Quantcast
Channel: Freilaw e.V.
Viewing all 178 articles
Browse latest View live

Quotenfrauen für den Aufsichtsrat – Wie gerecht ist die Einführung einer gesetzlichen Frauenquote für Führungspositionen?

$
0
0

stud. jur. Denise Frintz*

 (Diesen Artikel als PDF herunterladen)

“An idea that is not dangerous is not worthy of being called an idea at all.”

- Oscar Wilde -

 

A. Einführung

Die große Koalition hat sich in den Koalitionsverhandlungen auf ihre Einführung geeinigt, dennoch bleibt sie ein in Deutschland kontrovers diskutiertes Thema: die Frauenquote in Führungspositionen. Bis 2016 sollen die Aufsichtsräte börsennotierter Unternehmen in Deutschland mindestens zu 30 % mit Frauen besetzt sein. 1 Wie diese Quote umgesetzt werden soll, steht bisher noch nicht fest.

Auch die Europäische Union hat sich für eine Quote ausgesprochen. So hat die Kommission einen vorläufigen Entwurf einer Quotenrichtlinie erarbeitet, um bis 2020 den weiblichen Anteil in Aufsichtsräten auf 40 % zu erhöhen. 2

Was sind die Möglichkeiten zur Umsetzung eines solchen Quotenziels? Ist seine Festsetzung notwendig? Ist eine solche Bevorzugung weiblicher Führungskräfte überhaupt gerecht? Diese Arbeit hat es sich zum Ziel gesetzt, die sich aus der Einführung einer Frauenquote ergebenden Fragen sowie verschiedene Lösungsmöglichkeiten des Problems der Unterrepräsentation von Frauen in Führungspositionen zu diskutieren. Hierbei wird vor allem die Möglichkeit eines Verstoßes der Quote gegen den Gleichbehandlungssatz gem. Art. 3 II GG und das Diskriminierungsverbot gem. Art. 3 III GG thematisiert.

 

B. Die tatsächliche Lage

Im Hinblick auf die Statistik wird das Problem offensichtlich: Der Anteil von Frauen in Führungspositionen deutscher Unternehmen lag im Jahre 2012 in den zweihundert größten Unternehmen bei unter 10 %. 3 Es zeigt sich: Je größer das Unternehmen, desto weniger Frauen sitzen in der Führungsetage. Während bei Unternehmen mit unter zehn Mitarbeitern der Anteil im Jahr 2012 zumindest bei 24,6 % lag, betrug er in solchen mit über fünfhundert Mitarbeitern nur noch 8,7 %. 4 Diese Situation ist europaweit vergleichbar. So beträgt der Durchschnitt der weiblichen Führungskräfte in den 27 Mitgliedsstaaten 15,8 %, bei einem jährlichen Wachstum von 0,6 %. 5 Bei gleichbleibender Entwicklung ist somit frühestens in 50 Jahren mit einem Frauenanteil von 40 % auf der Führungsebene zu rechnen. Eine Ausnahme bilden diejenigen europäischen Staaten, in denen eine Frauenquote bereits eingeführt wurde. Beispielhaft zu nennen ist Island, das zwischen 2003 und 2012 den Anteil weiblicher Führungskräfte um 32 Prozentpunkte erhöhen konnte oder Norwegen, welches seine Zielvorgabe von 40 % bereits überschritten hat. 6

Nicht nur die Europäische Union sah hier Handlungsbedarf. Quotenregelungen wurden neben den skandinavischen Ländern auch in Frankreich, den Niederlanden und Spanien eingeführt. 7

 

C. Der Begriff der Quote

Vor der Auseinandersetzung mit der rechtlichen Problematik ist zunächst der Begriff der Quote zu klären.

Unterschieden wird hier allgemein zwischen flexiblen und starren Quoten. 8 Bei ersterer soll gesetzlich festgelegt werden, dass eine Quote in Unternehmen eingeführt werden soll. Wie diese jedoch ausgestaltet ist und wie der prozentuale Anteil weiblicher Führungskräfte festgelegt wird, obliegt der selbstverpflichtenden Entscheidung der Unternehmen. 9 Prominentestes Beispiel für eine flexible Quote ist die von der ehemaligen Familienministerin Christina Schröder vorgeschlagene “Flexiquote”.

Eine starre Quote hingegen bestimmt genau bezifferte Zielvorgaben, die eingehalten werden müssen, wie die von den Koalitionsparteien geplante Quote von 30 %. Diskutiert werden vor allem zwei Möglichkeiten der Ausgestaltung: Erste ist eine rein ergebnisorientierte, geschlechtsbezogene Quote, die allein anhand des Merkmals des Geschlechts differenziert; bevorzugt wird unabhängig von anderen Voraussetzungen das unterrepräsentierte Geschlecht bis die festgesetzte Quote erreicht ist. 10 Zweite ist eine qualifikationsorientierte Quote, die zwar auch einen zu erreichenden Zielwert festlegt, jedoch allein bei Bewerbern gleicher Qualifikation dem unterrepräsentierten Geschlecht den Vorzug gibt; im Falle besserer Qualifikation des Kandidaten des überrepräsentierten Geschlechts ist dieser zu bevorzugen. 11

Nicht ersichtlich ist indes, ob unter dem Begriff der Frauenquote, wie er explizit im Koalitionsvertrag verwendet wird, von den Koalitionsparteien tatsächlich eine Quote für Frauen geplant ist, oder ob es sich um einen lapidar als “Frauenquote” bezeichneten Begriff für eine allgemeine Geschlechterquote handelt, die die Gleichstellung des jeweils in einem Unternehmen unterrepräsentierten Geschlechts herbeiführen soll. Angesichts des faktischen Zustands, dass es gerade Frauen sind, die in Aufsichtsräten stark unterrepräsentiert sind, handelt es sich dennoch um eine de facto fast ausschließlich das weibliche Geschlecht begünstigende Quote. Der Richtlinienvorschlag der EU-Kommission jedenfalls sieht eine allgemein geschlechtergleichstellende Quote vor. 12

 

D. Die verfassungsrechtlichen Probleme

Die Frauenquote ist das Mittel zum Zweck der Geschlechtergleichstellung in Form verbesserter Zugangschancen zur Führungsebene von Unternehmen für das weibliche Geschlecht. Doch Quotenregelungen zugunsten des einen gehen immer zulasten des anderen Geschlechts. Die Erfüllung der Quote kann nur erreicht werden, indem die Zugangsbedingungen für männliche Bewerber indirekt erschwert werden und ein Prozentsatz offener Stellen ihnen aufgrund der Quote entweder gar nicht oder nur durch erschwerte Bedingungen zugänglich ist. Fraglich ist daher, ob darin nicht ein Verstoß gegen Art. 3 II und III GG gesehen werden kann und die Einführung einer starren Quote an sich nicht verfassungswidrig ist.

 

I. Verstoß gegen Art. 3 II, III GG

So bestimmt Art. 3 II 1 GG, dass Frauen und Männer gleichberechtigt und damit auch gleich zu behandeln sind. Das Diskriminierungsverbot in Abs. 3 gebietet, dass niemand aufgrund seines Geschlechts benachteiligt werden darf. Des Weiteren wird in Abs. 2 S. 2 das Staatsziel formuliert, eine faktische Gleichstellung zwischen Mann und Frau zu fördern und bestehende Nachteile zu beseitigen; der Staat ist angehalten, aktiv für die Herstellung und Durchsetzung der Gleichberechtigung zu sorgen. 13 In Art. 3 II GG ist damit ein Recht auf Chancengleichheit statuiert. 14 Eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts wäre allein dann zulässig, wenn sie durch kollidierendes Verfassungsrecht gerechtfertigt wäre. 15

 

1. Geschlechtsbezogene Quoten

Zumindest die Verfassungsmäßigkeit einer rein geschlechtsbezogenen Quote, die das unterrepräsentierte Geschlecht um seiner selbst willen fördert, ist zu bezweifeln. 16 So wäre männlichen Bewerbern selbst bei größter persönlicher Anstrengung die erwünschte Position verwehrt, wenn diese bereits fest für eine weibliche Kandidatin vorgesehen wäre – auch dann, wenn diese unter Umständen schlechter qualifiziert sein sollte. Im Ergebnis wäre dies eine bloße paritätische Gleichstellung der Geschlechter, jedoch gerade keine Chancengleichheit.

 

2. Qualifikationsabhängige Quoten

Problematischer hingegen ist die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit qualifikations-abhängiger Quoten.

 

a) Ungleichbehandlung

Anders als bei einer geschlechterbezogenen Quote ist der Zugang für männliche Bewerber nicht von vornherein verwehrt. Jedoch ist er dadurch erschwert, dass bei gleicher Qualifikation einem weiblichen Bewerber der Vorzug gegeben wird. In dieser Bevorzugung läge eine Benachteiligung eines männlichen Bewerbers und damit eine Ungleichbehandlung von zwei Personen mit gleicher Qualifikation. In diesem Zusammenhang wird ein weiteres Mal der oben erläuterte Begriff der “Frauenquote” interessant.

So stellt eine Quote, die zwar qualifikationsabhängig ist, jedoch explizit Frauen bevorzugt, eine unmittelbare Diskriminierung anhand des Geschlechts dar. Formuliert als Geschlechterquote, die das jeweils unterrepräsentierte Geschlecht bevorzugt, stellt sie lediglich eine mittelbare Diskriminierung dar. Die Art der Diskriminierung bestimmt sich nach der Bezeichnung der Quote.

Bemerkenswert ist, dass es gerade der medial geprägte Begriff der “Frauenquote” ist, der auf juristischer Ebene für das männliche Geschlecht die stärkere Diskriminierung darstellt, haftet ihm doch eine eigentlich eine frauenfeindliche Konnotation an. Denn der Ausdruck “Frauenquote” und mit ihm die “Quotenfrau” impliziert, dass eine Frau ihre Position nur wegen ihres Geschlechts, nicht jedoch ihrer Qualifikation erhalten hat.

 

b) Rechtfertigung

Zu klären gilt indes, ob diese Ungleichbehandlung männlicher Bewerber gerechtfertigt ist. Wie festgestellt wäre dies nur durch kollidierendes Verfassungsrecht möglich. Als solches käme Art. 3 II 2 GG in Betracht.

 

aa) Art. 3 II 2 als kollidierendes Verfassungsrecht

Ob eine Geschlechterquote überhaupt verfassungsrechtlich zu rechtfertigen ist, ist umstritten. Während die Befürworter eine Geschlechterquote als Maßnahme zur Herstellung der Chancengleichheit durch S. 2 gerechtfertigt sehen, 17 bezweifeln ihre Gegner dass Art. 3 II S. 2 GG eine Ungleichbehandlung, die auf einer Quote basiert, rechtfertigen kann, denn eine solche strebe stets nur eine Ergebnisgleichheit, nicht jedoch Chancengleichheit an. 18 Chancengleichheit könne jedoch gerade nicht erreicht werden, wenn die Zugangschancen eines Geschlechts zugunsten eines anderen erschwert werden. 19

Beispielhaft ist hier der Versuch zu sehen, eine an sich politische und gesellschaftliche Kontroverse mithilfe des Rechts als argumentatives Instrument zu lösen. Für die eine Seite ist sie Mittel zur Herbeiführung der Chancengleichheit, für die andere verhindert sie diese gerade. Hinter allem steht der gesellschaftspolitische Konflikt, ob es gerecht ist, dass der Staat mittels einer Quote ein Geschlecht fördert, während das andere Zurückstehen muss. Wie viel “Opfer” ist die Geschlechtergerechtigkeit wert? Wie viel ist man bereit, für ihre Erreichung zu geben? Fest steht: Das Staatsziel einer aktiven Förderung einer Geschlechtergleichstellung kann nicht erreicht werden, ohne das überrepräsentierte Geschlecht einzuschränken. 20 Der gegnerischen Meinung ist daher mit Skepsis zu begegnen. Allein darauf abzustellen, dass eine qualifikationsorientierte Geschlechterquote lediglich zu einer Ergebnisgleichheit führt, überzeugt nicht. Es gibt keine Maßnahme zur Geschlechtergleichstellung, die im Ergebnis nicht auch auf paritätische Gleichstellung hinausläuft. Denn die Quote ist in diesem Fall gerade nicht das angestrebte Ergebnis, das wäre sie nur bei der bereits diskutieren geschlechtsbezogenen Quote. Die qualifikationsorientierte Quote ist indes das Mittel zur Erreichung der Chancengleichheit, denn ein erhöhter Anteil weiblicher Führungskräfte wäre Beweis für die Wirksamkeit der Maßnahme und damit Folge der verwirklichten Chancengleichheit. 21

 

α) Chancengleichheit im Wahlverfahren

Hierfür ist zunächst zu betrachten, wie das Wahlverfahren für Aufsichtsräte überhaupt ausgestaltet ist. So sind für die Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern gem. § 100 AktG keinerlei Qualifikationsvoraussetzungen vorgesehen, sondern gewählt wird nach freiem Ermessen; vorgeschrieben ist lediglich, dass der gewählte Kandidat unbeschränkt geschäftsfähig, nicht vorbestraft und ihm kein gerichtliches Berufsverbot auferlegt ist. 22 Für die Einführung einer qualifikationsorientierten Quote ist die Reform des Aktiengesetzes hin zu einem qualifikationsorientierten Wahlverfahren unerlässlich. Denn wo nach freiem Ermessen entschieden wird, ist stets auch Raum für bewusste sowie unbewusste Diskriminierung. Erst ein reflektiertes System, das sich an Qualifikationen orientiert und dadurch eine objektive Bewertbarkeit von Kandidaten ermöglicht, entspricht dem Ziel der Chancengleichheit.

 

β) Chancengleichheit bei Bevorzugung eines Geschlechts?

Hierbei stellt sich jedoch die Frage, ob es nicht genügt, gleiche Zugangsvoraussetzungen anhand qualifikationsorientierter Wahlen zu schaffen. Wieso noch eine Regelung einführen, die einem Geschlecht bei gleicher Qualifikation letztendlich doch den Vorzug gibt? Wären die Geschlechter faktisch durch diese Maßnahme tatsächlich gleichgestellt, läge in der Tat eine unzulässige Ungleichbehandlung vor. Doch das sind sie nicht. Es wird von einem Gesellschaftsbild ausgegangen, das leider noch nicht erreicht wurde, einem, in dem die Qualifikation das einzige Differenzierungskriterium ist. Das tatsächliche Gesellschaftsbild ist hingegen ein anderes.

Die Statistik ist Ausdruck eines Problems, das allgemein als “gläserne Decke” bekannt ist. Die Zahl der weiblichen Hochschulabsolventen betrug deutschlandweit im Jahre 2008 bereits 52,8 %. 23 Die Zahl der Promotionen lag zur gleichen Zeit bei über 42 %. 24 Nur ein Bruchteil der Frauen kommt jedoch in der Führungsebene an. Als Grund dafür wird angeführt, dass die Führungsebene von Männern dominiert wird: Die Vorstellung, dass Eigenschaften wie Dominanz und Selbstsicherheit, die gesellschaftlich als “typisch männlich” angesehen werden, als Voraussetzung für Erfolg verstanden werden. 25 Die Assoziation von beruflichem Erfolg und männlichem Geschlecht ist noch immer alltäglich.

Ein Gedankenspiel zur Veranschaulichung: Man betritt einen Raum, in dem zehn Aufsichtsratsmitglieder sitzen: sieben davon sind männlich, drei sind weiblich. Die übliche Reaktion wird Überraschung sein angesichts der Anzahl der weiblichen Mitglieder, manche werden wohlwollend feststellen, dass tatsächlich einmal drei Frauen im Aufsichtsrat sitzen. Man drehe die Situation einmal um: Man betritt einen Raum, in dem zehn Aufsichtsratsmitglieder sitzen: sieben davon sind weiblich, drei sind männlich. Dass jemand in einem solchen Fall wohlwollend feststellt, dass tatsächlich einmal drei Männer im Aufsichtsrat sitzen, ist für die meisten hingegen ein amüsanter Gedanke. Das Problem liegt also in der Geschlechterwahrnehmung. Ein weiteres Beispiel: Von Kritikern der Quote wird verlangt darzulegen, dass die Befürworter aufzeigen, dass die Maßnahme kein wirtschaftliches Risiko darstellt 26; es wird davon ausgegangen, dass Fehlbesetzung vorprogrammiert ist. 27 Dies zeigt: Trotz gleicher Qualifikation wird angenommen, dass ein größerer Frauenanteil das größere wirtschaftliche Risiko darstellt und dass ein hohes Potenzial für Fehlbesetzungen besteht. Dass ein solches ebenfalls besteht, wenn Männer nicht aufgrund ihrer Qualifikation, sondern allein aus freiem Ermessen eines Wahlorgans heraus gewählt werden, wie bei dem aktuellen Wahlverfahren von Vorstandsmitgliedern, wird indes nicht gesehen.

Diskriminierung des weiblichen Geschlechts, mag sie auch unbewusst sein, ist in unserem Gesellschaftsbild angelegt. Und dies ist der Punkt, an dem die Quote ansetzen soll. Ihr Ziel ist vor allem die Bewirkung gesellschaftlichen Wandels. 28 Dass Führungsgremien ebenfalls mit Frauen besetzt sind, sollte kein positive Überraschung sein, sondern Normalität. Diese Normalität muss erst etabliert werden. In Kenntnis des soziologisch erforschten Effekts, dass “Führungsgruppen sich gerne nach dem Prinzip der Gleichartigkeit rekrutieren” 29, soll durch die Quote zugunsten der Geschlechtergleichstellung eine “Sogwirkung” entfaltet werden, die weiteren Frauen den Zugang zu Führungsposten ermöglicht. 30 Damit ist ihr Ziel nicht nur bloße Ergebnisgleichheit, sondern die Herstellung der Chancengleichheit. Damit wäre eine Geschlechterquote auch durch Art. 3 II 2 GG zu rechtfertigen.

 

bb) Flexiquote als milderes Mittel?

