2006, S. 31.
  21. BT-Drs. 6/334, S. 18 ff.
  22. Däubler, in: Däubler (Hrsg.), Arbeitskampfrecht, Handbuch für die Rechtspraxis, 3. Aufl., Baden-Baden 2011, § 7 Rn. 1.
  23. Raiser, Das Unternehmen als Organisation, Kritik und Erneuerung der juristischen Unternehmenslehre, Berlin 1969 (zugl. Hamburg, Univ., Habil.-Schrift, 1969), S. 156 ff.
  24. Däubler, in: DKKW (Fn. 4), § 111 Rn. 1.
  25. §§ 106-113 BetrVG.
  26. § 29 Abs. 2 iVm. § 27 Abs. 2 MitbestG; § 8 Abs. 1-3 iVm. §§ 4 und 5 MontanMibtestG; § 111 Abs. 4 S. 3 und 4 AktG; ausführlich Däubler, FS Nagel, 2007, S. 267 ff.
  27. Richardi/Fischinger, in: Staudinger, Kommentar zum BGB (Staudinger), Neubearbeitung 2011, Berlin 2011, Vorbemerkungen zu §§ 611 ff. Rn. 954 f. mwN.; LAG Hamm, 31.5.2000 – 18a Sa 858/00 – NZA-RR 2000, 535; kritisch hierzu: Wolter, RdA 2002, 218, 223 ff.; EuGH, 11.12.2007 – C-438/05 – Slg. 2007, I-10779; EuGH, 18.12.2007 – C-341/05 – Slg. 2007, I-11767; kritisch hierzu: Heuschmid in: Arbeitskampfrecht (Fn. 22), § 11 Rn. 91 ff.
  28. Hexel, Rede zur 1. DAX/MDAX-Konferenz, Berlin 2004, S. 4; Däubler, NJW 2005, 30, 31; ders. (Fn. 26), S. 272.
  29. Bispinck in: Bispinck/Schulten (Hrsg.), Zukunft der Tarifautonomie, 60 Jahre Tarifvertragsgesetz: Bilanz und Ausblick, Hamburg 2010, S. 29 ff.; Brenke, DIW-Wochenbericht 2009, 550 ff.
  30. Brenke (Fn. 29); Roggemann, ZRP 2011, 49 mwN.
  31. Bispinck (Fn.29); Heinbach, WiSta 2010, 300, 301.
  32. http://www.rechtspolitischer-kongress.de/pdf/haller_kommentar.pdf (28.06.2015).
  33. http://www.rechtspolitischer-kongress.de/pdf/nebe-katja-folien.pdf (28.06.2015); http://www.heise.de/tp/artikel/37/37431/1.html (28.06.2015); http://www.wiwo.de/erfolg/beruf/digitalisierung-der-arbeit-risiken-und-chancen-der-vernetzten-arbeitswelt/11170876.html (28.06.2015).
  34. BVerfG, 18.11.1954 – 1 BvR 629/52 – BverfGE 4, 96, 106; BVerfG, 1.3.1979 – 1 BvR 532, 533/77, 419/78 und BvL 21/78 – BverfGE 50, 290, 368; BVerfG, 4.7.1995 – 1 BvF 2/86 und 1, 2, 3, 4/87, 1 BvR 1421/86 – BverfGE 92, 365, 394; Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, 72. El., München 2014, Art. 9 Rn. 30, 167, 298.
  35. BVerfG, 4.7.1995 (Fn. 34) – BverfGE 92, 365, 395; Erbguth (Fn. 19); aA. Däubler, in: Arbeitskampfrecht (Fn. 22), § 9 Rn. 36 f.
  36. Im Niedriglohnsektor vgl. Picker, RdA 2014, 25, 27 f.; bei bzw. wegen Offshoring vgl. Däubler, in: Arbeitskampfrecht (Fn. 22), § 9 Rn. 36; ders. NJW (Fn. 28); ders. (Fn. 26), S. 272.
  37. Überblick bei Erbguth (Fn. 19), S. 17 ff.
  38. BAG, 10.6.1980 – 1 AZR 822/79 – BAGE 33, 140, 151.
  39. Kalina/Weinkopf, IAQ-Report 2014-02; BMAS, Lebenslagen in Deutschland, Der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, 2013, S. XI.
  40. Mitbestimmungskommission 2006, Stellungnahme der Vertreter der Unternehmen, S. 58, 62 f., Stellungnahme der Vertreter der Arbeitnehmer, S. 71 f.; BDA/BDI, Mitbestimmung modernisieren, Bericht der Kommission Mitbestimmung, Berlin 2004, S. II f., 8, 28 ff.; DGB-Bundesvorstand, Stellungnahme des DGB zum Antrag der Fraktion der SPD, BT-Drucksache 17/2122, und zum Antrag der Fraktion DIE LINKE, BT-Drucksache 17/1413, S. 2 ff.
  41. Däubler (Fn. 26); für die verfassungsrechtliche Sicherstellung Papier, in: Maunz/Dürig (Fn. 34), Art. 14 Rn. 500.
  42. Ebenso Däubler (Fn. 26), S. 271 f.
  43. Siehe Fn. 45; Vgl. Schliemann, NZA 2014, 1250, 1251 f.; Däubler, Gutachten zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Tarifeinheitsgesetz, Berlin 2015; vgl. http://www.arbrb.de/media/TarifeinheitVortrag7-11-2014.pdf (28.06.2015); vgl. http://www.deutschlandfunk.de/tarifeinheitsgesetz-hoch-problematische-regelungen-enthalten.694.de.html?dram:article_id=305955 (28.06.2015).
  44. Selbst auf Arbeitgeberseite wird die befriedende Funktion der Mitbestimmung anerkannt: BDA/BDI, Mitbestimmung modernisieren, Bericht der Kommission Mitbestimmung, Berlin 2004, S. 6.
  45. Siehe Fn. 27
  46. BT-Drs. 10/3666, S. 8; BT-Drs. 16/7533, S. 2; BT-Drs. 16/8448, S. 2; Fischer, NZA 2000, 167, 172; ablehnend: Richardi, NZA 2000, 161, 166.
  47. http://www.wiwo.de/politik/deutschland/mitbestimmung-die-neue-macht-der-gewerkschaften/5573764.html (28.06.2015).
  48. Lowitzsch (ua)., Mitarbeiterbeteiligung für ein neues soziales Europa, ein Bausteinmodell, Employee Stock Ownership Plans (ESOPs), individuelle Kapitalbeteiligung, Gewinnbeteiligung, Berlin 2008.

Elisabeth Selbert – eine Sternstunde für die Gleichberechtigung

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Manuel Leidinger*

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Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Der schlichte und kurze Wortlaut von Art. 3 Abs. 2 S. 1 des Grundgesetzes lässt kaum erahnen, von welchen aufreibenden Meinungsverschiedenheiten seine Verabschiedung am 18. Januar 1949 im Parlamentarischen Rat begleitet worden war 1. Der für uns so selbstverständlich klingende Gleichheitsgrundsatz geht zentral auf die berühmte Juristin und Sozialdemokratin Elisabeth Selbert zurück. Selbert gehörte zu den vier Müttern des Grundgesetzes, den vier einzigen Frauen im Parlamentarischen Rat, die entscheidend bei der Ausarbeitung und Beschließung des Grundgesetztextes am 8. Mai 1949 mitwirkten. Ihr erbitterter inner- und außerparlamentarischer Kampf für die bis heute bestehende Formulierung des Art. 3 Abs. 2 und die Mitprägung eines geschlechtergerechten Familienrechts verdienen einen Artikel in dieser Reihe.

Elisabeth Selbert (geb. Rohde) wird am 22. September 1896 in Kassel geboren. Dass im gleichen Jahr das Bürgerliche Gesetzbuch mit seinem patriarchalisch ausgerichteten Familienrecht verabschiedet wird, für dessen Reformierung sie sich später während ihrer juristischen Laufbahn einsetzen wird, kann wohl als Wink des Schicksals bezeichnet werden. Selbert besucht als junges Mädchen die Mittelschule und höhere Handelsschule und lässt sich daraufhin zur Auslandskorrespondentin ausbilden. Ab 1916 erhält sie eine Stelle als Postgehilfin im Telegrafendienst 2

Mit 22 Jahren tritt sie der SPD bei, der Beginn einer großen politischen Karriere. Über die Politik lernt die junge Sozialdemokratin auch ihren Mann Adam Selbert, Buchbinder und SPD-Kommunalpolitiker, kennen. Aus der 1920 geschlossenen Ehe gehen zwei Kinder hervor. Um gesellschaftliche und politische Zusammenhänge besser verstehen zu können und ihre politische Karriere zu befördern, nimmt sie 1926 das Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Marburg und Göttingen auf. In beiden Städten gehört sie zu einem minimalen Frauenanteil unter den Studierenden. Unter anderem folgende amüsante aber auch denkwürdige Anekdote zu ihrer Studienzeit in Marburg ist Elisabeth Selberts Tagebuch zu entnehmen: „ In Marburg … ließ mich der alte Professor Hildebrandt gelegentlich…bitten, zur nächsten Vorlesung nicht zu kommen, weil er über Sexualdelikte sprechen wollte. Er hatte da wohl Schwierigkeiten vor seiner einzigen Studentin.“ 3

Nach einem erfolgreichen Ersten Staatsexamen 1929 promoviert Elisabeth Selbert ab 1930 zum Thema „Ehezerrüttung als Scheidungsgrund“.

Ein Jahr später nach dem zweiten Staatsexamen erhält Elisabeth Selbert als eine der letzten Frauen ihre Zulassung als Rechtsanwältin, bevor die Nazis allen Frauen den Zugang zu diesem Beruf verwehren. Nicht nurin der Nazi-Zeit zeigt sich die starke Rolle, die Selbert auch im Privaten einnimmt. Während ihr Mann unter Hitlers Regime eine Gefängnishaft absitzen muss, ernährt sie die Familie und erkämpft schließlich seine Freilassung 4.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wirkt Selbert an der Redaktion der hessischen Verfassung vom 1. Dezember 1946 mit. In den Jahren 1948 bis 1952 nimmt die, wie sie sich selbst bezeichnet, Staatsrechtlerin aus Passion, ihr Mandat im Parlamentarischen Rat auf. Es ist der Beginn eines Lebensabschnitts, für den sie später in die Geschichte eingehen wird 5.

Am 1. September 1948 tritt der Parlamentarische Rat erstmalig zusammen. Er zählt 65 stimmberechtigte Abgeordnete, unter ihnen befinden sich mit Helene Weber (CDU), Helene Wessel (Zentrumspartei), Frieda Nadig und Elisabeth Selbert (beide SPD) vier weibliche Mandatsträgerinnen.

Selberts Kampf um die Gleichberechtigung gegen die konservativen Kräfte der Opposition aber auch Vertreter aus den eigenen Reihen beginnt, als die Aufnahme eines Artikels zur Gleichberechtigung im Ausschuss für Grundsatzfragen und Grundrechte beinahe scheitert. Anfangs wird ihr entgegengehalten, der Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, würde zu einer aufwendigen Reformierung des patriarchalisch geprägten Familienrechts führen. Gegen Kompromissvorschläge der CDU-Fraktion wie „Männer und Frauen haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“ wehrt sie sich jedoch vehement, denn „durch diese Formulierung würde die Frau durch den Mann definiert und ihre Rechte und Pflichten an denen des Mannes gemessen“ 6.

Am 3. Dezember 1948 hält Selbert während der ersten Lesung im Hauptausschuss eine bedeutende Rede für ihren Formulierungsvorschlag. Danach geht ihr Kampf für die Gleichberechtigung erst richtig los. Der Anwältin gelingt es, viele außerparlamentarische Kräfte zu mobilisieren. Körbeweise Protestbriefe von Gewerkschaften und Frauenverbänden erreichen daraufhin den Parlamentarischen Rat 7. Am 18. Januar 1949 während der zweiten Lesung im Hauptausschuss erlebt Elisabeth Selbert schließlich die Sternstunde ihres Lebens, wie sie später sagen wird. Ihr Vorschlag zum Wortlaut von Art. 4 Abs. 2 wird im Parlamentarischen Rat einstimmig angenommen.

Es ist wohl Elisabeth Selberts Mut und Willensstärke und der dadurch losgetretenen außerparlamentarischen Protestwelle geschuldet, dass ihre politischen Gegner letztendlich nachgeben mussten. Interessant sind die Äußerungen der Mutter des Grundgesetzes zu den Motiven ihres Kampfes.

Es ist nicht falsches Pathos einer Frauenrechtlerin, das mich so sprechen lässt. Ich bin Jurist und unpathetisch und ich bin Frau und Mutter und zu frauenrechtlerischen Dingen gar nicht geeignet.“ 8

Mit diesem Zitat trat sie dem Eindruck ihrer männlichen Kontrahenten entgegen, welche sie für eine emotionale, utopische Frauenrechtlerin hielten. Dr. Selbert sah sich als Juristin durch und durch und wollte sich zu jeder Zeit als eine solche verstanden wissen.

Am 9. Juni 1986 verstirbt die Vorkämpferin der Gleichberechtigung und gerät traurigerweise vorerst in Vergessenheit. Nun fast 20 Jahre nach ihrem Tod werden ihre Errungenschaften Schritt für Schritt aufgearbeitet. Nicht nur in den Medien erscheinen Reportagen und Dokumentationen über ihr Leben, auch Plätze, Straßen und Schulen werden zur ihren Ehren benannt 9.

Mit ihrem Pragmatismus kann sie anderen Juristen nur als Vorbild für zukünftige Gleichberechtigungs- und Familienrechtsdebatten dienen.

*Der Autor ist Student an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im achten Semester.

 


Fußnoten:

  1. Sitter, Carmen, Die Rolle der vier Frauen im Parlamentarischen Rat, Münster 1995, S. 77
  2. http://www.daserste.de/unterhaltung/film/sternstunde-ihres-lebens/specials/portrait-elisabeth-selbert-100.html .vom 14. 6. 2015, 17:28
  3. http://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/elisabeth-selbert/#biografie .vom 14. 6. 2015, 17:28
  4. http://www.zeit.de/online/2009/20/grundgesetz-selbert. vom 14. 6. 2015, 17:27
  5. Sitter, Carmen, Die Rolle der vier Frauen im Parlamentarischen Rat, Münster 1995, S. 22 f.
  6. Sitter, Carmen, Die Rolle der vier Frauen im Parlamentarischen Rat, Münster 1995, S. 78
  7. Sitter, Carmen, Die Rolle der vier Frauen im Parlamentarischen Rat, Münster 1995, S. 70
  8. Sitter, Carmen, Die Rolle der vier Frauen im Parlamentarischen Rat, Münster 1995, S. 81
  9. http://www.zeit.de/online/2009/20/grundgesetz-selbert. vom 14. 6. 2015, 17:27

Dokumentationspflichten bei Praktikanten gem. § 17 Abs. 1 MiLoG

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Tobias Mandler*

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Das Mindestlohngesetz bedeutet für die Handhabung von Praktikantenverhältnissen einige Neuerungen. Praktikanten werden im Rahmen des MiLoG und des BBiG Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen weitestgehend gleichgestellt. Die Reichweite dieser Gleichstellung ist dabei nicht nur für Vergütungsfragen relevant, sondern muss auch in Bezug auf die – oft missbilligten – Dokumentationspflichten nach § 17 MiLoG Bedeutung erlangen. Diesem bisher nicht diskutierten Gesichtspunkt widmen sich die folgenden Ausführungen.

I. Tatbestand der Dokumentationspflicht

§ 17 Abs. 1 Satz 1 MiLoG sieht Dokumentationspflichten für geringfügig Beschäftigte nach § 8 Abs. 1 SGB IV sowie für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den in § 2a des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes genannten Wirtschaftszweigen vor. Vorausgesetzt wird damit neben der Arbeitnehmereigenschaft ein qualifizierender Umstand in Bezug auf das Arbeitsverhältnis. Liegen die genannten Voraussetzungen vor, so sind Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit aufzuzeichnen, wobei die Verpflichtung besteht, die Aufzeichnung spätestens bis zum Ablauf des siebten auf den Tag der Arbeitsleistung folgenden Kalendertages vorzunehmen. Die Aufzeichnungen sind vom Arbeitgeber mindestens zwei Jahre – gerechnet vom maßgeblichen Tag für die Aufzeichnung – aufzubewahren.

II. Praktikant als Arbeitnehmer im Sinne der Dokumentationspflicht

1. Arbeitnehmereigenschaft kraft Fiktion gem. § 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG

Maßgebliche tatbestandliche Anknüpfung für die Dokumentationspflicht nach § 17 Abs. 1 Satz 1 MiLoG ist zunächst die Arbeitnehmereigenschaft. Praktikanten sind ihrer Natur nach jedoch keine Arbeitnehmer; ihr Aufenthalt im Betrieb ist geprägt von überwiegend ausbildenden Zwecken, die die Annahme der Arbeitnehmereigenschaft weithin verbieten 1.

In § 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG findet der Praktikant allerdings seine gesetzliche Gleichstellung mit dem Arbeitnehmer kraft Fiktion:

Praktikantinnen und Praktikanten im Sinne des § 26 des Berufsbildungsgesetzes gelten als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Sinne dieses Gesetzes, es sei denn…“. (Hervorhebungen durch den Verfasser)

Die Reichweite dieser Fiktion ist gesetzlich nicht beschränkt und damit auch in der Lage die Arbeitnehmereigenschaft im Hinblick auf die Dokumentationspflichten nach § 17 Abs. 1 Satz 1 MiLoG zu fingieren. Voraussetzung dazu ist jedoch ein mindestlohnpflichtiges Praktikum. Die Dokumentationspflicht folgt dann aus § 17 Abs. 1 Satz 1 MiLoG iVm. § 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG.

Die Notwendigkeit zur Dokumentation der Aufenthaltszeiten eines Praktikanten muss sich daher zunächst immer dann ergeben, wenn die Definition des Praktikanten gem. § 22 Abs. 1 Satz 2 MiLoG erfüllt ist und keine Ausnahme nach § 22 Abs. 1, 2 MiLoG oder § 26 BBiG vorliegt.

§ 22 Abs. 1 Satz 2 MiLoG definiert den Praktikanten zunächst wie folgt:

Praktikantin oder Praktikant ist unabhängig von der Bezeichnung des Rechtsverhältnisses, wer sich nach der tatsächlichen Ausgestaltung und Durchführung des Vertragsverhältnisses für eine begrenzte Dauer zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Erfahrungen einer bestimmten betrieblichen Tätigkeit zur Vorbereitung auf eine berufliche Tätigkeit unterzieht, ohne dass es sich dabei um eine Berufsausbildung im Sinne des Berufsbildungsgesetzes oder um eine damit vergleichbare praktische Ausbildung handelt.“

In § 22 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1-4 MiLoG werden sodann diejenigen Praktikanten aufgeführt, die nicht von der Fiktion erfasst werden, nämlich dann, wenn sie:

1. ein Praktikum verpflichtend auf Grund einer schulrechtlichen Bestimmung, einer Ausbildungsordnung, einer hochschulrechtlichen Bestimmung oder im Rahmen einer Ausbildung an einer gesetzlich geregelten Berufsakademie leisten,

2. ein Praktikum von bis zu drei Monaten zur Orientierung für eine Berufsausbildung oder für die Aufnahme eines Studiums leisten,

3. ein Praktikum von bis zu drei Monaten begleitend zu einer Berufs- oder Hochschulausbildung leisten, wenn nicht zuvor ein solches Praktikumsverhältnis mit demselben Ausbildenden bestanden hat, oder

4. an einer Einstiegsqualifizierung nach § 54a des Dritten Buches Sozialgesetzbuch oder an einer Berufsausbildungsvorbereitung nach §§ 68 bis 70 des Berufsbildungsgesetzes teilnehmen.“

Liegt einer der genannten Tatbestände vor, so greift die Fiktion nicht, weshalb eine Dokumentationspflicht auf der Grundlage des § 17 Abs. 1 Satz 1 MiLoG iVm. § 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG mangels – zumindest fingierter – Arbeitnehmereigenschaft ausscheiden muss.

Kann das Praktikum hingegen keinem der genannten Anlässe zugeordnet werden, so ist weiter zu prüfen ob der Praktikant Person im Sinne von § 2 Abs. 1 oder 2 des Jugendarbeitsschutzgesetzes ist 2 und keine abgeschlossene Berufsausbildung vorliegt. In diesem Fall greift die gesetzliche Arbeitnehmerfiktion ebenfalls nicht. Eine Dokumentationspflicht kann daher ebenso nicht entstehen.

Ist auch diese Ausnahme nicht einschlägig, so sind die Ausnahmen des § 26 BBiG zu beachten. Danach sind insbesondere Volontäre, Anlernlinge und Fortbildungen nicht vom Praktikantenbegriff des MiLoG umfasst 3. Dies folgt aus der Inbezugnahme des § 26 BBiG in § 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG 4.

Kommt die Arbeitnehmerfiktion nach § 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG mangels Ausnahme zur Anwendung, ist die Dokumentationspflicht von den verbleibenden Tatbestandsmerkmalen in § 17 Abs. 1 Satz 1 MiLoG abhängig.

2. Beschäftigung nach § 8 Abs. 1 SGB IV

Ausgehend von der fingierten Arbeitnehmereigenschaft, ist die Verpflichtung zur Dokumentation – in der ersten Alternative –davon abhängig, ob eine geringfügige Beschäftigung nach § 8 Abs. 1 SGB IV vorliegt 5. Durch den Verweis in § 17 Abs. 1 Satz 1 MiLoG auf § 8 Abs. 1 SGB IV stellt der Gesetzgeber klar, dass sowohl Entgelt- als auch Zeitgeringfügigkeit zur Dokumentation verpflichten.

Bei der Anwendung auf den Praktikanten stellt sich zunächst die Frage, ob die Fiktion der Arbeitnehmereigenschaft in § 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG auch die sozialrechtliche Beschäftigung fingiert. Letztere Annahme würde wohl zu einem Ausschluss der Dokumentationspflichten führen müssen, denn auch das MiLoG knüpft letztlich an den sozialrechtlichen Tatbestand konstitutiv an und nicht umgekehrt.

Allerdings kann diese Anschauung schlussendlich nicht überzeugen. Ziel der Dokumentationspflichten ist der Schutz geringfügig Beschäftigter, da hier in besonderem Maße Missbrauch befürchtet wird; wie dem Gesetzesentwurf zu entnehmen ist 6:

Geringfügig beschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gehören zu der Gruppe von Beschäftigten, deren Bruttolöhne sich durch den Mindestlohn am stärksten erhöhen werden. Zukünftig ist die Zahl der Arbeitsstunden begrenzt, wenn der Status der geringfügigen Beschäftigung beibehalten werden soll. Auf Grund der statusrechtlich relevanten Verdienstobergrenze kommt der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit eine besondere Bedeutung zu. Für kurzfristig Beschäftige hat die Aufzeichnung der Arbeitszeit, insbesondere die Zahl der gearbeiteten Tage, auf Grund der sozialversicherungsrechtlichen Rahmenbedingungen ebenfalls eine besondere Bedeutung…“

Die in der Begründung genannten Gründe treffen auch auf Praktikanten zu, sofern diese mindestlohnpflichtig sind. Nach der Regelung des § 22 MiLoG sollen diese Praktikanten Arbeitnehmer nicht nur in Vergütungsfragen gleichgestellt werden. Daher geht die Reichweite der Fiktion auch über Vergütungsfragen hinaus.

Durch die eigenständige Benennung des Arbeitnehmerstatus in § 17 Abs. 1 Satz 1 MiLoG, wird zudem deutlich, dass eine originäre Anknüpfung an den Beschäftigtenbegriff des SGB IV nicht mehr notwendig ist. Es handelt sich insoweit um eine partielle Rechtsgrundverweisung, bei der die Eigenschaft der Beschäftigung über § 17 Abs. 1 Satz 1 MiLoG iVm. § 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG bereits gesetzt ist.

Für Praktikantenverhältnisse, die von dieser Verpflichtung nicht erfasst werden, kann hingegen – mangels Fiktion – auch keine Dokumentationspflicht gelten. Die tatbestandlichen Anforderungen sind dann nicht erfüllt. Auf diesem Wege wird sichergestellt, dass privilegierte Praktika, die keine gesetzliche Entgeltverpflichtung beinhalten, weiterhin grundsätzlich frei von gesetzlicher Reglementierung in Bezug auf den Mindestlohn und die Regelungen des Mindestlohngesetzes durchgeführt werden können.

§ 2 Abs. 1a NachwG iVm. § 1 NachwG bestätigt diese Sichtweise. Entsprechende Vorgaben werden danach ebenfalls nur für Praktikanten im Sinne des MiLoG gemacht, § 1 NachwG 7. Im Umkehrschluss muss sich hieraus ein Regelungskonzept ergeben, welches Praktikanten außerhalb des MiLoG – unabhängig von Entgelthöhe und Dauer des Aufenthaltes – von weitreichender Reglementierung ausnimmt. Teil dieser Konstruktion ist die Dokumentationspflicht für mindestlohnpflichtige Praktika. Nicht gesondert geregelte Praktikantenverhältnisse außerhalb des MiLoG müssen daher im Umkehrschluss Dokumentationsfreiheit genießen.

§ 8 Abs. 1 SGB IV ist folglich für die Frage der Dokumentation nur dann entsprechend anzuwenden, sofern ein mindestlohnpflichtiges Praktikum vorliegt und dieses nach Entgelt oder Zeit als geringfügig im Sinne des § 8 Abs. 1 SGB IV qualifiziert werden kann. Liegen die entsprechenden Voraussetzungen danach vor, so sind die Dokumentationsverpflichtungen nach § 17 Abs. 1 Satz 1 MiLoG zu erfüllen.

3. Beschäftigung in den in § 2a des Schwarzarbeits-bekämpfungsgesetzes genannten Wirtschafts-bereichen oder Wirtschaftszweigen

Liegt indessen trotz Verpflichtung zur Zahlung des Mindestlohnes kein geringfügiges Praktikum iSd. § 8 Abs. 1 SGB IV mehr vor, so verbleibt eine Dokumentationspflicht nur noch für Praktikanten in den nach § 2a des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz genannten Wirtschaftszweigen:

1. im Baugewerbe,

2. im Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe,

3. im Personenbeförderungsgewerbe,

4. im Speditions-, Transport- und damit verbundenen

Logistikgewerbe,

5. im Schaustellergewerbe,

6. bei Unternehmen der Forstwirtschaft,

7. im Gebäudereinigungsgewerbe,

8. bei Unternehmen, die sich am Auf- und Abbau von Messen und Ausstellungen beteiligen,

9. in der Fleischwirtschaft.“

Auch hier ist aber Voraussetzung, dass zunächst ein mindestlohnpflichtiges Praktikum besteht, da es ohne Fiktion an der konstitutiven Arbeitnehmereigenschaft in § 17 Abs. 1 Satz 1 MiLoG fehlt. Eine pauschale Dokumentationspflicht für jedwedes Praktikum in den genannten Wirtschaftszweigen ist daher zu verneinen. Auch hier ist die Anwendung der Dokumentationsregelungen von der Existenz eines mindestlohnpflichtigen Praktikums abhängig.

III. Dokumentationspflicht für Praktikanten außerhalb von § 22 Abs. 1 MiLoG gem. § 10 Abs. 2 BBiG iVm. § 17 Abs. 1 Satz 1 MiLoG

Bisher ebenfalls noch nicht diskutiert wurde die Frage, ob der Verweis in § 10 Abs. 2 BBiG über § 26 BBiG die Dokumentationspflichten nach § 17 Abs. 1 Satz 1 MiLoG auch für Praktikanten bedingt, die an sich aus der Mindestlohnpflicht herausfallen.

Wie auch § 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG, erklärt § 10 Abs. 2 BBiG die Bestimmungen für Arbeitnehmer entsprechend für anwendbar, sofern ein Ausbildungsverhältnis im Anwendungsbereich des Gesetzes vorliegt. Gem. § 26 BBiG gilt diese Regelung auch für Praktikanten, also „Personen die eingestellt werden, um berufliche Fertigkeiten, Kenntnisse, Fähigkeiten oder berufliche Erfahrungen zu erwerben, ohne dass es sich um eine Berufsausbildung im Sinne dieses Gesetzes handelt“. Ausgenommen sind allein Volontäre, Personen, die sich zu spezifischen beruflichen Zwecken fortbilden, sowie Rechtsverhältnisse außerhalb des Anwendungsbereiches des BBiG 8.

§ 10 Abs. 2 BBiG iVm. § 26 BBiG erklärt die Vorschriften für Arbeitnehmer jedoch im Gegensatz zu § 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG nicht pauschal für anwendbar:

(2) Auf den Berufsausbildungsvertrag sind, soweit sich aus seinem Wesen und Zweck und aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, die für den Arbeitsvertrag geltenden Rechtsvorschriften und Rechtsgrundsätze anzuwenden.“

Erforderlich ist daher nicht nur die Qualifizierung des Praktikantenverhältnisses nach § 26 BBiG, sondern gerade auch die dem Wesen und Zweck nach abstrakte Anwendungsnotwendigkeit der Vorschriften und Rechtsgrundsätze für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen.

Ob nun § 17 Abs. 1 Satz 1 MiLoG auch die Dokumentation bei Praktikanten nach § 26 BBiG seinem Wesen und Zweck nach erfordert, ist zunächst unklar, wird im Ergebnis aber zu verneinen sein.

Das BBiG und das MiLoG stehen sich zunächst in freier Anspruchskonkurrenz gegenüber. So hat ein mindestlohnpflichtiger Praktikant grundsätzlich sowohl Ansprüche auf angemessene Vergütung nach § 1 MiLoG iVm. § 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG als auch auf angemessene Unterhaltsbeihilfe nach § 26 BBiG iVm. § 17 Abs. 1 Satz 1 BBiG 9.

Im Lichte dieses Verhältnisses könnte man zu dem Schluss kommen, dass auch die Dokumentationspflichten unabhängig voneinander bestehen. Hieraus müsste schließlich auch die Dokumentationsverpflichtung bei Praktikanten nach § 26 BBiG folgen. Aufgrund der freien Konkurrenz könnten auch die Ausnahmen des § 22 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1-4 MiLoG keine Anwendung finden, sodass im Sinne einer Alles-oder-Nichts-Überlegung wohl zugunsten einer global geltenden Dokumentationsverpflichtung geurteilt werden müsste.

Letztlich kann aber allein aus dem grundsätzlichen Verhältnis des BBiG zum MiLoG nicht auf die Anwendung der Dokumentationsverpflichtungen des MiLoG geschlossen werden. Das MiLoG setzt in § 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG den § 26 BBiG ausdrücklich in Bezug und erzeugt so ein Rangverhältnis für die Anwendung der Fiktion. Die Nrn. 1-4 des § 22 Abs. 1 MiLoG verteilen letztlich die Zuständigkeiten zwischen den beiden Gesetzen für die Regelungsinhalte des MiLoG. Die Fiktion erfasst dazu jedoch nur einen gegenüber § 26 BBiG kleineren Anteil der Praktikantenverhältnisse. Nur für diesen sollen rechtliche Änderungen eintreten. Sinn und Zweck des § 17 Abs. 1 MiLoG verbietet daher insoweit eine Anwendung auch auf Praktikanten nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1-4, Abs. 2 MiLoG iVm. § 26 BBiG.

Dies kann schließlich auch dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung zu § 22 MiLoG entnommen werden 10:

Nach Absatz 1 Satz 2 gelten auch Praktikantinnen und Praktikanten im Sinne des § 26 Berufsbildungsgesetz als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Sinne dieses Gesetzes. Sie haben grundsätzlich einen Anspruch auf Zahlung des Mindestlohns. Vergütungen unterhalb des Mindestlohns sind deshalb jedenfalls unangemessen im Sinne des § 17 Berufsbildungsgesetz. Für sonstige von § 26 des Berufsbildungsgesetzes erfasste Vertragsverhältnisse, die keine Arbeitsverhältnisse oder Praktikantenverhältnisse sind, findet dieses Gesetz keine Anwendung.“ (Hervorhebungen durch den Verfasser)

Damit ist klargestellt, dass § 17 Abs. 1 Satz 1 MiLoG mangels Arbeitnehmereigenschaft keine Anwendung auf Praktikanten nach § 26 BBiG finden kann, soweit einer der Ausschlusstatbestände nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1-4, Abs. 2 MiLoG greift. Dies gilt im Besonderen auch für die Unabdingbarkeitsregelung nach § 3 MiLoG, die neuerdings die Anwendung von Ausschlussfristen sowie den Abschluss außergerichtlicher Vergleiche erschwert 11.

IV. Handhabung in der Praxis

Angesichts der auf mindestlohnpflichtige Praktika beschränkten Dokumentationspflichten ist der Aufwand in der Praxis überschaubar. Aufgrund der Bußgeldregelung in § 21 Abs. 1 Nr. 7 MiLoG, welche eine Geldbuße von bis zu 30.000 Euro vorsieht, sollte die Verpflichtung jedoch nicht leichtfertig übergangen werden. Es erscheint deshalb zur Entlastung des administrativen Aufwandes sinnvoll die Dokumentationsverpflichtung auf den Praktikanten kraft Regelung im Praktikantenvertrag bzw. Weisung zu übertragen.

Führt der Praktikant selbstständig die Aufzeichnungen über seine Anwesenheitszeiten und händigt er diese schließlich der jeweiligen Stelle aus, so ist der Dokumentationspflicht genüge getan. Wichtig ist hierbei die Beachtung des Aufzeichnungszeitpunktes. Die Aufzeichnungen sind spätestens bis zum Ablauf des siebten auf den Tag des Aufenthaltes folgenden Kalendertages anzufertigen. Eine wöchentliche Aufzeichnung und monatliche Übermittlung dürfte aber praxisgerecht sein. Die Aufzeichnungen sind mindestens zwei Jahre aufzubewahren.

Vorstellbar ist bspw. folgende Regelung im jeweiligen Praktikantenvertrag:

Beginn, Ende und Dauer der täglichen Aufenthaltszeiten sind spätestens bis zum Ablauf des siebten auf den Tag des Aufenthaltes 12 folgenden Kalendertages zu dokumentieren und am Ende des jeweiligen Monats an den Betreuer 13 zu übermitteln.“

IV. Fazit

Mindestlohnpflichtige Praktikantenverhältnisse, die nach Entgelt oder Aufenthaltsdauer geringfügig im Sinne des § 8 Abs. 1 SGB IV analog in einem Betrieb bestehen, unterliegen den Dokumentationspflichten nach § 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG iVm. § 17 Abs. 1 Satz 1 MiLoG. Sonstige Praktikantenverhältnisse sind hingegen nicht von diesen Dokumentationspflichten umfasst.

 

*Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle für Hochschulrecht und Hochschularbeitsrecht der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.


Fußnoten:

  1. Vgl. etwa Picker/Sausmikat, NZA 2014, 943. Das Praktikumsverhältnis ist vielfach als Arbeitsverhältnis qualifiziert worden, sobald der Praktikant selbst tätig wurde. Diese schon damals unzutreffende Sicht kann nun auch ohne weiteres mit dem Gesetz widerlegt werden. § 22 Abs. 1 S. 2 MiLoG setzt eine Trennung zwischen Praktikum und Arbeitsverhältnis voraus. Der Praktikantenbegriff steht dem Begriff der Hospitation zumindest gegenwärtig in der rechtlichen Behandlung gleich. Der Hospitant erlangt zwar nur passiv Kenntnisse und Erfahrungen, in dieser Hinsicht macht der Praktikantenbegriff des MiLoG jedoch keine Unterschiede. Der Praktikantenbegriff ist unabhängig von der Bezeichnung des Rechtsverhältnisses zu bestimmen.
  2. „§ 2 Kind, Jugendlicher

    (1) Kind im Sinne dieses Gesetzes ist, wer noch nicht 15 Jahre alt ist.

    (2) Jugendlicher im Sinne dieses Gesetzes ist, wer 15, aber noch nicht 18 Jahre alt ist…“.

  3. H.M. BAG, Urt. v. 5.12.2002 – 6 AZR 216/01 = DB 2004, 141 f.; Leinemann/Taubert, BBiG, 2. Aufl. 2008, § 26 Rn. 31 mwN. Fortbildung außerhalb des Anwendungsbereiches des § 26 BBiG ist auch eine berufsspezifische Fortbildung außerhalb der §§ 53 ff. BBiG. Gastarztaufenthalte sind daher bspw. von der Pflicht zur Zahlung des Mindestlohnes befreit, vgl. Mandler, Die Vergütung von Gastärzten MedR 2015 S. 20 ff.
  4. Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG werden nur „Praktikantinnen und Praktikanten im Sinne des § 26 des Berufsbildungsgesetzes“ adressiert. Dadurch entsteht eine recht komplizierte Prüfungsstruktur, die hier aber nicht weiter vertieft werden soll. Siehe auch BT-Drs. 18/1558 S. 42: „Nach Absatz 1 Satz 2 gelten auch Praktikantinnen und Praktikanten im Sinne des § 26 Berufsbildungsgesetz als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Sinne dieses Gesetzes. Sie haben grundsätzlich einen Anspruch auf Zahlung des Mindestlohns. Vergütungen unterhalb des Mindestlohns sind deshalb jedenfalls unangemessen im Sinne des § 17 Berufsbildungsgesetz. Für sonstige von § 26 des Berufsbildungsgesetzes erfasste Vertragsverhältnisse, die keine Arbeitsverhältnisse oder Praktikantenverhältnisse sind, findet dieses Gesetz keine Anwendung. Die Regelung hat zum Ziel, den Missbrauch des sinnvollen Instruments des Praktikums einzuschränken. Erfasst werden nur Praktikumsverhältnisse im Sinne des § 26 Berufsbildungsgesetz“.
  5. „(1) Eine geringfügige Beschäftigung liegt vor, wenn

    1. das Arbeitsentgelt aus dieser Beschäftigung regelmäßig im Monat 450 Euro nicht übersteigt,

    2. die Beschäftigung innerhalb eines Kalenderjahres auf längstens zwei Monate oder 50 Arbeitstage nach ihrer Eigenart begrenzt zu sein pflegt oder im Voraus vertraglich begrenzt ist, es sei denn, dass die Beschäftigung berufsmäßig ausgeübt wird und ihr Entgelt 450 Euro im Monat übersteigt.“

  6. BT-Drs. 18/1558 S. 41.
  7. Vgl. BT-Drs. 18/2010 S. 26; Die Änderung beruht im Wesentlichen auch auf den Empfehlungen des Rates der Europäischen Union vom 10. März 2014 zu einem Qualitätsrahmen für Praktika. Siehe hierzu auch umfassend Vielmeier, Der europäische Qualitätsrahmen für Praktika – ein liberales europäisches Verständnis des Praktikums? OdW 2015 S. 27 ff.
  8. § 3 BBiG findet sich im Wesentlichen in § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 MiLoG wieder. Zum Anwendungsbereich siehe z.B. Schlachter in Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht BBiG, 15. Auflage 2015, § 3 Rn. 1 ff.
  9. Zur Angemessenheit der Unterhaltsbeihilfe siehe zuletzt BAG, Urt. v. 17.3.2015 – 9 AZR 732/13. Zur Problematik unterschiedlicher Höhen siehe Greiner in Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck’scher Online-Kommentar Arbeitsrecht, MiLoG § 22 Rn 21 mwN.
  10. BT-Drs. 18/1558 S. 42.
  11. In Zukunft wird sich die Frage stellen, ob der Regelung des § 3 MiLoG nicht durch Verjährungsregelungen entgegengetreten werden kann. Die Einrede der Verjährung betrifft nicht die – untersagte – Geltendmachung des Anspruchs, sondern allein seine Durchsetzung. Ob eine solche Regelung vor dem Gesetzeszweck bestand haben kann, bleibt freilich abzuwarten.
  12. Der Praktikant erbringt keine Arbeitsleistung. Der neutralere Begriff des Aufenthaltes dient hier der Abgrenzung zum Arbeitsverhältnis.
  13. Der Begriff des Arbeitgebers sollte aus Gründen der Abgrenzung zum Arbeitsverhältnis nicht verwendet werden.

Praxis muss sich auf Änderungen im Urlaubsrecht einstellen

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Markus Meißner*

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Am 10.02.2015 ergingen zwei Entscheidungen des BAG zum Urlaubsrecht mit erheblichen praktischen Auswirkungen. In beiden Fällen wurde die Rechtsprechung des EuGH konsequent umgesetzt.

A. Urlaubsgewährung nach fristloser Kündigung

Fristlose Kündigungen des Arbeitgebers wurden in der Vergangenheit häufig mit einer vorsorglichen Urlaubsgewährung verknüpft, falls die Kündigung unwirksam sein sollte. Damit wollten sich die Arbeitgeber dem Risiko eines Annahmeverzugslohns entziehen, welcher sich nach den Grundsätzen des § 615 S. 1 BGB ergeben würde. Diese Vorgehensweise war bisher auch vom BAG gebilligt worden. 1 Mit dem im Februar ergangenen Urteil ist damit jetzt aber Schluss. 2

In dem zugrundeliegenden Fall wurde einem Mitarbeiter außerordentlich hilfsweise ordentlich gekündigt. Im Falle der Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung sollte der Mitarbeiter unter Anrechnung der Urlaubsansprüche von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung freigestellt werden.

Nach Ansicht des BAG ist dadurch der Anspruch auf Erholungsurlaub nicht erfüllt worden. Hierfür sei neben einer Freistellung auch eine Vergütung erforderlich, die sich nach §§ 1, 11 BUrlG richte. Die dazugehörige Pressemitteilung des BAG teilt daher auch mit:

Deshalb gewährt ein Arbeitgeber durch die Freistellungserklärung in einem Kündigungsschreiben nur dann wirksam Urlaub, wenn er dem Arbeitnehmer die Urlaubsvergütung vor Antritt des Urlaubs zahlt oder vorbehaltlos zusagt“.

Der vom EuGH vorgegebene einheitlich-zweigliedrige Urlaubsbegriff wird damit konsequent angewendet.

Die Rechtsprechungsänderung erfolgte nicht völlig überraschend. Zum einen wird den Vorgaben des EuGH zur Einheitlichkeit des Urlaubsanspruchs entsprochen, zum anderen hatte ein anderer Senat des BAG bereits in einem früheren Urteil den einheitlich-zweigliedrigen Urlaubsbegriff vertreten. 3

Die Revision des Klägers hatte im entschiedenen Fall dennoch keinen Erfolg. Ein im parallelen Kündigungsverfahren geschlossener Vergleich hatte nach Ansicht der Richter die Ansprüche aus und in Verbindung mit dem Arbeitsverhältnis abschließend geregelt. Damit erledigte sich auch der Urlaubsabgeltungsanspruch.

B. Keine Kürzung des Urlaubsanspruchs bei Wechsel von Voll- in Teilzeitbeschäftigung

Auch die zweite Entscheidung vom selben Tag wird Auswirkungen auf die Praxis haben. 4 Auch sie geht auf eine Entscheidung des EuGH zurück. Nach dem „Brandes“-Beschluss des EuGH darf die Zahl der Tage des bezahlten Jahresurlaubs nicht wegen des Übergangs in eine Teilzeitbeschäftigung verhältnismäßig gekürzt werden, wenn ein vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer vor seinem Wechsel in eine Teilzeittätigkeit mit weniger Wochenarbeitstagen den Urlaub nicht in Anspruch nehmen konnte. 5 Hierzu das BAG in seiner Pressemitteilung:

Aufgrund dieser Rechtsprechung des EuGH konnte an der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht festgehalten werden, nach der die Urlaubstage grundsätzlich umzurechnen waren, wenn sich die Anzahl der mit Arbeitspflicht belegten Tage verringerte“.

Anlass für die Rechtsprechungsänderung war die Klage eines Arbeitnehmers für dessen Arbeitsverhältnis der TVöD Anwendung findet. § 26 Abs. 1 TVöD regelt, dass sich der für die Fünftagewoche festgelegte Erholungsurlaub von 30 Tagen nach einer Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit auf weniger Tage vermindert. Der Kläger hatte sich bis zum 14.7.2010 in einem Vollzeitbeschäftigungsverhältnis bei einer Fünftagewoche mit der Beklagten befunden. Zum 15.7.2010 wechselte er in Teilzeit, bei einer Arbeitsleistung von nunmehr vier Wochenarbeitstagen. Der Kläger hatte bis zu seinem Wechsel in Teilzeit noch keinen Urlaub genommen. Die Beklagte ist der Ansicht, auf Grund des Wechsels habe der Kläger nur noch einen reduzierten Anspruch auf 24 Urlaubstage (4/5 des tariflichen Erholungsurlaubs für Vollzeitbeschäftigte). Der Kläger verlangte aber 27 Urlaubstage. Diese Summe ergibt sich aus ungekürztem Urlaub für die erste Jahreshälfte (15 Tage) sowie der entsprechend reduzierten Anzahl an Urlaubstagen für die Zeit nach der Umstellung auf Teilzeitbeschäftigung (12 Tage).

Das BAG befand, dass die Tarifnorm wegen des Verstoßes gegen das Verbot der Diskriminierung von Teilzeitkräften unwirksam sei, soweit durch sie die Zahl der während der Vollzeittätigkeit erworbenen Urlaubstage vermindert würde. Entsprechend wurde festgestellt, dass dem Kläger drei weitere Urlaubstage zustehen.

Für die Praxis ergibt sich daraus, dass einem Beschäftigten, der in Teilzeit wechselt, ein einmal erworbener Urlaubsanspruch nicht ohne sachlichen Grund wieder entzogen werden darf. Bezogen sich die Aussagen des EuGH in seinem „Brandes“-Beschluss noch auf den europarechtlich zwingend vorgeschriebenen Mindesturlaub, gehen die bisher verlautbarten Aussagen des BAG darüber hinaus. Hinsichtlich der während der Vollzeittätigkeit erworbenen Urlaubstage wurde nicht zwischen Mindesturlaub und zusätzlichen Urlaubstagen differenziert. Stattdessen spricht das BAG in seiner Pressemitteilung pauschal von allen während der Vollzeittätigkeit erworbenen Urlaubstagen. Ob man daraus folgern kann, dass die Grundsätze des Urteils sowohl für gesetzlichen, tariflichen sowie auch arbeitsvertraglich zusätzlich gewährten Erholungsurlaub gelten, ist allerdings fraglich. 6 Es ist denkbar, dass das BAG tarif- oder arbeitsvertragliche Regelungen akzeptiert, welche bei der Umrechnung von Urlaubstagen bei einem Wechsel von Vollzeit in Teilzeit zwischen Mindesturlaub und zusätzlichen Urlaubstagen differenziert. Die Veröffentlichung der Entscheidung kann zur Klärung dieser Frage aber möglicherweise beitragen.

 

*Der Autor ist Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Hochschularbeitsrecht, Prof. Dr. Dr. h.c. Manfred Löwisch.


Fußnoten:

  1. BAG Urt. v. 08.03.1984 – 6 AZR 600/82.
  2. BAG Urt. v. 10.02.2015 – 9 AZR 455/13.
  3. BAG Urt. v. 09.01.1979 – 6 AZR 647/77.
  4. BAG Urt. v. 10.02.2015 – 9 AZR 53/14 (F).
  5. EuGH Beschluss vom 13.06.2013 – C-415/12.
  6. So aber Klinkhammer/Schmidbauer, ArbRAktuell 2015, 202.

Das neue Bildungszeitgesetz Baden-Württemberg

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Evelina Will*

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In vielen Bereichen der Wirtschaft und Wissenschaft ist Baden-Württemberg bislang Vorreiter. Ein Defizit war allerdings zumindest bisher – verglichen mit anderen Bundesländern (ausgenommen Bayern, Thüringen und Sachsen) – in Bezug auf die Möglichkeit zur Inanspruchnahme von Bildungszeit für die Beschäftigten zu vermerken. Diese „Lücke“ schließt nun das am 1. Juli 2015 in kraft getretene Bildungszeitgesetz Baden-Württemberg.

A. Regelungsinhalt

Angelehnt an die Gesetzgebung von zwölf Bundesländern legte die grün-rote Landesregierung bereits im Koalitionsvertrag 2011 fest, dass auch in Baden-Württemberg eine bezahlte Bildungsfreistellung eingeführt werde. In Erfüllung dieser Vorgaben gewährt das in Kraft getretene Bildungszeitgesetz BW die Möglichkeit zur Bildungszeit der Beschäftigten, sodass die Weiterbildungsbereitschaft gefördert und das ehrenamtliche Engagement gewürdigt werden kann.

Im Wesentlichen begründet das Bildungszeitgesetz BW einen Freistellungsanspruch für Beschäftigte unter Fortzahlung der jeweiligen Bezüge. Der Anspruch kann für bis zu fünf Tage pro Jahr geltend gemacht werden und ist gem. § 1 Abs. 2 BzG BW beschränkt auf Maßnahmen der beruflichen oder politischen Weiterbildung sowie der Qualifizierung für ehrenamtliche Tätigkeiten. Qualifizierungsmaßnahmen für ehrenamtliche Tätigkeiten begründen indes – voraussichtlich – erst Anfang 2016 einen entsprechenden Freistellungsanspruch. 1

In Anspruch genommen werden kann die Bildungsfreistellung von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen, Auszubildenden sowie Studierenden der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (§ 2 Abs. 1 BzG BW). Gem. § 4 BzG BW ist Voraussetzung, dass deren Beschäftigungsverhältnis seit mindestens zwölf Monaten besteht. Für Beamte und Beamtinnen, sowie für Richter und Richterinnen gilt Entsprechendes (§ 2 Abs. 2 BzG BW).

Bei einer regelmäßigen – aus fünf Arbeitstagen bestehenden – Arbeitswoche hat ein Beschäftigter ein Freistellungsanspruch auf fünf Tage (§ 3 Abs. 1 S. 1 BzG BW). Bei einer demgegenüber regelmäßig verkürzten Arbeitswoche verringert sich der Anspruch entsprechend (§ 3 Abs. 1 S. 2 BzG BW). Für Auszubildende oder Studierende der Dualen Hochschule Baden-Württemberg beträgt der Bildungsfreistellungsanspruch lediglich fünf Tage; bezogen auf die gesamte Ausbildungszeit, § 3 Abs. 2 BzG BW.

B. Gewerkschaften

Fürsprecher des Bildungszeitgesetzes finden sich überwiegend in den Gewerkschaften. Diese forderten bereits seit längerem ein Gesetz zur Freistellung für Weiterbildung. 2 Trotz der Neuregelung wird aber weiterhin Kritik geübt: Kritisiert wird, dass die Bildungszeit nicht für die allgemeine Weiterbildung genutzt werden kann 3 und Beschäftigte im Ausbildungsstadium lediglich fünf Tage Bildungszeit in ihrer gesamten Ausbildungs- und Studienzeit beanspruchen können. 4 Gleichsam wird bemängelt, dass der Anspruch auf Bildungszeit für Beschäftigte in der Lehre und an Schulen nur in den unterrichts- bzw. vorlesungsfreien Zeiten besteht. 5 Schließlich wird auch die Ausnahme missbilligt, nach der es in Kleinbetrieben mit weniger als zehn Beschäftigten überhaupt keine Bildungszeit gibt. 6

C. Arbeitgeberverband

Im Gegensatz zu den Gewerkschaften hatten die Arbeitgeber in der Vergangenheit die Einführung eines Bildungszeitgesetzes stets abgelehnt 7: Die betriebliche Weiterbildung zähle bereits seit längerer Zeit zu den integralen Bestandteilen der Personalentwicklung eines jeden Unternehmens. Hierdurch werde eine konkretere Förderung der Stärken der Belegschaft gewährleistet und damit letztlich auch der wirtschaftliche Erfolg des Unternehmens sichergestellt. Das nunmehr verabschiedete Bildungszeitgesetz stelle sich damit schließlich eher als bezahlter Zusatzurlaub für die persönliche Weiterbildung der Beschäftigten dar, die „unverhältnismäßig, überflüssig sowie teuer“ 8 sei. Das Bildungszeitgesetz würde betriebliche und tarifvertragliche Modelle zur Weiterbildung, die sich am tatsächlichen Bedarf orientierten, durchkreuzen. Letztlich entstünden dem Land Baden-Württemberg alleine schon aufgrund der Tatsache, dass auch Beamte und Angestellte im Öffentlichen Dienst die Möglichkeit zur Bildungszeit nutzen werden, immense Kosten. 9 Dies sei der Verschuldungssituation abträglich und konterkariere eine Haushaltskonsolidierung.

D. Ausblick

Ob das Bildungszeitgesetz Baden-Württemberg die hohen Erwartungen erfüllen kann oder ob ernsthafte wirtschaftliche Einbußen in den betroffenen Unternehmen entstehen, bleibt abzuwarten. Fest steht, dass mit dem Bildungszeitgesetz gesetzliches Neuland in Baden-Württemberg betreten wurde, dessen konkrete Auswirkungen sich vor dem Hintergrund der Entwicklungen in anderen Bundesländern, weder für die Arbeitnehmer noch für die Arbeitgeber ohne Weiteres absehen lassen. So wird in anderen Bundesländern nur von etwa 1 % der Anspruchsberechtigten die Möglichkeit zur Bildungszeit genutzt 10.

 

*Die Autorin ist Studentin der Rechtswissenschaften an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im vierten Semester.