Abschließend ist noch kurz zu erläutern, ob die von Christina Schröder vorgeschlagene Flexiquote im Zuge der Verhältnismäßigkeit nicht ein gleichgeeignetes, milderes Mittel wäre. Hiergegen lässt sich anführen, dass ähnliche Maßnahmen bereits versucht wurden. Beispielhaft ist der Corporate Governance Kodex zu nennen, der Unternehmen dazu verpflichtet, selbstverpflichtend Geschlechterquoten festzulegen sowie eine Darlegungspflicht bezüglich deren Umsetzung. 31 Diese Maßnahme kann jedoch als gescheitert angesehen werden, denn faktisch trat keinerlei Verbesserung des Frauenanteils ein. 32 Es ist damit zu rechnen, dass die Flexiquote ebenso wenig zur Erreichung der Geschlechtergleichstellung geeignet ist, wie der Corporate Governance Kodex. Vielmehr ist er ein halbherziger Versuch der Politik, sich an der Diskussion zu einem kontroversen Thema zu beteiligen ohne Stellung zu beziehen, denn die Verantwortung und Entscheidungsfreiheit wird auf die Unternehmen umgewälzt. Wie eine Befragung der Dax-30 Unternehmen zeigt, wären diese höchstens dazu bereit, sich für eine Quote zwischen 11 % und 15 % zu verpflichten. 33 Das mag höchstens eine bequeme Lösung sein, aber keine geeignete.

 

E. Fazit

Viviane Reding, Kommissarin der Europäischen Union, äußerte sich treffend zur Problematik der Quote: “Ich bin kein großer Fan von Quoten, aber ich mag die Ergebnisse, die sie bringen”. 34 Geschlechterquoten sind ein Statement. Sie sind in gewisser Weise ein Risiko für diejenigen, die sie umsetzen wollen, denn sie sind nicht wertneutral. Sie sind unbequem, denn sie polarisieren. Das dies auf Kritik stößt, ist unumgänglich. Doch von einer Gesellschaft, die Gleichberechtigung als grundlegenden Wert versteht und von einem Staat, der sich deren Förderung explizit zum Ziel gesetzt hat, kann mehr erwartet werden als bloßes Warten auf den Wandel.

 

*Die Autorin ist Studentin der Rechtswissenschaften im achten Semester an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und befindet sich zurzeit in der Examensvorbereitung.


Fußnoten:

  1. Koalitionsvertrag CDU/SPD, S. 102, http://www.spd.de/linkableblob/112790/data/20131127_koalitionsvertrag.pdf.
  2. Richtlinienvorschlag EU-Kommission, S. 6, http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2012:0614:FIN:de:PDF.
  3. BT-Drucks. 17/3296.
  4. http://de.statista.com/statistik/daten/studie/182510/umfrage/frauenanteil-in-fuehrungspositionen-nach-unternehmensgroesse/.
  5. EU-Kommission, Factsheet 2, Gender Equality in the Member States, S. http://ec.europa.eu/justice/gender-equality/files/womenonboards/factsheet-general-2_en.pdf; Richtlinienvorschlag der EU-Kommission, S. 2, http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2012:0614:FIN:de:PDF.
  6. EU-Kommission, Factsheet 2, Gender Equality in the Member States, S. 2; http://ec.europa.eu/justice/gender-equality/files/womenonboards/factsheet-general-2_en.pdf.
  7. Philipp, EuZW 2011, 612; François-Poncet/Deilmann/Otte, NZG 2011, 450.
  8. Nordmann, ZRP 2012, 139.
  9. François-Poncet/Deilmann/Otte, NZG 2011, 450, 454 f.; Nordmann, ZRP 2012, 139.
  10. Pfarr, NZA 1995, 809; BAGE 114, 119, 130; anders Papier/Heidelbach, ZGR 2011, 305, 316 f. (Fn 59), die allein unter einer geschlechtsbezogenen Quote eine starre Quote verstehen.
  11. Papier/Heidebach, ZGR 2011, 305, 316; Pfarr, NZA 1995, 809.
  12. Richtlinienvorschlag der EU-Kommission, S. 6 f., http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2012:0614:FIN:de:PDF.
  13. BT-Drucks. 12/6000 S. 50; Pieroth/Schlink, 26. Auflage 2010, § 11 Rn 484.
  14. Nordmann, ZRP 2012, 139, 140; Ossenbühl, NJW 2012, 417, 418.
  15. Papier/Heidebach, ZGR 2011, 305, 314 f.
  16. Kemper, ZRP 2011, 219; Papier/Heidebach, ZGR 2011, 305, 320 f.; Prehm/Hellerkamp, NZA 2012, 960, 961.
  17. Papier/Heidebach, ZGR 2011, 305, 317.
  18. ; Ossenbühl, NJW 2012, 417, 419; Starck, Mangoldt/Klein/Starck, 6. Aufl. 2010, § 3 Rn. 313.
  19. Starck, Mangoldt/Klein/Starck, 6. Aufl. 2010, § 3 Rn. 313; François-Poncet/Deilmann/Otte, NZG 2011, 450, 454; Ossenbühl, NJW 2012, 417, 419, im Ergebnis ablehnend.
  20. Pfarr, NZA 1995, 809, 812.
  21. Ossenbühl, NJW 2012, 417, 419.
  22. [1]Papier/Heidebach, ZGR 2011, 305, 317; Ossenbühl, NJW 2012, 417, 420.
  23. http://www.bpb.de/gesellschaft/gender/frauen-in-deutschland/49400/fuehrungspositionen?p=all.
  24. https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2009/07/PD09_266_213.html.
  25. http://www.bpb.de/gesellschaft/gender/frauen-in-deutschland/49400/fuehrungspositionen?p=all.
  26. Nordmann, ZRP 2012, 139.
  27. Kempter, ZRP 2011, 219, 220.
  28. Kaminski, NZA 2013, 538, 539.
  29. Nordmann, ZRP 2012, 139.
  30. Papier/Heidebach, ZGR 2011, 305, 320.
  31. Kaminski, NZA 2013, 538, 539; Ossenbühl, NJW 2012, 417, 421.
  32. Jung, BB 2013, 387.
  33. Jung, BB 2013, 387, 388.
  34. FAZ vom 05.03.2012, http://www.faz.net/aktuell/frauenquote-eu-setzt-unternehmen-letzte-frist-11672874.html.

Recht und Gerechtigkeit im Relativismus

$
0
0

stud. iur. Max Volmar, Universität Freiburg*

 (Diesen Artikel als PDF herunterladen)

 

Einleitung

Dieser Essay befasst sich mit Recht und Gerechtigkeit im Moralischen Relativismus. Im ersten Teil wird der Begriff „Gerechtigkeit“ erörtert: Es werden moralischer Relativismus, Objektivismus und Absolutismus diskutiert. Als Ausgangspunkt dieses Essays wird der normative moralische Relativismus befürwortet. Im zweiten Teil wird sodann die Frage gestellt, inwiefern legales Recht mit einem relativistischen Gerechtigkeitsbegriff vereinbar ist. Es werden insbesondere Probleme beleuchtet, die in den Rechtsordnungen moderner Demokratien entstehen. Dies wird zeigen, dass besonders die moderne Gewaltenteilung mit einer relativistischen Gerechtigkeitsauffassung unvereinbar ist.

 

Erster Teil: Was ist „Gerechtigkeit“?

Historisch betrachtet haben sich seit dem antiken Griechenland eine Fülle an Gerechtigkeitsbegriffen herausgebildet. Die Begriffe lassen sich in viele Kategorien einordnen; dem Zweck dieses Essays genügt jedoch eine Einteilung in drei Gruppen: Relative, objektive und absolute Begriffe. „Relativ“ meint hier einen Gerechtigkeitsbegriff, bei dem Gerechtigkeit allein durch eine abgrenzbare sozio-ökonomische Gruppe von Personen festgelegt wird, z.B. ein „westlicher“ Gerechtigkeitsbegriff für den europäisch-amerikanischen Raum, der sich in bestimmten Aspekten z.B. von dem Begriff im Fernen Osten unterscheidet.

Absolute und objektive Gerechtigkeitsbegriffe dagegen lehnen genau dies ab: Gerechtigkeit lässt sich nicht bloß als „kulturelle Erscheinung“ eines bestimmten geographischen oder zeitlichen Raums festlegen. Vielmehr gibt es einen universellen, absoluten Begriff, der an jedem Ort und zu jeder Zeit gelten muss. Am Beispiel der Theorie von Marx werden diese Begriffe kurz dargestellt.

 

Marx

Karl Marx nimmt in der Debatte zwischen absoluten und relativen Gerechtigkeitsbegriffen eine Zwitterposition ein. Im Detail ist es umstritten, welchen Gerechtigkeitsbegriff Marx vertrat und ob er dachte, Kapitalismus sei ungerecht. 1 Es lassen sich jedoch deutliche Indizien finden: Kern seiner Theorie des Historischen Materialismus war, dass die Gesellschaftsordnung von den Produktionsverhältnissen bestimmt wird. 2 Zu dieser Ordnung gehörten auch moralische Ansichten: Die in der Gesellschaft vorherrschenden Ideen waren die Ideen der herrschenden Klasse, der Bourgeoisie. 3 Was gerecht war und was nicht wurde somit von der herrschenden Elite bestimmt. Mit einem Wechsel im Personal dieser Elite (den Marx als möglich erachtete) konnte somit auch eine Veränderung in den Moralvorstellungen der gesamten Gesellschaft einhergehen.

Marx sah somit Gerechtigkeit in deskriptiver Hinsicht als einen relativistischen Begriff an. Aus dieser Diagnose folgerte er jedoch gerade nicht einen auch normativ relativistischen Gerechtigkeitsbegriff: Nach seiner Ansicht konnte die Gesellschaft ihre Vollendung nur im Kommunismus finden. Daraus, wie Marx Kapitalismus (Ausbeutung der Arbeiter) und Kommunismus (Ende der Geschichte als Utopie) beschreibt, lässt sich folgern, dass er dachte, eine gerechte Gesellschaft könne nur im Kommunismus existieren.

Obwohl er also sah, dass sich der Gerechtigkeitsbegriff im Laufe der Zeit verändern konnte, war er überzeugt, dass es einen wahren Gerechtigkeitsbegriff, den kommunistischen, gibt. Auf die relativistische Diagnose folgte demnach eine absolutistische Konklusion. Auf diese Frage kommt es nun an: Wenn sich Gerechtigkeitsvorstellungen temporal (und lokal) unterscheiden, welche Folgerungen für unseren Begriff von Gerechtigkeit lassen sich daraus schließen? Sollte sich der Begriff den Gegebenheiten anpassen (Relativismus) oder sollte der Begriff ebenjenen Gegebenheiten strotzen (Objektivismus)?

 

Moralischer Relativismus

Zum Überblick: Wir haben relative und absolute Gerechtigkeitsbegriffe identifiziert. Daneben sind außerdem objektive Begriffe denkbar. Für die Objektivisten kann es universelle, allgemeingültige Normen geben, die allerdings je nach Kultur unterschiedlich angewendet werden können. Ein solcher Satz wäre z.B.: „Ein Mitglied unserer Gruppe sterben zu lassen, ist zulässig, wenn dadurch Leben anderer Mitglieder gerettet werden“. In primitiven Gesellschaften kann das z.B. nötig sein, wenn der Nahrungsbedarf die Vorräte übersteigt. Jemanden verhungern zu lassen, kann somit als gerecht betrachtet werden. In entwickelten Gesellschaften dagegen würde es als ungerecht empfunden, jemandem Nahrung zu verweigern, da wir im Überfluss leben. Absolute Gerechtigkeitsbegriffe sind ebenfalls allgemeingültig. Jedoch sind sie nicht je nach Situation veränderbar, es gibt keine Ausnahmen wie bei objektiven Begriffen. So forderte z.B. Kant das absolute „Lügenverbot“ 4: Jede Lüge sei schlecht für die Allgemeinheit, sodass Lügen ohne Ausnahme unzulässig sei.

Welche Herangehensweise ist vorzugswürdig? Zunächst muss jedoch zwischen deskriptivem und normativem Relativismus unterschieden werden: Deskriptiver Relativismus ist (wie bei Marx) die bloße Erkenntnis, dass sich die Vorstellungen der Menschen von Moral und Gerechtigkeit unterscheiden. Ein Beispiel für diese Differenzen ist die Todesstrafe. In viele Ländern ist die Todesstrafe zulässig, und auch in entwickelten Ländern wird teils im Grundsatz noch an ihr festgehalten, z.B. in den USA. 5 In Deutschland z.B. ist die Todesstrafe dagegen abgeschafft, Art. 102 GG. Im weiteren Sinne lässt sich dies auf unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen zurückführen: Eine Bestrafung mit dem Tod wird in Deutschland allgemein als ungerecht empfunden, auch bei schweren Verbrechen. Das Gerechtigkeitsempfinden wird hierbei stark von der deutschen Geschichte und dem Prinzip der Menschenwürde, Art. 1 I GG beeinflusst.

Normativer („metaethischer“) Relativismus schlussfolgert aus diesem Tatbestand, dass Moral und Gerechtigkeit nicht allgemeingültig definiert werden können. Vielmehr ist das gerecht, was eine bestimmte Gruppe oder Kultur als gerecht erachtet. 6 Einen objektiven Gerechtigkeitsbegriff kann es nicht geben, Gerechtigkeit ist allein kulturell bedingt. Die Theorie stützt sich vor allem darauf, dass die Unterschiede in moralischen Empfindungen anscheinend nicht rational gelöst werden können: So werden z.B. sowohl Deutsche wie auch Amerikaner ihre Ansicht zur Todesstrafe mit rationalen Argumenten begründen können, z.B. mit der Menschenwürde bzw. mit dem starken Präventionseffekt. Sicher werden auf beiden Seiten Vertreter ihre Ansicht für logisch stringenter oder überzeugender halten. Den Unterschied machen jedoch scheinbar nicht solche rationalen Erwägungen, sondern kulturell gewachsene Wertentscheidungen (wie in Deutschland die Reaktion auf die NS-Zeit). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass Gerechtigkeit kein objektives, rational bestimmbares Konzept ist. Objektivismus und Absolutismus sind demnach ausgeschlossen.

Die Theorie ist jedoch auch stark kritisiert worden. Der wohl schwerwiegendste Kritikpunkt ist das „Mehrheitsproblem“: 7 Relativisten vertreten, dass Moral allein von der Mehrheit einer bestimmten Gruppe definiert wird. Doch bedeutet das, dass eine Mehrheit eine Minderheit gerechterweise tyrannisieren 8 darf? Haben also Diktatoren wie Hitler, die zumindest politisch die Mehrheit vertraten, gerecht gehandelt? Außerdem gestaltet es sich bei genauerem Hinsehen schwierig, „Mehrheit“ zu definieren: Wenn z.B. eine Person zwei Kulturen angehört, beispielsweise als gläubiger Christ in den Niederlanden lebt, ist die (dort) legale 9 Euthanasie für diese Person moralisch akzeptabel oder nicht? Der moralische Relativismus ist an weiteren Punkten kritisiert worden; allgemein jedoch wird sein grundsätzliches, starkes Argument nicht widerlegt: Differenzen in Ansichten über Moral können rational nicht erklärt werden. Dieser Essay wird deswegen den moralischen Relativismus zum Ausgangspunkt nehmen. Gerechtigkeit ist also der von der jeweiligen Kultur formulierte Begriff.

 

Zweiter Teil: Recht und Gerechtigkeit im Relativismus

In der Frage, wie Recht und Gerechtigkeit in Verbindung zueinander stehen, polarisieren vor allem zwei Theorien den Diskurs: Die Naturrechtslehre und der Rechtspositivismus. Der ersten zufolge ergeben sich Gesetze und Rechte bereits aus der Natur. Der Mensch ist „von Natur aus“ mit bestimmten Menschenrechten ausgestattet. Im Gegensatz dazu ergeben sich Gesetze und Rechte im Positivismus nur aus tatsächlich von Menschen gemachten Rechtssätzen. Dabei ergeben sich rechtliche Normen jedoch nicht aus moralischen. Vielmehr sind Moralität und Legalität zwei Räume, die strikt zu trennen sind.

Wenn im Relativismus Gerechtigkeit allein von bestimmten Gruppen definiert wird, kann es keine übergesetzlichen Normen aus Naturrecht geben. Denn diese würden objektive, universale Normen darstellen, die unabhängig von der Ansicht einer Kultur für alle gelten würden. Dies ist gerade das Gegenteil von Relativismus. Relativismus führt deswegen aber nicht zwangsläufig zu Rechtspositivismus. Das geltende Recht hat bestimmte Normen; ebenso bestehen auch im Bereich der Moral Normen. Übergesetzliche Normen können sich demnach nicht aus der Natur des Menschen, sondern seiner Kultur ergeben („Kulturrecht“).

 

Relativismus in der modernen Demokratie

Im Idealzustand der Demokratie repräsentiert die Legislative den Willen des Volkes; sie ist durch Wahl zur Gesetzgebung legitimiert. Da Gesetze nur mit einer Mehrheit beschlossen werden können, werden sie zumindest abstrakt vom Willen des Volkes mitgetragen. Recht wäre demnach im Relativismus automatisch mit Gerechtigkeit identisch – in der Theorie, von der wir hier ausgehen werden. Zur klassischen Demokratie gehört außerdem das Prinzip der Gewaltenteilung mit einer Legislative, Judikative und Exekutive (in Deutschland Art. 20 II GG). Fraglich ist jedoch, inwiefern die Judikative mit dem relativistischen Gerechtigkeitsbegriff vereinbar ist. Hier sind insbesondere drei Aufgaben der Judikative anzusprechen.

Erstens: Gesetzesauslegung und –anwendung. In der Demokratie werden Gesetze von der legitimierten Legislative erlassen. Diese Gesetze sind in einem relativistischen Begriff gerecht, da die Mehrheit sie zumindest theoretisch befürwortet. Demnach ist auch die Rechtsprechung gerecht, solange sie Gesetze nur anwendet und auslegt. Zur Auslegung gehören auch analoge Anwendungen von Vorschriften: Hierbei entstehen Rechte, die nicht ausdrücklich im Gesetz festgelegt sind, sich jedoch aus der Logik des Gesetzes ergeben. Ein Problem entsteht erst, sobald die Gerichte darüber hinausgehen.