Fußnoten:

  1. Ebd.
  2. Stuttgarter Zeitung, Bildungszeitgesetz, http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.bildungszeitgesetz-worum-geht-s-bei-dem-gesetz-page4.e00eb1ea-ac9e-4fa5-b160-8d55835a294a.html vom 11.03.2015
  3. DGB Baden-Württemberg, aaO.
  4. DGB-Stellungnahme zum Entwurf BzG BW vom Dezember 2014, § 3 Abs. 2, Seite 4
  5. DGB Baden-Württemberg, aaO.
  6. DGB-Stellungnahme zum Entwurf BzG BW vom Dezember 2014,§ 7 Abs. 3, S. 10 f.
  7. AGV Baden-Württemberg, Pressemeldung, http://www.agv-bw.de/swm/web.nsf/id/pa_agvbw_bildungsfreistellungsgesetz.html abgerufen am 11.07.2015.
  8. Hundt: „Gute Tarifverträge und Projekte sollen durch ein schlechtes Gesetz ersetzt werden“, AGV Baden-Württemberg, http://www.agv-bw.de/swm/web.nsf/id/li_sweb9fvkht.html vom 31.01.2014.
  9. AGV Baden-Württemberg, Pressemeldung, http://www.agv-bw.de/swm/web.nsf/id/pa_agvbw_bildungsfreistellungsgesetz.html abgerufen am 11.07.2015.
  10. LT-Drs. 15 / 6403 S. 11: „Wenn man allerdings die tatsächliche Inanspruchnahme der Bildungsfreistellung in anderen Bundesländern betrachtet – sie liegt in der Größenordnung von jährlich ca. einem Prozent der Anspruchsberechtigten, die von der Bildungsfreistellung Gebrauch machen – so liegen die faktischen Freistellungskosten in einem Bereich, der zumutbar erscheint. Außerdem liegt in der beruflichen Weiterbildung auch ein Nutzen, der dem Betrieb zugutekommen kann. Auch die politische Weiterbildung und Qualifizierungsmaßnahmen im Ehrenamt dienen der Persönlichkeitsentwicklung der Beschäftigten und können sich positiv auf die betrieblichen Belange auswirken.“

Referendarsexamensklausur: Vermietersorgen

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Dr. Jörg Domisch*

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Die Klausur behandelt Probleme des Allgemeinen Schuldrechts und des Mietrechts in ungewohnter Einkleidung. Sie wurde im Wintersemester 2014/2015 im Examensklausurenkurs der Universität Freiburg gestellt 1. Die erste Aufgabe thematisiert die Folgen einer gescheiterten Vertragsübernahme. In der zweiten Aufgabe sind Schadensersatzansprüche des Vermieters gegen den Mieter wegen nicht fachgemäßer Durchführung von Schönheitsreparaturen zu prüfen. Die dritte Aufgabe fragt nach Ansprüchen des Schuldners gegen den Gläubiger, wenn der Gläubiger nach Erhalt der Zahlung vom Schuldner auch noch den Bürgen in Anspruch nimmt.

Sachverhalt:

Egon (E) ist Eigentümer einiger großer Mietshäuser mit über 20 Wohnungen. Er verfügt über ein eigenes Heizhaus, um seine Immobilien mit selbst erzeugter Wärme zu versorgen. Das dafür benötigte Heizöl bezieht E von der Lauwarm-AG (L), die den Tank am Monatsende wieder auffüllt. Aus Kostengründen plant E, den Betrieb des Heizhauses auf die Zieht’s?-GmbH (Z) auszulagern. In diesem Rahmen schließen E und die Z im September 2014 einen Wärmelieferungsvertrag und vereinbaren zudem, dass die Z den Vertrag zwischen E und L über die Lieferung des nötigen Heizöls ab dem 1. Oktober 2014 übernehmen soll. Mit einer Vertragsübernahme ist jedoch L nicht einverstanden. Sie verlangt auch für den Oktober 2014 Bezahlung des nach wie vor für das Heizhaus gelieferten Heizöls von E. Auch die Z verlangt für den Monat Oktober Zahlung von E auf Grundlage des Wärmelieferungsvertrags. E meint gegenüber Z, der Wärmelieferungsvertrag sei hinfällig, da schließlich die Vertragsübernahme nicht zu Stande gekommen sei. Er sei beim Abschluss des Wärmelieferungsvertrages fest davon ausgegangen, nur an L oder Z zahlen zu müssen. Jedenfalls zahle er nicht an Z, ehe diese die Heizöl-Rechnung gegenüber L beglichen habe. Diese Pflicht treffe Z auch bei einer gescheiterten Vertragsübernahme.

Einer der Mieter des E ist Manfred (M). In allen Mietverträgen, die E verwendet, findet sich folgender § 14:

Der Mieter ist verpflichtet auf seine Kosten bei Auszug die Schönheitsreparaturen (Streichen der Wände, Decken und Innentüren) in den Mieträumen handwerksgerecht, insbesondere mit einem Anstrich in hellen und deckenden Farben durchzuführen.

Als M nach nur 2 Jahren aus beruflichen Gründen den Wohnort wechseln muss, sieht die bei seinem Einzug frisch renovierte Wohnung nach seinem Dafürhalten noch sehr ordentlich aus. M beschließt daher, zwar zu streichen, aber doch wenigstens ein bisschen mit der Farbe zu sparen, um die Kosten gering zu halten. Dadurch, dass M zu wenig Farbe verwendet, zeichnen sich später deutliche Streifen ab. E muss daher noch einmal streichen lassen, ehe er die Wohnung wieder vermieten kann. Die Kosten hierfür will er von M ersetzt. Hätte dieser nicht gepfuscht, dann hätte er ja auch keinen Maler bestellen müssen. M weigert sich jedoch für die Kosten aufzukommen. Er habe inzwischen gehört, dass es generell unwirksam sei, von einem Mieter zu verlangen, dass er beim Auszug streiche. Wenn er nicht streichen müsse, dann sei es ja auch grundsätzlich nicht sein Problem, wenn E einen Maler beauftragen müsse. Außerdem sei das nicht ganz perfekte Streichen doch nichts anderes als eine Abnutzung der Wohnung, die jedem Mieter zustehe. Vor der Streichaktion des M hatte objektiv noch kein Renovierungsbedarf bestanden.

Aber auch mit seinem Mieter Stefan (S) hat E Probleme. E hatte dem S fristlos gekündigt, nachdem dieser 5 Monate lang die Miete nicht gezahlt hatte. S hatte die Wohnung fristgerecht geräumt, aber nach einer kleinen Unachtsamkeit im Umgang mit seinem Adventskranz auch ein Loch im Parkett hinterlassen. Die Beseitigung des Schadens wird den E 5.500 Euro kosten. Zunächst will E jedoch möglichst schnell die noch ausstehende Miete eintreiben. Dazu wendet sich E wegen der Mietrückstände in Höhe von 6.000 Euro an die Versicherung V. Diese hatte – gemäß vertraglicher Übereinkunft mit S – eine Mietkautionsbürgschaft in Form einer Höchstbetragsbürgschaft über 5.000 Euro unter Ausschluss der Einrede der Vorausklage für den S übernommen. Tatsächlich zahlt die V 5.000 Euro an E, der völlig übersehen hatte, dass S selbst die ausstehende Miete von 6.000 Euro – zwei Tage vor der Inanspruchnahme der Versicherung durch E – an E überwiesen hatte. Zwar hatte V den S über die beabsichtigte Leistung an E informiert, S hatte die Angelegenheit jedoch wegen seiner Zahlung als erledigt angesehen und nicht reagiert. Später kommen S jedoch Bedenken, ob es wirklich klug war, untätig zu bleiben. Tatsächlich kündigt V an, bei S Regress nehmen zu wollen und verlangt 5.000 Euro von ihm. Deshalb verlangt S von E, die 5.000 Euro, die E von der Versicherung erhalten hat, an ihn selbst oder wenigstens an die V zurückzuzahlen. E ist dazu jedoch nicht bereit. Er teilt S mit, dann verrechne er das eben mit seinem Schaden wegen des Brandes. Letztlich habe er bislang ja nur insgesamt 11.000 Euro erhalten, weniger als ihm eigentlich zustehe. Jedenfalls zahle er nichts, ehe S nicht die Schäden am Parkett beglichen habe.

Aufgabe:

Bestehen die angesprochenen Ansprüche im Verhältnis

1) L gegen E und Z gegen E

2) E gegen M

3) S gegen E?

Lösung

1) Gescheiterte Vertragsübernahme

A. Anspruch L gegen E gem. § 433 II BGB

L könnte von E Zahlung des für Oktober 2014 gelieferten Heizöls gem. § 433 II verlangen, wenn zwischen den beiden ein Kaufvertrag besteht.

I. Kaufvertrag

L ist eine AG, die gem. § 1 I 1 AG rechtsfähig ist. Sie wird gem. § 78 I 1 AG von ihrem Vorstand vertreten. Zwischen L und E besteht laut Sachverhalt ein Vertrag. Hierbei könnte es sich um einen Kaufvertrag über Heizöl handeln. Auch flüssige Sachen sind körperliche Gegenstände im Sinne der §§ 433, 90. 2 Zwar hat der Vertrag insofern Dauerschuldverhältnischarakter, als L monatlich Heizöl anliefert, dies ändert jedoch nichts an der Qualifizierung des Vertrages als Kaufvertrag. Auch ein Kaufvertrag kann ein Dauerschuldverhältnis darstellen, wenn wiederkehrende Leistungen geschuldet werden und der Gesamtumfang der Leistung von der Dauer der Rechtsbeziehung abhängt. 3 Konkret dürfte es sich vorliegend um einen sogenannten Bezugsvertrag handeln, da der Vertrag auf längere Zeit aber ohne Festlegung einer bestimmten Liefermenge abgeschlossen worden ist. 4 Die monatlich zu liefernde Menge ergibt sich aus dem Verbrauch und Bedarf des E.

II. Vertragsübernahme

Der Vertrag könnte jedoch zum 1. Oktober 2014 dergestalt von Z übernommen worden sein, dass diese an die Stelle des E in den Vertrag eintrat. Eine Zahlungspflicht des E aus dem Kaufvertrag bestände dann nicht mehr.

Die Vertragsübernahme ist gesetzlich nicht abstrakt geregelt. Das Institut der Vertragsübernahme ist jedoch allgemein anerkannt. Es handelt sich hierbei um ein einheitliches Rechtsgeschäft und nicht etwa um eine Kombination von Abtretung und Schuldbernahme. 5 Durch die Vertragsübernahme wird über das Schuldverhältnis als Ganzes verfügt, das gesamte Schuldverhältnis wird auf eine neue Person übertragen. 6

Nach allgemeiner Auffassung lässt sich eine Vertragsübernahme entweder als dreiseitiger Vertrag oder als zweiseitiger Vertrag mit dem Erfordernis der Zustimmung durch die dritte Partei konstruieren. Es handelt sich dabei, wie bereits ausgeführt, um ein einheitliches Rechtsgeschäft, nicht um eine Kombination von Abtretung und Schuldübernahme. Anders als der Gläubiger im Falle der Abtretung kann der Vertragspartner als solcher nicht ohne Mitwirkung des anderen Teils ausgewechselt werden. Der ursprüngliche Vertragspartner (im Fall die L) soll nicht mit einem Vertragspartner konfrontiert werden und insbesondere dessen Insolvenzrisiko tragen, den er nicht selbst ausgewählt hat.

Vorliegend haben E und Z vereinbart, dass Z den Vertrag mit L übernehmen soll. L ist jedoch nicht damit einverstanden. Es fehlt also sowohl an einer Mitwirkung der L an einem Übernahmevertrag als auch an einer nachträglichen Zustimmung der L in Form einer Genehmigung des von E und Z geschlossenen Vertrages gem. § 184.

Mangels wirksamer Vertragsübernahme bleibt E daher zur Zahlung für die Oktober-Lieferung des Heizöls verpflichtet.

Ergebnis: L hat gegen E einen Zahlungsanspruch aus § 433 II.

B. Anspruch Z gegen E gem. §§ 433 II, 453 BGB

Z könnte gegen E ein Anspruch auf Zahlung aus dem Wärmelieferungsvertrag zustehen.

I. Kaufvertrag

Bei Z handelt es sich um eine gem. § 13 I GmbHG rechtsfähige juristische Person. Diese wird gem. § 35 I 1 GmbHG durch ihre Geschäftsführer vertreten. Zwischen Z und E wurde laut Sachverhalt ein Wärmelieferungsvertrag geschlossen. Auch hierbei handelt es sich um einen Bezugsvertrag. Allerdings ist zu beachten, dass Wärme kein körperlicher Gegenstand, mithin keine Sache im Sinne der §§ 433, 90 ist. Bei Wärme handelt es sich um einen sonstigen Gegenstand im Sinne des § 453, der dem Erwerber zur Verwendung oder Verfügung verschafft wird. 7 Ein Zahlungsanspruch ergibt sich daher gem. §§ 433 II, 453 aus dem Wärmelieferungsvertrag.

Der Vertrag wurde auch nicht unter einer aufschiebenden Bedingung im Sinne des § 158 I geschlossen. Dem Sachverhalt lässt sich nicht entnehmen, dass die Parteien eine Bestimmung in das Rechtsgeschäft eingefügt hätten, wonach die Wirkungen des Wärmelieferungsvertrags von der Vertragsübernahme abhängig gemacht werden. 8

II. Anfechtung, § 142 I BGB

Möglicherweise ist der Vertrag jedoch durch Anfechtung der vertragsbegründenden Willenserklärung durch E gem. § 142 I ex tunc nichtig. Die Äußerung gegenüber Z, der Vertrag sei hinfällig, könnte als Anfechtungserklärung im Sinne des § 143 zu sehen sein. Allerdings fehlt es an einem Anfechtungsgrund. E wusste, dass es nicht in seiner und Zs Hand liegt, eine Vertragsübernahme herbeizuführen. Dies lässt sich daran ablesen, dass E und Z vereinbaren, dass Z den Vertrag mit L übernehmen soll. Dass die Übernahme erfolgt, ist lediglich eine Erwartung des E. Er weiß, dass sein Vertragsschluss mit Z allein noch keine Vertragsübernahme bewirkt. 9

III. Kündigung, § 313 III 2 BGB

Möglicherweise konnte E den Wärmelieferungsvertrag mit Z jedoch wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage und fehlender Anpassungsmöglichkeit gem. § 313 III 2 kündigen. 10

1. Anwendbarkeit

Da es sich bei dem Wärmelieferungsvertrag um ein Dauerschuldverhältnis handelt (s. oben entsprechend für das Heizöl, Bezugsvertrag) ist eine Lösung vom Vertrag nicht durch Rücktritt, sondern nur durch Kündigung möglich. § 313 III 2 wird auch bei Dauerschuldverhältnissen nicht von § 314 verdrängt. Die beiden Normen haben unterschiedliche Voraussetzungen und sind nebeneinander anwendbar. 11

2. Geschäftsgrundlage

Voraussetzung für ein Kündigungsrecht nach § 313 III 2 ist zunächst, dass eine wirksame Vertragsübernahme Geschäftsgrundlage des Vertrages geworden ist. Geschäftsgrundlage sind die bei Vertragsschluss bestehenden gemeinsamen Vorstellungen beider Parteien oder die dem Geschäftsgegner erkennbaren und von ihm nicht beanstandeten Vorstellungen der einen Vertragspartei von dem Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt gewisser Umstände, sofern der Geschäftswille der Parteien auf dieser Vorstellung aufbaut. 12

Vorliegend ist jedenfalls E davon ausgegangen, dass es zu einer Vertragsübernahme kommen würde. Wie die Vereinbarung mit E zeigt, ging auch Z davon aus, dass L der Vertragsübernahme zustimmen würde. Die Z vereinbarte immerhin mit E, dass sie den Vertrag übernehmen werde. Insofern ist die Erwartung, dass eine Vertragsübernahme zustande kommen werde, Geschäftsgrundlage geworden.

3. Wegfall der Geschäftsgrundlage

Da L jedoch letztlich eine Vertragsübernahme verhindert hat, hat sich die Vorstellung von E und Z als gemeinschaftlicher Irrtum der Parteien über zukünftige Ereignisse erwiesen. Da im Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch nicht feststand, dass L die Vertragsübernahme verhindern würde, ist § 313 I und nicht Absatz 2 einschlägig. 13

4. Hypothetisches Element

Weiterhin setzt § 313 I voraus, dass die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen hätten, wenn sie vorausgehen hätten, dass das erwartete Ereignis nicht eintritt. Hätten E und Z vorausgesehen, dass eine Vertragsübernahme nicht zustande kommt, so hätten sie den Wärmelieferungsvertrag jedenfalls nicht mit diesem Inhalt geschlossen. E wäre keine Verpflichtung gegenüber Z eingegangen, ohne vertraglich sicherzustellen, dass er nicht zugleich auch einer Inanspruchnahme durch L ausgesetzt wäre.

5. Unzumutbarkeit des Festhaltens am Vertrag

Fraglich ist jedoch, ob es E zuzumuten ist, am unveränderten Vertrag festzuhalten. Nur wenn das nicht der Fall ist, liegen alle Voraussetzungen des § 313 I vor. Für eine Kündigung wäre weiterhin gem. § 313 III 1 weitere Voraussetzung, dass auch eine Anpassung des Vertrages nicht möglich oder unzumutbar ist. Zunächst ist jedoch die Unzumutbarkeit gem. § 313 I zu prüfen. Unzumutbarkeit im Sinne des § 313 I ist jedenfalls dann nicht gegeben, wenn die vermeintliche Gefahr einer doppelten Inanspruchnahme tatsächlich gar nicht besteht.

a) Pflicht des Z aus dem Innenverhältnis

E bringt vor, die Z müsse die Heizöl-Rechnung des E gegenüber L begleichen, auch wenn sie nicht durch wirksame Vertragsübernahme deren Vertragspartnerin geworden ist. Hierfür könnte sprechen, dass im Rahmen einer Schuldübernahme, die an der Zustimmung des Gläubigers scheitert, eine solche Pflicht des Übernehmers besteht, § 415 III 2, 1. Hiernach ist der Übernehmer der Schuld im Falle einer vom Gläubiger verweigerten Genehmigung dem Schuldner gegenüber verpflichtet, den Gläubiger zu befriedigen. Diese Pflicht stammt aus der Übernahmevereinbarung im Innenverhältnis und gibt dem Gläubiger kein eigenes Forderungsrecht, vgl. § 329.

b) Analoge Anwendung des § 415 III BGB

Die Vertragsübernahme ist zwar, wie gezeigt, ein eigenständiges Rechtsgeschäft in Form einer Verfügung über das Vertragsverhältnis. Allerdings bewirkt sie zumindest auch gleichermaßen wie die Abtretung gem. § 398 den Austausch des Gläubigers und wie die befreiende Schuldübernahme gem. § 414 f. den Austausch des Schuldners. Es stellt sich daher die Frage, ob § 415 III 2, 1 analog anwendbar ist, wenn eine Vertragsübernahme an der fehlenden Zustimmung der anderen Partei des zu übernehmenden Vertrags scheitert.

Eine Analogie setzt eine planwidrige Regelungslücke und eine mit dem geregelten Fall vergleichbare rechtliche Interessenlage voraus. Da die Vertragsübernahme nicht generell geregelt ist, liegt eine Regelungslücke vor. Zwar gibt es Fälle von Vertragsübernahmen im Gesetz wie zum Beispiel § 613a oder § 651b BGB, allerdings fehlt es an abstrakt niedergelegten Voraussetzungen. 14 Es stellt sich jedoch die Frage nach einer vergleichbaren rechtlichen Interessenlage. Dafür spricht zunächst, dass Z zumindest auch die künftige aus der Vertragsbeziehung mit L resultierende Schuld zu begleichen hätte, wenn die Vertragsübernahme erfolgreich gewesen wäre. Dagegen könnte sprechen, dass Z durch das Scheitern der Vertragsübernahme gerade nicht in die Lage versetzt wird, die Gegenleistung, konkret das Heizöl, von L einzufordern. 15 Anders als im Falle der befreienden Schuldübernahme wird der Dritte, der einen gegenseitigen Vertrag übernimmt, auch Gläubiger der Gegenleistung. Im vorliegenden Fall jedoch erscheint dieses fehlende Forderungsrecht der Z insofern nicht schädlich, da Z offenbar in der Lage ist, das für das Heizhaus gelieferte Heizöl tatsächlich zu nutzen. Zumindest vor diesem Hintergrund bestehen keine Bedenken gegen eine Analogie zu § 415 III 2, 1. Allgemein erscheint die analoge Anwendung des § 415 III auf die gescheiterte Vertragsübernahme zulässig, sofern dem hierdurch verpflichteten Übernehmer auch der Zugang zur Gegenleistung gewährt wird.

c) Zwischenergebnis

Es ist E somit zuzumuten, am Wärmelieferungsvertrag festgehalten zu werden. Durch die analoge Anwendung des § 415 III 2, 1 steht ihm ein Anspruch im Innenverhältnis gegenüber Z zu, die Schuld gegenüber der L zu begleichen. E droht also keine doppelte Inanspruchnahme. 16 Im Ergebnis kann vorliegend gleichwertig eine analoge Anwendung bejaht oder verneint werden. Wird sie verneint, dann ist in der Folge die Rechtsfolge der Kündigung für das Dauerschuldverhältnis zu benennen, da eine Anpassung des Vertrages nicht möglich erscheint. Vertretbar wäre insofern jedoch auch eine Vertragsanpassung, die Z im Innenverhältnis zur Zahlung des Heizöls und E zu dessen Bereitstellung für Z verpflichtet.

IV. Zurückbehaltungsrecht, § 273 I BGB

E bringt vor, er zahle für die Wärmelieferung des Z erst, wenn dieser seiner Pflicht aus der Übernahmevereinbarung nachkomme und die Heizöl-Rechnung gegenüber L begleiche. Er beruft sich somit auf ein Zurückbehaltungsrecht im Sinne des § 273 I. 17 Der Anspruch des E ergibt sich entweder aus einer separaten Übernahmevereinbarung im Sinne des § 311 I oder aber aus §§ 433, 453, wenn es sich um eine Nebenpflicht aus dem Wärmelieferungsvertrag handelt. 18 Wie bereits ausgeführt hat E einen fälligen Anspruch aus der Übernahmevereinbarung, dass die Z die L befriedigt. Der Zahlungsanspruch der Z gegen E stammt aus demselben rechtlichen Verhältnis wie der Anspruch des E gegen Z auf Zahlung des Heizöls gegenüber L, da den Ansprüchen ein einheitliches Lebensverhältnis zugrunde liegt. 19 Beide Ansprüche stammen entweder aus demselben Vertrag oder zumindest aus zwei Verträgen die in einem Zuge abgeschlossen wurden. Die Geltendmachung des Zurückbehaltungsrechts bewirkt also, dass E nur Zug-um-Zug gegen Bezahlung der Rechnung des L durch Z zur Zahlung der Rechnung aus dem Wärmelieferungsvertrag an Z verpflichtet ist. Die doppelte Inanspruchnahme wird letztlich erst durch die Berufung auf das Zurückbehaltungsrecht verhindert, denn sowohl L als auch Z stehen tatsächlich Ansprüche gegen E zu. Durch die Leistung Zug-um-Zug muss E aber erst dann an Z zahlen, wenn dieser L befriedigt hat.

Ergebnis: Z kann von E Zahlung aus dem Wärmelieferungsvertrag gem. §§ 433 II, 453 verlangen, allerdings nur Zug-um-Zug gegen Zahlung der Heizöl-Rechnung für den Oktober an L.

2) Streichpflichten

C. Anspruch E gegen M gem. §§ 280 I, III, 281 BGB

E könnte gegen M einen Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung in Höhe der Kosten für die Malerarbeiten haben, wenn M seiner Pflicht, die Wohnung zu streichen, nicht ordnungsgemäß nachgekommen ist.

I. Schuldverhältnis

Der Mietvertrag stellt ein Schuldverhältnis im Sinne des § 280 I 1 dar.

II. Pflichtverletzung

1. Bestehen einer Endrenovierungspflicht

Voraussetzung für einen Schadensersatzanspruch statt der Leistung ist zunächst, dass den M eine Pflicht traf, die Wohnung beim Auszug handwerksgerecht zu renovieren. Eine solche Pflicht ergibt sich nicht bereits aus dem Gesetz. Allerdings könnte aus § 14 des Mietvertrages eine entsprechende Pflicht resultieren. Dies setzt jedoch wiederum voraus, dass die Bestimmung wirksam ist. Fraglich ist daher, ob die konkrete Endrenovierungsklausel auch einer AGB-Kontrolle standhält.

a) Eröffnung einer Inhaltskontrolle, § 307 III BGB

Eine AGB-Kontrolle setzt gem. § 307 III voraus, dass in Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Rechtsvorschriften abgewichen wird. Bei § 14 des Mietvertrages handelt es sich um AGB im Sinne des § 305 I 1, da E die Klausel für alle seine Wohnungen verwendet. Auf § 310 III Nr. 1 kommt es letztlich nicht an. Die Einbeziehung erfolgte gem. § 305 II. Die Klausel weicht von der gesetzlichen Bestimmung des § 535 I 2 ab, wonach der Vermieter die Mietsache in einem vertragsgemäßen Zustand zu erhalten hat. Die Klausel überträgt diese Pflicht für den Zeitpunkt des Auszugs auf den Mieter.

b) Unangemessene Benachteiligung, § 307 BGB

Die Klauselverbote der §§ 309, 308 sind nicht einschlägig. Die Abwälzung der Schönheitsreparaturen ist aber unwirksam, wenn sie mit einem wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung unvereinbar ist, § 307 II Nr. 1 iVm. § 307 I 1. Grundsätzlich können Schönheitsreparaturen in AGB auf den Mieter übertragen werden, sofern die Wohnung, wie auch im Fall, in renoviertem Zustand an den Mieter übergeben wurde. 20 Als wirtschaftliche Gegenleistung werden sie auf die monatliche Miete angerechnet. AGB, die den Mieter mit Renovierungspflichten belasten, die über den tatsächlichen Bedarf hinausgehen, sind dagegen unzulässig. 21 Denn dann träfe den Mieter eine höhere Instandhaltungsverpflichtung als der Vermieter aus § 535 I 2 schuldet. Dies wird zum Beispiel für die Verwendung starrer Fristenpläne angenommen, 22 die nicht auf den tatsächlichen Renovierungsbedarf abstellen. Entsprechend ist bei Endrenovierungsklauseln zu unterscheiden, ob diese zu einer Renovierung auch dann verpflichten, wenn kein objektiver Bedarf besteht. 23 Eine solche Klausel ist vorliegend gegeben. M wäre stets zur Endrenovierung verpflichtet, auch dann, wenn wie im Falle objektiv gar kein Streichbedarf besteht. Die Klausel ist daher gem. § 306 I nichtig. 24

2. Folgen für den Anspruch

Da es keine (Leistungs-)Pflicht des M gab, die Wohnung handwerksgerecht zu streichen, kann sich auf dieser Grundlage auch keine Pflichtverletzung ergeben.

Ergebnis: Ein Anspruch des E auf Schadensersatz statt der Leistung gem. §§ 280 I, III, 281 für die Streicharbeiten besteht nicht.

D. Anspruch E gegen M gem. §§ 280 I, 241 II BGB

E könnte jedoch gegen M einen Anspruch auf Schadensersatz gem. § 280 I in Höhe der Malerkosten wegen Verletzung einer Pflicht gem. § 241 II haben.