Zweitens: Richterrecht. Ein Beispiel hierfür ist die Figur der positiven Vertragsverletzung („pVV“) im BGB: Vor der Modernisierung des Schuldrechts zum 01.01.2002 kannte das BGB im Leistungsstörungsrecht nur Unmöglichkeit und Verzug. Schadensersatzansprüche aus Neben- oder Schutzpflichtverletzungen wurden damit nach dem Wortlaut des BGB nicht ausdrücklich gewährt. Mittlerweile gibt § 280 I BGB solche Ansprüche. Eine ähnliche Figur, die ebenfalls als Rechtsinstitut nicht ausdrücklich im BGB enthalten war, ist die culpa in contrahendo („c.i.c.“). Diese ist mittlerweile in § 311 II BGB gesetzlich geregelt. 10

Wo ergibt sich das Problem von Richterrecht im Relativismus? Die genannten Rechtsinstitute waren in den von der Legislative ursprünglich erlassenen Gesetzen nicht enthalten. Sie sind damit nicht direkt von der Mehrheit befürwortet. Zwar werden Richter (zumindest in Deutschland) von einer Mischung aus Legislative und Exekutive ernannt 11; nach der Ernennung sind Richter aber unabhängig („Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen“, Art. 97 GG). An die Ansichten der Mehrheit sind sie gerade nicht gebunden – obwohl im Relativismus nur die Mehrheit Gerechtigkeit definiert. Richterrecht ist demnach im Relativismus nicht zwangsläufig gerecht. Es hat ein großes Legitimationsproblem. Die Unabhängigkeit des Richters darf es eigentlich im Relativismus nicht geben. Gegenüber richterrechtlichen Instituten besteht demnach die Vermutung, dass sie nicht der Ansicht der Mehrheit entsprechen. Im Relativismus hat die Mehrheit jedoch die Hoheit über die Definition von Gerechtigkeit. Der Vermutung nach ist Richterrecht also ungerecht.

Die Vermutung kann natürlich widerlegt werden. Dies ginge bereits, sobald eine deutliche Mehrheit ein Rechtsinstitut unterstützt. Außerdem sind Gerichte im positiven Sinne freier darin, ihre Urteile mit übergesetzlichem Recht („Kulturrecht“) zu begründen. Diese Form der Begründung ist in der deutschen Rechtsprechung bislang die Ausnahme. Ein bekanntes Beispiel sind die Mauerschützenprozesse des BGH. 12 Hier wurde mit der sog. Radbruchschen Formel 13, nach der gesetzliches Unrecht übergesetzlichem Recht weichen muss, die Strafbarkeit der Mauerschützen begründet. 14 Diese Argumentation stellt durchaus zurecht eine Ausnahme dar: die Begründung durch übergesetzliches Recht schafft ernste Bedenken bezüglich der Rechtssicherheit. 15 Begründete nun aber ein Gericht sein Urteil mit dem Verweis auf übergesetzliches „Kulturrecht“, sähe die Rechtslage anders aus: Übergesetzliche Normen bestehen, sobald eine Mehrheit sie trägt. Die Ansicht der Mehrheit wäre – im Großen und Ganzen – leicht zu bestimmen. Damit ist die Rechtssicherheit gewährleistet. Für die Anwendung von übergesetzlichem Recht ist demnach in einer relativistischen Vorstellung viel Raum. Es bleibt jedoch das Problem der richterlichen Unabhängigkeit: Richter sind an das Kulturrecht nicht gebunden. Der Vermutung nach ist Richterrecht demnach ungerecht.

Drittens: Eine weitere Spannung zwischen Gerichten und relativen Gerechtigkeitsbegriffen ergibt sich in der Verfassungsgerichtsbarkeit. Erneut ist Grund dafür die richterliche Unabhängigkeit. So kann z.B. das Bundesverfassungsgericht („BVerfG“) im Rahmen des Normenkontrollverfahrens ein von der Legislative verabschiedetes Gesetz für nichtig erklären. 16 Ein prominentes Beispiel hierfür ist das Urteil des BVerfG zum LuftSiG von 2005. 17 Dieses wurde als Reaktion auf die Terror-Anschläge des 11. Septembers 2001 in den USA verabschiedet. Im § 14 III LuftSiG wurde es erlaubt, im Falle eines ähnlichen Anschlags in Deutschland das entführte Flugzeug abschießen zu lassen. Dieses Gesetz wurde vom BVerfG jedoch für nichtig erklärt: Problematisch war, dass durch den Abschuss auch Unschuldige getötet werden könnten. Das Gesetz verstoße deshalb gegen Art. 2 II 1 GG (Recht auf Leben) i.V.m. Art. 1 I GG (Menschenwürdegarantie). Es dürfe im Gesetz weder eine quantitative noch qualitative Gewichtung von Leben geben. 18  Hiermit wurde vom BVerfG eine Entscheidung der Legislative, die durch die Mehrheit legitimiert war, für falsch erklärt. In der Frage der Gerechtigkeit hat also nicht die Legislative das letzte Wort, sondern die Judikative. Da die Richter jedoch unabhängig sind, wird damit die letzte Entscheidung vollkommen von der Ansicht der Mehrheit entkoppelt. Aus relativistischer Sicht ist dieses Urteil demnach in höchstem Maße ungerecht: Ein unabhängiges Organ setzt sich über eine Entscheidung der Mehrheit hinweg.

Wie rechtfertigt sich dieser Eingriff in das Definitionsmonopol der Mehrheit? Das BVerfG kann sich darauf berufen, es lege nur das Grundgesetz aus, das seinerseits eine Mehrheitsentscheidung des Volkes war. 19 Jedoch ergibt sich die Ansicht des BVerfG (keine Gewichtung von Leben) nicht ohne weiteres aus dem Text des Grundgesetzes. Zwar ist die Argumentation durchaus überzeugend; eine andere Ansicht wäre jedoch wohl ebenfalls vertretbar. Von einem relativistischen Standpunkt aus müsste demnach das BVerfG das Grundgesetz immer so interpretieren, dass es mit der neuen Gesetzeslage konform ist. Es ist eben immer davon auszugehen, dass die aktuelle Mehrheitsmeinung auch richtig ist. Das BVerfG wäre dann seiner Normenkontrolle beraubt. Auch die elementare „Ewigkeitsklausel“, Art. 79 GG wäre im Sinne des Relativismus unmöglich, da sie universell gelten soll. Festzuhalten bleibt also, dass auch die Verfassungsgerichtsbarkeit mit einem relativistischen Gerechtigkeitsbegriff unvereinbar ist. Das BVerfG selbst hat in dieser Debatte im „Soraya“-Urteil 20 Stellung genommen:

„[Mit der Gewaltenteilung] wird nach allgemeiner Meinung ein enger Gesetzespositivismus abgelehnt. Die Formel hält das Bewusstsein aufrecht, dass sich Gesetz und Recht zwar faktisch im Allgemeinen, aber nicht notwendig und immer decken. [...] Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, [...] ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren. Der Richter muss sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muss auf rationaler Argumentation beruhen. [...] Die richterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft [Hervorh. d. Verf.].“

Ebenso wie oben erkennt das BVerfG an, dass Gesetz und Gerechtigkeit sich nicht immer decken. Gerichte hätten deswegen die Aufgabe, „als Korrektiv zu wirken“. Solche Entscheidungen müssten auf (1) Vernunft und (2) den allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft basieren. Mit (2) kommt eine gewisse Anerkennung des relativistischen Moralbegriffes zum Ausdruck: Gerechtigkeit und Recht sind nicht in Stein gemeißelt und die Gerichte sind an die Ansichten der Gemeinschaft gebunden. Die richterliche, unabhängige Vernunft muss jedoch ebenfalls mitentscheiden. Das wiederum wäre im Relativismus ein Fauxpas (so sinnvoll ein „vernünftiges“ Urteil auch klingen mag): Gerechtigkeit wird allein durch die Mehrheit definiert; die Vernunft des einzelnen Gerichts wiegt nicht so schwer wie die (im Zweifel „unvernünftigen“) Ansichten der Allgemeinheit.

 

Schlussfolgerungen

Was lässt sich aus alldem insgesamt für die Organisation eines Staates schließen? Gerichte müssten in ihren Kompetenzen weitgehend beschnitten werden. Richterrecht würde einerseits begrenzt, da Richter sich nicht mehr bloß auf die juristische ratio berufen dürften. Andererseits würde es erweitert, indem unter Berufung auf „Kulturrecht“ neues Recht erschafft werden darf. Die Verfassungsgerichtsbarkeit würde so gut wie obsolet.

Der Relativismus ruft also nach einem „Primat der Politik“, bei dem die teilweise von Politikern angeprangerte „Justizialisierung der Politik“ verschwände. Der ehemalige Bundesinnenminister Friedrich hatte die relativistische Konsequenz treffend auf den Punkt gebracht: „Wenn Verfassungsrichter Politik machen wollen, sollen sie bitte für den Deutschen Bundestag kandidieren“. Dieser Satz fiel im April 2013, nachdem das BVerfG 21 die Vorratsdatenspeicherung gekippt hatte und sich der Präsident des BVerfG Voßkuhle öffentlich zum Thema geäußert hatte. 22  Wahrscheinlich würden jedoch nur die wenigsten diesem bedingungslosen Primat der Politik zustimmen. In Deutschland herrscht vielmehr die umgekehrte Meinungslage: Die Bürger vertrauen dem BVerfG deutlich mehr als der Legislative. 23 Gleichzeitig würden jedoch im Licht allgemeiner Toleranz die meisten wohl auch den Relativismus befürworten. Wenn andere Völker unterschiedliche Moralvorstellungen haben, ist es in unserer modernen Gesellschaft die herrschende Ansicht, andere Vorstellungen zu akzeptieren anstatt zu verurteilen – frei nach dem Prinzip „andere Länder, andere Sitten“.

Die Zeiten von Kolonialismus und Kreuzkriegen, in denen die Überlegenheit eigener Moralvorstellungen als Vorwände allgemein akzeptiert waren, sind lange vorbei. Es scheint, als hätte sich in der Allgemeinheit der Relativismus gegenüber anderen Vorstellungen durchgesetzt. Ob dieser Widerspruch gegen moralischen Relativismus spricht oder gegen die klassische Gewaltenteilung, ist eine andere Frage. Festzuhalten bleibt, dass ein starker Widerspruch zwischen diesen beiden Eckpfeilern der modernen Demokratie und Moral besteht.

 

Fazit

Dieser Essay begann im ersten Teil mit der Diskussion verschiedener Gerechtigkeitsbegriffe. Am Beispiel von Marx wurden Relativismus, Absolutismus und Objektivismus dargestellt, wobei Relativismus vorzugswürdig erscheint. Auf dieser Grundlage wurden im zweiten Teil die Spannungen des relativistischen Begriffs mit der demokratischen Rechtsordnung aufgezeigt. Die klassische Gewaltenteilung erscheint im Ergebnis mit einer relativistischen Auffassung unvereinbar. Dies ist ein bemerkenswertes und kontraintuitives Ergebnis, da gerade in modernen Demokratien im Lichte eines allgemeinen Toleranzgedankens relativistische Gerechtigkeitsvorstellungen vorherrschen.

 

* Der Autor studiert im 5. Semester an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er hat den Schwerpunkt Internationales und Europäisches Recht absolviert und im Rahmen seines Studiums ein Auslandsjahr in London verbracht.


Fußnoten:

  1. Wolff, Jonathan, “Karl Marx”, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2011 Edition), Edward N. Zalta (ed.).
  2. Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, S. 487. Digitale Bibliothek Band 11: Marx/Engels, S. 8118.
  3. „According to Marx, in any society the ruling ideas are those of the ruling class; the core of the theory of ideology.“ – Allen Wood, auf den Bezug genommen wird in: Wolff, Jonathan, “Karl Marx”, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2011 Edition), Edward N. Zalta (ed.).
  4. Immanuel Kant, Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff, AA VIII, 430; siehe auch: ders., Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, 1797.
  5. US Supreme Court, Baze v. Rees, 553 US 35 (2008).
  6. So vertreten von Harman, G., 1996, “Moral Relativism,” in G. Harman and J.J. Thompson (eds.) Moral Relativism and Moral Objectivity, Cambridge MA: Blackwell Publishers, 3–64; Wong, D.B., Moral Relativity, Berkeley CA: University of California Press 1984; Wong, D.B., 2006, Natural Moralities: A Defense of Pluralistic Relativism, New York: Oxford University Press.
  7. Vgl. Gowans, Chris, “Moral Relativism”, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2012 Edition), Edward N. Zalta (ed.).
  8. Die sog. „Tyrannei der Mehrheit“, vgl. John Stuart Mill, On Liberty, The Library of Liberal Arts edition, S. 7.
  9. Khorrami, Die „Euthanasie-Gesetze” im Vergleich – Eine Darstellung der aktuellen Rechtslage in den Niederlanden und in Belgien, MedR 2003, S. 19.
  10. Gsell, Rüfner: Symposium Schuldrechtsmodernisierung 2001, NJW 2001, 424.
  11. Vgl. für den BGH § 125 I GVG, §§ 10, 12 RiWG.
  12. Ein anderes Beispiel sind die BGH-Urteile zum NS-Unrecht, in denen die Argumentation ähnlich war, vgl. BGHSt 2, 173, 177; 3, 110, 128.
  13. „Die Lücke zwischen Recht und Gerechtigkeit muss unerträglich sein“, vgl. Radbruch, SJZ 1946, 105, 107.
  14. BGHSt 39, 1, 15; ebenso BGH NJW 1993, 1932, 1935.
  15. Vgl. Roggemann, DtZ, 1993, 10, 11.
  16. Die abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 I Nr. 2 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 6, 76 BVerfGG bzw. die konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 GG i.V.m. § 13 Nr. 11 BVerfGG.
  17. BVerfGE 115, 118.
  18. So bereits auch BVerfG NJW 1975, 573.
  19. Das wird zwar teilweise in Zweifel gezogen, z.B. aufgrund eines gemutmaßten Einflusses der Alliierten im Parlamentarischen Rat, vgl. Epping in Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 69. Ergänzungslieferung 2013, Art. 115a, Rn. 9. In einer Gesamtschau kann man das Grundgesetz jedoch wohl als eine deutsche Mehrheitsentscheidung betrachten.
  20. BVerfG 34, 269.
  21. BVerfG NJW 2010, 833.
  22. Süddeutsche Zeitung Online, 23.04.2013, „Innenminister Friedrich rügt obersten Verfassungsrichter“, abrufbar unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/sicherheitsdebatte-innenminister-friedrich-ruegt-obersten-verfassungsrichter-1.1657163 (zuletzt abgerufen am 09.01.2014).
  23. ZEIT Online, 09.07.2012, „Großes Vertrauen in Karlsruhe, wenig in die Regierung“, abrufbar unter http://www.zeit.de/politik/deutschland/2012-07/umfrage-institutionen-karlsruhe (zuletzt abgerufen am 09.01.2014).

Recht und Gerechtigkeit

$
0
0

von stud. iur. Hanna Wachter*

 (Diesen Artikel als PDF herunterladen)

 

Befassen wir uns während des Studiums mit Recht, so stellt sich auch immer wieder die Frage, ob unser Recht gerecht ist oder ob es das überhaupt sein kann. Das folgende Essay ist ein Versuch, hierauf eine Antwort zu finden.

 

Zuerst stellt sich die Frage nach der Definition von Gerechtigkeit.

Sie wurde im Laufe der Menschheitsgeschichte von nahezu jeder philosophischen Strömung aufgegriffen und stets anders beantwortet. Bei der eigenen Meinungsbildung ist daher ein kurzer Überblick über die schon bestehenden Ansichten und ihre Entwicklung hilfreich.

Die Philosophen der griechischen Antike betrachteten Gerechtigkeit als natur- oder gottgegebenen Zustand, der nicht an kodifiziertem Recht zu messen war. Gerechtigkeit war hier eine Tugend, die zum Erreichen der Eudaimonie, dem guten, gelingenden Leben, Voraussetzung war 1. Gerecht war, wer das tat, was seine Aufgabe war 2.
In der römischen Gesellschaft, die schon eher kodifiziertes Recht kannte, rückte die gesellschaftliche Ordnung als Maßstab für Gerechtigkeit stärker in den Mittelpunkt, insbesondere der Grundsatz „Suum cuique“ („Jedem das Seine“) 3.
Als „Gerechtigkeit Gottes“ 4 zog sich der Gedanke einer gottgegebenen Ordnung noch durch das gesamte Mittelalter, bis mit Beginn der Neuzeit der Streit zwischen Vorstellungen eines Naturrechts und des Rechtspositivismus entbrannte. Als bedeutendster Vertreter des Rechtspositivismus ist Thomas Hobbes zu nennen, nach dessen Vorstellung Recht und Unrecht nur in Verbindung mit einem Gesetz existieren („Wo keine allgemeine Gewalt ist, ist kein Gesetz, und wo kein Gesetz, keine Ungerechtigkeit“ 5). Die Bindung der Menschen an die Gesetze bestehe letztlich durch die freiwillige Übertragung ihrer Rechte im Wege eines Gesellschaftsvertrags auf einen Souverän, um den sonst unvermeidlichen Krieg aller gegen alle („bellum omnia contra omnes“ 6) zu verhindern.
Dem steht vor allem John Lockes Vorstellung von einem göttlichen Naturrecht entgegen, wonach elementare Rechte des Menschen immer schon existent seien. Ein Gesellschaftsvertrag und eine daraus resultierende Gesetzgebung werden eingegangen, um die schon bestehenden Naturrechte zu sichern 7. Folglich können Staat und Gesetze durchaus auch ungerecht sein, was nach Hobbes Ansicht nicht möglich ist.
Nachdem der Konflikt zwischen beiden Ansichten lange Zeit den rechtsphilosophischen Diskurs dominierte, trat in der jüngeren Vergangenheit der Utilitarismus als neue Strömung auf. Dieser folgt mit der Bewertung der beabsichtigten Folgen einer Handlung dem Konsequenzprinzip und basiert auf der Philosophie David Humes. Hiernach bestehen ethische Werte nicht von sich aus, sondern bestimmen sich nach menschlicher Praxis. Nach dem Wertprinzip ist der Nutzen somit Maßstab für das ethisch Gute, sodass Gerechtigkeit nur eine sekundäre Rolle spielen kann 8.
Der Konsequentialismus steht im Gegensatz zur Deontologie Immanuel Kants, nach der die Handlungszwecke das ethisch Gute bestimmen 9. Auf diese und auf John Lockes Vorstellung vom Gesellschaftsvertrag gründet John Rawls seine Theorie der Gerechtigkeit. Danach ist die Gesellschaft ein Kooperationssystem, aus dem der Einzelne  einen möglichst großen Vorteil gewinnen können soll. Dabei werden von in der Ausgangssituation gleichen, freien und vernünftigen Menschen die Prinzipien der Gerechtigkeit festgelegt, die vor allem als Fairness zu verstehen ist: Jeder genießt gleiches Recht auf gleiche Grundfreiheiten; Ungleichheiten sind nur zulässig, sofern sie zu einem größeren Vorteil für die am wenigsten Begünstigten führen, ansonsten hat die Chancengleichheit Vorrang vor diesem Differenzprinzip. Die Grundfreiheiten formuliert Rawls als eine Art Grundrechtekatalog 10. Die durch Rawls begründete Position ist als egalitärer Liberalismus bekannt.
Dem steht vor allem der Kommunitarismus gegenüber, der die Betonung des Eigennutzes liberaler Positionen kritisiert. Hiernach kann Gerechtigkeit erst durch soziale Akzeptanz in der Gesellschaft entstehen, sodass vielfältige kulturelle Strukturen zu berücksichtigen sind. Der Begriff der Gerechtigkeit lasse sich nicht verallgemeinern und sei eher in viele verschiedene Sphären zu unterteilen 11.
Als weitere eigene Position ist noch die des Ökonoms Amartya Sen zu nennen. Hiernach ist Freiheit das normative Ziel der Menschen und eine Gesellschaft ist umso gerechter, je mehr Menschen über Möglichkeiten zur Verwirklichung dieses Ziels verfügen (sog. capabilities = Verwirklichungschancen). Sichergestellt werden diese mittels instrumenteller Freiheiten, die Sen in politische Freiheiten, ökonomische Institutionen, soziale Chancen, Transparenzgarantien und soziale Sicherheiten aufteilt 12.

Unvermeidlich für den eigenen Gerechtigkeitsbegriff ist  die Entscheidung zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus. Meiner eigenen Meinung und Erfahrung nach können wir Menschen, sollte es eine gott- oder sonst übernatürlich gegebene Ordnung unserer Welt geben, diese nicht erfahren. Möglicherweise gebieten aber Vernunft und gesunder Menschenverstand, von gewissen ethischen Grundprinzipien auszugehen, die von Natur aus Geltung besitzen. Glaubt man nach rechtspositivistischer Ansicht, dass Gerechtigkeit erst mit dem Gesetz entsteht, so gilt für jedes Land, jeden Kulturkreis, eine andere Interpretation der Gerechtigkeit. Drastisch verdeutlicht  würde dies bedeuten, dass auf die Beachtung der Menschenrechte (diese Bezeichnung wäre dann unsinnig) in einigen Staaten nicht mehr von internationaler Seite beharrt werden müsste, denn offenbar ist für diese Kulturen nicht gerecht, was uns gerecht erscheint und unsere Regeln gelten für sie nicht. Die weltweite Geltung der Menschenrechte durchsetzen zu wollen, wäre dann nur expansive missionarische Tätigkeit, um anderen die eigenen Vorstellungen aufzuzwängen. Doch lässt sich die Vorstellung, alle Menschen seien von Grund auf gleich, nicht rational widerlegen. Alle Versuche, die Ungleichheit verschiedener Gruppen zu beweisen, haben sich als manipulative Hetze herausgestellt, die willkürliche Gewalt rechtfertigen sollte (beispielhaft sei nur die Pseudowissenschaft des Dritten Reichs genannt, die die Unterlegenheit bestimmter „Rassen“ nachweisen wollte). Wenn alle Menschen gleich sind, müssen in logischer Konsequenz auch elementare Rechte für alle gelten. Auffällig ist, dass Regierungssysteme, die solche Prinzipien komplett ignorieren, fast stets im Umbruch begriffen sind bzw. die Vergangenheit nicht überdauert haben. Politische und historische Erfahrung zeigen also, dass alle Menschen nach gewissen elementaren Grundrechten verlangen, und so ist vernunftgemäß auch von deren natürlicher, von der Bildung verschiedener Gesellschaftssysteme unabhängiger, Existenz auszugehen. Daraus folgt, dass durch Gesetze erst die Gerechtigkeit festgehalten und sichergestellt werden muss; dies kann mehr oder minder gelingen, sodass Recht auch ungerecht sein kann. Von der unbedingten Gleichheit aller Menschen ausgehend, muss auch der Maßstab der Gerechtigkeit bei allen der gleiche sein. Nach Gruppen-, Kultur- und Religionszugehörigkeit kann also nicht unterschieden werden, d.h. die Gerechtigkeit lässt sich meiner Meinung nach nicht in verschiedene Sphären unterteilen, wie dies dem Kommunitarismus zufolge der Fall ist, und auch das Prinzip „Suum cuique“ ist aus denselben Gründen abzulehnen. Für den Utilitarismus spielt Gerechtigkeit nur eine sekundäre Rolle, sodass das Wertprinzip als ein weiteres neben dem Gerechtigkeitsprinzip zu sehen ist.  Als Sicherstellung von Verwirklichungschancen für jedermann lässt sich Gerechtigkeit dagegen treffend darstellen. Ob dabei abstrakte Freiheit tatsächlich das höchste normative Ziel aller Menschen ist, ist zweifelhaft. So wird allzu großer Liberalismus häufig wegen der Überbetonung des Eigennutzes zurückgewiesen. Tatsächlich ist wohl, wenn auch nicht unbedingt erklärtes Lebensziel des Einzelnen, die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit das wichtigste Bedürfnis der Menschen, sobald Grundbedürfnisse wie das nach Nahrung und Obdach gestillt sind. Die Möglichkeit zur Persönlichkeitsentfaltung für alle Menschen gleichermaßen herzustellen, muss Sinn und Zweck der Gesetzgebung sein und führt zu einem gerechten Zustand. Dabei ist, im Sinne von John Rawls, Chancengleichheit entscheidend. In einer modernen und komplexen Gesellschaft bedarf es dann zur Umsetzung vieler Regulierungen, die letztlich alle zum Ziel haben müssen, Gerechtigkeit zu schaffen. Darüber hinaus müssen die sicherstellenden Regeln auch in der Praxis umgesetzt werden, was in einem perfekten Zustand selbstredend keiner eigenen Erwähnung bedürfen müsste.

Jetzt stellt sich die Frage, ob und wie unser Recht Gerechtigkeit sicherstellt.

Grundsätzlich schafft unser Recht klare Regeln für einen sinnvollen Ausgleich zwischen verschiedenen Parteien, so zum Beispiel das Zivil- und vor allem das Schuldrecht, das Regeln für Verträge zwischen Parteien festsetzt, auf deren Einhaltung vertraut werden darf, und zugleich für den Bestand der Privatautonomie sorgt. Zum Thema Gerechtigkeit kommt jedem in der Regel auch sofort der Schadensersatz in den Sinn, der dafür sorgt, dass, wer in irgendeiner Weise einen Schaden erlitten hat, nicht ungerechterweise leer ausgeht.

Doch bergen Recht und Gesellschaft auch unumgängliche Problematiken, so zum Beispiel die Wahl des Deutschen Bundestages. Diese ist laut Art. 38 I GG allgemein, frei, gleich, unmittelbar und geheim; für die Umsetzung einer gerechten Beteiligung aller Bürger ist insbesondere das Gleichheitsprinzip hervorzuheben, das dafür sorgt, dass Stimmen keine unterschiedliche Gewichtung erhalten 13. Ungeachtet dessen hat eine beachtliche Zahl an Stimmen letztlich keinen Einfluss auf die Politik des Bundestages, da eine Sperrklausel den Einzug von Parteien, die weniger als 5 Prozent der Stimmen erhielten, verhindert. Der Sinn der Sperrklausel, eine allzu starke Zersplitterung des Parlaments zu verhindern und die Bildung stabiler Mehrheiten zu fördern, wird vor allem vor dem Hintergrund der Weimarer Republik deutlich, als eben diese Zersplitterung teils zu Handlungsunfähigkeit führte 14. Auf der anderen Seite ist die Gleichheit der Wahl hier eindeutig beeinträchtigt, da ein Teil der Stimmen durch den Verfall anderer mehr Gewicht erhält. Immer wieder regt sich Kritik an dieser Ungerechtigkeit und es werden Vorschläge gemacht, die die Wahlgleichheit wiederherstellen sollen. Doch die oft geforderte Absenkung der Hürde 15 würde beide Probleme nicht beheben, sondern nur eine neue willkürlich gezogene Grenze bei gleichzeitig zunehmender Zersplitterung schaffen. Für die komplette Abschaffung könnte das Argument eingebracht werden, „Weimarer Verhältnisse“ könnten heutzutage nicht mehr entstehen. Doch es gibt derzeit weit mehr als 50 Parteien in Deutschland, die Zersplitterung wäre bei Abschaffung jeglicher Hürden also weit größer als bei den bis zu 15 Parteien im damaligen Reichstag. Die neuere politische Entwicklung zeigt, dass sich Mehrheitsverhältnisse leicht ändern lassen und sonst typische Koalitionen auch einmal nicht mehr zustande kommen können. Bei einem derartigen Parteienspektrum ist es daher leicht denkbar, dass keine stabilen Mehrheiten und handlungsfähige Koalitionen mehr zustande kommen. Wägt man also Vor- und Nachteile ab, fällt die Entscheidung für eine Sperrklausel aus. Die Abwägung erfolgt dabei nach dem Nutzenprinzip und hat mit Gerechtigkeit nichts gemein. Wir müssen uns in diesem Fall eingestehen, dass unser Wahlrecht nur so gerecht wie möglich ist und – zumindest nach überwiegender Meinung – andere Prioritäten gesetzt werden. Daher ist es wünschenswert, weiter nach Möglichkeiten zu suchen, die die unterschiedliche Gewichtung der Stimmen aufheben, möglicherweise durch Ersatzstimmen für sonst verfallende Stimmen. Ob eine Änderung des bewährten Prinzips der Sperrklauseln zu Gunsten eines gerechteren Wahlrechts auch tatsächlich gewollt wird, kann nur die Zukunft zeigen.

Ein weiteres Beispiel für Differenzen zwischen Recht, Gerechtigkeit und Realität ist der Konflikt zwischen Urheberrecht und Datenschutz von Internetnutzern. Sofern geistige Werke als schützenswerter Beitrag zur Kultur gewürdigt werden – und dieser Umstand genießt allgemeine Anerkennung und schlägt sich unter anderem in der Kunstfreiheit aus Art. 5 III GG nieder – erscheint es gerecht, dass der Schöpfer des Werks ausreichenden Schutz genießt. Insbesondere ist es mit Hinblick auf die oben genannten Verwirklichungschancen wichtig, dass der Urheber geistiger Werke die Möglichkeit hat, hierfür ein Entgelt zu erhalten. Die Ausgestaltung des Urheberrechts fällt international verschieden aus. So steht in der Rechtsfamilie des common law eher der ökonomische Aspekt im Vordergrund, die Rechte liegen meist bei dem wirtschaftlichen Verwerter 16. Demgegenüber sieht z.B. das deutsche Urheberrecht eher den Urheber selbst im Fokus, der darum entsprechenden Schutz genießt. Meiner Meinung nach ist letzteres insgesamt gerechter, auch wenn die Arbeit der wirtschaftlichen Verwerter, z.B. von Verlagen, keinesfalls verkannt werden darf. Dennoch erscheint es wichtig und gerecht, dem Urheber, der ja den kulturellen Beitrag leistet, den größtmöglichen Entscheidungsspielraum über die Verwertung seines Werks zuzugestehen. Dies entspricht eher der Sicherstellung von Verwirklichungschancen für den Einzelnen als das eher utilitaristisch ausgeprägte System der anglo-amerikanischen Staaten. In jedem Fall stößt der Schutz des Urhebers in neuerer Zeit durch die Nutzung des Internets auf schwer behebbare Probleme: Durch Filesharing, also die Weitergabe von Dateien zwischen Internetnutzern, kann es zu Rechtsverletzungen kommen, wenn geschützte Werke weitergegeben werden. Dem Urheber wird dann die Möglichkeit genommen, zu bestimmen, ob und wie weit sein Werk überhaupt verbreitet werden soll sowie ein angemessenes Entgelt für sein Schaffen zu bekommen. Filesharing ist jedoch nicht grundsätzlich illegal, da jede Art von Dateien, nicht nur geschützte Werke, weiterverbreitet werden kann. Allein die Möglichkeit der kriminellen Nutzung kann noch kein Verbot rechtfertigen. Um die „schwarzen Schafe“ unter den Nutzern herausfiltern zu können, müsste der Datenschutz so sehr eingeschränkt werden, dass die Internetnutzer regelrecht überwacht würden. Überwachung führt jedoch zu modifiziertem Verhalten und psychischem Druck, es schränkt also die Möglichkeit der Persönlichkeitsentfaltung ein und trägt daher ebenfalls zu ungerechten Zuständen bei. Zur Behebung des Problems gibt es derzeit keine Handlungsvorschläge, die wirklich gerecht erscheinen. So wird teilweise gefordert, jede Art von Filesharing zu legalisieren und dafür von jedem Haushalt eine Pauschalabgabe als „Kulturflatrate“ zu erheben 17. Die Einnahmen sollen dann an die Schöpfer geistiger Werke gehen. Doch dann treten im Hinblick auf gerechte Verteilung neue Schwierigkeiten auf: Wer soll wie viel erhalten? Eine Zahlung nach Masse ist nicht ratsam, da derjenige, der ein kulturell bedeutsames Lebenswerk veröffentlicht, zu sehr benachteiligt würde. Nach Qualität lässt sich ebenfalls nicht unterscheiden, denn niemand könnte sich anmaßen, hierüber zu entscheiden. Erhält dagegen jeder Urheber gleich viel Geld, so mag dies für den Einzelnen nicht genug sein, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sodass sich die Schöpfung neuer Werke nicht mehr lohnt. Dem könnte nur entgegengekommen werden, wenn man die Abgabe so hoch triebe, dass einzelne Haushalte sie sich schon nicht mehr leisten könnten. Was die Schaffung gerechter Verhältnisse betrifft, ist es also unmöglich, die Idee einer Kulturflatrate umzusetzen, denn es würden bedenklichere Konflikte entstehen als dies jetzt der Fall ist. Vielleicht ist also die jetzige Situation so gerecht wie möglich. Zufriedenstellen kann dies selbstverständlich nicht.

Generell schwierig zu beurteilen ist die Sicherstellung von Gerechtigkeit durch das Strafrecht in seinen Funktionen der Kompensation, Prävention und Resozialisierung 18. Der Straftäter verstößt selbst gegen grundlegende ethische Prinzipien und verschafft sich dadurch einen Vorteil, sodass es eines Ausgleichs bedarf. Allein auf Kompensation durch Vergeltung als Zweck des Strafrechts abzustellen würde bedeuten, dass Staat und Gesellschaft selbst wiederum gegen ethische Prinzipien verstießen, jedenfalls, wenn nach dem Grundsatz „Auge um Auge“ vorgegangen wird. Somit entspricht beispielsweise die Todesstrafe insgesamt (also auch für Taten, die den Tod einer Person erzielten) nicht dem Gerechtigkeitsprinzip. Erst durch das Hinzukommen von Prävention und Resozialisierung kann Gerechtigkeit geschaffen werden, insbesondere wird durch Resozialisierung die allgemeine Rechtssicherheit erhalten.
In dieser Hinsicht wurde zuletzt die Sicherungsverwahrung, wie sie nach deutschem Strafrecht möglich ist, einem kritischen Blick unterzogen. Die Sicherungsverwahrung unterscheidet sich von der Strafhaft insofern, als sie nicht an die Schuld des Täters anknüpft, sondern allein an seine Gefährlichkeit, vor der die Allgemeinheit geschützt werden soll 19. Eine Besonderheit ist hier, dass der schuldfähige Täter seine Freiheitsstrafe wegen einer schweren Straftat bereits verbüßt hat, jedoch weiterhin erhebliche Einschränkungen seiner Freiheitsrechte dulden muss, auch wenn diese jetzt eine Maßregel der Besserung und Sicherung und keine Strafe mehr darstellen. Wegen der von ihm ausgehenden Gefahr ist er also gezwungen, ein Sonderopfer für die Allgemeinheit zu bringen. Die Tatsache, dass Einzelne für eine Mehrheit ein Opfer bringen sollen, widerstrebt grundsätzlich dem Gerechtigkeitsempfinden. Insbesondere ist dies bei der 2004 eingeführten nachträglichen Sicherungsverwahrung der Fall, die verhängt werden konnte, ohne dass der inhaftierte Täter eine neue Straftat begangen hatte. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte 2011 auch korrekterweise die Menschenrechtswidrigkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung fest 20, woraufhin zum 1. Juni 2013 eine grundlegende Reform eintrat. Doch auch darüber hinaus erscheint eine haftähnliche Verwahrung ungerecht, da sie die Betroffenen allzu sehr in ihrer freien Entfaltung einschränkt, ohne dabei weiter die Funktionen einer Strafe erfüllen zu können. So entsteht eine unangemessene Benachteiligung Einzelner. Auf der anderen Seite ist die Therapierung von Personen, die nachweislich eine Gefahr für andere und damit letztlich auch sich selbst darstellen, zur Not auch gegen deren Willen nicht nur aus utilitaristischer Sicht notwendig, sondern eher als medizinische Hilfe zu betrachten, die gerechterweise jedem zukommen muss, der ihr dringend bedarf. Doch so, also insgesamt als therapeutische helfende Maßnahme, und nicht als eine Art Strafverlängerung muss die Maßregel auch vollzogen werden. Dies besagt auch der durch das Bundesverfassungsgericht geprägte Begriff des Abstandsgebots. Hiernach muss zwischen dem Freiheitsentzug der Sanktion und dem Freiheitsentzug der Maßregel ein deutlicher positiver Unterschied bestehen. Das Gebot soll nun § 66c StGB umsetzen, der die therapeutische Betreuung auch tatsächlich in den Mittelpunkt rückt. Zwar legt § 66c Nr. 2b fest, dass die Unterbringung vom Strafvollzug getrennt (also zumindest in anderen Abteilungen) erfolgen soll. Allerdings findet der Vollzug tatsächlich nach wie vor in Justizvollzugsanstalten ab. Ob die Verlegung in eine andere Abteilung für den Verwahrten einen deutlichen positiven Unterschied darstellt, ist sehr fraglich. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die Umstände des Vollzugs der Maßregel von den Betroffenen lediglich als Erleichterungen der Haft empfunden werden. Insofern besteht hier meiner Ansicht nach in der tatsächlichen Umsetzung die Möglichkeit, in besserer Weise für gerechte Verhältnisse zu sorgen.