I. Schuldverhältnis

Ein Schuldverhältnis liegt, wie bereits geprüft, in Form des Mietvertrages vor.

II. Pflichtverletzung

Fraglich ist, worin die Pflichtverletzung des M exakt zu sehen ist. M traf, wie gesehen, nicht die Pflicht die Wohnung handwerksgerecht zu renovieren. Man könnte argumentieren, dass M jedoch, falls er streicht, dies auch ordentlich zu tun hat. Allein dadurch, dass M nicht ordentlich gestrichen hat, werden die Interessen des E jedoch noch nicht berührt. Dies lässt sich erst bejahen, wenn die Streicharbeiten einen objektiven Renovierungsbedarf auslösen. Dadurch wird E gezwungen, die Wohnung erneut streichen zu lassen, um sie weitervermieten zu können.

Parallel zu dieser Konstellation muss der Mieter auch eine auffällige Dekoration bei Rückgabe der Wohnung wieder beseitigen, da es zu den Rücksichtnahmepflichten des Mieters gehört, dem Vermieter eine Weitervermietung nach Rückgabe des Mietobjekts zu ermöglichen. 25 Allerdings reicht diese Pflicht nur soweit, eine individuelle Dekoration zu beseitigen, nicht jedoch umfassende Schönheitsreparaturen durchzuführen. 26

Dadurch, dass M derart schlampig gestrichen hat, dass die Wohnung nun objektiv renovierungsbedürftig ist, hat er eine Rücksichtnahmepflicht aus dem Schuldverhältnis verletzt.

III. Vertretenmüssen

Fraglich ist jedoch, ob M diese Pflichtverletzung auch zu vertreten hat. Grundsätzlich wird das Vertretenmüssen gem. § 280 I 2 vermutet. Der Umstand, dass M wegen der Endrenovierungsklausel glaubte, streichen zu müssen, kann keine Rolle spielen. Die Klausel suggerierte M jedenfalls nicht, dass eine unfachgemäße Renovierung zulässig sei.

Allerdings könnte dem M vorliegend § 538 zugutekommen. Verschlechterungen der Mietsache, die auf einen vertragsgemäßen Gebrauch zurückgehen, hat der Mieter nicht zu vertreten. Da es dem Mieter vertraglich freisteht, die Wohnung „abzuwohnen“ und ihn grundsätzlich gerade keine Pflicht zu einer Endrenovierung trifft, könnte das unfachmännische Streichen noch vertragsgemäßer Gebrauch im Sinne des § 538 sein.

Sinn und Zweck des § 538 ist es, dem Mieter eine vertragsmäßige Nutzung des Mietobjekts ohne Einschränkung in seinen Gewohnheiten zu ermöglichen. 27 Die Norm reicht jedoch nicht soweit, dass sie den Mieter im Rahmen der Vorbereitung des Auszugs von der Einhaltung zumutbarer Rücksichtnahmepflichten auf berechtigte Vermieterinteressen entbindet. Von einem vertragsgemäßen Gebrauch im Rahmen der Nutzung des Mietobjekts kann dann nicht mehr ausgegangen werden.

Da die Voraussetzungen des § 538 nicht vorliegen, kann M die Vermutung des § 280 I 2 nicht widerlegen. Andere Ansicht ebenso vertretbar. Die Rechtsprechung nimmt zu § 538 in diesem Rahmen keine Stellung und behandelt die Problematik ausschließlich beim Schaden.

IV. Schaden

Fraglich ist jedoch, ob dem E durch das Streichen des M überhaupt ein Schaden entstanden ist. Hierfür spricht zunächst, dass objektiv kein Streichbedarf bestanden hätte, wenn M untätig geblieben wäre. M kann sich also nicht darauf berufen, dass E sowieso hätte streichen müssen und es an der Kausalität zwischen dem Streichen des M und einem möglichen Schaden fehlen würde.

Die Malerarbeiten des M könnten eine sogenannte „Verschlimmbesserung“ darstellen. 28 E entstehen letztlich Kosten, die ohne die mangelhafte Durchführung der Schönheitsreparaturen überhaupt nicht entstanden wären. 29

Dagegen spricht jedoch, dass M nicht vertraglich verpflichtet war, zu streichen. Hätte er die Wohnung daher unrenoviert und in einem „herabgewohnten“ und renovierungsbedürftigen Zustand übergeben, so hätte E streichen müssen, ohne dass er die Kosten auf M hätte abwälzen können. Hätte M während der Mietzeit beispielsweise Bilder aufgehängt und wäre dadurch ein Renovierungsbedarf entstanden, so läge kein Schaden des E vor.

In seiner Entscheidung zum exzessiven Rauchen in Mieträumen hat der BGH den Maßstab angewendet, dass ein Schaden dann nicht gegeben sei, wenn die Gebrauchsspuren durch ohnehin vom Vermieter durchzuführende Schönheitsreparaturen restlos beseitigt werden. Dies gelte unabhängig davon, ob ein Renovierungsbedarf durch das Rauchen bereits vorzeitig hervorgerufen werde. 30 Entsprechend könnte auch im vorliegenden Fall ein Schaden zu verneinen sein, da M letztlich nur einen Zustand verursacht, den E grundsätzlich hätte hinnehmen müssen.

In seiner Entscheidung zu einer „kunterbunt“ gestrichenen Wohnung 31 grenzt der BGH seine Position zu der Raucherexzess-Entscheidung ab. Eine ungewöhnliche Farbgestaltung sei, anders als das Rauchen in der Wohnung, keine Abnutzung von Mieträumen. Maßnahmen zu deren Beseitigung seien deshalb im Rechtssinne auch keine Schönheitsreparaturen. Dies zeige insbesondere die Überlegung, dass das berechtigte Interesse des Vermieters, die Wohnung am Ende des Mietverhältnisses mit einer Dekoration zurückzuerhalten, die von möglichst vielen Mietinteressenten akzeptiert wird, auch dann ohne Einschränkung zu bejahen ist, wenn der Mieter die Wohnung vor der Rückgabe in ungewöhnlichen Farben frisch renoviert hat.

Vor diesem Hintergrund erscheint ähnlich wie im Rahmen des § 538 die Argumentation vorzugswürdig, dass das Streichen beim Auszug keine Abnutzung der Wohnung mehr ist. Die im Raucher-Urteil zum Ausdruck kommende Privilegierung des § 538 wirkt sich nur insoweit auf Schadensebene aus, dass kein Schaden vorliegt, wenn ein Renovierungsbedarf bei Übergabe durch die vertragsgemäße Nutzung der Wohnung herbeigeführt wird. Sofern der renovierungsbedürftige Zustand jedoch dadurch herbeigeführt wird, dass der Mieter seine eigenen Interessen über berechtigte Vermieterinteressen stellt, ist auch dann ein Schaden gegeben, wenn sich die Schadensbehebung in der Durchführung von Schönheitsreparaturen erschöpft. Andernfalls könnte im Extremfall ein Mieter kurz vor dem Auszug einen Eimer Farbe an die Wand kippen, um den Vermieter vor der Weitervermietung zur Durchführung der Schönheitsreparaturen zu zwingen. Sofern der Mieter hingegen kurz vor dem Auszug eine Party veranstaltet und daraus ein objektiver Renovierungsbedarf ergibt, so erscheint dies hingegen wohl grundsätzlich noch von der Abnutzung gedeckt.

Vorliegend hat M versucht, durch die Verwendung von zu wenig Farbe Kosten zu sparen. Dies stellt keine Abnutzung der Wohnung mehr dar, sondern eine Verletzung der Rücksichtnahmepflicht gegenüber dem Vermieter und begründet somit einen Schaden. Andere Ansicht gleichermaßen vertretbar. Die konkrete Frage ist höchstrichterlich nicht geklärt und bewegt sich im Spannungsfeld der beiden zitierten Entscheidungen. In der Praxis dürfte der Fall so wohl eher nicht zur Vorlage kommen, da ein Vermieter kaum je beweisen können wird, dass vor dem Streichen durch den Mieter objektiv noch kein Renovierungsbedarf bestand. Als Klausur im Ersten Examen erscheint die Thematik jedoch durchaus vorstellbar, um das vermeintliche Spannungsfeld der zitierten BGH-Entscheidungen aufzulösen.

V. Mitverschulden, § 254 BGB

Möglicherweise kann sich M jedoch auf eine schadensmindernde Mitverursachung durch E berufen, der ihn durch die Verwendung der unwirksamen Endrenovierungsklausel erst zum Streichen veranlasst hat. Hätte E die Klausel nicht verwendet, hätte M auch keinen Schaden verursacht. Allerdings ist nicht ersichtlich, dass E Kenntnis von der Unwirksamkeit der Klausel hatte. Zudem wollte E selbst dann nur eine handwerksgerechte Endrenovierung veranlassen. Ein Mitverschulden des E ist nicht gegeben. Andere Ansicht ebenso vertretbar, insbesondere zumal E gewerblicher Vermieter mit über 20 Wohnungen ist. Ihm dürfte dann unterstellt werden, dass er zumindest 2012 (Zeitpunkt des Einzugs des M) Kenntnis von der Unwirksamkeit bedarfsunabhängiger Endrenovierungsklauseln hat.

VI. Abzug Neu-für-Alt

E könnte sich jedoch nach den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung einen Abzug Neu-für-Alt anrechnen lassen müssen. 32 Gerade bei der Durchführung von Renovierungen nach „farblicher Verunstaltung“ kommt dies in Betracht, da der Vermieter letztlich eine vollständig renovierte Wohnung bekommt, ohne die Pflichtverletzung des Mieters jedoch eine unrenovierte Wohnung mit normalen Gebrauchsspuren zurückerhalten hätte. 33 Auch im vorliegenden Fall steht E nach den Malerarbeiten wirtschaftlich besser als vor dem schädigenden Ereignis, dem Streichen durch M, da laut Sachverhalt objektiv kein Streichbedarf bestanden hatte. Die Schadensbeseitigung geht also über die Naturalrestitution hinaus. Es entsteht ein Konflikt mit dem schadensrechtlichen Bereicherungsverbot. Da laut Sachverhalt noch kein Renovierungsbedarf bestand und M nur zwei Jahre lang in der Wohnung gewohnt hat, erscheint ein Abzug von 30 % angemessen. Jeder andere Abzug ist gleichermaßen vertretbar. Da der Sachverhalt keine besonderen Hinweise auf den Abzug Neu-für-Alt liefert, wurde ein Fehlen dieses Aspekts bei der Korrektur nicht negativ gewertet. Seine Voraussetzungen liegen jedoch vor und sind praktisch durchaus von Relevanz. Im soeben zitierten Fall des LG Gießen kam es sogar zu einem Abzug in Höhe 50 %. In der Klausur kann eine korrekte Bezifferung nicht erwartet werden, die Grundsätze des Abzugs Neu-für-Alt sind als Anwendungsfall der Vorteilsausgleichung jedoch durchaus möglicher Prüfungsinhalt.

Ergebnis: E kann von M die Kosten für die Malerarbeiten gem. §§ 280 I, 241 II verlangen. Er muss sich jedoch einen Abzug Neu-für-Alt in Höhe von 30% anrechnen lassen.

3) Inanspruchnahme des Bürgen wegen nicht bestehender Forderung

E. Anspruch S gegen E gem. §§ 280 I, 241 II BGB

S könnte von E die Zahlung von 5.000 Euro an V oder an sich selbst gem. §§ 280 I, 241 II verlangen, wenn die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen.

I. Schuldverhältnis

Zwischen E und S bestand ein Schuldverhältnis in Form eines Mietvertrages. Auch nach wirksamer Kündigung und Rückgabe der Mietsache, kann ein solches Schuldverhältnis Anknüpfungspunkt für nachvertragliche Pflichten im Rahmen des § 280 I 1 sein. 34

II. Pflichtverletzung

Im Rahmen des § 241 II ist E auch nach Beendigung des Mietvertrages verpflichtet, auf die Vermögensinteressen des S Rücksicht zu nehmen. 35 Er muss sich also grundsätzlich so verhalten, dass S nicht mit Ansprüchen Dritter belastet wird. Vorliegend könnte die Inanspruchnahme des Bürgen wegen einer nicht mehr bestehenden Forderung jedoch die Belastung des S mit Ansprüchen der V bedeuten. Soweit hingegen im Rahmen der Bürgschaft tatsächlich gesicherte Forderungen gegenüber dem Bürgen geltend gemacht werden, scheidet eine Pflichtverletzung aus. Dann würde E lediglich von ihm zustehenden Rechten Gebrauch machen und nicht pflichtwidrig handeln.

1. Geltendmachung einer nicht bestehenden Forderung

Fraglich ist daher zunächst, ob E gegenüber V eine von der Bürgschaft gesicherte Forderung geltend gemacht hat. Der Anspruch aus § 535 II auf Zahlung des Mietzinses war jedoch durch die Zahlung des S gem. § 362 I durch Erfüllung erloschen. Da sich E konkret wegen der Mietrückstände an V wendet, kann es keine Rolle spielen, dass in Form der Schadensersatzansprüche wegen des Parketts noch Forderungen bestehen, die theoretisch von der Bürgschaft gedeckt wären.

2. Regressanspruch V gegen S

In der Geltendmachung der bereits erloschenen Forderung kann jedoch nur dann eine Pflichtverletzung gegenüber S gesehen werden, wenn dadurch die Vermögensinteressen des S betroffen sind. Dies setzt voraus, dass S tatsächlich einem Regressanspruch der V ausgesetzt ist.

a) §§ 535 II, 774 I 1 BGB

Zunächst könnte sich ein Anspruch der V gegen S aus dem gesetzlichen Forderungsübergang gem. § 774 I 1 ergeben. Soweit der Bürge den Gläubiger befriedigt, geht dessen Forderung gegen den Hauptschuldner auf den Bürgen über. Die Zahlung der V auf die vermeintlichen Mietrückstände des S bewirkte jedoch keine Befriedigung des E. Dessen Anspruch aus § 535 II war bereits mit der Zahlung durch S selbst gem. § 362 I erloschen. Somit konnte es auch nicht zu einer cessio legis des Anspruchs kommen. Die Bürgschaft als solche besteht jedoch fort und ist nicht etwa wegen der Akzessorietät zur Hauptforderung erloschen, 36 da die Bürgschaft nicht konkret für die Mietrückstände, sondern als allgemeine Mietkautionsbürgschaft ausgestaltet ist.

b) §§ 670, 675 BGB

aa) Geschäftsbesorgungsvertrag

Möglicherweise löste die Zahlung der V jedoch einen Regressanspruch unabhängig vom Bestehen der Hauptforderung aus. Der Stellung der Mietkautionsbürgschaft liegt laut Sachverhalt ein Vertrag zwischen S und V zu Grunde. Bei lebensnaher Sachverhaltsauslegung handelt es sich hierbei um einen Geschäftsbesorgungsvertrag gem. § 675 I und nicht etwa um einen Auftrag gem. § 662. 37 Die Versicherung verbürgt sich gegen Entgelt für den Fall, dass Forderungen aus dem Mietverhältnis offen bleiben.

bb) Erforderliche Aufwendungen

Anspruchsgrundlage für einen Regress hinsichtlich an den Vermieter geleisteter Zahlung ist dann kraft Verweisung in § 675 I die Vorschrift des § 670. Aufwendungsersatz ist bereits dann geschuldet, wenn der Bürge die Leistung an den Gläubiger für erforderlich halten durfte; nicht allein dann, wenn die Forderung tatsächlich bestand. Hierbei ist zu beachten, dass im Bürgschaftsvertrag die Einrede der Vorausklage wirksam ausgeschlossen war. Dass dies grundsätzlich möglich ist, lässt sich an § 773 I Nr. 1 ablesen. Auch in AGB wäre der Verzicht auf die Einrede der Vorausklage möglich. 38 V konnte den E also nicht gem. § 771 auf eine Zwangsvollstreckung gegen den S verweisen. Außerdem hatte V gegenüber S angezeigt, demnächst an E zu leisten. Da S nicht reagierte, durfte V davon ausgehen, dass S keine Einreden geltend machen könne oder wolle, die gem. § 768 auch der Bürge dem Gläubiger entgegenhalten kann. Auch vom Erlöschen der Hauptforderung hatte V trotz Benachrichtigung des S keine Kenntnis. Der Umstand, dass die Hauptforderung tatsächlich bereits durch Erfüllung erloschen war, hindert einen Regressanspruch der V gem. § 670 nicht. 39 Maßgeblich ist allein, dass der Bürge gleichwohl seine Leistung für erforderlich halten durfte. 40

3. Zwischenergebnis

Durch die unberechtigte Inanspruchnahme der Bürgin hat E eine Rücksichtnahmepflicht aus dem Mietvertrag verletzt, da er eine Belastung des S mit Ansprüchen der V ausgelöst hat, ohne dazu durch einen Bürgschaftsvertrag berechtigt zu sein.

III. Vertretenmüssen

Gem. § 280 I 2 wird das Vertretenmüssen vermutet. Vorliegend hätte E durch die Kontrolle seiner Konten feststellen können, dass eine Inanspruchnahme der V wegen der Mietrückstände nicht mehr angezeigt war. Auch wenn die Zahlung erst zwei Tage vorher bei ihm eingegangen ist, gehört es zur im Verkehr erforderlichen Sorgfalt sich vor der Inanspruchnahme des Bürgen zu vergewissern, ob der Anspruch noch besteht. Der Umstand, dass E über 20 Wohnungen vermietet, bewirkt keine Absenkung des Sorgfaltsmaßstabs, sondern eher noch eine Verschärfung wegen seiner Geschäftserfahrung. Ein Vertretenmüssen liegt vor.

IV. Schaden

Der Schaden des S liegt in der Belastung mit einem Anspruch der V. 41

V. Anspruchsinhalt

Solange S nicht an V gezahlt hat, kann er von E jedoch lediglich die Befreiung von der Verbindlichkeit durch Zahlung an V verlangen. 42 Dies entspricht dem Prinzip der Naturalrestitution des § 249 I. Durch die Zahlung des E als Drittem im Sinne des § 267 auf die Verbindlichkeit des S gegenüber V aus §§ 670, 675 wird der Schaden des S beseitigt, der gerade in der Belastung mit dieser Verbindlichkeit lag.

VI. Aufrechnung, § 389 BGB

Der Anspruch des S auf Schadensersatz könnte jedoch gem. § 389 erloschen sein. Die Aussage des E gegenüber S, er „verrechne das mit seinem Schaden wegen des Brandes“ ist als Aufrechnungserklärung im Sinne des § 388 zu verstehen.

Fraglich ist jedoch, ob auch eine Aufrechnungslage gem. § 387 gegeben ist. Die Schadensersatzforderung des E gegen S gem. §§ 280 I, 241 II, 535 und gem. § 823 I wegen Eigentumsverletzung besteht. 43 Insbesondere beruht die kleine Unachtsamkeit im Umgang mit dem Adventskranz auf einem fahrlässigen Verhalten. Der Anspruch des E gegen S steht mit der Schadensersatzforderung des S gegen E gem. §§ 280 I, 241 II in einem Gegenseitigkeitsverhältnis. Allerdings müssten die Forderungen auch gleichartig sein. Der Anspruch des E gegen S ist eine Geldforderung, der Anspruch des S gegen E ist hingegen, wie gezeigt, auf die Befreiung von einer Verbindlichkeit gerichtet. Diese beiden Forderungen sind daher nicht gleichartig. 44 Sie beinhalten verschiedenartige Leistungsverpflichtungen. Eine Aufrechnung ist daher nicht möglich.

VII. Zurückbehaltungsrecht, § 273 I BGB

Neben der unwirksamen Aufrechnung beruft sich E jedoch hilfsweise auf ein Zurückbehaltungsrecht, indem er sagt, S sehe von ihm kein Geld, ehe er nicht die Schäden am Parkett beglichen habe. Voraussetzung eines Zurückbehaltungsrechts gem. § 273 I ist über die bereits geprüfte Gegenseitigkeit hinaus eine gewisse Konnexität. Dasselbe rechtliche Verhältnis ist im weitesten Sinne zu verstehen. 45 Es genügt, wenn ein zusammenhängendes einheitliches Lebensverhältnis zugrunde liegt, die Ansprüche müssen nicht im selben Schuldverhältnis ihre Grundlage haben. Die Schadensersatzforderung des E und des S stehen durch den Lebenssachverhalt des zwischen ihnen bestehenden Mietverhältnisses und dessen Abwicklung in natürlichem Bezug. Konnexität ist daher gegeben.

Auf dieses Zurückbehaltungsrecht hat sich E auch aktiv berufen. Ausweislich § 274 bewirkt diese Einrede eine Pflicht zur Erfüllung Zug-um-Zug. E kann die Zahlung an V also solange verweigern, bis ihm S die Zahlung der 5.500 Euro wegen des Parketts anbietet. 46

Ergebnis: S kann von E gem. §§ 280 I, 241 II Zahlung von 5.000 Euro an V verlangen, allerdings nur Zug-um-Zug gegen Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 5.500 Euro gem. §§ 280 I, 241 II, 535 beziehungsweise gem. § 823 I.

*Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Rechtsgeschichte und geschichtliche Rechtsvergleichung (Romanistische Abteilung) der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.


Fußnoten:

  1. Der erzielte Durchschnitt betrug 4,66 Punkte bei einer Bearbeitungszeit von fünf Stunden.
  2. Palandt-Weidenkaff, 74. Auflage 2015, § 433 Rn. 5.
  3. Palandt-Grüneberg, § 314 Rn. 2.
  4. Palandt-Grüneberg, Überbl v § 311 Rn. 28.
  5. BGH, NJW 2013, 1083, 1084; Jauernig-Stürner, 15. Auflage 2014, § 398 Rn. 32.
  6. Palandt-Grüneberg, § 398 Rn. 41.
  7. Palandt-Weidenkaff, § 453 Rn. 6.
  8. Palandt-Ellenberger, Einf v § 158 Rn. 1.
  9. Da sich dem Sachverhalt nicht entnehmen lässt, dass L die Vertragsübernahme wegen der zweifelhaften Solvenz der Z ablehnt, über die sich E geirrt haben könnte, liegt auch kein Anfechtungsgrund wegen Irrtums über eine verkehrswesentliche Eigenschaft der Person gem. § 119 II vor. Grundsätzlich kann gerade bei Kreditgeschäften die Zahlungsfähigkeit und Kreditwürdigkeit eine verkehrswesentliche Eigenschaft der Person sein, siehe die Nachweise bei Palandt-Ellenberger, § 119 Rn. 26. Dies könnte auf den Fall prinzipiell übertragbar sein, da L zumindest in Vorleistung tritt.
  10. Auch wenn die Vertragsanpassung vorrangige Rechtsfolge des § 313 I ist, so ist vorliegend doch die weitergehende Kündigung gem. § 313 III 2 zu prüfen. E erklärt, der Wärmelieferungsvertrag sei hinfällig. Er möchte sich also ersichtlich ganz vom Vertrag lösen. Auch wenn die Kündigung das Dauerschuldverhältnis lediglich ex nunc beendet, siehe MüKo-Finkenauer, 6. Auflage 2012, § 313 Rn. 110, und deshalb der bereits entstandene Zahlungsanspruch für den Monat Oktober durch die Kündigung nicht beseitigt werden kann, so sind dennoch im Gutachten zwingend die Voraussetzungen der Kündigung vorab zu prüfen und erst auf Rechtsfolgenseite die konkrete Wirkung der Kündigung zu thematisieren, auf die es freilich im konkreten Fall nicht mehr ankommt.
  11. Zum Verhältnis von § 313 III 2 und § 314 siehe ausführlich mit Darstellung abweichender Meinungen MüKo-Finkenauer, § 313 Rn. 168 ff.
  12. St. Rspr. siehe nur BGH, NJW 2001, 1204, 1205.
  13. Palandt-Grüneberg, § 313 Rn. 38.
  14.  S. Palandt-Grüneberg, § 398 Rn. 41 für weitere Beispiele wobei § 566 m.E. hier fälschlich als Fall der Vertragsübernahme aufgeführt ist, siehe auch Palandt-Weidenkaff, § 566 Rn. 15.
  15. Vgl. Staudinger-Rieble, § 414 Rn. 120; Heinig, NJW 2011, 1722.
  16. Der BGH wendet § 415 ohne Weiteres entsprechend auf die gescheiterte Vertragsübernahme an, s. BGH, NJW 2012, 1718, 1720. Allerdings müssen die Voraussetzungen einer Analogie in der Klausur an dieser Stelle zwingend geprüft werden. Es handelt sich um einen weniger klaren Fall wie bspw. bei der analogen Anwendung der §§ 929 ff. auf die Übertragung des Anwartschaftsrechts, wo auch in der Klausur keine Herleitung der Analogie erwartet werden dürfte.
  17. § 320 ist nicht einschlägig, da es sich nicht um synallagmatische Pflichten handelt.
  18. § 415 III 2, 1 und § 329 sind nicht Anspruchsgrundlage, sondern umschreiben lediglich das Pflichtenprogramm aus der Übernahmevereinbarung.
  19. Palandt-Grüneberg, § 273 Rn. 9.
  20.  S. zur Unwirksamkeit von Schönheitsreparaturklauseln bei in unrenoviertem Zustand übergebener Wohnung BGH, NJW 2015, 1871, 1872 sowie BGH, NJW 2015, 1594. Der Mieter wäre unangemessen benachteiligt, wenn er zur Beseitigung von Gebrauchsspuren verpflichtet würde, die von dem Vormieter verursacht worden sind. BGH, NJW 2015, 1871, 1873 erklärt zudem sogenannte Quotenabgeltungsklauseln für unwirksam. Nach solchen Klauseln muss der Mieter einen Teil der zukünftig entstehenden Kosten für Schönheitsreparaturen tragen, wenn die Schönheitsreparaturen bei seinem Auszug noch nicht fällig sind. Der Senat begründet die Unwirksamkeit gem. § 307 I 1 damit, dass vom Mieter zur Ermittlung der auf ihn bei Vertragsbeendigung zukommenden Kostenbelastung mehrere hypothetische Betrachtungen anzustellen wären, die eine sichere Einschätzung der tatsächlichen Kostenbelastung nicht zulassen.
  21. BGH, NJW 2004, 2586.
  22. BGH, NJW 2006, 2115.
  23. BGH, NJW-RR 2009, 656.
  24.  S. zur Gesamtinfektion der Dekorationslastabwälzung schon bei unwirksamen Klauselbestandteilen zuletzt BGH, NJW 2015, 1874.
  25.  S. insbesondere die lesenswerte Entscheidung BGH, NJW 2014, 143.
  26. Während des laufenden Mietverhältnisses dürfen keine Vorgaben für die farbliche Gestaltung der Wohnung gemacht werden. Eine solche Klausel kann dafür sorgen, dass die Schönheitsreparaturklausel insgesamt unwirksam ist, BGH, NJW-RR 2009, 656. Für den Auszug ist die Vorgabe einer Renovierung in hellen deckenden Farben bei objektivem Renovierungsbedarf jedoch möglich.
  27. Vgl. Staudinger-Emmerich, Neubearbeitung 2014, § 538 Rn. 1: … „abnutzen“ dürfen.
  28. Langenberg/Zehelein, Schönheitsreparaturen, 5. Auflage 2015, Rn. 432.
  29. BGH, NZM 2009, 313, 314: Der dort zu entscheidende Fall hatte der vorliegenden Konstellation insofern entsprochen, als dass trotz unwirksamer Endrenovierungsklausel ungleichmäßig gestrichen worden war. Einen Schaden hatte der BGH abgelehnt, da der Vermieter – anders als vorliegend – ohnehin hätte streichen müssen.
  30. BGH, NZM 2008, 318, 319. Diese Rechtsprechung wird in der Entscheidung BGH, NJW 2015, 1871 bestätigt.
  31. BGH, NJW 2014, 143.
  32.  S. hierzu Palandt-Grüneberg, Vorb v § 249 Rn. 97 ff.
  33.  S. BGH, NJW 2014, 143 sowie vor allem die Vorinstanz LG Gießen, Urt. v. 7.11.2012, Az. 1 S 71/12.
  34.  S. Palandt-Grüneberg, § 280 Rn. 7.
  35.  S. Palandt-Grüneberg, § 280 Rn. 7.
  36.  S. hierzu MüKo-Habersack, 6. Auflage 2013, § 767 Rn. 3.
  37.  S. Palandt-Sprau, Einf v § 765 Rn. 5.
  38.  S. die Nachweise bei Palandt-Sprau, § 773 Rn. 2.
  39. Insofern leicht missverständlich Palandt-Sprau, § 774 Rn. 2; in den der dort zitierten Rechtsprechung zugrundeliegenden Fällen war die Bank statt einer normalen Bürgschaft eine Bürgschaft auf erstes Anfordern eingegangen und durfte gerade deshalb eine Leistung für nicht erforderlich halten.
  40. MüKo-Habersack, § 774 Rn. 15, 19.
  41.  S. die Rechtsprechungsnachweise bei MüKo-Oetker, 6. Auflage 2012, § 249 Rn. 16.
  42. Vgl. Palandt-Grüneberg, § 249 Rn. 4; siehe auch BGH, NJW 2007, 1809.
  43. Eine eingehende Prüfung der Schadensersatzansprüche wegen des Parketts erscheint in der vorliegenden Klausur nicht erforderlich, ist aber natürlich unschädlich.
  44. MüKo-Schlüter, 6. Auflage 2012, § 387 Rn. 34; siehe ferner die Nachweise bei BGH, NJW 1999, 1182, 1184.
  45. Palandt-Grüneberg, § 273 Rn. 9.
  46. Wegen der hilfsweisen Erklärung der Aufrechnung durch E bedarf es keiner Umdeutung der Aufrechnungserklärung im Sinne des § 140. Es liegt bereits die eigenständige, hilfsweise Geltendmachung eines Zurückbehaltungsrechts vor.