Nach Analyse der genannten Beispiele ist festzuhalten, dass das Schaffen absoluter Gerechtigkeit für den Gesetzgeber nicht immer oberste Priorität hat. Häufig schlägt sich mehr das Nutzenprinzip in den Gesetzen nieder, was aber bei der großen Mehrheit der Gesellschaft auch Zuspruch findet. Schließlich wird, was den meisten am nützlichsten ist, auch von den meisten gebilligt, selbst wenn dies zu Ungerechtigkeiten für Einzelne führt. Gerade, was neuere Entwicklungen wie die intensive Nutzung des Internets betrifft, die teils noch lange nicht umfassend genug durch Gesetze geregelt sind, wird es eine schwierige Herausforderung sein, für Gerechtigkeit zu sorgen. Letztlich sollte, ungeachtet dessen, dass es vielleicht gar nicht ganz erreicht werden kann, die Gerechtigkeit immer das Ideal bleiben, das die Rechtssetzung zu erreichen strebt.

 

* Die Autorin studiert im 5. Semester an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, sie hat den Schwerpunkt Medien- und Informationsrecht absolviert.


Fußnoten:

  1. Barnes, Jonathan: Aristoteles. Eine Einführung, Stuttgart 1992, S.123 f.
  2. Platon: Politeia IV, 433a ; Gröschner, Rolf: Rechts- und Staatsphilosophie, Berlin, Heidelberg 2000, S. 22-24.
  3. Höffe, Otfried: Gerechtigkeit, München 2007, S.52.
  4. Aquin, Thomas von: Summa theologica I, 21, 4c.
  5. Hobbes, Thomas: Leviathan, 13.
  6. Hobbes, Thomas: Leviathan, 13.
  7. Locke, John: Two Treatises of Government, II, 95.
  8. Bentham, Jeremy: Nonsense Upon Stilts, Appendix C, S.429.
  9. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S.429.
  10. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1975, S.122.
  11. Walzer, Michael: Spheres of Juistice. A defense of pluralism and equality, New York, 1983, S. 452.
  12. Sen, Amartya: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München 2000, S.52.
  13. Umbach, Dieter C./ Clemens, Thomas: Grundgesetz. Mitarbeiterkommentar, Heidelberg 2002, Art. 38, Rn 58.
  14. Peucker, Martina: Staatsorganisationsrecht, Heidelberg 2013,  S.68f.
  15. Decker, Frank: Regieren im „Parteienbundesstaat“. Zur Architektur der deutschen Politik, Wiesbaden 2011, S.147.
  16. Kohnen, Clemens: Die Beendigung von Nutzungsrechten im US-amerikanischen und deutschen Urheberrecht, Göttingen 2004, S.21-23.
  17. Roßnagel, Alexander/Jandt, Silke/Schnabel, Christoph: Kulturflatrate. Ein verfassungsrechtlich zulässiges Modell zur Künstlervergütung?, MMR 2010, S.8-12.
  18. Krey, Volker: Deutsches Strafrecht. Allgemeiner Teil, Stuttgart 2008, Rn 120 ff.
  19. Liszt, Franz von: Der Zweckgedanke im Strafrecht, ZStW 1883, S.34.
  20. EGMR, Urteil vom 13.1.2011, 6587/04; BVerfG, 2 BvR 2365/09.

Kann der Einsatz der Todesstrafe als Indikator für interkulturelle Unterschiede im Gerechtigkeitsempfinden dienen?

$
0
0

Von stud. iur. Gunnar Jommersbach*

 (Diesen Artikel als PDF herunterladen)

Als ein Gericht in der indischen Hauptstadt Delhi im vergangenen Jahr sechs Männer zum Tode verurteilte, die eine junge Frau vergewaltigt hatten, welche nach zwei Wochen ihren schweren Verletzungen erlag, entsprach das Gericht mit dieser Strafe den Forderungen von hunderten Demonstranten. Der Richter sagte in der Urteilsverkündung, dass dieser Fall zu denen gehöre, in denen die Todesstrafe verhängt werden müsse. 1 Der Vater der ermordeten Frau erklärte, dass Gerechtigkeit gesprochen wurde. Die sechs Täter werden am Galgen sterben. 2

In der Nacht zum 14. Oktober 2012 wurde ein 20-jähriger Mann in Berlin auf dem Alexanderplatz angegriffen und mit Tritten gegen den Kopf so schwer verletzt, dass er später ins Koma fiel und am folgenden Tag infolge eines Blutgerinnsels im Gehirn starb. 3 Die sechs Täter müssen mehrere Jahre ins Gefängnis. Der Haupttäter wurde zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. 4

Der Verteidiger der Schwester des Getöteten, die als Nebenklägerin im Prozess auftrat, beurteilte das Urteil als ausgewogen und angemessen, die Schwester selbst  sagte, dass es keine gerechte Strafe für den Tod eines Menschen nicht gebe. 5

Zwei Taten von gleich vielen Tätern, mit der irreversiblen schrecklichsten Folge für die Opfer. Und zweimal ist die Strafe grundlegend verschieden. Einmal wird zur drastischsten und endgültigsten aller Strafen gegriffen, einmal werden Menschen für einen überschaubaren Zeitraum weggesperrt.

Ist die eine Strafe gerechter als die andere? Ist das eine Rechtssystem besser? Sind wir weiterentwickelt, weil wir Straftäter nicht mehr am Galgen hängen?

Zugegeben, Täter am Galgen zu hängen, ist uns in Deutschland wohl eher aus Filmen und Geschichtsbüchern bekannt. Man verbindet diese Methode der Strafvollstreckung mit der düsteren Geschichte Deutschlands, aus der man gelernt hat. Die Geschichte des Mittelalters und der NS Diktatur sind uns als Negativbeispiele für solche Formen der Strafvollstreckung bekannt. Zwar gibt es immer wieder Medienberichte, dass irgendwo auf der Welt so die Todesstrafe vollstreckt wird, doch kommt uns das alles sehr weit weg und exotisch vor.

Bei uns in Deutschland ist die Todesstrafe abgeschafft. Dies ist in Artikel 102 Grundgesetz verankert. Dies ist jedoch erst seit 1949 so. Seit gut sechzig Jahren ist die Todesstrafe also erst abgeschafft. Historisch gesehen, ist das ein Wimpernschlag. 1949 ist nicht so lange her, als dass man Informationen aus dieser Zeit nur noch aus dem Geschichtsbuch bekommen kann. An den WM Erfolg von 1954 wird sich immer noch gekrallt, Konrad Adenauer als großartiger Politiker von vielen verehrt. Unsere Eltern oder Großeltern waren zum Teil noch dieser Strafe unterworfen und ihr Handeln hätte damit sanktioniert werden können. Es ist also nicht damit getan, zu sagen, unserer Gesellschaft ist eine solche Strafe völlig fremd, sodass sich ein Vergleich von vorneherein verbietet.  Die Abschaffung der Todesstrafe in Deutschland hängt untrennbar mit seiner Vergangenheit zusammen. Die millionenfachen Tötungen in der Zeit von 1933 bis 1945, haben wesentlich zum Entschluss der Abschaffung beigetragen. Man wollte nicht mehr, dass Menschen zum bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht werden und dass dem Menschen damit jede eigene geistig-moralische oder gar physische Existenz genommen werden kann. Zur Abschaffung kam es leider erst vor dem schrecklichen Hintergrund der NS- Verbrechen. Aber man hat aus der Geschichte gelernt.

Nun hat es in Indien zum Glück nie ein Regime vergleichbar mit dem des NS- Regimes in Deutschland gegeben. Indien hat, genauso wie jedes andere Land auch, keine mit Deutschland vergleichbare Geschichte. Dass, was in Deutschland mit der Todesstrafe verbunden wird, gab es in Indien nicht und sie ist daher auch nicht gleichermaßen negativ behaftet, wie in Deutschland und besteht immer noch fort, auch wenn die Stimmen, die ihre Abschaffung fordern, lauter werden und die Todesstrafe auch nur noch selten verhängt wird.  Ein so abschreckendes Beispiel, wie es Deutschland hat, gibt es nicht in jedem Land und nicht jedes andere Land lernt aus der deutschen Geschichte.

Die zu Beginn geschilderten Taten gleichen sich bis hin zu der Täteranzahl. Die verhängten Strafen dagegen nicht. Zum einen liegt das, wie gezeigt, daran, dass es in Deutschland gar nicht mehr möglich ist, die drastischste aller Strafen zu verhängen. Proteste in den Größenordnungen, wie es in Indien der Fall war, gab es in Deutschland nicht. Forderungen von Bürgern, eine bestimmte Strafe zu verhängen blieben aus. Es gab keine Proteste für eine bestimmte Dauer einer Haftstrafe. Vielleicht liegt das daran, dass es schwer ist, eine gerechte Strafe für eine solche Tat zu finden. Was wäre gerecht? Drei Jahre? Fünf Jahre? Oder vielleicht doch die härteste aller möglichen Strafen: Lebenslänglich?

Offenbar gibt es kein allgemeingültiges, bei allen Menschen gleiches Empfinden darüber, was Gerechtigkeit ist. Die Frage was Gerechtigkeit ist, wird von Gesellschaft zu Gesellschaft und innerhalb solcher von Zeit zu Zeit unterschiedlich beurteilt. Das Empfinden darüber, was Gerechtigkeit ist, unterliegt ständigem Wandel und das ist auch gut so. Man stelle sich vor, Regeln, die einmal aufgestellt wurden, wären unumstößlich und würden für allezeit Geltung behalten. Sklavenhandel, Hexenverbrennung und Kinderarbeit wäre möglich und gerecht. Eine Gesellschaft muss für sich definieren, was sie als gerecht empfindet und dieses Empfinden ständig darauf untersuchen, ob es auch wirklich noch aktuellen Empfindungen entspricht. Man darf weder Normen noch Gewohnheiten einfach hinnehmen und sich denken: „ Das war schon immer so. Das wird schon richtig sein.“ Es ist ein ständiges Hinterfragen und ein ständiger Meinungsaustausch darüber, was als gerecht empfunden wird nötig. Gerechtigkeit muss sich entwickeln, auch wenn es kein absolutes Ziel gibt, auf das man sich als eine Gesellschaft hinbewegt. Einen Zustand der absoluten Gerechtigkeit in allen Lebenslagen wird es wohl nie geben. Um zur Frage zurückzukommen, ob das deutsche Strafsystem besser oder gerechter ist, als das indische, weil in Deutschland die Todesstrafe abgeschafft ist und wegen Artikel 102 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes auch nicht mehr eingeführt werden kann. Sind wir deswegen eine Entwicklungsstufe weiter als die größte Demokratie der Welt? Nein, wir sind es nicht. Es gibt kein besser oder schlechter. Es fehlt schlicht und ergreifend an der Vergleichbarkeit. Was in Indien als gerecht empfunden wird, ist nun einmal nicht identisch mit dem, was in Deutschland als gerecht empfunden wird. Deutschland hat einen historischen Hintergrund, aus dem es unbedingt zu lernen gilt und dazu gehört auch den Menschen nicht zum Objekt staatlichen Handelns zu machen und ihn als solchen unter Umständen auch zu töten. Wenn ich von einer Entwicklung spreche, meine ich nicht eine Leiter auf der es hoch und runter geht und das Ziel ganz oben ist. Wir stehen nicht eine Stufe über Ländern, in denen die Todesstrafe noch praktiziert wird, weil es schlicht und ergreifend an einer vergleichbaren Situation fehlt.  Andere Länder haben andere Wurzeln und verhängen Strafen vor anderen Hintergründen. Was bei uns als gerecht empfunden wird, würde nicht überall als gerecht empfunden werden und anders herum. Das gilt nicht nur im Strafrecht. Die Tatsache, dass man unter gewissen Umständen bei Krankheit über eine bestimmte Dauer von seinem Arbeitgeber weiterbezahlt wird, wird für Menschen in anderen Teilen der Welt unglaublich wirken. Für uns ist es –zum Glück- selbstverständlich und Ausdruck unseres Sozialstaatsprinzips. Es gilt aus der eigenen Geschichte zu lernen und sich daraus zu entwickeln und Prinzipien zu formen.

Wenn festgestellt wurde, dass das Empfinden darüber, was Gerechtigkeit ist, von Land zu Land und innerhalb derer von Zeit zu Zeit unterschiedlich ist, stellt sich die Frage, ob Recht in jedem System isoliert Gerechtigkeit schaffen kann. Auf einer ersten Stufe muss ermittelt werden, was Gerechtigkeit ist. Das kann nicht Aufgabe des Rechts sein, sondern ist Aufgabe der Menschen. Die Aufgabe des Rechts sollte es sein, das Empfinden darüber, was zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort als gerecht empfunden wird, aufzugreifen und es, – als Aufgabe auf einer zweiten Stufe,-  in Formen zu gießen. Das Ziel sollte sein, das Gerechtigkeitsempfinden durch Regeln zu gewährleisten und zu sichern. Gleichwohl muss es so flexibel sein, sich zu ändern, wenn sich das Empfinden darüber, was Gerechtigkeit ist, innerhalb der Menschen ändert, ohne dabei übergeordnete unumstößliche Prinzipien aufzugeben. Die Schwierigkeit dabei ist es, Veränderungen im Denken und Empfinden der Gesellschaft als solche zu erkennen. Sie von nur emotionsgesteuerten kurzfristigen Meinungen und radikalen Meinungen weniger die lautstark geäußert werden, zu unterscheiden und darauf angemessen zu reagieren. Wenn innerhalb der Grenzen des Rechts eine gleiche Beurteilung gleich gelagerter Sachverhalte stattfindet, kann Recht dafür sorgen, Gerechtigkeit zu verwirklichen. Die Anwendung des Rechts sollte das Ziel haben, das was allgemein als gerecht empfunden wird, zu verwirklichen. Ob die konkrete Behandlung gerecht ist oder nicht, ist nicht Aufgabe des Rechts.

Würde man die zu Beginn geschilderten Taten in den jeweiligen Ländern und  vor den entscheidenden Gerichten belassen und nur die verhängten Strafen tauschen, also die indischen Täter für maximal viereinhalb Jahre inhaftieren und die deutschen Täter hängen, würde man von den Eltern der jeweiligen Opfer und von der breiten Masse der Bevölkerung wahrscheinlich das Gleiche hören:

„Das ist ungerecht“.

* Der Autor studiert im 10. Semester an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, er hat den Schwerpunktbereich Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung absolviert.


Fußnoten:

  1. http://www.spiegel.de/panorama/justiz/indien-todesstrafe-fuer-vergewaltiger-von-neu-delhi-verhaengt-a-922068.html, gesehen am 24. 12.13, 11:30 Uhr.
  2. http://www.fr-online.de/panorama/vergewaltigung-indien-todesstrafe-fuer-vergewaltiger,1472782,24303054.html, gesehen am 24.12. 13, 11:30 Uhr.
  3. http://de.wikipedia.org/wiki/Todesfall_Jonny_K., gesehen am 24.12. 13, 11:30 Uhr.
  4. http://www.focus.de/panorama/welt/prozess-um-tod-von-johnny-k-schlaeger-vom-alexanderplatz-muessen-ins-gefaengnis_aid_1072480.html, gesehen am 24.12.13, 11:30.
  5. http://www.spiegel.de/panorama/justiz/urteil-im-fall-jonny-k-onur-u-zu-haftstrafe-verurteilt-a-916809.html, gesehen am 24. 12. 13, 11:30 Uhr.

Johann Wolfgang von Goethe – Hassliebe zur Jurisprudenz

$
0
0

von stud. iur. Friederike Düppers*

 (Diesen Artikel als PDF herunterladen)

 

Den Dichter Johann Wolfgang von Goethe lernt man bereits früh in der Schule kennen, lernt seinen „Zauberlehrling“ auswendig und beschäftigt sich für das Abitur mit seinem Faust I. Wenig jedoch weiß man über den Juristen Johann Wolfgang von Goethe. Wenn man ihm in Verbindung mit der Jurisprudenz begegnet, so wird dies zumeist im Kontext mit seiner Kritik am Reichskammergericht sein, bei dem er ein Praktikum absolvierte oder man hört von seiner Abneigung zu dieser Wissenschaft. Seine Beziehung zur Rechtswissenschaft war jedoch weitaus komplexer als die besagte Kritik es erahnen lässt.