Notausgang Versammlungsverbot: Die versammlungsrechtliche Ultima Ratio in Zeiten von Pegida und Co.

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Tobias Ackermann*

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Wenn aufgebrachte „Wutbürger“ auf die Straße gehen, um gegen angebliche Überfremdungstendenzen, Salafisten oder kriminelle Ausländer zu protestieren, bietet dies nicht nur Zündstoff für gesellschaftspolitische Debatten, sondern stellt auch eine Herausforderung für die örtlichen Sicherheitskräfte dar. Das Verbot solcher Versammlungen mag augenscheinlich der einfachste Weg, muss in einer Demokratie aber das absolut letzte Mittel sein. Dieser Beitrag erläutert die rechtlichen Voraussetzungen eines Versammlungsverbotes vor dem Hintergrund der aktuellen Beispiele.

A. Einleitung

Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) gehört, so das BVerfG, zu den „unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens“ 1. Es garantiert die Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe und ist damit, wie die Meinungsfreiheit (Art. 5 I GG) selbst, „für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung konstituierend“ 2. Vor dem Hintergrund dieser nicht überschätzbaren Bedeutung der Versammlungsfreiheit leuchtet es ein, dass ein Versammlungsverbot – als stärkster Eingriff in dieses Grundrecht – regelmäßig große Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Im Frühjahr 2015 kam es – einerseits aufgrund der aufgeladenen Stimmung und vergangener Gewaltausbrüche, andererseits aufgrund terroristischer Bedrohungen – zu einer Vielzahl von versammlungsrechtlichen Maßnahmen im Kontext von Demonstrationen rechtspopulistischer Vereinigungen wie der sog. „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) und ähnlicher Ableger 3. Diese behördlichen Eingriffe stießen dabei teilweise auf scharfe Kritik 4, weshalb etwa Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) angesichts einer verbotenen Demonstration von Pegida beschwichtigte, sie habe „als Bundeskanzlerin, unbeschadet ob mir die Inhalte gefallen, ein Interesse daran, dass an jedem Ort in Deutschland demonstriert werden kann, weil es sich um ein Grundrecht handelt“ 5.

Der Staat hat freilich nicht nur ein Interesse, sondern die Pflicht, Grundrechtsausübungen zu gewährleisten. Art. 8 GG ist nicht nur ein Abwehrrecht gegen den Staat (status negativus) und schützt vor staatlichen Verboten und sonstigen Eingriffen, sondern verpflichtet die Behörden auch dazu, die Ausübung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit zu gewährleisten (status positivus) 6. Den Staat trifft damit einerseits die Pflicht, die Versammlungsteilnehmer selbst vor Gefahren von außen zu schützen, andererseits muss er aber auch Dritte und deren Grundrechte vor Gefahren, die von Versammlungsteilnehmern ausgehen, absichern. Die Abwehr- und Schutzdimensionen der Versammlungsfreiheit sind damit keinesfalls grenzenlos. Kollidiert die Versammlungsfreiheit mit anderen Grundrechten Dritter oder der Versammlungsteilnehmer selbst, kann erstere nach einer Abwägung ggf. zurücktreten 7. Kommt es daher dazu, dass die Versammlungsbehörde etwa einen ausreichenden Schutz von Unbeteiligten, Versammlungsteilnehmern oder Gegendemonstranten nicht gewährleisten kann, muss ein Einschreiten und – unter engen Voraussetzungen – auch das präventive Vollverbot der Versammlung möglich sein.

Wann immer der Staat einen solch intensiven Grundrechtseingriff vornimmt, trifft ihn allerdings eine Bringschuld: Er muss rechtfertigen, warum mildere Maßnahmen nicht ausreichten, warum andere Interessen vorgingen, warum gerade das Verbot verhältnismäßig war 8.

Dieser Artikel nimmt zwei aktuelle Beispiele von Versammlungsverboten, die in einem ersten Schritt näher vorgestellt werden (B.), zum Anlass, die rechtlichen Rahmenbedingungen eines Versammlungsverbotes darzustellen. Dabei werden zunächst der Versammlungsbegriff erläutert und das anwendbare Recht identifiziert (C.), um sodann die konkreten Voraussetzung eines Versammlungsverbotes darzulegen. Hierbei wird an den geeigneten Stellen auf einige Spezifika der aktuellen Fälle eingegangen (D.). Der Beitrag schließt mit einer Bewertung der jüngsten versammlungsrechtlichen Praxis (E.).

B. Die aktuellen Fälle

Die aktuellen Fälle von Versammlungsverboten fügen sich in die einleitend beschriebenen Konfliktfelder der Versammlungsfreiheit ein: Einerseits geht es um den Schutz der Versammlungsteilnehmer selbst vor externen Gefahren, andererseits um den Schutz Unbeteiligter vor befürchteten Gewaltausbrüchen seitens der Demonstranten.

Im Januar 2015 wurden – kurz nach den erschütternden Anschlägen von Paris – Demonstrationen in Dresden verboten, nachdem es zu terroristischen (Mord-)Drohungen gegen den Pegida-Initiator, Lutz Bachmann, gekommen war 9. Da nicht nur die Pegida-Demonstration selbst, sondern sämtliche öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel verboten werden sollten, erging die behördliche Maßnahme im Wege einer Allgemeinverfügung (vgl. § 35 Satz 2 VwVfG). Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU) verteidigte dieses Vorgehen: Nach Angaben des Bundeskriminalamtes sei mit „relevanter Wahrscheinlichkeit“ aus der Versammlung heraus ein Anschlag zu erwarten gewesen 10. Laut der Verfügung wurden Attentäter aufgerufen, sich unter die Pegida-Demonstranten zu mischen, „um zeitnah einen Mord“ zu begehen, weshalb in Anbetracht der „unmittelbaren Gefährdung von Leib und Leben einer Vielzahl von Personen“ ein Versammlungsverbot ergehen müsse 11.

Der zweite Fall betrifft eine Demonstration des Bündnisses „Leipzig gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Legida), die im Februar 2015 verboten wurde. Obwohl etwa 1.000 Polizisten verfügbar waren, sah die zuständige Behörde keine Möglichkeit, die „Sicherheit der Stadt“ angesichts der allgemein als radikal und gewaltbereit eingeschätzten Legida-Anhänger zu garantieren. Die Situation während einer vorangegangenen Legida-Demonstration war von der Polizei als „insgesamt sehr angespannt und aggressiv“ eingestuft worden 12. Nachdem zudem Legida-Vertreter zu einem Kooperationsgespräch mit den Leipziger Behörden nicht erschienen waren, die geplante Versammlung relativ kurzfristig angemeldet worden war und zur selben Zeit ähnliche Proteste in Dresden und Chemnitz geplant waren, entschied sich die Behörde für ein Verbot der Leipziger Demonstration 13. Der dortige Oberbürgermeister, Burkhard Jung (SPD), verteidigte das Vorgehen mit der Berufung auf einen „Polizeinotstand“: Die zu geringe Stärke des verfügbaren Polizeiaufgebots mache es unmöglich, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit zu gewährleisten 14.

C. Versammlungsbegriff und anwendbares Recht

I. Versammlungsbegriff

Nach Art. 8 I GG haben alle Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Was genau unter einer Versammlung zu verstehen ist, erklärt weder Art. 8 GG noch das einfache Gesetz und so wird der Begriff in mehreren Punkten unterschiedlich ausgelegt. Ausgangspunkt einer Definition kann aber sein, Versammlung als örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks zu verstehen 15.

Schon die Frage, wie viele Personen mindestens erforderlich sind, um eine Versammlung zu bilden, wird uneinheitlich beantwortet: Einerseits wird eine Ein-Personen-Versammlung wohl unstrittig als nicht ausreichend angesehen – schließlich kann sich schon begrifflich ein Einzelner nicht „versammeln“. Andererseits werden teilweise zwei (so wohl die h.M. im Schrifttum), drei oder sieben Teilnehmer als Untergrenze genannt 16. Praktische Bedeutung hat dieser Streit freilich kaum 17.

Auch die Frage, wie der Terminus „friedlich und ohne Waffen“ zu konkretisieren ist, ist umstritten. Bei diesem Kriterium handelt es sich um eine Eingrenzung des Schutzbereichs, d.h. dass eine Zusammenkunft, welche nicht „friedlich und ohne Waffen“ ist, bereits nicht vom Schutzumfang des Art. 8 GG erfasst ist 18. Nach h.M. ist eine Unfriedlichkeit erst gegeben, wenn ein gesteigertes Gefahrenpotential der Versammlung für die physische Integrität von Personen oder Sachen vorliegt 19. Einzelne Rechtsverstöße genügen damit noch nicht (so aber die Gegenauffassung 20) – vielmehr muss die Versammlung insgesamt ein „unfriedliches Gepräge“ aufweisen 21.

Probleme bereitet zudem die Frage nach der Qualität eines gemeinsamen Versammlungszwecks. Die Versammlung wird anhand des Kriteriums einer inneren Verbundenheit von einer bloßen Ansammlung abgegrenzt – Schulbeispiel für letztere sind die Schaulustigen bei einem Autounfall 22.

Welche Anforderungen an den Zweck der Versammlung zu stellen sind, ist wiederum umstritten. Die Meinungen lassen sich klassischerweise in die sog. engen, erweiterten und weiten Versammlungsbegriffe einteilen 23: Während die engste Ansicht nur die Meinungsbildung und -kundgabe bzgl. öffentlicher Angelegenheiten ausreichen lässt, genügt dem erweiterten Versammlungsbegriff eine gemeinschaftliche Meinungsbildung und -kundgabe jeder Art, auch bzgl. bloßer Privatangelegenheiten. Am weitesten geht demgegenüber die Auffassung, die gar keine inhaltlichen Anforderungen aufstellt und jeden Zweck ausreichen lässt.

Das BVerfG hat sich (nunmehr) der engen Auslegung des Versammlungsbegriffs zugewandt: Eine Versammlung sei „eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung“ 24.

Nach alledem sind Zusammenkünfte von Bürgern, welche (weitestgehend) friedlich zu politischen Themen demonstrieren – und mithin die Demonstrationen von Pegida und Co. – zweifelsohne Versammlungen im Sinne von Art. 8 GG und das unabhängig davon, welchen Versammlungsbegriff man zugrunde legt.

Anders aber könnte dies im Falle der Untersagung des Braunschweiger Karnevals, des sog. Schoduvel, zu beurteilen sein, welche – ähnlich wie im Fall Dresden – aufgrund von Hinweisen auf einen drohenden Terrorakt erging. Diese hätten sich, so Polizeipräsident Michael Pientka, so verdichtet, dass man sich für den vorrangigen Schutz von Leib und für eine Untersagung der Veranstaltung entschieden habe 25. Der Versammlungscharakter des Schoduvels muss angezweifelt werden, wenn man die Rechtsprechung des BVerfG zugrunde legt. Zwar wird man einem Karnevalsumzug die Kundgabe von gesellschaftskritischen Meinungen nicht komplett absprechen können. Allerdings entschied das Verfassungsgericht, dass Event-Veranstaltungen wie die „Love Parade“ oder die sog. „Fuckparade“ nicht schon deshalb Versammlungen seien, weil bei ihrer Gelegenheit auch Meinungskundgaben erfolgen. Vielmehr sei zu entscheiden, ob nach dem Gesamtgepräge eine Versammlung vorliege oder ob der Spaß-, Tanz- oder Unterhaltungszweck im Vordergrund stehe 26. Letzteres wird man wohl beim Schoduvel annehmen müssen 27.

Liegt aber eine Versammlung vor, stellt sich als nächstes die Frage, wie die Versammlungsfreiheit durch das einfache Gesetz reguliert ist.

II. Anwendbares Recht

Grundlage für mögliche Eingriffe in die Versammlungsfreiheit ist das Versammlungsrecht, das für Versammlungen unter freiem Himmel den Gesetzesvorbehalt des Art. 8 II GG ausgestaltet. Es ist lex specialis für die Abwehr versammlungsspezifischer Gefahren und stellt insoweit eine abschließende Regelung dar, die die Bedeutung der Versammlungsfreiheit durch das Aufstellen besonderer Voraussetzungen für beschränkende Maßnahmen berücksichtigt. Damit diese Besonderheiten nicht umgangen werden, kann nicht nachrangig auf die allgemeinen Vorschriften des Polizeirechts Rückgriff genommen werden – das Versammlungsrecht ist „polizeifest“ 28.

Gleichwohl das Polizei- und Ordnungsrecht zu den klassischen Kompetenzen der Bundesländer gezählt wird 29, hatte bis zur Föderalismusreform vom 1. September 2006 der Bund die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht inne (vgl. Art. 74 I Nr. 3 GG a.F.). Von dieser Kompetenz hat er mit dem Versammlungsgesetz vom 15. November 1978 (VersG) Gebrauch gemacht. Nach Streichung des Versammlungsrechts aus Art. 74 I Nr. 3 GG a.F. besitzen nun zwar die Länder eine ausschließliche Kompetenz (Art. 70 I GG), jedoch wurde diese bislang nur von vier Bundesländern – namentlich Bayern, Niedersachsen, Sachsen und Sachsen-Anhalt 30 – umfassend 31 wahrgenommen. In allen anderen Ländern gilt das bundesgesetzliche VersG gem. Art. 125a I GG fort 32.

Die für ein Versammlungsverbot einschlägigen Ermächtigungsgrundlagen finden sich in den §§ 5 und 15 VersG, wobei § 5 VersG für öffentliche 33 Versammlungen in geschlossenen Räumen und § 15 VersG für solche unter freiem Himmel gelten. Schon Art. 8 GG unterscheidet diese beiden Arten der Versammlung 34, wenn er in seinem Absatz 2 nur für letztere einen expliziten Gesetzesvorbehalt enthält. Die Begrifflichkeiten sollten dabei nicht zu wörtlich, sondern eher als Metaphern verstanden werden 35. Nicht etwa die bauliche Überdachung ist entscheidend für die Frage, ob es sich um eine Versammlung unter freiem Himmel handelt oder nicht, sondern vielmehr, ob ein Kontakt der Versammlung mit dem allgemeinen Publikumsverkehr besteht oder ob die Versammlung zu allen Seiten gegenüber ihrer Umwelt abgegrenzt ist 36. So hat das BVerfG in seinem viel beachteten Fraport-Urteil entschieden, dass eine „Versammlung unter freiem Himmel“ selbst dann vorliegt, wenn sie in einem zu allen Seiten abgegrenzten Raum stattfindet – maßgeblich sei, dass es sich um einen „Ort der allgemeinen Kommunikation“ handle 37. Ratio der Unterscheidung ist nämlich, dass Versammlungen unter freiem Himmel ein erheblich größeres Konfliktpotential inne haben als solche in geschlossenen Räumen (und sie deshalb nach Art. 8 II GG auch (leichter) eingeschränkt werden können): Einerseits können von ihnen selbst Gefahren für Unbeteiligte, Gegendemonstranten oder Sicherheitskräfte ausgehen 38 und andererseits können sie leichter Ziel von Gefährdungen von außen werden 39. Dieses „höhere, weniger beherrschbare Gefahrenpotential“ existiere in einer Flughafenhalle, in der Demonstranten auf gegensätzliche Auffassungen treffen können, genauso wie auf der offenen Straße 40.

Aufgrund der praktisch höheren Relevanz, gerade im Kontext der aktuellen Beispiele, beschränkt sich dieser Beitrag auf die besonders störungsanfälligen Versammlungen unter freiem Himmel und damit auf das Versammlungsverbot nach § 15 I VersG.

D. Voraussetzungen eines Versammlungsverbots

Ein Verbot einer öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel kann die zuständige Behörde – in Baden-Württemberg ist es die Kreispolizeibehörde (§§ 1, 2 VersGZuV BW) 41 – idR. nach einer Anhörung (§ 28 VwVfG BW) aussprechen, wenn gem. § 15 I VersG nach den im Zeitpunkt der Entscheidung erkennbaren Umständen „die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung (…) unmittelbar gefährdet ist.“ Auch die erlassenen Landesgesetze setzen eine solche unmittelbare Gefährdung der Schutzgüter voraus. Teilweise wird sie noch ergänzt um explizite Bezugnahmen auf diejenigen Fallgruppen, in denen öffentliche Versammlungen in geschlossenen Räumen untersagt werden können 42. Jedoch ergeben sich aus diesen Verweisungen keine effektiven Unterschiede zur bundesgesetzlichen Regelung, da ohnehin die Verbotsgründe für Versammlungen in geschlossenen Räumen (vgl. § 5 VersG) erst Recht für solche unter freiem Himmel gelten 43. Die nachfolgenden Ausführungen gelten daher bundeslandunabhängig.

I. Unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung

Die Voraussetzungen eines Versammlungsverbots nach § 15 I VersG sind sehr weit gefasst und erinnern an typische Generalklauseln des Polizei- und Ordnungsrechts (vgl. z.B. §§ 1, 3 PolG BW, § 8 PolG NRW 44, Art. 11 BayPAG 45). Der Unterschied zu letzteren ist jedoch zweifach: Zum einen verlangt § 15 I VersG ausdrücklich eine qualifizierte „unmittelbare“ Gefährdung. Zum anderen ist wegen der herausragenden Stellung der Versammlungsfreiheit eine verfassungskonforme Auslegung der Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit und Ordnung geboten.

1. Die Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit und Ordnung

Die zentralen Schutzgüter des Polizei- und Ordnungsrechts sind weit gefasste, unbestimmte Rechtsbegriffe, deren allgemeines Verständnis aufgrund der verfassungsrechtlichen Bedeutung der Versammlungsfreiheit nicht ohne weiteres im Versammlungsrecht übernommen werden kann. Zwar mag ein weites Verständnis noch für die Rechtfertigung von „bestimmten Auflagen“ sowie sog. Minusmaßnahmen tauglich sein 46. Unter letzteren sind Maßnahmen zu verstehen, die weniger einschneidend sind als ein Verbot bzw. eine nachträgliche Auflösung (z.B. das Einschreiten gegen Einzelpersonen) und deshalb nach h.M. erst Recht auch von § 15 VersG erfasst sein müssen 47. Geht es aber um ein vollständiges Verbot einer Versammlung, also dem denkbar stärksten Eingriff in die Versammlungsfreiheit, muss eine verfassungskonforme Modifizierung vorgenommen werden 48. In diesem Sinne stellte das BVerfG klar, dass der Gesetzgeber die Ausübung der Versammlungsfreiheit nur „zum Schutz gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit begrenzen“ kann 49. Vor diesem Hintergrund sind § 15 I VersG und seine Schutzgüter restriktiv auszulegen.

Das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit erfasst nach allgemeiner Definition den Bestand und die Funktionsfähigkeit des Staates und seiner Einrichtungen, Individualrechte und -rechtsgüter sowie die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung 50. Da jedoch nur mit der Versammlungsfreiheit gleichrangige Rechtsgüter ein Versammlungsverbot rechtfertigen können, sind insoweit nur zentrale Individualrechte und -rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen) erfasst und vom Begriff der Rechtsordnung nur solche Normen relevant, die dem Schutz gerade dieser Interesse dienen – insbesondere also Strafnormen 51.

Die Gesamtheit der ungeschriebenen Normen, deren Befolgung nach den herrschenden sozialen und ethischen Auffassungen als unerlässliche Voraussetzung für ein geordnetes menschliches Zusammenleben angesehen wird, bildet das Schutzgut der öffentlichen Ordnung 52. In einer befürchteten Verletzung dieser ungeschriebenen Normen will die Rechtsprechung allerdings in der Regel keinen Verbotsgrund sehen, da nur der Schutz „elementarer Rechtsgüter“ ein Versammlungsverbot rechtfertige 53. Eine Ausnahme gelte allerdings dann, wenn durch eindeutige Provokationen die sozialen oder ethischen Anschauungen der Bürger in erheblicher Weise verletzt werden 54. So hat das BVerfG etwa das Verbot einer Versammlung von Rechtsextremen am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus für verfassungskonform erklärt 55. Allerdings ist zu betonen, dass es sich hierbei um eine von den jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalls abhängige Ausnahme handelt 56, und es dabei bleibt, dass eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung in den meisten Fällen ein Versammlungsverbot nicht rechtfertigen kann 57.

2. Unmittelbare Gefährdung

Eine unmittelbare Gefährdung für eines der Schutzgüter liegt vor, wenn das drohende Schadensereignis jederzeit, auch sofort, eintreten kann 58. Grundlage für eine solche Bewertung muss stets eine Gefahrenprognose mit dem Inhalt sein, dass eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist 59. Das BVerfG hat klargestellt, dass die Behörden hierbei „keine zu geringen Anforderungen“ aufstellen dürfen, da ihnen schließlich – im Falle unterschätzter Gefahrenpotentiale – immer noch die Möglichkeit einer späteren Auflösung der Versammlung (vgl. § 15 III VersG) verbleibe 60 sowie im Sinne des Übermaßverbotes auch noch nachträglich weniger einschneidende Auflagen oder Minusmaßnahmen verhängt werden können 61.

Das Vorliegen einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben der Versammlungsteilnehmer kann im Fall Dresden nur unterstellt werden, da die Glaubwürdigkeit der polizeilichen Hinweise auf einen möglichen Terror- bzw. Mordanschlag hier nicht überprüft werden können 62. Demgegenüber lässt sich der Fall Leipzig schon differenzierter betrachten. Nach den Einschätzungen der dortigen Behörde konnte mit den vorhandenen Polizeikräften die Sicherheit der Stadt nicht garantiert werden. Offenbar befürchtete man eine von den Legida-Anhängern ausgehende unmittelbare Gefährdung von Grundrechten Dritter. Ob eine solche unmittelbare Gefährdung allerdings tatsächlich vorlag, mag angezweifelt werden. Eine Gefahrenprognose darf nur auf den zum Zeitpunkt des Verbotserlasses erkennbaren Umständen, d.h. Tatsachen, und nicht auf bloßen Verdachtsmomenten oder Vermutungen fußen 63.

Entsprechend legen die Verwaltungsgerichte einen strengen Maßstab an die Gefahrenprognose an. So stellte das VG Köln fest, dass keine hinreichenden Belege und konkreten Anhaltspunkte dafür vorgebracht wurden, dass es anlässlich der fraglichen Versammlung des sog. „Kögida“ („Köln gegen Islamisierung und den Asylmissbrauch“) zu Störungen der öffentlichen Sicherheit kommen würde 64. Das VG Karlsruhe stellte im Kontext von „Kargida“ („Karlsruhe gegen die Islamisierung des Abendlandes“) fest, dass aus früheren Versammlungen, die einen gewalttätigen Verlauf genommen hatten, nicht ohne weiteres gefolgt werden könne, dass auch die in Frage stehende Versammlung einen gewalttätigen Verlauf nehmen werde 65. Und auch das OVG NRW betonte in einem kürzlich ergangenen Beschluss, dass bei drohenden Straftaten einzelner Teilnehmer nur unter sehr engen Voraussetzung gegen die gesamte Versammlung als solche vorgegangen werden könne 66.

Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist dies nur möglich, wenn eine kollektive Unfriedlichkeit zu befürchten ist 67. Eine Unfriedlichkeit liegt erst vor, „wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht schon, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt“ 68. Dies ist im Sinne der Gefahrenprognose zu befürchten, wenn der Veranstalter und sein Anhang selbst Gewalttätigkeiten beabsichtigen oder ein solches Verhalten anderer zumindest billigen. Zur Beurteilung dieser Voraussetzung müssen allerdings spezifische Erkenntnisse vorliegen wie etwa Aufrufe zu Gewalttaten oder andere konkrete Indizien 69. Steht eine kollektive Unfriedlichkeit dagegen nicht im Raum und begehen nur einzelne Demonstranten Ausschreitungen, muss die Versammlungsfreiheit für die friedlichen Teilnehmer gewährleistet werden 70.

Zur Beurteilung der Lage in Dresden bietet sich ein Blick auf einen ähnlichen Fall des VG Hannover an: Eine Versammlung der sog. „Hooligans gegen Salafisten“ („HoGeSa“) wurde mit dem Argument verboten, dass davon auszugehen sei, dass die Demonstration in Hannover einen ähnlichen Verlauf nehmen würde, wie eine vorherige Veranstaltung in Köln, bei der es zu schweren Ausschreitungen gekommen war 71. Im „HoGeSa“-Fall entschied das VG Hannover, dass sich die Versammlung zwar auf Meinungskundgabe richte und nicht per se auf die Ausübung von Gewalt. Trotzdem sei bei der Durchführung der Versammlung „mit großer Wahrscheinlichkeit“ mit einer unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zu rechnen. Das VG stützte sich dabei auf „konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte“ (z.B. Äußerungen von HoGeSa-Verantwortlichen im Internet, auch bzgl. der vorherigen Geschehnisse in Köln), die belegten, dass die Demonstranten aus der Hooliganszene mit dem Ziel anreisen würden, Gewalt gegen Menschen und Sachen auszuüben.

Ob solche konkreten Anhaltspunkte auch für die Legida-Demonstration vorlagen, kann dagegen angezweifelt werden.

II. Pflichtigkeit

Liegt eine unmittelbare Gefahrenlage für elementare Rechtsgüter vor, stellt sich in einem weiteren Schritt die Frage, ob der Versammlungsveranstalter auch pflichtig ist, d.h. ihm gegenüber ein Versammlungsverbot ausgesprochen werden kann 72. Mangels spezieller Regelungen zur Pflichtigkeit im VersG kann dabei auf die allgemeingültigen Regelungen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechtes zurückgegriffen werden 73.

1. Der Versammlungsveranstalter als Verhaltens-störer

Ist der Versammlungsveranstalter Verursacher der unmittelbaren Gefahr, kann dieser grundsätzlich als Verhaltens- bzw. Zustandsstörer in Anspruch genommen werden (vgl. §§ 6, 7 PolG BW sowie z.B. §§ 4, 5 PolG NRW, Art. 7, 8 BayPAG).

Geht man davon aus, dass eine unmittelbare Gefährdung im Legida-Fall vorlag, ist der Versammlungsveranstalter als unmittelbarer Verursacher und damit Handlungsstörer in der Tat polizeipflichtig.

Problematischer ist schon die Frage der Pflichtigkeit im Dresdener Fall. Verhaltensstörer ist nach der herrschenden Theorie der unmittelbaren Verursachung, wer die letzte Ursache für den Gefahreneintritt setzt 74. Dies sind nicht die Demonstranten selbst, sondern die mutmaßlichen Terroristen.

Eine Modifikation dieses Grundsatzes wird allerdings teilweise für die Figur des sog. Zweckveranlassers angenommen 75. Hiernach ist ausnahmsweise auch derjenige als Verhaltensstörer polizeipflichtig, der zwar streng genommen nicht die letzte Gefahrenursache setzt, allerdings entweder den Gefahreneintritt objektiv als typische Folge seines Handelns vorhersehen kann (so die objektive Theorie 76) oder die Gefahr gerade bezweckt oder zumindest billigend in Kauf nimmt (so die subjektive Theorie 77) 78.

Es erscheint jedoch zweifelhaft, ob die Figur des Zweckveranlassers im Versammlungsrecht überhaupt anwendbar ist 79. Wer eine Versammlung veranstaltet bzw. an ihr teilnimmt, übt sein Grundrecht aus. Legt man diese legitime Grundrechtsausübung als Störung aus, läuft man Gefahr, Dritten die Macht zu geben, durch Gewalt auf die Betätigung der Versammlungsfreiheit anderer einschränkend Einfluss zu nehmen; die Grundrechtsausübung hinge gerade von denjenigen ab, die diese stören wollen 80. Gegendemonstranten könnten so durch ihre eigene Gewaltbereitschaft die Versammlungsfreiheit anderer aushebeln 81. Die legitime Grundrechtsausübung an sich sollte daher nicht über die Figur des Zweckveranlassers als Störung gewertet werden 82.

Selbst wenn man trotz dieser Bedenken die Zweckveranlassung im Versammlungsrecht anwendet, sind jedenfalls im Dresdener Fall seine Voraussetzungen nicht erfüllt. Terroristische Bedrohungen waren weder bezweckt noch sind sie typische Folge von (Pedigda-)Versammlungen. Zweckveranlasser und damit Verhaltensstörer sind der Versammlungsveranstalter und die -teilnehmer damit in keinem Fall.

2. Der Versammlungsveranstalter als Nichtstörer

Gerade im Kontext von Demonstration und Gegendemonstration gilt der Grundsatz der vorrangingen Beanspruchung des Störers 83. Im Einzelfall können Maßnahmen gegen potentielle Störer jedoch unmöglich oder unzureichend sein. So wird die Lage zu beurteilen sein, wenn die Sicherheitsbehörden – und so war es in Dresden 84 und im Übrigen auch in Braunschweig – nur wenige konkrete Informationen über den geplanten Anschlagshergang oder die Identität der mutmaßlichen Täter haben. Daher muss zum Schutz elementarer Rechtsgüter ausnahmsweise gegen die Versammlung auch dann vorgegangen werden können, wenn diese keine Störereigenschaft besitzt.

Ein solches Einschreiten wird durch die sog. Notstandspflicht oder Nichtstörer-Regelung ermöglicht (vgl. § 9 PolG BW sowie z.B. § 6 PolG NRW oder Art. 10 BayPAG). Hiernach kann gegen denjenigen, der weder Verhaltens- noch Zustandsstörer ist, dann – und „nur dann“ (vgl. § 9 PolG BW) – vorgegangen werden, wenn auf andere Weise die Störung des Schutzgutes nicht verhindert oder beseitigt werden kann.

Das Verbot der Demonstration in Dresden ist ein Beispiel für ein solches Vorgehen. Nach Einschätzung der Behörden war ein Einschreiten gegen den potentiellen Störer (die mutmaßlichen Terroristen) unmöglich und die Gefahren für Leib und Leben derart schwerwiegend, dass die Demonstrationsfreiheit zurücktreten musste 85. Schon die gesetzliche Stellung des Nichtstörers als „absolute[r] Ausnahmefall“ 86 und seine hohen Voraussetzungen legen aber nahe, dass die ultima ratio eines Versammlungsverbotes gerade gegenüber einer friedlichen Versammlung auf Extremfälle beschränkt bleiben muss.

Nach den allgemeinen Regeln der Notstandspflicht (vgl. § 9 PolG BW) ist eine Inanspruchnahme als Nichtstörer explizit auch möglich, wenn „die eigenen Mittel der Polizei nicht ausreichen“, um die Störung für das Schutzgut zu verhindern. Im Versammlungsrecht sind davon insbesondere Fälle betroffen, in denen die Versammlung oder Unbeteiligte von Gegendemonstranten gefährdet werden, die verfügbaren Einsatzkräfte aber nicht ausreichen, um deren Schutz sicherzustellen 87. Während also mit der Berufung auf einen (echten 88) Polizeinotstand üblicherweise ein Einschreiten gegenüber Nichtstörern begründet wird 89, muss im Leipziger Fall hierauf nicht zurückgegriffen werden, da die Versammlung bzw. deren Veranstalter ohnehin als Verhaltensstörer zu identifizieren ist. Die Argumentation des Leipziger Oberbürgermeisters, der sich auf einen Polizeinotstand berufen hat, hat damit seine Relevanz nicht auf der Ebene der Pflichtigkeit, sondern allenfalls auf der Rechtsfolgenseite, d.h. im Rahmen der Ermessensprüfung.

III. Ermessen

Liegen die Voraussetzungen des § 15 I VersG vor, muss die Behörde ihr eingeräumtes Entschließungs- und Auswahlermessen („kann“) ordnungsgemäß ausüben.

1. Ermessensgrenzen

Das bedeutet zum einen, dass die üblichen Grenzen der Ermessensausübung beachtet werden müssen, wobei insbesondere die Verhältnismäßigkeit eingehend zu prüfen ist. Nicht nur muss die Behörde im Rahmen der Angemessenheitsprüfung eine ordnungsgemäße Abwägung unter besonderer Berücksichtigung des herausragenden Stellenwertes der Versammlungsfreiheit angestellt haben 90. Es muss auch streng geprüft werden, ob das präventive Verbot tatsächlich erforderlich ist. Erforderlich ist eine Maßnahme, wenn kein milderes, d.h. weniger intensiv eingreifendes, aber genauso wirksames Mittel ersichtlich ist 91. In Betracht kommen dabei nicht nur Auflagen, sondern auch die erwähnten Minusmaßnahmen vor Ort wie etwa das Vorgehen gegenüber Einzelpersonen, die innerhalb der Versammlung unfriedlich sind, bis hin zur Auflösung der Versammlung nach § 15 III VersG. So verwies auch im oben erwähnten Kargida-Fall das VG Karlsruhe die Behörde auf angemessene Reaktionen vor Ort, wenn sich die befürchteten Gefahren im Verlauf der Versammlung realisieren sollten 92.

Insofern wird man angesichts der Dresdener Terrorbedrohung den Behörden keinen Vorwurf machen können. Waren die Drohungen tatsächlich ernst zu nehmen und war ein Einschreiten gegen deren Urheber unmöglich, wäre keine andere Maßnahme genauso geeignet gewesen, die vorrangige Gesundheit und das Leben der Versammlungsteilnehmer zu schützen.

Kritischer wiederum ist der Fall Leipzig zu beurteilen. Das Versammlungsverbot soll stets das letzte Mittel sein, weshalb – wie bereits erwähnt – besonders an dessen Erforderlichkeit ein strenger Maßstab anzulegen ist.

Kann drohender Gewalt, die von der Versammlung selbst zu erwarten ist, aufgrund fehlender Einsatzstärke der Polizei nicht angemessen begegnet werden, wird das Argument des Polizeinotstandes relevant. Eine Unmöglichkeit ausreichenden Schutzes ist jedoch nicht ohne weiteres anzunehmen. Das BVerfG hat betont, dass die Versammlungsbehörde stets zu prüfen habe, ob ein (echter) polizeilicher Notstand „durch Modifikation der Versammlungsmodalitäten entfallen kann, ohne dadurch den konkreten Zweck der Versammlung zu vereiteln“ 93. Nur wenn die Versammlungsbehörde wegen Erfüllung vorrangiger staatlicher Aufgaben und trotz des Bemühens, ggf. externe Polizeikräfte hinzuziehen, nicht in der Lage sei, die Gefahr abzuwenden, käme ein Verbot in Betracht 94. Hierfür verlangt das Gericht konkrete Belege: „Eine pauschale Behauptung dieses Inhalts reicht nicht“ 95.

Diese Vorgaben gelten freilich vorrangig für den Fall eines Nichtstörers, für dessen Inanspruchnahme stets höhere Voraussetzungen anzunehmen sind als für die eines Störers. Dennoch erscheint fraglich, ob die Leipziger Behörde wirklich keine andere, mildere Maßnahme hätte ergreifen könne. Auch das Innenministerium Sachsens hielt ein Komplettverbot für nicht gerechtfertigt: Die verfügbaren Polizeikräfte hätten ebenso ausgereicht wie das Verhängen von Auflagen 96. Nach Presseberichten hatte zudem die Polizei im Vorfeld lediglich Bedenken bzgl. der „vorgeschlagenen Route“ geäußert 97, was die Möglichkeit einer Verlegung oder Einschränkung der Legida-Demo nahe legt.

Aufgrund einer fehlenden Einlegung von Rechtsmitteln seitens Legida 98 wird es zwar zu keiner gerichtlichen Überprüfung dieses Versammlungsverbotes kommen, doch kann dessen Erforderlichkeit und folglich dessen Rechtmäßigkeit mit guten Gründen angezweifelt werden.

2. Ordnungsgemäße Auswahl des Verbotsadressaten

Neben den Grenzen des Ermessens muss die Behörde zudem beachten, dass sie den im Falle eines Versammlungsverbots in Anspruch genommenen Veranstalter ordnungsgemäß als Pflichtigen auswählt. Dies wird relevant, wenn neben der Versammlung weitere Akteure, insbesondere Gegendemonstranten, auftreten, die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährden.

Dies veranschaulicht folgendes Beispiel: In Düsseldorf wurde am Anfang des Jahres 2015 eine geplante Kundgebung der „Dügida“ („Düsseldorf gegen die Islamisierung des Abendlandes“) mit Auflagen belegt, da – so die zuständige Behörde – aufgrund des Gewaltpotentials von Gegendemonstranten mit Ausschreitungen zu rechnen sei und nur durch eine verkürzte Wegstrecke Versammlungsteilnehmer und Unbeteiligte geschützt werden könnten. Das VG Düsseldorf verwarf diese Argumentation und erklärte die Auflage für rechtswidrig: Soweit Rechtsgüter durch Dritte, die nicht an der Versammlung teilnehmen, gefährdet werden, habe die Behörde gegen jene vorzugehen. Die Verhinderung oder gewaltsame Sprengung nicht verbotener Versammlungen sei strafbares Unrecht (§ 21 VersG), gegen das die Polizei einzuschreiten habe 99. Wie bereits im Rahmen der Pflichtigkeit erwähnt, hat damit die Inanspruchnahme des Störers (der gewaltbereiten Gegendemonstranten) Vorrang vor einer Inanspruchnahme des Veranstalters der Ausgangsversammlung als Nichtstörer.Keinesfalls dürfe, so das BVerfG, der Nichtstörer einem Störer gleichgestellt und die Auswahl des Adressaten der versammlungsrechtlichen Verfügung von bloßen Zweckmäßigkeitserwägungen abhängig gemacht werden. 100 Drohen Gewalttaten als Gegenreaktion auf Versammlungen, so sei es Aufgabe der Behörden, in unparteiischer Weise auf die Verwirklichung der Versammlungsfreiheit für die Grundrechtsträger hinzuwirken 101.

E. Fazit

In der ersten Hälfte des Jahres 2015 war das Versammlungsrecht in der Verwaltungsgerichtsbarkeit wie in der medialen Wahrnehmung besonders präsent. Die Versammlungsfreiheit ist ein politisches Kollektivrecht, weshalb naturgemäß auch das Verhängen von Versammlungsverboten eine politische Färbung aufweist. Dies gilt nicht nur, wenn es gegen Demonstrationen von Extremisten oder Populisten gerichtet ist, sondern auch wenn sonstige von Entscheidungsträgern als unbequem empfundene Meinungen vertreten werden. Letzteres zeigt das rechtswidrige behördliche Vorgehen gegen ein Protestcamp von G7-Gegnern nur zu deutlich 102.

Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gilt für jeden und zwar ohne inhaltliche Bewertung der jeweils vertretenen Meinung 103. Primär hat der Staat die Pflicht, die legitime Ausübung der Grundrechte zu gewährleisten, mag dies auch aufwändig und kostenintensiv sein. Während auf drohende Gewalt anders geantwortet werden kann als mit dem Verbot einer Versammlung – namentlich mit Auflagen oder Maßnahmen gegen Einzelpersonen –, darf auf kritikwürdige 104 Meinungen nicht die Versammlungsbehörde, sondern der öffentliche Diskurs, der „geistige Meinungskampf“ 105 die Antwort sein 106. Gerade diesem Ziel dient die Versammlungsfreiheit.

Versagt wird dieser verfassungsrechtliche Schutz nur, wenn die Gewaltausübung im Fokus der „Versammlung“ liegt: Es gibt kein Recht auf Unfrieden 107. Gewaltsame Ausschreitungen, vorgeblich motiviert durch die Furcht vor islamistischem Extremismus, wie man sie etwa bei der HoGeSa-Demonstration in Köln beobachten musste, gehören damit weder zu den Mitteln des Meinungsaustausches in einem Rechtsstaat noch verleiht ihnen das Grundgesetz den Deckmantel der Versammlungsfreiheit.

Auf solche Gewaltexzesse genauso wie auf terroristische Bedrohungen muss der Staat entsprechend scharf reagieren können – ein Freibrief dürfen Bedrohungen dieser Art allerdings nicht darstellen. Bundesinnenminister Thomas De Maizière (CDU) betonte im Dresdener Kontext, dass Hinweise zu terroristischen Anschlägen immer im Einzelfall bewertet und abgewogen werden müssten. Es sei, so der Minister, gefährlich, Hinweise zu schnell abzutun 108. Und in der Tat ist es gut verständlich, wenn ein Entscheidungsträger die Folgen von (falschen) Beurteilungen vor Augen hat, wenn an deren Ende Verletzte oder gar Tote stehen könnten 109. Die mit Recht intensiv geführte Debatte um das Versagen der Geheimdienste im sog. NSU-Skandal mag insofern vielleicht zu Sensibilisierungseffekten geführt haben.

Zwar ist daher die Argumentation nachvollziehbar, man verbiete lieber eine Demonstration zu viel, als eine zu wenig. Sie darf aber nicht zum Automatismus werden. So haben Behörden zuletzt teilweise kritikwürdige Entscheidungen getroffen – eine Inventur der Gerichtsentscheidungen, an deren Ende der jeweilige Eingriff in die Versammlungsfreiheit als rechtswidrig bewertet wurde, zeigt dies deutlich 110.

Das Versammlungsverbot mag der direkteste Weg sein, Gefahren abzuwehren, er darf allerdings in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat nicht zum Regelfall werden. Und so legen die Gerichte mit Recht große Steine auf den Weg des Versammlungsverbots. Die Exekutive stolpert über diese Hürden allzu oft. Sie tut gut daran, den Weg als das zu erkennen, was er ist: Nicht als Abkürzung, sondern als Notausgang für den absoluten Ausnahmefall. Sonst droht die ultima ratio zur Standardmaßnahme zu werden.

 

*Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) und Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Völkerrecht von Professor Dr. Pierre Thielbörger, Ruhr-Universität Bochum.


Fußnoten:

  1. BVerfGE 69, 315, 344 – dieser Brokdorf-Beschluss stellt die Grundsatzentscheidung zum Versammlungsrecht dar.
  2. BVerfGE 69, 315, 344-345. Vgl. ferner zur Bedeutung der Versammlungsfreiheit BVerwG, NVwZ 2007, 1431, 1432.
  3. Hierzu Geiges/Marg/Walter, Pegida. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft? (2015).
  4. Vgl. z.B. „Nach dem Versammlungsverbot wegen Terrordrohung: Kritik an der Einschränkung der Meinungsfreiheit“, Legal Tribune Online, 19.01.2015, abrufbar unter: www.lto.de/persistent/a_id/14414; „Nach Versammlungsverbot in Dresden: ‚Drohungen dürfen Meinungsfreiheit nicht beschränken‘“, MDR, 19.01.2015, abrufbar unter: www.mdr.de/nachrichten/legida-magida100.html; Eichstädt, „Warum Legida nicht aufmarschieren darf“, Die Welt Online, 07.02.2015, abrufbar unter: www.welt.de/137223742.
  5. „Merkel: Demonstrationen müssen an jedem Ort möglich sein“, Frankfurter Allgemeine Zeitung Online, 19.01.2015, abrufbar unter: www.faz.net/-gpg-7yr6u.
  6. Maunz/Dürig/Depenheuer, Art. 8 GG, Rn. 111-113; allgemein hierzu Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte: Staatrecht II (2014), Rn. 74-82.
  7. Vgl. dazu z.B. BVerfG, NVwZ 2004, 90, 92 und ferner etwa BVerfGE 41, 29, 51; 81, 298, 308.
  8. Die Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen eines Versammlungsverbots trägt die Behörde, vgl. BVerfG, NJW 2001, 2078, 2079; VGH München, 30.04.2009, 10 CS 09.1008, Rn. 14 (nach juris); Weber, KommJur 2010, 172, 176.
  9. „Nach Versammlungsverbot in Dresden: ‚Drohungen dürfen Meinungsfreiheit nicht beschränken‘“, MDR, 19.01.2015, abrufbar unter: www.mdr.de/nachrichten/legida-magida100.html.
  10. „Innenminister rechtfertigt Versammlungsverbot“, Focus Online, 28.01.2015, abrufbar unter: www.focus.de/4436665.
  11. Die Allgemeinverfügung ist abrufbar unter: www.polizei.sachsen.de/de/dokumente/PDD/20150118XAllgemeinverfXgung.pdf.
  12. Eichstädt, „Warum Legida nicht aufmarschieren darf“, Die Welt Online, 07.02.2015, abrufbar unter: www.welt.de/137223742.
  13. Eichstädt, „Warum Legida nicht aufmarschieren darf“, Die Welt Online, 07.02.2015, abrufbar unter: www.welt.de/137223742.
  14. „Demonstrationsverbot für Legida am Montag in Leipzig“, Focus Online, 07.02.2015, abrufbar unter: www.focus.de/4460556.
  15. Vgl. BVerfG, NJW 2002, 1031.
  16. Siehe BeckOK-GG/Schneider, Art. 8 Rn. 4; Maunz/Dürig/Depenheuer, Art. 8 GG, Rn. 44 jeweils mwN.
  17. Maunz/Dürig/Depenheuer, Art. 8 GG, Rn. 44.
  18. BVerfGE 69, 315, 360; Maunz/Dürig/Depenheuer, Art. 8 GG, Rn. 78.
  19. BVerfGE 69, 315, 360; Maunz/Dürig/Depenheuer, Art. 8 GG, Rn. 79 mwN.
  20. Z.B. Maunz/Dürig/Depenheuer, Art. 8 GG, Rn. 80.
  21. Tölle, NVwZ 2001, 153, 156.
  22. Maunz/Dürig/Depenheuer, Art. 8 GG, Rn. 46.
  23. Vgl. Kniesel, NJW 2000, 2857-2858; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte: Staatrecht II (2014), Rn. 749 ff.; Wiefelspütz, NJW 2002, 274-275 mwN. zu den genannten Auffassungen.
  24. BVerfG, NJW 2002, 1031, 1032; BVerfG, NVwZ 2014, 1453; BVerfG, NJW 2014, 2706, 2707.
  25. „Absage von Schoduvel schockt Braunschweig“, NDR, 15.02.2015, abrufbar unter: www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/braunschweig_harz_goettingen/

    Absage-von-Schoduvel-schockt-Braunschweig,schoduvel284.html.