Johann Wolfgang von Goethe wuchs bereits umgeben von Juristen in Frankfurt am Main auf. Sein Vater Johann Caspar Goethe (1710-1782) war Jurist und Kaiserlicher Rat und verfügte über eine große Bibliothek mit Rechtsliteratur. Seine Mutter Catharina Elisabeth (1731-1808) entsprang einer angesehenen Juristenfamilie. Hervorzuheben ist Goethes Großvater Johann Wolfang Textor (1693-1771), der als Professor an der juristischen Fakultät in Heidelberg lehrte und in Frankfurt auf Lebenszeit zum Stadtschuldheißen ernannt wurde, womit er als oberster Justizbeamte die höchste Würdenstellung der Reichsstadt erhielt. 1

Goethes Vater sorgte für eine umfassende Bildung seines Sohnes. Beide Elternfamilien entsprangen einer lutherischen Glaubenstradition, sodass das Studium der Bibel von großer Bedeutung war. Über dieses Studium lernte Goethe bereits als Kind, sich eine Meinung über Recht und Unrecht zu bilden. Da der Hausunterricht zumeist auf Latein abgehalten wurde und auch die Bibel in Latein gefasst war, konnte der achtjährige Goethe bereits auf einen großen lateinischen Wortschatz zurückgreifen. Auch an die Juristerei wurde der Junge früh herangeführt. Der Vater unterwies ihn im  Unterrichts sowohl in der Lektüre des Corpus iuris civilis, der im Rahmen der Rezeption geltendes Recht war, als auch des Corpus iuris canonici.

Goethe war erst 16 Jahre alt, als er auf Geheiß seines Vaters hin sein Studium 1765 in Leipzig begann. Er selbst schrieb in einer Notiz „Gegen mich nach Leipzig“, wobei nicht geklärt ist, ob sich die Notiz gegen die Jurisprudenz oder den Studienort richtete. 2

Zu seiner Zeit war die rechtswissenschaftliche Fakultät eine der vier großen Fakultäten neben Theologie, Medizin und Philosophie. Goethe war zwar an der rechtswissenschaftlichen Fakultät eingeschrieben und stürzte sich sofort in zahlreiche Vorlesungen, fühlte sich zunächst jedoch von der Theologie stärker angezogen. Ebenso trieb es ihn mehr zur Philosophischen Fakultät, der auch das Staatsrecht zugeordnet war. Er stellte sich bei  Hofrat Johann Gottlob Böhme (1717-1780) vor, der eine ordentliche Professur für Geschichte und Staatsrecht innehatte. Er äußerte vor ihm den Wunsch, sich lieber der Antike und der Poesie widmen zu wollen, was Böhme missfiel. Dieser entgegnete lediglich, zu einem Studienwechsel sei die Erlaubnis seines Vaters notwendig. Auch später besserte sich das Verhältnis zum Professor nicht, als dieser erfuhr, dass der Rechtsstudent in einer Vorlesung, statt ihr zu folgen, Richter mit seltsamen Perücken an den Rand seiner Aufschriebe gezeichnet hatte. 3

Zunächst besuchte der frischgebackene Jurastudenten noch eifrig viele Vorlesungen. Es beflügelte ihn, dass er von seinem Vater gute juristische Vorkenntnisse vermittelt bekommen hatte. Diese zeigen sich darin, dass er als Student bereits im dritten Semester zu einer Disputation, einem juristischen Streitgespräch zwischen einem Doktoranden und einem Opponenten, zugelassen wurde. 4 Bald darauf folgte jedoch eine Krise. Goethe klagte darüber, er lese den ganzen Tag nur die Gesetze, lerne diese auswendig und habe das Gefühl, sich doch an nichts erinnern zu können. So beschäftigte er sich lieber mit den Künsten und nahm beispielsweise Zeichenunterricht.

Ob sein ausschweifender studentischer Lebensstil Anteil daran hatte, dass der Student am Ende des sechsten Semesters erkrankte, lässt sich nicht klären. Sein Vater soll sich enttäuscht von seinem Sohn abgewandt haben, als dieser mit einer angeschlagenen Lunge, Problemen mit den Lymphdrüsen und schweren Verdauungsbeschwerden nach Frankfurt zurückkehrte. 5 Dort wurde er zunächst von seiner Mutter und seiner Schwester rührend umsorgt. Nach gesundheitlicher Besserung setzte Goethe sein Studium 1770 in Straßburg fort. Dort gab es zwei verschiedene Optionen zur Promotion: die Erhebung zum Doktor aufgrund einer schriftlichen Dissertation oder die Verleihung der Würde eines Lizentiaten basierend auf einer erfolgreichen mündlichen Disputation. 6 Zur Vorbereitung auf das Vorexamen war ihm bei einer Tischgesellschaft, einer Art Stammtisch bestehend aus Studenten verschiedener Fakultäten, ein Repetitor empfohlen worden, der ihm mit Hilfe von Fragenkatalogen den Stoff nahebrachte. 7 Bereits nach einem halben Jahr bestand der Rechtsstudent die Vorprüfung „cum laude“ und durfte promovieren. In Straßburg schien ihm das Jurastudium auch wieder gut zu gefallen und so schrieb er in einem seiner Briefe: „Die Jurisprudenz fängt an, mir sehr zu gefallen. So ist’s doch mit allem, wie mit dem Merseburger Biere; das erste Mal schaudert man, und hat man’s eine Woche getrunken, so kann man’s nicht mehr lassen.“ 8

Goethe entschloss sich zunächst – auch angetrieben von seinem Vater – zu einer schriftlichen Dissertation, um den Doktorgrad zu erlangen. In Straßburg wurde sowohl das römische, als auch das kanonische Recht gelehrt. Aufgrund seiner guten theologischen Vorbildung vermag es nicht zu überraschen, dass Goethe ein staatskirchenrechtliches Doktorthema wählte. In seiner Dissertation behandelte er unter anderem den Konflikt zwischen staatlicher und geistlicher Gewalt und ihre theologische und fiskalische Begründung. 9 Er stellte dabei auch für die damalige Zeit gewagte Thesen auf, u.a. dass es nicht Jesus Christus gewesen sei, der die christliche Kirche begründet hat, sondern Politiker und Gelehrte späterer Zeiten. Wegen ihrer Brisanz wurde die Doktorarbeit abgelehnt und Goethe beschritt den Weg zum Lizentiaten beider Rechte. Um den Lizentiaten-Titel zu erhalten, musste man sein juristisches Können in einer auf lateinisch geführten Disputation zeigen. Dies war dem Vater nicht allzu recht, da dieser gerne eine geschriebene Arbeit seines Sohnes veröffentlicht gewusst hätte.

Zu seiner Disputation verfasste Goethe 56 juristische Thesen, die es in dem Streitgespräch zu verteidigen galt. Auch wenn es heißt, die Thesen seien schnell hingeschrieben und nicht sonderlich durchdacht gewesen, erhielt er für seine Disputation das Prädikat „cum applauso“ und durfte den Titel eines Lizentiaten führen. 10

Goethe entschloss sich kurz nach seiner Promotion in Straßburg, seine erworbenen juristischen Kenntnisse seinem „Vaterlande brauchbar zu machen“, und wollte dies zunächst als Anwalt tun. So eröffnete er 1771 eine kleine Anwaltskanzlei in Frankfurt. Er sah die Anwaltschaft jedoch eher als Vorbereitung zum Dienste der Obrigkeit ganz nach dem Vorbild seiner Familie.

Im Jahr 1772 unterbrach Goethe seine Arbeit in der Kanzlei und ging nach Wetzlar, um ein Praktikum am Reichskammergericht zu absolvieren und so Einblicke in den Gerichtsbetrieb zu bekommen. Er folgte damit der Empfehlung seines Vaters, der ihm nahelegte, die Gerichtspraxis näher kennen zu lernen. Dieses war ihm vom Vater empfohlen worden, um die Gerichtspraxis kennen zu lernen. Dem Praktikanten gefiel jedoch überhaupt nicht, was er dort sah. Das Reichskammergericht war zu seiner Praktikumszeit heillos mit Fällen überlaufen, die nicht bearbeitet werden konnten. Der Rückstand belief sich auf über 16.000 unerledigte, teilweise seit mehr als 100 Jahren anhängige Streitsachen. 11 Zudem bestand am Gericht ein Problem mit Korruption, was Goethe abschreckte. Später wandte er sich selbst als Anwalt gegen die Prozessverschleppungen. 12 In seinen Augen war der Zustand des Reichskammergerichts ein Symbol der desolaten Gesamtverfassung und des Rückstands des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Er kehrte daher nach dem Praktikum enttäuscht in seine Frankfurter Kanzlei zurück.

Der Advokat Goethe soll in seinem Anwaltsleben lediglich 28 Fälle bearbeitet haben. Hierbei handelt es sich jedoch nur um die aufgefundenen Akten, die an das Schöffengericht gegangen und nicht vernichtet worden waren. Interne Vermerke oder außergerichtliche Akten sind hingegen nicht überliefert, weshalb sich über die tatsächliche Anzahl kein abschließendes Urteil fällen lässt. 13 Die Schriftsätze, die sich noch auffinden ließen, zeugen ganz vom Stil des „Sturm und Drang“, da der junge Anwalt in seiner Straßburger Studienzeit von den Plädoyers französischer Anwälte begeistert war und sich an ihrem Stil orientierte. Bei den meisten Verfahren handelte es sich allerdings um schriftliche Verfahren, in denen die Richter einen sachlichen Vortrag den leidenschaftlichen Formulierungen vorzogen. Ein Mal formulierte Goethe ein Plädoyer mit derart überspitzten Behauptungen und Beschuldigungen, dass das Gericht ihn in seine Schranken wies. Der Urteilsspruch fiel zwar zugunsten seines Mandanten aus, er mäßigte aber letztlich seinen Schreibstil. 14

1775 führte der Weg des 26-Jährigen auf Einladung des Herzogs Carl August nach Weimar. Am Weimarer Hof war Goethe zunächst nur zu Gast. Es entwickelte sich jedoch ein freundschaftliches Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen ihm und dem Herzog. Bald machte sich Goethe für die Verwaltungsgeschäfte des Herzogtums unabdingbar. Als Staatsmann beliefen sich seine Aufgaben auf die Beaufsichtigung von Einrichtungen, die Formulierung von Gesetzen, die Vorbereitung von Investitionen und die Haushaltssanierung. 15

In der behördlichen Arbeit scheint Goethe jedoch keine wahre Erfüllung gefunden zu haben. So bricht er 1786 in einer Krise plötzlich zu seiner zweijährigen Reise nach Italien auf, ohne es jemanden außer seinem Diener und dem Herzog mitgeteilt zu haben. Doch bald schon zog es den inzwischen bekannten Autor wieder zurück in das beschauliche Herzogtum. Noch von Rom aus hatte Goethe den Herzog gebeten, ihn von seinen staatlichen Pflichten zu entbinden. Daraufhin wandelten sich Goethes Aufgaben. Er behielt zwar seinen Rang und Titel, schaltete sich jedoch nur noch auf besonderes Ersuchen des Herzogs in die Regierungsgeschäfte ein. 16 Sein Kürzertreten im Staatswesen ermöglichte seine weitere dichterische Arbeit. Zudem widmete er sich von nun an stark den Naturwissenschaften.

Ganz vergessen war die Juristerei doch auch in seinen späteren Lebensjahren nicht. In seinem „Faust II“, an dem er noch kurz vor seinem Tode arbeitete und dessen Veröffentlichung er nicht mehr miterlebte, widmete sich Goethe unter anderem der Machtlosigkeit der Justiz. Auch in seinem Werk „Wahrheit und Dichtung“ erinnert er sich durchaus positiv an seine juristische Ausbildung, da es ein „unendlicher Vorteil“ sei, dass er dort von Menschen umgeben gewesen sei, die „Wissenschaft besitzen oder suchen“.

Goethes Lebensweg hat gezeigt, dass er der Jurisprudenz nicht vollkommen abgeneigt war. Vor allem in seiner Zeit in Straßburg stellte er durchaus fest, dass ihm der Umgang mit ihr auch sehr gefallen konnte. Allerdings war sein Interesse nicht groß genug, sich ausschließlich mit der mit ihr zu beschäftigen. Viel zu sehr reizten ihn die Künste und andere Wissenschaften. Vermutlich hat die Rechtswissenschaft und ihr spitzfindiger Umgang mit Sprache jedoch zu seiner dichterischen Laufbahn beigetragen und seine Werke sowohl inhaltlich, als auch stilistisch geprägt. So tauchen juristische Fragen immer wieder in seinen Werken auf. Es bleibt aber Spekulation, ob Goethe seinem Dr. Faust in Anlehnung an sich selbst die wohlbekannten Worte in den Mund legte: „Habe nun ach! Philosophie, / Juristerei und Medizin, / Und leider auch Theologie / Durchaus studiert, mit heißem Bemühn, / Da steh ich nun, ich armer Tor! / Und bin so klug als wie zuvor;“. 17

 

* Die Autorin ist Studentin der Rechtswissenschaften im achten Semester an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und befindet sich zurzeit in der Examensvorbereitung.


Fußnoten:

  1.   Pausch/Pausch, Goethes Juristenlaufbahn, S. 25.
  2. Pausch/Pausch, Goethes Juristenlaufbahn, S. 36.
  3. Knobelsdorf, Goethe und die Jurisprudenz, in Johann Wolfgang Goethe und Leipzig, 1999.
  4.       Pausch/Pausch, Goethes Juristenlaufbahn, S. 47.
  5.             Appel, Johann Wolfgang von Goethe, S. 32.
  6.      Pausch/Pausch, Goethes Juristenlaufbahn, S. 95.
  7.   Pausch/Pausch, Goethes Juristenlaufbahn, S. 72 ff.
  8.   Das Schreiben vom 26.08.1770 ging kurz vor seinem Examen an eine gute Freundin Katharina von Klettenburg (1723-1774), die ihn während seiner Frankfurter Genesungszeit betreut hatte.
  9.          Hohoff, Goethe – Dichtung und Leben, S. 60.
  10.          Hohoff, Goethe – Dichtung und Leben, S. 61.
  11.      Weber-Fas, Goethe als Jurist und Staatsmann, S. 7.
  12.          Appel, Johann Wolfgang von Goethe, S. 59.
  13.    Pausch/Pausch, Goethes Juristenlaufbahn, S. 122.
  14.    Pausch/Pausch, Goethes Juristenlaufbahn, S. 134.
  15. Kumanoff, Johann Wolfgang von Goethe: Der Rechtsgelehrte, der keiner sein wollte, Legal Tribune Online vom 26.10.2010, http://www.lto.de/persistent/a_id/1799 (abgerufen am 05.02.2014).
  16.    Weber-Fas, Goethe als Jurist und Staatsmann, S. 11 f.
  17.    Goethe, Faust: Der Tragödie erster Teil, Kapitel 4.

Recht und Gerechtigkeit am Beispiel der Theorien des Geistigen Eigentums

$
0
0

von stud. iur. Wilko Harfst

 (Diesen Artikel als PDF herunterladen)

 

A. Einleitung

Juristisch gesehen findet sich die legale Gerechtigkeit in den Prinzipien der Legitimität, Verhältnismäßigkeit und Rechtmäßigkeit wieder. Die legale Gerechtigkeit kann als Ausformulierung ethischer Gerechtigkeit in positivem Recht gesehen werden. Im Folgenden soll am Beispiel vierer grundlegender Theorien des Geistigen Eigentums gezeigt werden, dass die legale Gerechtigkeit, verkörpert in positivem Recht, oft aus der ethischen Gerechtigkeit resultiert, die am einfachsten vom Gesetzgeber umgesetzt werden kann. Inwiefern das positive Recht der ethischen Gerechtigkeit dabei gerecht wird, ist fraglich.

Das Recht des Geistigen Eigentums besteht seit Mitte des 18. Jahrhunderts. Ziel des Geistigen Eigentums ist es, den Erschaffern eines ursprünglichen Werkes einen Anreiz in Form eines zeitlich begrenzten Monopols für ihre Bemühungen zu geben. In der Theorie soll dadurch die allgemeine Kreativität und Innovation der Menschheit belohnt und somit gefördert werden. Dieser kommerzielle Anreiz galt zunächst allerdings nur als zusätzlicher Faktor zum akademischen und wissenschaftlichen Ruhm. In der heutigen Zeit bestimmt jedoch genau dieser kommerzielle Faktor maßgeblich das Recht des Geistigen Eigentums, da Forschung immer teurer wird und Investoren lieber in Forschung mit kommerziellen Anwendungen investieren 1.

B. Theorien

Zunächst sollen hier die vier Theorien zur Rechtfertigung des Geistigen Eigentums, nämlich der

Utilitarismus, gefolgt von der Social Planning Theory, der Persönlichkeitstheorie nach Kant und Hegel, und der Labour Theory nach John Locke, vorgestellt werden, in denen die unterschiedlichen Zielsetzungen sichtbar werden.

I. Utilitarismus

Im Allgemeinen sieht der Utilitarismus diejenigen Dinge als gut an, die den größtmöglichen Nutzen für die größtmögliche Anzahl bringen. Übertragen auf das Recht des Geistigen Eigentums bedeutet das, dass diejenigen Geistigen Eigentumsrechte als gerecht gelten können, welche einen gesellschaftlichen Nettogewinn mit sich bringen. Hierbei muss beachtet werden, dass der Anreiz des Geistigen Eigentums für Kreativität und Innovation größer sein soll als der Verlust, den die Gesellschaft durch die Exklusivität der Eigentumsrechte in Kauf nehmen muss 2. Im angloamerikanischen Raum wird der Utilitarismus als Hauptgrundsatz des Rechts des Geistigen Eigentums gesehen und ist durch kulturellen Export des amerikanischen Urheberrechts zur global meistgenutzten Theorie des Geistigen Eigentums geworden 3.

 

II. Social Planning Theory                 

Diese Theorie ähnelt dem Utilitarismus insofern, dass Geistiges Eigentum dann gerecht ist, wenn es den größtmöglichen Nutzen für die größtmögliche Anzahl bringt. In der Social Planning Theory wird jedoch statt eines gesellschaftlichen Nettogewinns als Ziel jeglichen Rechts die Schaffung einer gerechten und attraktiven Gesellschaft gesehen. Der größtmögliche Nutzen wird also, anders als im Utilitarismus, mit einer vordefinierten Wertung belegt 4.