  26. BVerfG, NJW 2001, 2459, 2460.
  27. So auch bzgl. Karnevalsumzüge allgemein VG Berlin, 23.11.2004, 1 A 271.01, Rn. 27 (nach juris); Wache, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 1 VersG, Rn. 33.
  28. BVerfG, NVwZ 2005, 80, 81 (ständige Rspr.); BeckOK-GG/Schneider, Art. 8, Rn. 40; Wache, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Vorbemerkung zum VersG, Rn. 8.
  29. Tettinger/Erbguth/Mann, Besonderes Verwaltungsrecht: Kommunalrecht, Polizei- und Ordnungsrecht, Baurecht (2012), Rn. 374.
  30. Vgl. das BayVersG (v. 22.07.2008, Bay. GVBl. 2008, 421), das NVersG (v. 07.10.2010, Nds. GVBl. 2010, 465 und 532), das SächsVersG (v. 25.01.2012, Sächs. GVBl. 2012, 54) sowie das VersG LSA (v. 03.12.2009, GVBl. LSA 2009, 558). Vgl. auch Wache, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Vorbemerkung zum VersG, Rn. 13.
  31. In Brandenburg wurde mit dem GräbVersammlG (v. 26.10.2006, GVBl. 2006, 114) lediglich ein kleiner Teilbereich des Versammlungsrechts neu geregelt, vgl. hierzu Steinhorst, Polizei- und Ordnungsrecht in Brandenburg (2009), Rn. 377-378.
  32. Hierzu ausführlich BeckOK-GG/Seiler, Art. 125a, insbesondere Rn. 3.1.
  33. Die Öffentlichkeit bemisst sich danach, ob die Versammlung für jedermann zugänglich ist, siehe Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte: Staatrecht II (2014), Rn. 765. Dies wird bei Versammlungen unter freiem Himmel stets der Fall sein.
  34. Das Kriterium der Öffentlichkeit ist allerdings Art. 8 GG unbekannt, vgl. zu den Unterschieden der Versammlungsbegriffe nach Art. 8 GG und dem VersG Dreier/Schulze-Fielitz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 8, Rn. 57.
  35. Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte: Staatrecht II (2014), Rn. 764.
  36. BeckOK-GG/Schneider, Art. 8, Rn. 37.
  37. BVerfG, NJW 2011, 1201, 1205 – Fraport.
  38. Vgl. dazu Pelzer, „Politisch motivierte Gewalt auf Demonstrationen“, abrufbar unter: www.bpb.de/politik/innenpolitik/innere-sicherheit/76644/politisch-motivierte-gewalt?p=all.
  39. Vgl. BVerfGE 69, 315, 348; Epping, Grundrechte (2014), Rn. 44; Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht (2014), § 36 Rn. 7.
  40. BVerfG, NJW 2011, 1201, 1205.
  41. V. 25.05.1977, GBl. BW 1997, 196. Vgl. auch z.B. § 1 VersammlGZustV NRW (v. 02.02.1987, GV NRW 1987, 62); §§ 2, 3 VersG-ZustVO M-V (v. 21.07.1994, GVOBl. M-V 1994, 804).
  42. Siehe Art. 15 I BayVersG; § 8 II 1 NVersG; § 15 I SächsVersG; § 13 I VersG LSA.
  43. Wache, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 15 VersG, Rn. 4.
  44. V. 25.07.2003, GV. NRW 2003, 441.
  45. V. 14.09.1990, GVBl. 1990, 397.
  46. BeckOK-GG/Schneider, Art. 8, Rn. 54.
  47. Vgl. Maunz/Dürig/Depenheuer, Art. 8 GG, Rn. 153. Es ist umstritten, ob hierbei § 15 I VersG, § 15 III VersG oder § 15 III VersG iVm. den jeweiligen Vorschriften des jeweils geltenden Landespolizeigesetzes als Ermächtigungsgrundlage dient; vgl. Krüper/Kühr, ZJS 2012, 785, 788 mwN.
  48. Vgl. Maunz/Dürig/Depenheuer, Art. 8 GG, Rn. 156; Weber, KommJur 2010, 172, 173.
  49. BVerfGE 69, 315, 348-349.
  50. Waechter, NVwZ 1997, 729, 733.
  51. BVerfGE 69, 315, 352; Wache, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 15 VersG Rn. 6.
  52. BVerfG, NJW 2001, 2069, 2071; siehe hierzu Waechter, NVwZ 1997, 729, 729-737.
  53. BVerfGE 69, 315, 353; BVerfG NJW 2007, 2167, 2169.
  54. BVerfG NJW 2001, 1409, 1410; BVerfG NVwZ 2012, 749; BVerwG NVwZ 2014, 883, 885;
  55. BVerfG NJW 2001, 1409, 1410.
  56. OVG Münster, 25.03.2015, 15 B 358/15, Rn. 10 (nach juris).
  57. Vgl. hierzu die Meinungsverschiedenheit zwischen dem OVG Münster, NJW 2001, 2111, 2114 und dem BVerfG, NJW 2001, 2076, 2077 im Kontext rechtsextremistischer Versammlungen.
  58. BVerfGE 69, 315, 353-354.
  59. BVerfGE 69, 315, 353; VG Köln, 13.01.2015, 20 L 62/15, Rn. 12 (nach juris).
  60. BVerfGE 69, 315, 354.
  61. Vgl. z.B. BVerwGE 64, 55; VGH Kassel, NVwZ-RR 2011, 519, 521.
  62. Die Einzelheiten zu den Bedrohungen wurden aus taktischen Gründen nicht offengelegt, vgl. „Innenminister sehen keine weitere Anschlagsgefahr“, Handelsblatt Online, 19.01.2015, abfb. u.: www.handelsblatt.com/11250590.html.
  63. BVerfGE 69, 315, 353; OVG NRW, 25.03.2015, 15 B 359/15, Rn. 10 (nach juris); VG Köln, 13.01.2015, 20 L 62/15, Rn. 12 (nach juris).
  64. VG Köln, 13.01.2015, 20 L 62/15, Rn. 14 (nach juris).
  65. VG Karlsruhe, 23.03.2015, 3 K 1388/15, Rn. 19 (nach juris).
  66. OVG NRW, 25.03.2015, 15 B 359/15, Rn. 10 (nach juris).
  67. VG Hannover, 13.11.2014, 10 B 12882/14, Rn. 26 (nach juris).
  68. BVerfG, NJW 2002, 1031, 1032.
  69. BVerfG, NVwZ-RR 2000, 554, 555; siehe hierzu Gaßner, Die Rechtsprechung zur Versammlungsfreiheit im internationalen Vergleich (2012), S. 93.
  70. VG Hannover, 13.11.2014, 10 B 12882/14, Rn. 26 (nach juris).
  71. Siehe etwa „Hooligan-Demonstration in Köln: ‚Eine neue Qualität der Gewalt‘“, Frankfurter Allgemeine Zeitung Online, 26.10.2014, abrufbar unter: www.faz.net/-gpg-7vl4s.
  72. Vgl. hierzu Hartmann, JuS 2008, 593.
  73. Weber, KommJur 2010, 172, 178.
  74. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht (2013), Rn. 242 mwN.
  75. Vgl. hierzu Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht (2013), Rn. 244 -245 (der hierin keine Ausnahme von, sondern nur einen bestimmten Gesichtspunkt der Theorie der unmittelbaren Verursachung sieht).
  76. Z.B. OVG Lüneburg, NVwZ 1988, 638, 639.
  77. Z.B. VGH Kassel, NVwZ 1992, 1111, 1113.
  78. Daneben existiert eine gemischt objektiv-subjektive Ansicht, vgl. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht (2013), Rn. 245.
  79. Ablehnend auch Erbel, JuS 1985, 257 ff.; Rühl, NVwZ 1988, 577, 578; wohl auch Weber, KommJur 2010, 172, 178. Die Anwendbarkeit wurde bislang vom BVerfG offen gelassen, vgl. BVerfG, NVwZ 2000, 1406.
  80. Vgl. BVerfGE 69, 315, 361.
  81. Vgl. Hoffmann-Riem, NVwZ 2002, 257, 263.
  82. So auch Rühl, NVwZ 1988, 577, 578; skeptisch auch Hoffmann-Riem, Versammlungsfreiheit, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band IV (2011), S. 1117, 1137 (Rn. 35).
  83. Vgl. BVerfG, NJW 1998, 2965.
  84. Vgl. die Begründung der Allgemeinverfügung, abrufbar unter: www.polizei.sachsen.de/de/dokumente/PDD/20150118XAllgemeinverfXgung.pdf.
  85. Vgl. wiederum die Begründung der Allgemeinverfügung, abrufbar unter: www.polizei.sachsen.de/de/dokumente/PDD/20150118XAllgemeinverfXgung.pdf.
  86. Weber, KommJur 2010, 172, 178.
  87. Weber, KommJur 2010, 172, 178; Hoffmann-Riem, NVwZ 2002, 257, 263.
  88. Vgl. ausführlich Rühl, NVwZ 1988, 577, 581-584.
  89. BVerfG, NJW 2001, 1411, 1412; VG Lüneburg, 18.11.2005, 3 B 80/05.
  90. Dies betont etwa auch Weber, KommJur 2010, 172, 177; vgl. zudem BVerfGE 69, 315, 353.
  91. Vgl. BVerfGE 30, 292, 316.
  92. VG Karlsruhe, 23.03.2015, 3 K 1388/15, Rn. 19 (nach juris).
  93. BVerfG, NVwZ 2000, 1406, 1407.
  94. Vgl. BVerfG, NJW 2001, 2069, 2072.
  95. BVerfG, NJW 2001, 2069, 2072.
  96. Eichstädt, „Legida-Absage bringt Sachsen in Erklärungsnot“, Die Welt Online, 08.02.2015, abrufbar unter: www.welt.de/137247932; „Demonstrationsverbot für Legida am Montag in Leipzig“, Focus Online, 07.02.2015, abrufbar unter: www.focus.de/4460556.
  97. Eichstädt, „Warum Legida nicht aufmarschieren darf“, Die Welt Online, 07.02.2015, abrufbar unter: www.welt.de/137223742.
  98. „Legida nimmt Demo-Verbot offenbar hin – Kräftemessen in Dresden“; Focus Online, 09.02.2015, abrufbar unter: www.focus.de/4461114.
  99. VG Düsseldorf, 19.01.2015, 18 L 120/15 Rn. 7 (nach juris).
  100. BVerfG, NVwZ-RR 2007, 641, 642.
  101. BVerfG, NVwZ-RR 2007, 641, 642.
  102. Rechtsgrundlage für das Verbot des Protestcamps war allerdings nicht das VersG, sondern die verweigerte Erlaubnis nach Art. 25 II Landesstraf- und Verordnungsgesetz Bayern (BayRS II, S. 241), siehe VG München, 02.06.2015, M 22 E 15.2155.
  103. Hoffmann-Riem, NJW 2004, 2777, 2779.
  104. Vgl. Hebel/Knaack/Sydow, „Pegida-Faktencheck: Die Angstbürger“, Spiegel Online, 12.12.2014, www.spiegel.de/politik/deutschland/pegida-die-thesen-im-faktencheck-a-1008098.html.
  105. Begriff nach BVerfGE 25, 256, 264 – Blinkfüer.
  106. Kritisch allerdings Kissler, „Lehren aus Pegida: Unsere Demokratie steckt in den Kinderschuhen“, Cicero, 03.02.2015, abrufbar unter: www.cicero.de/salon/lehren-aus-pegida-unsere-demokratie-steckt-den-kinderschuhen/58821
  107. Vgl. Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht (2014), § 36 Rn. 3.
  108. „De Maizière: Versammlungsverbot ist verantwortliche Entscheidung“, Süddeutsche Zeitung, 19.01.2015, abrufbar unter: www.sueddeutsche.de/news/panorama/terrorismus-de-maizire-versammlungsverbot-ist-verantwortliche-entscheidung-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-150119-99-07932.
  109. Vgl. Biermann/Bangel, „Wenn der Staat die Notbremse zieht“, Zeit Online, 16.02.2015, abrufbar unter: www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-02/braunschweig-karneval-terror-polizei.
  110. So in den Fällen VG Hannover, 13.11.2014, 10 B 12882/14; VG Köln, 13.01.2015, 20 L 62/15; VG Düsseldorf, 19.01.2015, 18 L 120/15; VG Düsseldorf, 23.02.2015, 18 L 586/15 und OVG NRW, 25.03.2015, 15 B 358/15.

Bookboon.com und campushelfer: Who´s that?

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Julia Kurth*

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Kopenhagen und Freiburg i.Br. – was haben diese Universitätsstädte gemeinsam? Ganz einfach: Zwei junge Startups, die die Welt eines Jurastudenten mit ihren Konzepten bereichern können. Freilaw hat sie kennengelernt.

Freilaw: Was war Ihre Gründungsmotivation und welche Ziele verfolgen Sie jeweils?

Bookboon.com:

Bookboon.com wurde im Jahr 1988 in Dänemark unter dem Namen Ventus Verlag gegründet und war von Anbeginn auf Bücher im Bildungsbereich spezialisiert. Im Jahr 2005 verwandelte sich das Unternehmen in einen eBook Verlag und wurde zum weltweit größten Online Buchverlag, der kostenlose Lehrbücher für Studenten anbietet.

Die Idee für Bookboon.com entstand während des Studiums der beiden Gründer und Brüder Kristian und Thomas Buus Madsen. Da die Standardwerke in der Bibliothek ständig ausgeliehen waren, zogen Studienkollegen Kopien der Bücher und verkauften diese vor dem Lehrsaal. Die Gründer suchten deshalb ein Konzept, das dem Lehrbuchbedarf der Studenten gerecht und gleichwohl in der Welt des modernen Verlagswesens blühen sollte.

Mit dem Ziel, so vielen Studenten wie möglich kostenlose Bildungsliteratur zur Verfügung zu stellen, ist Bookboon.com weltweit, darunter in Entwicklungsländern wie Indien und Nigeria, aktiv und bietet eine Auswahl an über 900 Lehrbüchern für Studenten in sieben Sprachen an.

campushelfer:

Campushelfer soll eine Möglichkeit schaffen, die es so an den Universitäten noch nicht gab, die aber von vielen Studierenden dringend benötigt wird: Individuelle Betreuung bei der Erarbeitung konkreter Probleme und beim Erlernen der richtigen Klausurtechnik im Jurastudium.

Während die Idee für campushelfer entstand, waren wir (die Gründer) akademische Mitarbeiter an der Universität Freiburg. Im Rahmen der von uns geleiteten AGs sind wir wiederholt von Studierenden auch nach den Veranstaltungen gefragt worden, wie man bestimmte Klausurprobleme angehen soll. Andere wollten wissen, wer einem bei der Erarbeitung derselben helfen könne, wenn man die Lehrbücher nicht versteht oder trotz großen Lernaufwandes und viel vorhandenen Wissens in Klausuren nicht zufriedenstellend abschneidet. Da haben wir bemerkt, dass es ein Bedürfnis nach individuell zugeschnittener Betreuung gibt, die in der gewünschten Weise von der Uni nicht abgedeckt wird und in dieser individuellen Form natürlich auch nicht abgedeckt werden kann. Hier wollen wir jedem Studierenden die Möglichkeit geben, individuell abgestimmte Erklärungsansätze zu erhalten und so das Bildungsangebot abrunden.

Freilaw: Wie setzen Sie Ihre Idee um bzw. wie funktioniert Ihr System?

campushelfer:

Unsere Idee der bestmöglichen individuellen Betreuung basiert natürlich auf einem Höchstmaß an Qualität im Hinblick auf die Dozenten. Im Rahmen unseres Auswahlprozesses spielen neben der fachlichen Eignung deshalb auch die didaktischen Fähigkeiten des Dozenten eine große Rolle. Gleichzeitig haben wir an jedem unserer Standorte einen lokalen Koordinator, der aus unserem Dozentenpool den Dozenten aussucht, der am besten zum jeweiligen Studierenden passt.

In der Praxis läuft das Ganze dann folgendermaßen ab: Nachdem wir eine Anfrage erhalten und erste Informationen mit dem Studierenden ausgetauscht haben, wird dieser von unserem lokalen Koordinator am zuständigen Standort kontaktiert. Dieser ermittelt in einem persönlichen Gespräch mit dem Studierenden, welcher unserer Dozenten am besten zu den jeweiligen Bedürfnissen passt. Im Anschluss an dieses Gespräch lernt der Studierende seinen Dozenten kennen und vereinbart mit diesem den genauen Ablauf der angefragten Stunden. Da mischen wir uns auch nicht mehr ein, sondern Vertrauen auf die Erfahrung unserer Dozenten.

Bookboon.com:

Wir finanzieren unsere Lehrbücher durch Employer Branding Werbeanzeigen. Dabei haben wir ein Limit von 15% Werbung pro Buch. Auf diese Weise werben Unternehmen Hochschulabsolventen an. Mit anderen Worten bezahlen die zukünftigen Arbeitgeber die Lehrbücher.

Die Bücher sind im PDF-Format lesbar und sehr leicht herunterzuladen. Dazu braucht der/die Leser/in kein Konto zu eröffnen.

Freilaw: Inwiefern können Jurastudierende von Ihnen und Ihren Dienstleistungen profitieren?

Bookboon.com:

Auf Bookboon.com gibt es auch Lehrbücher für Studenten der Rechtswissenschaft, wie z.B. „Grundlagen des Wirtschaftsprivatrechts“ oder „Grundzüge des Handelsrechts“. Darüber hinaus verfügen wir über sehr viele fort- und weiterbildende Bücher, die beispielsweise erklären, wie man Excel benutzt oder sich auf ein Vorstellungsgespräch vorbereitet.

campushelfer:

Die Chancen für Jurastudierende, die sich uns anvertrauen, liegen vor allem in der Individualität unserer Betreuung und der Erfahrung unserer Dozenten. Im Gegensatz zu den üblichen Repetitorien gibt es bei uns keinen Stoff, der durchgenommen werden muss. Stattdessen holen wir jeden Studierenden genau dort ab, wo er sich momentan befindet und behandeln dann nur die Punkte, die den Nachhilfeschüler in seiner konkreten Situation weiterbringen. Bekanntes und Beherrschtes zu wiederholen ist zwar angenehm und beruhigend, aber häufig wenig zielführend. Zugleich bleiben wir nicht bei den hergebrachten Erklärungsansätzen aus Skripten und Lehrbüchern, sondern suchen so lange nach dem richtigen Weg, einen Sachverhalt zu erklären, bis der jeweilige Student die Lösung nicht nur gehört, sondern auch verstanden hat. Unser primäres Ziel besteht dabei stets darin, den Studierenden wieder zum eigenständigen Lernen zu verhelfen, so dass er in Zukunft sein Studium mit Spaß auch ohne unsere Hilfe meistern kann. Im Idealfall machen wir uns also selbst überflüssig.

 

*Die Autorin studiert Rechtswissenschaften im sechsten Semester an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

Raus aus der Bibliothek – Ran an den Verhandlungstisch

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Erfahrungsbericht des Willem C. Vis International Commercial Arbitration Moot 2014/2015

Hannah Beck und Claire Presting*

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I. Moot Court – Was ist das eigentlich?

Ein Moot Court – was soll das eigentlich sein, fragen sich wohl die meisten. Es ist die Bezeichnung für ein simuliertes Gerichtsverfahren, das auf einem fiktiven Fall beruht. Die Bearbeiter nehmen dabei die Rolle der Anwälte ein, verfassen Schriftsätze und führen mündliche Verhandlungen.

II. Was macht den Vis Moot so besonders?

Der Willem C. Vis International Commercial Arbitration Moot – kurz genannt – Vis Moot zeichnet sich dadurch aus, dass er der größte zivilrechtliche Moot Court weltweit ist. An diesem prestigeträchtigen Wettbewerb nehmen jährlich über 300 Universitäten teil. Der erste Vis Moot fand 1994 in Wien statt, wobei Freiburg schon damals als Gründungsmitglied unter den zu diesem Zeitpunkt nur 11 Teams war und seitdem jedes Jahr teilnimmt.

Im Unterschied zu anderen Moot Courts findet kein nationaler Vorentscheid statt, sondern das Freiburger Team wie alle anderen auch fährt auf jeden Fall nach Hongkong und Wien. In Hongkong findet der Vis East statt, der als kleine Schwester des Wiener Wettbewerbs bezeichnet werden kann und 2004 ins Leben gerufen wurde. Obwohl der Vis East ursprünglich asiatische Teams zur Teilnahme anregen sollte, steht der Wettbewerb in Hong Kong auch nicht-asiatischen Teams offen. Die beiden Wettbewerbe laufen parallel und beschäftigen sich mit dem gleichen fiktiven Fall.

In diesem fiktiven Fall sind Rechtsgebiete relevant, die im Studium nicht behandelt werden, in der Praxis aber große Relevanz haben, wie z.B. das Schiedsverfahrensrecht und das UN-Kaufrecht. So handelt es sich bei dem Fall jedes Jahr um ein auf Englisch geführtes Schiedsverfahren, das sich mit einem Fall aus dem internationalen Kaufrecht befasst.

Freiburg tritt hierbei erfolgreich gegen Universitäten wie Harvard oder die Sorbonne an, wobei im Vordergrund jedoch zudem ganz klar die Freude am Kennenlernen von Studenten aus der ganzen Welt, neuer Rechtsmaterie und das Sammeln von Erfahrungen, die man so vielleicht nie wieder machen wird, steht.

Die Teilnahme am Wettbewerb nimmt das ganze Wintersemester ein, von Anfang Oktober bis ca. Ende März des darauffolgenden Jahres. Jedoch erhalten die Teilnehmer des Freiburger Teams dafür den Fremdsprachnachweis, einen Nachweis für eine Schlüsselqualifikation, einen Seminarschein und ein Freisemester auf den Freischuss angerechnet, sodass man nach dem neunten Fachsemester den Freischuss schreiben kann. Das Absolvieren der in diesem Semester anfallenden Scheine, zumeist bei Drittsemestern der kleine BGB und Öff, ist ohne Probleme möglich und bisher auch dank gezielter Vorbereitung in einem „Crashkurs“ noch jedem Mootie gelungen.

III. Die Anfangsphase

Das Erlebnis Moot fängt wie so oft mit einer Bewerbung an. Schriftlich müssen Motivationsschreiben und Lebenslauf auf Englisch verfasst werden, es ist aber jeder automatisch dadurch zum Auswahlwochenende eingeladen. In Freiburg bewerben sich vor allem Zweitsemester, Bewerbungen von Studierenden höherer Semester sind jedoch sehr willkommen.

Für den ersten Tag dieses Wochenendes bekommt jeder Bewerber ein Urteil des BGH aus dem UN-Kaufrecht. Dieses gilt es in den Tagen vor dem Wochenende so aufzubereiten, dass der Bewerber es in 10 Minuten als gutachterlicher Falllösung vortragen kann. Darauf folgt eine Fragerunde zu den Themen des Falles. Anschließend findet ein „Showpleading“ des letzten Moot-Teams statt, um den Bewerbern zu demonstrieren, was sie in Hongkong und Wien erwarten könnte. Nahezu völliges Unverständnis und der Glaube „zu so etwas bin ich ja nie im Leben fähig“ sind weder ungewöhnlich noch irgendwie schädlich. Umso besser, später zu sehen, dass man genau das eben doch schaffen kann.

Abends gibt es die Möglichkeit sich bei Bier und Pizza mit den Ehemaligen des Vis Moots über den Wettbewerb auszutauschen, diese kennenzulernen, und im Gespräch herauszufinden, ob das nicht etwas für einen sein könnte.

Am nächsten Tag bekommt jeder Bewerber noch eine „Moot“-Aufgabe zugeteilt. Anschließend folgt ein kurzes persönliches Gespräch auf Englisch und dann heißt es warten auf den Anruf.

Wir acht wurden schließlich aus ca. 40 Bewerbern für das Freiburger Team des 22. Vis Moots ausgewählt und kamen alle gerade ins dritte Semester. Es folgten ein erstes Teamtreffen und Kennenlernen mit unseren zwei Coaches. Und dann hieß es noch einmal gut durchatmen und in den Sommersemesterferien entspannen bevor es losgehen sollte, so gut das eben ging mit zwei Hausarbeiten.

Das Abenteuer begann auf einer kleinen Hütte im Schwarzwald zwei Wochen vor Semesterbeginn, denn der Sachverhalt wird jedes Jahr schon am ersten Freitag im Oktober veröffentlicht. Dort erhielten wir von unseren Coaches eine kleine Einführung in das UN-Kaufrecht und das Schiedsverfahrensrecht, wovon keiner von uns jemals zuvor gehört hatte. Doch im Vordergrund stand definitiv das Kennenlernen bei Werwolf-Spielen und Spaghetti Bolo kochen.

IV. Die Schriftsatzphase

Als wir begeistert und voller Vorfreude auf das, was uns in den nächsten Monaten erwarten würde, von der Hütte im Schwarzwald zurückgekommen waren, stand uns das Lesen des Sachverhaltes bevor. Motiviert verschlungen wir sonntags die ca. 60-seitige Fallakte, bevor es am nächsten Tag endlich losgehen würde.

Montagmorgen in unserem neuen Büro angekommen, wurde wir von unseren Coaches in drei Gruppen unterteilt, die sich jeweils mit einer Fragestellung aus dem Sachverhalt – dem englisch ausgesprochenen „Problem“ – beschäftigten. Zwei davon waren von prozessrechtlicher Natur, eines war materiell rechtlich. Und dann begann die Recherche und das viele, viele Lesen.

Neu als Team zusammengewürfelt gingen wir am ersten Tag gleich gemeinsam Mittagessen und haben uns auch eine Kaffeemaschine gekauft. Denn jetzt mussten wir – zumindest für Studenten – immer vergleichsweise frühaufstehen und nicht alle aus unserem Team kann man als Frühaufsteher bezeichnen.

Während wir uns an der Literaturrecherche und den uns bis dahin unbekannten Datenbanken versuchten, vergingen die ersten Tage schnell. Immer mal wieder kamen einige ehemalige Mooties mit allerlei Süßigkeiten und Schokolade vorbei, um sich uns vorzustellen. Namen über Namen prasselten auf uns ein und sie kannten uns alle schon… Auch das gelegentliche Werwolfspiel mit dem ein oder anderem Ehemaligen durfte natürlich nicht fehlen. Zu schnell war das erste Wochenende gekommen an dem wir unseren ersten Versuch eines „Schriftsatzes“ an unsere Coaches abzugeben hatten.

Stolz über jedes Thema ca. zehn Seiten geschrieben zu haben, wurden diese bei der Besprechung am nächsten Montag mit den Coaches im wahrsten Sinne des Wortes auseinander genommen. Wir bekamen Tipps und Anregungen, fingen jedoch gefühlt wieder bei Null an. In diesen ersten drei Wochen wurden jede Woche die Gruppen und Themen getauscht, um einen groben Überblick über den gesamten Fall zu bekommen. Nach dieser dreiwöchigen Rotation wurden wir dann jedoch in unsere Gruppen und Themenbereiche für den Klägerschriftsatz eingeteilt.

Jede Woche sah ungefähr so aus: ein Tag Besprechen, drei Tage Recherche und dann in zwei Tagen einen kompletten Schriftsatz schreiben. Jeden Samstag wurde unser Schriftsatz an zwei oder drei Ehemalige geschickt, die ihn dann lasen. Jeden Montag aufs Neue kamen die Ehemaligen zu uns ins Büro zur Besprechung. Sie gaben uns viel inhaltliches, sowie sprachliches Feedback, mit dem wir dann in die neue Woche starten konnten.

Neben dem Schriftsatzschreiben ist auch das wöchentlich stattfindende „Mootie-Mittagessen“ nicht zu vergessen. Einmal die Woche gingen wir gemeinsam als Team mit unseren Coaches und den Ehemaligen zusammen in die Mensa. Natürlich war auch der Moot ein häufiges Gesprächsthema, aber die Ehemaligen hatten auch immer ein offenes Ohr für jegliche, andere Fragen unsererseits. So lernten wir nach und nach die ganze „Moot-Familie“ kennen.

Um nicht gänzlich ohne Vorbereitung in die anstehenden Klausuren im kleinen BGB und Öff gehen zu müssen, wurde für uns und die Teilnehmern der anderen Moot Courts ein Crashkurs als Klausuren Vorbereitung angeboten. Dankend versuchten wir, uns neben dem CISG und Schiedsverfahrensrecht, noch die Grundlagen des BGB und der Grundrechte anzueignen. Glücklicherweise bestanden wir alle im ersten Anlauf und konnten uns wieder voll und ganz auf unseren Schriftsatz konzentrieren.

Nach ungefähr fünf Wochen haben wir begonnen, getrennt an einem Schriftsatz für Hongkong und Wien zu schreiben. In dieser intensiven Zeit war es unumgänglich, nicht manchmal auch aneinander zu geraten. Auf der anderen Seite haben wir aber auch unglaublich viel miteinander gelacht und es haben sich kleine Rituale entwickelt. Ein kleines Nickerchen in der Mittagspause gemacht? – Schon gab es ein Photo davon. Einmal kurz auf Toilette gegangen? – Hallo neuer Facebook-Post. Pünktlich versuchen zu acht zum Mittagessen zu gehen? – Fehlanzeige. Wie man sieht, kam neben der harten Arbeit auch ein bisschen Spaß nicht zu kurz.

Gegen Ende der Claimant Schriftsatzphase bekam jeder von uns noch eine Zusatzaufgabe. Ein Intro und ein Zeitstrahl mussten erstellt und geschrieben werden, auch wollten wir unser Inhalts- und Fallverzeichnis noch ein bisschen aufbessern. Dafür wurde ein Teammitglied zur General Literature Managerin ernannt und wehe, wir hatten am nächsten Morgen nicht mehr Quellen und Fälle wie am Vortag…

Die letzte Woche brach an, der Schriftsatz wurde hauptsächlich nur noch Korrektur gelesen und einige problematischen Stellen noch einmal verbessert. Passt jeder Satz auf den vorigen? Verstehe ich es, wenn ich keine Ahnung vom Thema habe? Kommt hier ein Komma hin oder nicht? Welchen Buchstaben in der Überschrift schreibe ich groß und welchen klein? Wo passt ein Absatz am besten? Viel wurde noch über die kleinsten Kleinigkeiten diskutiert, aber wir wollten, dass unser Schriftsatz perfekt wird.

Unglaublich schnell war nach einer Woche, während der wir jeden Tag in der Uni waren, Donnerstag, der 11. Dezember, gekommen – der Tag der ersten Abgabe. Jetzt wurde der Schriftsatz in die Formatvorlage eingefügt, das Inhalts- und Fallverzeichnis fertiggestellt und alle halbe Stunde eine Sicherheitskopie gemacht. Tick tack, tick tack, Mitternacht rückte immer näher… Um halb 12 kamen wir alle in einem Raum zusammen und schickten beide Schriftsätze ab! Danach war die Freude groß, wir stießen an und feierten mit vielen Ehemaligen die ganze Nacht.

Anschließend hatten wir alle erst einmal drei Tage frei, eine Pause die wir dringend benötigten, uns aber auch redlich verdient hatten. Und dann fing alles wieder von vorne an. Wir bekamen zwei Kläger-Schriftsätze von anderen Unis zugelost (Arizona State University und National University of Singapore), auf die wir nun zu antworten hatten. Hierfür hatten wir jetzt jedoch nur noch die Hälfte der Zeit, denn die nächste Abgabe war bereits am 22. Januar und zwischendrin hatten wir auch noch eine freie Woche über Weihnachten und Silvester.

Nachdem wir versucht hatten, die Akte mit den Augen der gegnerischen Seite zu lesen, die wir ja jetzt übernehmen sollten, ging es los. Wir mussten versuchen, alle Argumente, die wir in den letzten zweieinhalb Monaten hieb und stichfest gemacht hatten, zu zerstören. Ein Umdenken, welches zuerst nicht wirklich einfach war. Es half, dass wir zum Teil die Themen getauscht hatten und somit neuen Input bringen konnten, aber pro Themenbereich blieb ein Teammitglied, das bereits alle Fachkenntnisse hatte, was das Einarbeiten für die anderen erleichterte.