 

III. Kant und Hegel: Persönlichkeitstheorie

Die Persönlichkeitstheorie, welche auf den Werken von Kant und Hegel beruht, definiert diejenigen Geistigen Eigentumsrechte als gerecht, die einen Ausdruck der Person als Vernunftwesen darstellen. In diesem Sinne wird das Geistige Eigentumsrecht als ureigene Insignie des Urhebers verstanden. Nach der Persönlichkeitstheorie darf daher auch kein Transfer des Eigentumsrechts stattfinden. Im Grunde genommen wäre hierfür kein geschütztes Eigentumsrecht notwendig; die rational dafür ist jedoch, dass das Eigentum dann geschützt ist, wenn es dem Fortschritt der menschlichen Bedürfnisse und Interessen dient 5.

 

IV. John Locke: Labour Theory                      

Die Labour Theory basiert auf den Werken John Lockes, der dafür plädierte, Eigentumsrechte nur dort zu gewähren, wo durch die Investition von Arbeit am Gemeingut ursprünglich Neues geschaffen wird, solange hinterher das Gemeingut durch die Gewährung des Eigentumsrechtes nicht verkleinert wird. Der Zuwachs am Gemeingut wäre demzufolge das Eigentum des Urhebers 6. Obwohl aus den Aufzeichnungen Lockes nicht hervorgeht, ob auch Geistiges Eigentum in seine Theorien eingeschlossen werden sollte, gibt es kein überzeugendes Argument, warum man Lockes Gedankengänge nicht auch auf Geistiges Eigentum anwenden sollte. Allerdings sollte es Erwähnung finden, dass Locke unveränderliche, unveräußerliche und unendliche Eigentumsrechte vorsah. Da bei unendlichen Eigentumsrechten jedoch aus Lockes Argumentation selbst ein Widerspruch entsteht, da derjenige nach dem Gewähren eines Geistigen Eigentumsrechtes schlechter dran wäre, der unabhängig die gleiche Arbeit am Gemeingut leistet. Nach dem Utilitarismus wird die Labour Theory vermehrt als Rationale des Geistigen Eigentums gesehen 7.

 

C. Probleme bei der Umsetzung

Im Folgenden sollen Probleme der vier Theorien aufgezeigt werden, die bei der Umsetzung in positives Recht zu beachten sind. Hierbei soll gezeigt werden, dass verschiedene Gerechtigkeitsbilder zu unterschiedlichem positivem Recht führen und in der Gesetzgebung die Entscheidung im Endeffekt meist auf diejenige Rationale fällt, die bei der Umsetzung weniger Probleme aufwirft.

I. John Locke: Labour Theory

Nach Johne Lockes Auffassung sind Eigentumsrechte dann gerecht, wenn hinterher niemand schlechter dasteht als vorher. Da Geistige Eigentumsrechte eine Monopolstellung des Rechteinhabers mit sich bringen, wäre derjenige, der später unabhängig die gleiche Arbeit am Gemeingut leistet, in einer schlechteren Position. Folgt man Lockes Argumentation also, ergibt sich hieraus, dass Geistiges Eigentum nur so lange bestehen darf, wie jemand anders gebraucht hätte, um die gleiche Arbeit am Gemeingut zu leisten 8. Dies wiederum zieht einige Probleme für den Gesetzgeber mit sich, da es in der Praxis unmöglich ist, diese Dauer festzusetzen. Im Bereich der Markenrechte gibt es bereits Regelungen, die Eigentumsrechte auch für unabhängige Neuerfinder gewähren, wohingegen solche im Patentrecht vollkommen fehlen.

 

II. Kant und Hegel

Das Recht des Geistigen Eigentums wird in der heutigen Zeit vor allem mit wirtschaftlichem Interesse genutzt. Die Persönlichkeitstheorie hingegen propagiert ein Recht des Geistigen Eigentums, das für den Urheber fast ausschließlich zeremoniell von Bedeutung ist. Durch die Beschränkung der wirtschaftlichen Nutzung infolge der Unveräußerlichkeit eines solchen Eigentumsrechtes ist es fast unmöglich, ein umfassendes Recht des Geistigen Eigentums auf dieser Grundlage zu schaffen, welches auch den Anforderungen der Gesellschaft sowie der Wirtschaft gleichermaßen entspricht. Zusätzlich lassen sich die hochphilosophischen Konzepte von Kant und Hegel zu schwer konkretisieren, um in positives Recht umgesetzt zu werden, ohne dabei in ihren Kernaussagen abgewandelt zu werden.

III. Social Planning Theory

Da diese Theorie diejenigen Geistigen Eigentumsrechte als gerecht ansieht, die helfen, auf eine ideale Gesellschaft hinzuarbeiten, ergeben sich direkt im Ansatz Probleme für den Gesetzgeber. Wie zum Beispiel wird eine  ideale Gesellschaft definiert? Und woran wird gemessen, ob eine Innovation daraufhin arbeitet, um infolgedessen schützenswert zu sein?

 

IV. Utilitarismus

Auch im Utilitarismus ergeben sich Schwierigkeiten für den Gesetzgeber, da es empirisch nicht möglich ist, zu überprüfen, wann der Anreiz für Entwicklung und Innovation einen größeren Nutzen für die Gesellschaft bringt als die Exklusivität der Geistigen Eigentumsrechte die Gesellschaft einschränkt 9. Hierbei muss jedoch nicht zwischen philosophisch brisanten Standpunkten gewählt werden, wie beispielsweise bei der Art der idealen Gesellschaft für die Social Planning Theory; es sind lediglich Entscheidungen über Dauer und Umfang der Geistigen Eigentumsrechte von Nöten. Obwohl auch dies nicht immer ganz einfach ist, ist es trotzdem diejenige Theorie, die am leichtesten in geltendes Recht umzusetzen ist.

 

D. Zusammenfassung und Fazit

Wie man sehen kann haben alle vier Theorien ihre Vor- und Nachteile. Alle vier gehen von einem unterschiedlichen Gerechtigkeitsbild aus und sind doch alle ethisch vertretbar. Dass sich hauptsächlich der Utilitarismus und zu kleinen Teilen die Labour Theory nach Locke als Grundlage des Rechts des Geistigen Eigentums herausgebildet hat kann damit erklärt werden, dass sowohl die Persönlichkeitstheorie als auch die Social Planning Theory zu sehr auf noch nicht eindeutig geklärte Konzepte philosophischer Natur beruhen.

Insgesamt kann man sagen, dass unterschiedliche Vorstellungen von Gerechtigkeit oft zu unterschiedlichem positivem Recht führen und dass im Endeffekt oft der Weg gewählt wird, der mit der geringsten philosophischen Debatte einhergeht.

Ethische Gerechtigkeit ist nun einmal ein subjektiv empfundenes und ein sich über die Zeit wandelndes Konstrukt und kann niemals allgemeingültig im positivem Recht verankert werden.


Fußnoten:

  1. Piersen/Ahrens/Fischer, Recht des Geistigen Eigentums 2010, S. 11 f.
  2. Moore, “Intellectual Property: Theory, Privilege, and Pragmatism”. Canadian Journal of Law and Jurisprudence vol. 16, no. 2, 2003, S. 192.
  3. Fisher, “Intellectual Property and Innovation: Theoretical, Empirical and Historical Perspectives”. Industrial Property, Innovation, and the Knowledge-Based Economy, Beleidsstudies Technologie Economie. Ashgate, 2002, S. 13.
  4. Fisher, “Theories of Intellectual Property”, New Essays in the Legal and Political Theory of Property. Cambridge University Press, 2001, S. 5.
  5. Ibid.
  6. Spooner, “The Law of Intellectual Property; or An Essay on the Right of Authors and Inventors to a Perpetual Property in their Ideas”, Bela Marsh 1855, S. 21 ff.
  7. Piersen/Ahrens/Fischer, Recht des Geistigen Eigentums 2010, S. 4 f.
  8. Fisher, “Theories of Intellectual Property”, New Essays in the Legal and Political Theory of Property. Cambridge University Press, 2001, S. 5.
  9. Ibid.

Neue Menschenrechte – Immer ein Gewinn für die Freiheit?

$
0
0

Erörterung am Beispiel des neuen Grundrechts auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme

 stud. jur. Marion Weber, Universität Freiburg

 (Diesen Artikel als PDF herunterladen)

I. Einleitung

Nach fast 25 Jahren hat das Bundesverfassungsgericht am 27. Februar diesen Jahres erneut ein Grundrecht geschaffen. Wie schon das 1983 entstandene Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung hat auch das neue Grundrecht einen sperrigen Namen: das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme.

Und auch sonst haben die beiden Rechte viel gemeinsam. Beide sind Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs.1 i.V.m. Art.1 Abs.1 GG und beide sollen dem Einzelnen den Schutz seiner persönlichen Daten gewähren. Der Staat soll also daran gehindert werden, ungehindert auf Daten zugreifen und Informationssammlungen anfertigen zu können.

Größtenteils wurde das neue Grundrecht mit Jubel aufgenommen. 1 So wird geltend gemacht, die Bürger könnten nun auf die Sicherheit ihrer Daten gegenüber Eingriffen des Staates vertrauen; ihre Freiheitsrechte seien gestärkt worden. 2 Das Grundgesetz habe nun endgültig das digitale Zeitalter erreicht. 3

Doch war dazu tatsächlich die Schaffung eines neuen Grundrechts notwendig? Hätte, bei all den Gemeinsamkeiten mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung, nicht Letzteres genügt, um den Einzelnen vor der Ausspähung seiner Daten durch den Staat auch im digitalen Kontext zu schützen?

Im Rahmen einer Untersuchung von Inhalt und Schutzgegenstand des neuen Computergrundrechts soll die Frage beantwortet werden, ob die Bildung dieses neuen Grundrechts eine erforderliche Reaktion auf Maßnahmen wie Online-Durchsuchungen war oder ob auch die bisherigen Grundrechte einen ausreichenden Schutz bieten würden.

 

II. Untersuchung des neuen Computergrundrechts

Wichtigster Anknüpfungspunkt des neuen Grundrechts ist der vom Bundesverfassungsgericht nicht weiter erläuterte Begriff des informationstechnischen Systems. Um technische Entwicklungen angemessen berücksichtigen zu können, ist dieser weit zu verstehen. So soll jedes System umfasst sein, das elektronisch Daten verarbeitet. 4

Ausgenommen werden sollen allerdings Systeme, die lediglich Daten mit punktuellem Bezug zu einem bestimmten Lebensbereich des Betroffenen enthalten. Stattdessen müssen die Systeme geeignet sein, Daten zu enthalten, die einen Einblick in wesentliche Teile der Lebensgestaltung einer Person oder sogar in deren gesamte Persönlichkeit ermöglichen. 5 Denn gerade in dieser Möglichkeit des Staates, ein Persönlichkeitsbild des Bürgers zu entwerfen, sieht das Bundesverfassungsgericht die Gefährlichkeit informationstechnischer Systeme. Diese Systeme seien – z.B. in Form von Personalcomputern und Mobiltelefonen – neuerdings allgegenwärtig. Vor allem durch gesteigerte Speicherkapazitäten und die Möglichkeit der Vernetzung habe sich die Art ihrer Nutzung im Laufe der Zeit verändert. Der Anwender nutze sie für zahlreiche verschiedene Tätigkeiten, wie Arbeit, private Kommunikation oder Recherche. Zudem erzeugten auch die Systeme selbst Daten, welche ebenfalls im Hinblick auf das Verhalten des Nutzers ausgewertet werden könnten. Vor allem die Vernetzung ermögliche Dritten einen Zugriff auf die im System vorhandenen Daten. Diese Gefährlichkeit informationstechnischer Systeme sei noch von keinem Grundrecht erfasst. Es bestehe hier eine Schutzlücke, die durch ein neues Grundrecht zu schließen sei. 6

Zuzustimmen ist dem Gericht darin, dass der Bürger vor diesen neuartigen Gefährdungen der Persönlichkeit nicht durch das Fernmeldegeheimnis, Art.10 GG, geschützt wird. 7 Das Gericht hält hier an seiner überzeugenden Haltung fest, dass der Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses sich nur auf die Übertragung selbst, also die laufende Telekommunikation erstreckt, nicht aber auf Maßnahmen nach der Übertragung. 8 Diese Einschränkung des Schutzbereichs liegt daran, dass die spezifischen Gefahren der individuellen Kommunikation auf der räumlichen Distanz der Kommunikationspartner beruhen. Die Kommunizierenden sind auf eine Übermittlung durch andere angewiesen, wodurch ein Zugriff Dritter – auch staatlicher Stellen – ermöglicht wird. Ist der Übertragungsvorgang aber abgeschlossen und befinden sich die Daten somit im Herrschaftsbereich des Empfängers, so kann dieser eigene Schutzvorkehrungen gegen einen ungewollten Datenzugriff treffen. Die Daten unterscheiden sich dann nicht mehr von Daten, die der Nutzer selbst angelegt hat. 9 Die spezifischen Gefahren, die mit der Übermittlung verbunden sind, bestehen dann nicht mehr. Bei Maßnahmen nach der Übertragung greift das Fernmeldegeheimnis also nicht.

 

Es stellt sich somit die Frage, welches Grundrecht dann einschlägig ist. Im Bargatzky-Urteil 10 hatte das Bundesverfassungsgericht noch gesagt, die nach Abschluss eines Übertragungsvorgangs im Herrschaftsbereich des Kommunikationsteilnehmers gespeicherten Daten würden durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung geschützt. 11 In seiner neuen Entscheidung behauptet es nun, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sei dann nicht ausreichend, wenn bei der Nutzung eines informationstechnischen Systems so viele persönliche Daten produziert werden, dass die Bildung eines Persönlichkeitsbildes möglich ist. 12 Die Intensität des Eingriffs soll also eine Lücke im Schutzbereich begründen.

In diesem Punkt kann dem Bundesverfassungsgericht nicht mehr gefolgt werden. So soll das Recht auf informationelle Selbstbestimmung doch gerade vor der Erstellung von Persönlichkeitsprofilen schützen. Dementsprechend hatte das Gericht selbst schon im Volkszählungsurteil die Gefährlichkeit der unbegrenzten Speicherbarkeit von Daten erkannt und vor der Erstellung von Persönlichkeitsbildern gewarnt. 13 Gerade aus dieser Gefahr heraus hatte es damals das Recht auf informationelle Selbstbestimmung kreiert.

Wenn etwa bei der Online-Durchsuchung besonders viele sensible Daten gesammelt werden, dann begründet diese Maßnahme einen sehr intensiven Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Die Intensität eines Eingriffes ist aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu beachten und nicht auf Schutzbereichsebene. 14 Der Schutz der Daten bei Nutzung von informationstechnischen Systemen kann daher höchstens als Unterfall des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung angesehen werden, nicht aber ein eigenständiges Grundrecht darstellen. 15 Schlussfolgernd kann man also sagen, dass bei einem intensiven Eingriff, so wie er durch die Erhebung vieler verschiedener sensibler Daten erfolgt, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung erst recht betroffen ist. 16

Eine andere Beurteilung wäre auch gar nicht praktikabel. Denn ab wann kann man von einem so großen Umfang der erhobenen Daten sprechen, dass ein Einblick in die Lebensgestaltung der betroffenen Person möglich wird? Eine genaue Abgrenzung der beiden Grundrechte wäre hier fast unmöglich. 17

 

Diese Abgrenzungsschwierigkeiten werden bereits im Urteil zur Onlinedurchsuchung selbst deutlich. So sieht das Bundesverfassungsgericht bei der Erhebung von Kontoinhalten und Kontobewegungen durch Anfragen von Verfassungsschutzbehörden bei Kredit- und Finanzdienstleistungsinstituten nicht das neue Computergrundrecht beeinträchtigt, sondern hält lediglich das Recht auf informationelle Selbstbestimmung für einschlägig. 18 Doch auch hier wird wohl niemand bestreiten, dass der Bankkunde, der etwa über home-banking finanzielle Transaktionen ausführt, auf die Integrität und Vertraulichkeit des informationstechnischen Systems vertraut. Und im Hinblick auf die vielen verschiedenen Nutzungsmöglichkeiten der elektronischen Zahlung, z.B. zur Bezahlung von Einkäufen, Flügen, Hotelrechnungen, kann auch ein Persönlichkeitsbild der betroffenen Person erstellt werden. 19 Ein weiteres Beispiel zu Abgrenzungsschwierigkeiten bieten die im Urteil erwähnten Mobiltelefone und elektronischen Terminkalender. 20 Hier sollen nur die Geräte erfasst werden, die über einen „großen Funktionsumfang verfügen und personenbezogene Daten vielfältiger Art erfassen und speichern können“. Diese Definition ist nicht gerade griffig und erschwert die Subsumtion darunter und somit auch die Abgrenzung der beiden Grundrechte voneinander eher noch. 21

 

Ein weiteres Subsumtionsproblem ergibt sich aus der Formulierung des Bundesverfassungsgerichts, ein Schutz durch das neue Grundrecht bestehe nur, wenn der Betroffene das informationstechnische System „als eigenes“ nutze. 22 Der Begriff „eigenes“ kann nur zivilrechtlich verstanden werden und verweist in diesem Zusammenhang auf Eigentums- und Besitzverhältnisse. Doch wie Hoeren beispielhaft darlegt, entstehen aus der Vermengung von zivilrechtlichen Komponenten mit dem Persönlichkeitsrecht erhebliche Schwierigkeiten. 23 So ergibt sich z.B. in Fällen ein Problem, in denen der Besitz durch verbotene Eigenmacht erworben wurde. Ist von dem neuen Grundrecht auch der geschützt, der als Hacker einen fremden Computer übernommen hat? Kann er geltend machen, der Staat mache sich bei einer Online-Durchsuchung des fremden Computers ein Persönlichkeitsbild von ihm? Der Hacker nutzt ja den Rechner tatsächlich „als eigenen“. Hoeren macht mit diesem Beispiel auf jeden Fall eindrücklich deutlich, dass hinsichtlich des Schutzbereiches noch einige Fragen offen sind.