Wie im Flug waren die Wochen vergangen und auch der Tag der zweiten Abgabe war gekommen und dann – endlich abgegeben!

V. Die mündliche Vorbereitungsphase

Nachdem wir wohl verdient eine freie Woche genießen konnten, begann die mündliche Phase, die Vorbereitung auf die Pleadings in Hongkong und Wien. Zunächst galt es, die Speeches zu schreiben, also die Schriftsätze so aufzuarbeiten, dass man sie mündlich vortragen kann. 35 Seiten Schriftsatz in 30 min Sprechzeit pro Pleading-Team, das 2 Sprecher umfasst – gar nicht so einfach. Mehr und mehr änderten sich die Argumente aus den Schriftsätzen, wenn man merkte, dass manches einfach zu kompliziert ist, um es mündlich zu erklären. Jeder musste eine Rede für sowohl Beklagten-, als auch Klägerseite schreiben, da wir auch im Wettbewerb beide Seiten vortragen würden. Gar nicht so einfach, an einem Tag noch völlig überzeugt den Kläger zu vertreten und am nächsten Tag zu versuchen, die Schiedsrichter genau vom Gegenteil zu überzeugen. Im Gegenteil zu anderen Universitäten durften bei uns im Team alle Teammitglieder auch im Wettbewerb mindestens zwei Pleadings halten. Vier Teammitglieder traten in Hongkong an und vier in Wien. Wir reisten jedoch als ganzes Team mit unseren Coaches in beide Städte.

Deutlich entspannter im Vergleich zur Schriftsatzphase, mussten wir nun nur noch viermal die Woche abends zum Probepleading kommen, wobei die Ehemaligen für uns die Schiedsrichter spielten. Nun fing aber auch das Reisen an, nahezu jede Woche waren wir meist in Gruppen von vier Teammitgliedern unterwegs zu Kanzleien in Frankfurt, Stuttgart, München, Düsseldorf und Berlin. Dort fanden Probepleadings gegen Teams von anderen deutschen Universitäten statt, denen Anwälte der Kanzleien als Schiedsrichter vorsaßen. Dies war eine tolle Möglichkeit, große und mittelständische Kanzleien kennenzulernen, bei denen sich auch die Möglichkeit eines späteren Praktikums anbot. In Frankfurt nahmen wir zudem an der Advocacy School teil, die von der Frankfurter Moot Assocation ausgerichtet wurde. Hierbei bekamen wir die Möglichkeit, an einem Sprachtraining mit einer Sprachtrainerin, einer ehemaligen Musical-Sängerin, teilzunehmen, was auch aus nicht-juristischen Aspekten sehr interessant war. Zudem hatten wir unser erstes kleines Erfolgserlebnis, da wir bei einem kleinen Pre-Moot, einem „Vor“Wettbewerb, den die anwesenden ca. 7 deutschen Teams unter sich in Pleadings austrugen, als Gewinnerteam hervorgehen konnten.

Auch andere Pre-Moots waren Teil dieser Phase. Traditionell luden wir das Basler Team zu den „Freiburg Moot Classics“ nach Freiburg ein. Daran nahmen auch unsere ehemaligen Freiburger Mooties teil, wobei diese uns zeigten, wieviel an Argumentations- und Rhetorikfähigkeiten von der Teilnahme am Moot hängen bleibt, indem sie uns teilweise sogar in die Ecke argumentierten. Und das, obwohl wir es doch waren, die sich die letzten 4 Monate intensivst mit dem Moot-Fall auseinandergesetzt hatten.

Außerdem nahmen wir an den All Munich Rounds, ein Pre-Moot, der vom Münchner Team ausgerichtet wurde, und am Berliner Pre-Moot an der Humboldt Universität teil. Die gemeinsamen Reisen und Erlebnisse schweißten uns alle noch mehr zusammen, sodass wir Anfang März dem krönenden Abschluss entgegenstanden.

VI. Der krönende Abschluss

Bevor wir endlich aufbrachen zu unserer großen Reise, hatten wir zwei Tage frei, die einige von uns nutzen, um nochmal nach Hause zu fahren. Gemeinsam ging es dann von Frankfurt aus los. Mit Zwischenstopp in London waren wir nach einigen Stunden endlich im gerüchteumwobenen Hongkong angekommen.

Während der Zeit in Freiburg hatten wir von den Ehemaligen viele Geschichten und Gerüchte erzählt bekommen, vor allem über unsere Unterkunft – die Chungking Mansions. Die Chungking Mansions sind einfach irgendein Gebäude, sondern ein im Jahre 1961 erbautes Labyrinth aus Wohnungen, Hostels, Wechselstuben, Souvenirständen und indischen Restaurants, welchen sich über 5 Blöcke je 17 Stockwerke erstreckt. Es dauerte ein paar Tage, bis wir unseren Weg gefunden hatten, denn je nachdem welches Treppenhaus man nahm, kam man an gänzlich unterschiedlichen Stellen raus. Es war ein Gewusel und andauernd wurde man angesprochen – „Indian food? New mobile? Mobile chip? Haschhhh?“ In unseren Zimmern angekommen, stellten wir fest, dass wenn einer seinen Koffer aufmachen wollte, die anderen beiden Zimmermitbewohner auf dem Bett sitzen mussten. Zwar hatten wir wenig Platz, waren aber sehr froh über die unerwartete Sauberkeit.

Nachdem wir uns kurz ausgeruht hatten, gingen wir gemeinsam runter zum Pier, um uns die atemberaubende Skyline von Hongkong Island anzuschauen. Tausende von Lichtern in den unterschiedlichsten Farben strahlten uns entgegen und manche Gebäude gaben auch eine beeindruckende Lichtershow her. Um den Abend gemeinsam ausklingen zu lassen, beschlossen wir uns in eines der indischen Restaurants im Labyrinth der Chungking Mansions zu trauen, welches unsere Coaches schon von ihrer eigenen Vis Moot Erfahrung in Hongkong vor drei Jahr kannten.

Am nächsten Tag stand noch ein letzter Pre-Moot an der von der Chinese University of Hongkong an, der von der ICC organisiert wurde und an dem wir unter anderem gegen das Team aus Yale antraten. Noch einmal das Feedback mitgenommen, ging es abends zur Welcome Party über dem Hafen von Hongkong auf einer Dachterrasse, die auch wieder einen unglaublichen Blick auf die Skyline ermöglichte. So konnten wir schon mal das ein oder andere Team kennen lernen oder Teams, die wir bereits kannten, wiedertreffen. Auch wurden wir mysteriöserweise gefragt, ob wir schon „die anderen Freiburger“ getroffen hätten, die uns suchen würden. Später mehr dazu.

Schon war der letzte Tag vor dem ersten Pleading gekommen. Die Wien-Sprecher nutzen die Zeit um sich die Stadt anzuschauen, während wir Hongkong-Sprecher nochmals von den Coaches vorbereitet wurden und den Schriftsatz der gegnerischen Uni lasen, um etwaige Überraschungen am nächsten Tag zu vermeiden. Am Abend ging es dann zur Official Welcome Reception und der Vis Moot East wurde eröffnet. Wieder kam eine Uni auf uns zu und fragte, ob die Freiburger uns gestern noch getroffen hätten. Wir, leicht verwirrt, spekulierten, wer es denn sein könne, und plötzlich standen sie vor uns – vier Ehemalige aus Freiburg! Und sie waren nicht allein, sondern hatten noch vier weitere dabei. Voller Freude über diese wahrhaftig gelungene Überraschung ließen wir den Abend gemeinsam ausklingen.

Angespannt vor dem ersten Pleading, vergingen die nächsten vier Tage wie im Flug. Gegen die National University of Singapore, Notre Dame aus Australien, Kabul University und UIBE Peking traten wir vier Hongkong-Sprecher an. Wir hatten jeweils zwei Pleadings, eins als Kläger und eins als Beklagter. Tagsüber hieß es immer noch einmal vorbereiten und abends fanden meist Veranstaltungen statt, die vor allem von den Wien-Sprechern bis spät in die Nacht besucht wurden. Oftmals waren wir abends mit den Ehemaligen essen und probierten uns so durch diverse Geschmäcke. Vegetarisches chinesisches und indischen Essen, sowie traditionelle „Dim Sum“ in einem ehemals mit einem Michelin Star ausgezeichneten Restaurant, aber auch ein traditionelles chinesisches Abendessen mit dem Team der Chinese University of Hongkong stand auf dem Programm. Bei dem traditionellen chinesischen Abendessen saßen wir alle an einem großen runden Tisch, das Essen in der Mitte und es kam immer mehr und immer neue Gerichte. Das Team der Chinese University brachte uns bei, wie wir die Stäbchen richtig benutzen und auch den ein oder anderen chinesischen Ausdruck.

Nach unserem letzten Pleading hatten wir die schleichend langen Stunden bis zur Kundgabe, welche Teams es in die Runde der besten 32 Teams geschafft hatten, zu überbrücken. Wir beschlossen, die Zeit zu nutzen und den Victoria Peak zu besteigen. Mit dem Bus hochgefahren, konnten wir den unglaublichen Blick über das Hochhausmeer sowie einsame Buchten genießen. Oben angekommen, hoch über dem Finanzdistrikt, wanderten wir einmal um den Peak.

Schnell duschen, wieder schick anziehen und ab in die Aula, während noch die Ergebnisse der letzten Pleadings zusammengezählt wurden, galt es, alle Mooties die gebannt auf die Ergebnisse warteten, zu beschäftigten. Gleich sollten wir erfahren ob wir es in die Final Rounds, die Runde der 32 besten Teams geschafften, hatten. Es wurde der sogenannte Moot Song vorgetragen und dann ging es los. Die Anspannung stieg, wir waren unsicher und rechneten fast nicht mehr damit, als plötzlich als dritte Uni die Universität Freiburg ausgerufen wurde. Wir konnten es kaum glauben, dass wir es eine Runde weiter geschafft hatten und am nächsten Tag gegen die National Chiao Tung University aus Taiwan antreten würden. Während unsere Wien-Sprecher den Einzug feiern gingen, stand den Hongkong-Sprechern ein Abend voller Arbeit bevor. Die Reden nochmal umschreiben, passende Sprichwörter überlegen, an der Einleitung feilen, Fälle raussuchen und alles durchgehen. Der Rat einiger Ehemaliger wurde für unser Schlussstatement eingeholt und dann mussten wir noch einmal genug Schlaf bekommen.

Aufgeregt vor unserem Pleading, bei dem wir recht viele Zuschauer hatten, ehemalige Mooties, sowie andere Unis, blendeten wir alles aus, sobald es losging. Überrascht, dass vom Tribunal keine Fragen kamen, konnten wir unsere Rede halten. Wir waren zwar zufrieden mit unserem Pleading, aber leider reicht es nicht ganz und Taiwan schaffte es eine Runde weiter. Für uns war der Wettbewerb in Hongkong zu Ende. Zeit genug, die letzten paar Tage in Hongkong noch zu genießen und die Stadt kennenzulernen. Somit ging es erstmal an den Strand.

Hongkong – bekannt für die Tempelanlagen und Märkte. Diese wollten wir am nächsten Tag entdecken. Wir besuchten ein altes Kloster mit einer wunderschönen Tempelanlage und schlenderten danach stundenlang über diverse Märkte – Blumenmarkt, Fischmarkt, Elektromarkt, Ladies’ market… und viele mehr. Am nächsten Tag wollten wir auch die umliegenden Inseln erkunden. Los ging es nach Lantau Island. Zuerst wollten wir uns den Tian Tan Buddha, auch Big Buddha genannt, anschauen, der mit einer Größe von 34m der größte seiner Art weltweit ist. Von weitem sah man ihn schon in den Berghängen sitzen. Vor Ort angekommen, mussten wir erstmal die 286 Stufen hinaufklettern, um ihn aus der Nähe begutachten zu können. Und was entdeckten wir? Ein großes Hakenkreuz prangte auf seiner Brust. Sichtlich verwundert und teilweise auch geschockt, fanden wir schnell heraus, dass dieses Symbol im Buddhismus Swastika genannt wird und als ein Zauber angesehen wird, der Glück bringt. Den Rest des Tages ließen wir gemütlich am Strand ausklingen, bevor wir am Abend noch den berühmt-berüchtigten Nightmarket besuchten, wo für jeden von uns eine Kleinigkeit als Erinnerung an die tolle Zeit dabei war.

Nicht zu vergessen ist natürlich auch die Fahrt mit der „Star Ferry“ vom Festland nach Hongkong Island – ein schwimmendes Stück Hongkonger Geschichte. Auf dieser fünfzehnminütigen Fahrt hatte man einen Blick auf die atemberaubende Skyline mit ihren Wolkenkratzern, die sich in den Dschungelhängen verlieren. Für nur umgerechnet 30 Cent ist sie sicherlich das günstigste Verkehrsmittel in Hongkong.

Nach 12 unglaublichen Tagen voller beeindruckender Erfahrungen, Eindrücke und neuen Bekanntschaften ging es direkt weiter nach Wien.

In Wien angekommen, bezogen wir zwei Wohnungen: eine für die Hongkong-Sprecher und die Ehemaligen und eine für die Wien-Sprecher und die Coaches. Wir hatten endlich wieder mehr Platz und es war vor allem leise. Wenn man die Tür zu machte, war auch wirklich Ruhe.

Nun wurden die Rollen getauscht. Während wir Hongkong-Sprecher jetzt Zeit hatten und die Stadt, Kaffeehäuser und Museen erkundeten und fast jeden Abend feiern gingen, hatten die Wien-Sprecher Probepleadings und arbeiteten an ihren Reden.

Die Eröffnung des 22. Vis Moots fand im Wiener Konzerthaus statt. Nach vielen Reden wurde auch der berüchtigte CISG-Song von Harry Flechtner, Professor an der University of Pittsburgh live aufgeführt. Zudem hatte er einen neuen, auf den Fall bezogenen Song gedichtet. Auf dem anschließenden Empfang trafen wir auf einige bekannte Gesichter aus Hongkong, aber auch auf andere, die wir bereits bei den Premoots in Deutschland kennengelernt hatten.

In den nächsten Tagen traten wir dann gegen Arizona State University, FGV Rio Law School, King’s College London und Helsinki an. Nach den Vorrunden, hatten wir uns wieder für die Finalrunden qualifiziert. Zuerst traten wir erfolgreich gegen MGIMO Moscow State University an und am nächsten Tag würde Helsinki erneut unser Gegner sein.

Einer alten Freiburger Moot-Tradition nach, gilt es für jedes Team ihren Coaches einen Streich zu spielen. Da der kommende Tag zufällig auch noch auf den ersten April fallen sollte, sahen wir zu guter Letzt unsere Zeit gekommen. Nachts wurde ein E-mailaccount erstellt. Die E-mailadresse glich der eines Organisators des Vis Moots. Zudem wurde eine E-mail kreiert, in der stand, dass zum einen die Positionen, in denen wir und Helsinki gegeneinander antreten sollten, getauscht wurden. Zum anderen sollte in unserer Jury ein unliebsamer Schiedsrichter sitzen. Unerwarteterweise lasen unsere Coaches die E-mail erst kurz vor dem Pleading. In der Aufregung trauten sie dem Inhalt der E-mail sofort und unser Streich war ein voller Erfolg.

Leider schieden wir gegen Helsinki aus. Somit waren wir jedoch in Hongkong und in Wien jeweils unter den besten 32 Teams gewesen. Zusammen gingen wir als Abschluss ein Schnitzel in dem wohl berühmtesten Restaurant Wiens essen – Figlmüller. Im Anschluss konnten wir noch die letzten Tage in Wien zusammen verbringen.

Insgesamt kehrten wir sehr erfolgreich und zufrieden nach Freiburg zurück. Im Gepäck hatten wir Honorable Mentions für drei unserer vier Schriftsätze. Vier Einzelsprecher wurden mit einer Honorable Mention ausgezeichnet. Sowohl in Hongkong, als auch in Wien konnten wir in die Final Rounds einziehen und bekamen so jeweils eine Teamauszeichnung. In Wien waren wir damit eine von drei Universitäten, die von insgesamt 300 Universitäten in allen vier Kategorien ausgezeichnet wurde. Last, but not least wurde Laura Fahrner in Wien zur besten Einzelsprecherin von ca. 1000 Sprechern gekürt.

VII. Danksagung

Wir möchten uns im Namen des gesamten Teams an dieser Stelle noch einmal bei unseren Coaches Carolin Fretschner und Franziska Härle für ihr großartiges Engagement und tägliche Unterstützung bedanken, sowie auch bei allen Ehemaligen, die uns immer mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben. Unser herzlicher Dank gilt auch unseren betreuenden Professoren Frau Meier und Herrn von Hein für ihre Unterstützung, Organisation, Zugang zu Büchern und Datenbanken. Zuletzt möchten wir unseren Sponsoren danken, ohne deren finanzielle Unterstützung vieles nicht in dieses Ausmaße möglich gewesen wäre, aber auch für die von ihnen organsierten Pleadings während unserer Vorbereitungsphase und hoffen, dass sie uns auch in den kommenden Jahren weiterhin unterstützen werden.

VIII. Resumé

Uns bleibt die Erinnerung an diesen fantastischen Wettbewerb – anderen noch die Möglichkeit zur Teilnahme. Der Willem C. Vis Moot Court bietet Studenten die optimale Möglichkeit, schon während des Studiums erste Praxis-Erfahrungen in einem internationalen Umfeld zu sammeln. Neben der praktischen und beruflichen Erfahrung und dem Kennenlernen von Studenten weltweit, bringt einen die Teilnahme auch persönlich weiter. Man lernt, mit Kritik besser umzugehen, im Team zusammen zu arbeiten und gemeinsam erfolgreich zu sein, sowie den Umgang auf dem internationalen Parkett. Auch die Gelegenheit‚ die eigene Universität in so breitem Kontext global zu vertreten, ist wohl einmalig.

Unser Fazit: Wir können die Teilnahme am Willem C. Vis Moot nur jedem empfehlen – Give it a try and Meet the Moot!

Weitere Informationen zum Willem C. Vis Moot Court gibt es auf der Moot-Court Homepage der Universität: http://www.jura.uni-freiburg.de/moot und auf der offiziellen Hompage des Willem C. Vis Moot: https://vismoot.pace.edu.


*Die Verfasserinnen studieren im vierten Semester Jura an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und haben beim letzten Vis Moot teilgenommen.

Letzte Etappe „Staatsexamen“ im Ländervergleich

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Manuel Leidinger*

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In welchem Bundesland finden am häufigsten pro Jahr schriftliche Examensprüfungen statt? Wo hat man neben dem Freischuss noch die Möglichkeit zu einem Verbesserungsversuch? In welchen Bundesländern können die Examensprüfungen abgeschichtet werden? Dies und viele andere Informationen zu den Prüfungsmodalitäten beim Ersten Juristischen Staatsexamen in den verschiedenen Bundesländern findet Ihr in folgendem Artikel!

I. Anzahl der schriftlichen Prüfungstermine pro Jahr

Spätsommer 2015 – in einigen Bundesländern sind die schriftlichen Examensprüfungen bereits gelaufen, in anderen stehen sie unmittelbar bevor oder finden gerade statt. In den meisten Bundesländern sind zwei Termine pro Jahr die Regel. Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und das Saarland bieten 3 oder mehr Prüfungstermine an. Spitzenreiter ist Nordrhein-Westfalen mit ganzen 10 Prüfungsterminen pro Jahr 1.

II. Anzahl der Examensklausuren

Bleiben wir beim schriftlichen Teil der Pflichtfachprüfung zum Ersten Juristischen Staatsexamen. In 14 von 16 Bundesländern müssen die Examenskandidaten sechs Klausuren – davon meistens drei im Zivilrecht, zwei im Öffentlichen Recht und eine im Strafrecht – schreiben. Nur Berlin und Brandenburg, die sich seit dem Staatsvertrag über die Errichtung eines Gemeinsamen Juristischen Prüfungsamtes von 2004 ein solches teilen, tanzen aus der Reihe. Die Prüflinge müssen innerhalb eines festen Zeitrahmens sieben Klausuren schreiben. Für Studierende mit einer Vorliebe für das Strafrecht sollte diese Hürde jedoch leicht zu meistern sein, denn darin kommt eine fünfstündige Klausur hinzu 2.

III. Freischuss und Verbesserungsversuch

Eine Frage, über welche unter den Jurastudenten schon ab den ersten Semestern wohl die absurdesten Gerüchte kursieren, sind die Regelungen zu Freischuss und Verbesserungsversuch.

In nahezu allen Bundesländern steht den Studierenden ein Freiversuch nach dem 8. Semester zu. In Hamburg ist dieser noch nach dem 9. Semester möglich. Wird die Prüfung im Rahmen des Freiversuchs nicht bestanden, gilt sie als nicht unternommen. Natürlich kann bei Bestehen des Freiversuchs ein weiterer Prüfungstermin noch zur Notenverbesserung genutzt werden. In Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz, dem Saarland, Niedersachsen, Bremen, Sachsen, Sachsen-Anhalt wird den Studierenden jedoch zusätzlich noch ein Notenverbesserungsversuch eingeräumt, den sie bis zum Ende des 10. Semesters wahrnehmen können. In den anderen Bundesländern kann die Examensprüfung neben dem Freiversuch nur wiederholt werden, wenn sie nicht bestanden wurde 3.

IV. Abschichten

Wer nun als Jurastudierender aus Nordrhein-Westfalen neidisch auf seine Mitstreiter aus den genannten anderen Bundesländern hinüberschielt, muss bedenken, dass ihm die Möglichkeit zum Abschichten offen steht. Studierende aus Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen haben die Möglichkeit, die schriftlichen Prüfungen im Zivilrecht, im Öffentlichen Recht und im Strafrecht zu verschiedenen Zeitpunkten abzulegen. Die Anmeldung für die Abschichtung muss in Nordrhein-Westfalen (ab dem 5. Semester) bis zum 7. Semester erfolgen. Bis zum Ende des 8. Semesters muss man sich für alle Klausuren angemeldet haben 4. Auch in Niedersachsen ist das Abschichten bis zum 8. Semester möglich. Allerdings kann der jeweilige Examenskandidat seine Klausuren nur auf zwei Termine verteilen 5.

Eine spezielle Möglichkeit, seine Klausuren abzuschichten, besteht aber zum Beispiel auch im Rahmen des Mannheimer Modells in Baden-Württemberg. Der Bachelorstudiengang soll zunächst mit den Themenschwerpunkten Jura und BWL zum Unternehmensjuristen ausbilden. Während des Bachelorstudiums schreiben die Studierenden die schriftlichen Examensprüfungen im Zivilrecht. Nach dem Bachelor kann entweder ein beliebiger Master angehängt oder der zur vollständigen juristischen Staatsprüfung führende Ergänzungsstudiengang gewählt und die restlichen Klausuren der Staatsprüfung abgelegt werden.

Vorwürfen, dass das Mannheimer Modell vom Schwierigkeitsgrad her nicht den Staatsexamensprüfungen an den anderen Universitäten Baden-Württembergs entspreche, ist der VGH Baden-Württemberg kürzlich erst entgegengetreten und hat einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz abgelehnt 6.

V. Gewichtung der mündlichen und schriftlichen Examensnote

Die Gewichtung des schriftlichen und mündlichen Teils der Pflichtfachprüfung bewegt sich in den meisten Bundesländern um die 70 % (schriftlich) gegenüber 30 % (mündlich). Im Vergleich legt man den größten Wert auf die mündliche Leistung (40 %) gegenüber der schriftlichen (60 %) in Nordrhein-Westfalen 7. Wer seine juristischen Kenntnisse rhetorisch gut zu präsentieren weiß, kann hier nach der mündlichen Prüfung noch einen großen Notensprung schaffen.

VI. Markierungen und Verweisungen im Gesetz

Ob Repetitoren, Professoren oder ehemalige bereits examinierte Studierende: Sie alle predigen bis zum Umfallen, dass für eine gute Klausurlösung im Grunde doch alles im Gesetz stehe und man nur richtig lesen müsse. Um diese Weisheit zu beherzigen, machen Studierende aus den Bundesländern Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt gerne von Marker und Bleistift Gebrauch, um wichtige Textstellen in ihren roten Bibeln zu markieren. In diesen Ländern sind Markierungen und Verweisungen im Gesetz zulässig. Die Regelungen im Einzelnen gehen jedoch weit auseinander. In Baden-Württemberg sind Verweisungen und Markierungen erlaubt, solange sie keine Codierung darstellen bzw. ein System erkennen lassen 8. In Niedersachsen sind Markierungen erlaubt, die Verweise sollen sich allerdings auf fünf pro Seite beschränken 9.

Falls Du nun schon dabei bist, dich von Deiner bisherigen Universität zu exmatrikulieren, um das Examen in einem anderen Bundesland abzulegen, möchten wir Dich daran erinnern, dass keine der vorgestellten Prüfungsmodalitäten durchweg als positiv oder negativ bewertet werden kann und jeder wohl seine eigenen subjektiven Erfahrungen mit ihnen macht. Egal wie gut oder schlecht die Prüfungsmodalitäten auf dem Weg zum Traumexamen für Dich sein mögen, auch Fleiß, Disziplin, Intelligenz und eine gute Portion Glück gehören dazu.

*Der Autor ist Student der Rechtswissenschaften an der Albert-Ludwigs-Universität im 8. Semester.

 


Fußnoten:

  1. http://www.juraexamen.info/juraexamen-in-deutschland-wo-ist-es-einfach-wo-ist-es-schwer-ein-landervergleich/ . vom 24. 8. 2015, 10.23
  2. https://www.rewi.hu-berlin.de/sp/2008/ejp/pruefung .vom 24. 8. 2015, 10:24
  3. http://www.juraexamen.info/juraexamen-in-deutschland-wo-ist-es-einfach-wo-ist-es-schwer-ein-landervergleich/ .vom 24. 8. 2015, 10: 24
  4. https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_text_anzeigen?v_id=2320031009101636983 #det301806 .vom 24. 8. 2015, 10:24
  5. http://www.juraexamen.info/juraexamen-in-deutschland-wo-ist-es-einfach-wo-ist-es-schwer-ein-landervergleich/ .vom 24. 8. 2015, 10:25
  6. http://www.lto.de/recht/studium-referendariat/s/vgh-mannheim-9-s-2309-13-mannheimer-modell-chancengleichheit-rechtmaessig/ .vom 24. 8. 2015, 10:28
  7. http://www.juraexamen.info/juraexamen-in-deutschland-wo-ist-es-einfach-wo-ist-es-schwer-ein-landervergleich/ .vom 24. 8. 2015, 10:28
  8. http://www.justiz-bw.de/pb/site/jum2/get/documents/jum1/JuM/JuM/Prüfungsamt/Hilfsmittel%20-%20Dezember%202013. .vom 24. 8. 2015, 10:28
  9. http://www.mj.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_ id=3760&article_id=122802&_psmand=13 .vom 24. 8. 2015, 10:28
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