Doch selbst wenn wir von diesen Denkfehlern des Bundesverfassungsgerichts bei der Schaffung des neuen Grundrechts absehen, bleibt die eigentliche Frage bestehen, ob ein neues Grundrecht notwendig war. Das Erfordernis eines neuen Grundrechts könnte sich lediglich noch hinsichtlich der im Titel deutlich werdenden Integrität informationstechnischer Systeme ergeben. So hebt das Gericht die Abhängigkeit des Nutzers von informationstechnischen Systemen hervor. 24 Dieser Anknüpfungspunkt ist tatsächlich neu und ist vom Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht mehr umfasst, denn der Schutz der Integrität eines Systems ist eine Art „dinglicher“ Schutz. 25 Schutzgegenstand ist nämlich ein Gegenstand – das informationstechnische System. Letztlich geschützt ist jedoch auch in diesem Fall der Grundrechtsträger. 26 Gefährlich ist die Verletzung der Integrität des informationstechnischen Systems nur, weil dadurch auf die im System gespeicherten Daten zugegriffen werden kann. Eine Gefährdung der Integrität ist somit nur eine „Annex-Gefahr“ 27, die keinen zusätzlichen Schutz erfordert. Stattdessen reicht der Schutz der Daten selbst aus. Auch unter diesem Gesichtspunkt war also die Schaffung eines neuen Grundrechts nicht notwendig. Den Gefahren, die sich durch die Computernutzung ergeben, könnte man demnach ohne weiteres auch effektiv mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung entgegentreten.

 

Weiterhin ist die Frage zu prüfen, ob die Schaffung des neuen Grundrechts nicht nur nicht notwendig war, sondern sogar eine Gefährdung der bisherigen Freiheitsrechte mit sich bringen wird.

Einerseits wird behauptet, es sei ohne weitergehende Bedeutung, ob ein Schutz gegen Maßnahmen wie Online-Durchsuchungen durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung oder durch das neue Computer-Grundrecht gewährt wird. 28 Beide Rechte seien Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Das neue Grundrecht habe lediglich besondere Anforderungen für ein spezifisches Schutzinteresse. Es mache aber keinen Unterschied, ob man auf den allgemeinen Schutzgegenstand der informationellen Selbstbestimmung abstelle oder ob man das speziellere Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme heranziehe. Noch weitergehend argumentiert sogar Hornung. Er behauptet, die Begründung einer neuen Fallgruppe des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sei unter dem Gesichtspunkt der Rechtsakzeptanz bedeutend. So erfordere die fortschreitende Benutzung der informationstechnischen Systeme im Alltag einen spezifischen grundrechtlichen Schutz. 29

 

Andererseits muss man aber berücksichtigen, dass ein solcher quasi doppelter Grundrechtsschutz zu Verwirrung bei der Rechtsanwendung führt. Die Abgrenzungsschwierigkeiten der beiden Grundrechte voneinander wurden schon oben problematisiert. In der Bevölkerung könnte hierdurch eine Verunsicherung entstehen. Wenn die betroffenen Personen nicht einschätzen können, welches Grundrecht im konkreten Fall nun einschlägig ist, wissen sie z.B. auch nicht, welche Grenzen gelten, welche Maßnahmen der Staat ergreifen darf usw. Aus dieser Unsicherheit heraus könnten sie möglicherweise davon absehen, die gewünschte Handlung vorzunehmen und wären somit in ihren Freiheitsrechten eingeschränkt. Die Erfindung des neuen Grundrechts führt in diesem denkbaren Fall also nicht zur gewünschten Verstärkung des grundrechtlichen Persönlichkeitsschutzes, sondern bewirkt gerade das Gegenteil: Die betroffenen Personen werden faktisch davon abgehalten, ihre grundrechtlich garantierten Freiheitsrechte auszuüben.

Zudem ist noch ein weiterer Nachteil im Hinblick auf die Freiheitsrechte der Bürger denkbar. So besteht die Gefahr, dass durch eine Anwendung des neuen Grundrechts das schon bestehende Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ausgehöhlt wird. Zwar schützt dieses Grundrecht jedes einzelne Datum unabhängig von Inhalt, Bedeutung oder Umfang, doch wird ein nennenswerter Eingriff in den meisten Fällen erst in der Verarbeitung mehrerer Daten gesehen werden. Denn nur in diesen Fällen besteht die Gefahr der Erstellung eines Persönlichkeitsbildes. Zur Verarbeitung einer gewissen Datenfülle wird in den meisten Fällen ein informationstechnisches System verwendet werden. Folgt man der neuen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, so muss in all den Fällen, in denen ein informationstechnisches System eingesetzt wurde, um einen erheblichen Umfang an Daten zu verarbeiten, das neue Computer-Grundrecht zur Anwendung kommen. Folglich würden für das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nur wenige Anwendungsfälle verbleiben. Es würde demnach ausgehöhlt. Ein Grundrecht, das nur noch eine leere Hülse ist, da es nur noch in wenigen Fällen zur Anwendung kommt, bringt keinen Vorteil. Allein das Vorhandensein vieler Grundrechte genügt nicht, um deren Schutz zu verstärken. Stattdessen müssen sie auch angewendet werden können.

 

III. Fazit

Zusammenfassend ist zu sagen, dass das vom Bundesverfassungs-gericht durch die Schaffung des neuen technikorientierten Grundrechts angestrebte Ziel begrüßenswert ist. Nicht alle technisch machbaren Maßnahmen, die dazu bestimmt sind, die innere Sicherheit zu schützen, sind auch mit dem Grundgesetz vereinbar. Zudem zeigt die stetig wachsende Nutzung informationstechnischer Systeme im Alltag eindrücklich, dass dieser Bereich einen erheblichen Schutzbedarf aufweist.

Doch es wurde klar herausgearbeitet, dass es für diesen Schutz nicht der Entwicklung eines neuen Grundrechts bedarf. Es gibt schon ein Grundrecht, welches die Persönlichkeitsentfaltung auch im digitalen Bereich gewährleistet und vor Eingriffen des Staates schützt. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wurde gerade im Hinblick auf diese Gefahren geschaffen und genügt auch weiterhin für einen ausreichenden Schutz.

Doch die Schaffung eines neuen Grundrechts war nicht nur unnötig, sondern könnte bei Fortführung dieser Rechtsprechung darüber hinaus erheblichen Schaden anrichten. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner neuen Entscheidung umfassende Datenerhebungen als nicht mehr vom Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung umfasst angesehen und es so um seinen Hauptanwendungsbereich gebracht. Diese Verkürzung des Schutzbereiches führt zu einer faktischen Aushöhlung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung. Die Schaffung eines neuen Grundrechts führt demnach nicht zu einer Steigerung der Freiheitsrechte der Bürger, sondern bewirkt eher eine Einschränkung derselben.

Obwohl die Ziele des Bundesverfassungsgerichts zu loben sind und sein Mut, Neues zu wagen, ebenfalls begrüßenswert ist, bleibt demnach trotzdem zu hoffen, dass die Anwendung des neuen Computergrundrechts nicht zum Regelfall bei Datenverarbeitungen wird, sondern weiterhin vor allem das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung angewendet wird. Auch dieses kann dann im Sinne des Urteils über Online-Durchsuchungen weiter ausgebaut werden und so neuen Grundrechtsgefährdungen entgegen wirken.

An diesem Beispiel der Schaffung eines neuen Grundrechts durch das Bundesverfassungsgericht konnte gezeigt werden, dass neue Menschenrechte nicht immer nur Vorteile bringen. Auch wenn die fortschreitende Globalisierung scheinbar immer neue Gefährdungen hervorbringt, müssen diesen nicht immer neu geschaffene Rechte entgegen gehalten werden. Oft genügt, wie hier, die Anwendung eines schon bestehenden Grundrechts und die Schaffung eines neuen wäre nur eine Gefährdung für das alte Recht. Es sollte also von Fall zu Fall abgewogen werden, ob der neuen Herausforderung tatsächlich nur durch die Schaffung eines neuen Menschenrechts begegnet werden kann oder ob bereits ein ausreichender Schutz besteht.


Fußnoten:

  1. Vgl. http://www.bfdi.bund.de/cln_027/nn_533554/DE/Home/homepage__Kurzmeldungen2008/PM07__OnlineDurchsuch.html; http://www.presseportal.de/pm/50854/1143730/dfjv_deutscher_fachjournalisten_verband; http://www.gruene.de/cms/default/dok/221/221997.bundesverfassungsgericht_staerkt_rechtss.htm.
  2. vgl. Hirsch, NJOZ 2008, 1907, 1915.
  3. Hubertus Heil, http://www.spd.de/menu/1741964/
  4. Hornung, CR 2008, 299, 302.
  5. BVerfG, Urt. v. 27.02.2008 – 1 BvR 370/07 – 1 BvR 595/07, C. I 1. d) aa) Rz. 203.
  6. BVerfG, Urt. v. 27.02.2008 – 1 BvR 370/07 – 1 BvR 595/07, C.I.1. b), c), Rz. 170ff.
  7. vgl. BVerfG, Urt. v. 27.02.2008 – 1 BvR 370/07 – 1 BvR 595/07, C.I.1.c)aa), Rz. 182ff.
  8. vgl. BVerfGE 115, 166, 184ff.
  9. vgl. Kühling/Elbracht, Telekommunikationsrecht, Rn 39.
  10. BVerfGE 115, 166ff.
  11. BVerfGE 115, 166, 183f.
  12. BVerfG, Urt. v. 27.02.2008 – 1 BvR 370/07 – 1 BvR 595/07, C. I. 1. c) cc) (2), Rz.200.
  13. BVerfGE 65, 1, 42; vgl. auch Wohlgemuth/Gerloff, Datenschutzrecht, S.1 f.
  14. Sachs/Krings, JuS 2008, 481, 482f.; Hornung, CR 2008, 299, 301; Eifert, NVwZ 2008, 521f.
  15. Eifert, NVwZ 2008, 521, 522.
  16. vgl. Hoeren, MMR 2008, 365, 366; Hornung, CR 2008, 299, 301; a.A. Bär, MMR 2008, 325, 326,
  17. so auch Kutscha, NJW 2008, 1042, 1043; Sachs/Krings, JuS 2008, 481, 484; vgl. auch Hoeren, MMR 365, 366, 2008.
  18. BVerfG, Urt. v. 27.02.08 – 1 BvR 370/07 – 1 BvR 595/07, C. IV. 1. Rz. 315.
  19. vgl. Kutscha, NJW 2008, 1042, 1043.
  20. BVerfG, Urt. v. 27.02.08 – 1 BvR 370/07 – 1 BvR 595/07, C. I. 1. d) aa), Rz. 203.
  21. vg. Sachs/Krings, JuS 2008, 481, 484.
  22. BVerfG, Urt. v. 27.02.08 – 1 BvR 370/07 – 1 BvR 595/07, C. I. 1. d) bb) (2), Rz. 206.
  23. Hoeren, MMR 2006, 365, 366.
  24. vgl. BVerfG, Urt. v. 27.02.08 – 1 BvR 370/07 – 1 BvR 595/07, C. I. 1., Rz.168ff.
  25. vgl. Hornung, CR 2008, 299, 302.
  26. vgl. Hornung, CR 2008, 299, 302.
  27. Eifert, NVwZ 2008, 521, 522.
  28. Sachs/Krings, JuS 2008, 481, 484.
  29. Hornung, CR 2008, 299, 306.

Sicherheit durch Menschenrechte oder Sicherheit statt Menschenrechten? Der Kampf des Sicherheitsrates gegen den Terrorismus

$
0
0

von stud. iur. Carolin König*
(Diesen Artikel als PDF herunterladen)

I. Einleitung

Der Kampf gegen den Terrorismus bringt für Demokratien eine besondere Herausforderung mit sich, denn “[t]errorism creates much tension between the essential components of democracy. One pillar of democracy – the rule of the people through its elected representatives – may encourage taking all steps effective in fighting terrorism, even if they are harmful to human rights. The other pillar of democracy – human rights – may encourage protecting the rights of every individual, including the terrorists, even at the cost of undermining the fight against terrorism.” 1

Guantanamo kann heute als das Paradebeispiel angesehen werden, bei dem das Pendel beim Versuch, eine Balance zu finden, deutlich zu weit geschwungen ist. 2 Demokratische Werte und humanistische Errungenschaften werden plötzlich im Namen der nationalen Sicherheit aufgeopfert. 3

Doch nicht nur Amerika befindet sich im Kampf gegen den Terrorismus. Auch die Vereinten Nationen sind seit den Anschlägen vom 11. September 2001 mehr denn je involviert in diesen „Krieg“. 4 Erschreckend und provozierend mag es erscheinen, dass nun in Bezug auf das Handeln des Sicherheitsrates eine direkte Parallele zu Guantanamo gezogen wurde. So bezeichnete der Rechtsanwalt des Jassin Abdullah Kadi, der vom Sanktionsausschuss des Sicherheitsrats auf die Anti-Terror-Liste gesetzt worden war, weil er mit Al Qaida und den Taliban verbunden sein sollte, die Behandlung seines Mandanten als „finanzielles Guantanamo“. 5

Insbesondere in Anbetracht der zunehmenden Bedeutung, die die Menschenrechte in den letzten Jahren gerade auf dem Gebiet der Vereinten Nationen hinzugewonnen haben, erscheint ein solcher Vergleich nur schwerlich begründet.

Im Folgenden soll zunächst unter (I.) die gestiegene Bedeutung der Menschenrechte im System der Vereinten Nationen aufgezeigt werden. Daraufhin wird ein Blick auf die Praxis des Sicherheitsrates geworfen werden, um zu untersuchen, wie sich diese gestiegene Bedeutung auswirkt, insbesondere auch im Spezialfall des Kampfes gegen den Terrorismus. (II.). Unter (III.) soll dann ein eingehender Blick auf die aktuelle Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zum Fall Kadi bezüglich der Europäischen Umsetzung von Anti-Terror-Resolutionen des Sicherheitsrates geworfen werden. Nachdem unter (IV.) der Handlungsbedarf des Sicherheitsrates auf dem Gebiet der Menschenrechte aufgezeigt wird, soll unter (V.) eine abschließende Schlussbemerkung erfolgen.

II.Die zunehmende Bedeutung der Menschenrechte im System der Vereinten Nationen

Menschenrechte sind mittlerweile ein fester Bestandteil der Vereinten Nationen und haben als solche zunehmende Auswirkungen auf die Politik des Sicherheitsrates. 6 So ist beispielsweise im Tadić-Urteil vom ICTY klargestellt worden, dass der allgemeine Rechtsgrundsatz „established by law“ dahingehend auszulegen sei, dass dem Angeklagten ein faires Verfahren garantiert werde. Die Kammer hat mithin ohne weitere Ausführungen vorausgesetzt, dass der Sicherheitsrat auch im Rahmen des Kapitel VII an Menschenrechte gebunden ist. 7

Dies ist keineswegs selbstverständlich. Während zwar eine Bindung des Sicherheitsrates an jus cogens Grundsätze zunehmend vertreten wird, ist eine generelle Bindung an die Menschenrechte (noch) nicht derart weitgehend anerkannt. Zwar zählt zum jus cogens wohl auch ein menschenrechtlicher Mindeststandard. 8 Für eine umfassendere Bindung, gab es bislang allerdings, zumindest was das Handeln unter Kapitel VII der UN Charter angeht, wenig Anhaltspunkte. In der UN Charter sucht man vergeblich nach derartigen Regelungen. Auch sind die Vereinten Nationen gerade nicht Vertragspartei zu irgendwelchen Menschenrechtsverträgen, so dass sie auch aus dieser Sicht nicht als an Menschenrechte gebunden anzusehen wären. Allerdings könnte hier gerade im Moment eine Fortentwicklung stattfinden: die Entstehung supranationaler Organisationen, wie der EG, in der Menschenrechte ausdrücklich als Rechtsquelle anerkannt werden, könnte Auswirkungen auch auf die Vereinten Nationen haben. 9

Insbesondere da auch der Sicherheitsrat, wie beispielsweise in der bereits angesprochenen Anti-Terror Resolution, zunehmend als eine Art supranationaler Gesetzgeber tätig wird, 10 dessen Handlungen direkte Auswirkungen auf Individuen haben, 11 könnte und sollte sich parallel zu dieser Entwicklung auch bezüglich der Bindung des Sicherheitsrat etwas ändern.

Völkergewohnheitsrecht ist zwar wohl noch nicht so weit fortgeschritten, als dass eine Bindung des Sicherheitsrates an Menschenrechte allgemein akzeptiert würde, allerdings wird der Trend in diese Richtung, festzumachen an der sich verbreitenden opinio juris und der zunehmenden Praxis, immer deutlicher. 12 Eine generelle Bindung könnte zwar auch noch dahingehend zu relativieren sein, dass der Sicherheitsrat unter Kapitel VII gleichsam „Notstandsbefugnisse“ ausübt. Somit sollte aber zumindest die Annahme einer Bindung an „notstandsfeste“, also nicht-derogierbare Menschenrechte angestrebt werden. 13

III. Der Sicherheitsrat und die Menschenrechte in der Praxis

Tatsächlich ist der Sicherheitsrat bei seinen Sanktionen unter Art. 41 UN-Charter darauf bedacht, die grundlegenden Menschenrechte der Betroffenen zu achten. 14 Der Mensch an sich wird als Ausdruck der Achtung vor der individuellen Menschenwürde zunehmend in den Mittelpunkt gestellt. Das Individuum entwickelt sich mehr und mehr vom mediatisierten Objekt des Völkerrechts hin zu einem Völkerrechtssubjekt. 15

Gerade diese Entwicklung kann den einzelnen Menschen allerdings speziell im Rahmen der Sanktionen des Sicherheitsrates auch bedrohen. 16 Während diese zuvor ausschließlich gegen Staaten oder Regime verhängt wurden, werden, (im übrigen aus menschenrechtsschützenden Überlegungen, nämlich zur Vermeidung der nachteiligen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, 17) in letzter Zeit vorwiegend gezielte Sanktionen (smart sanctions) eingesetzt. Im Zuge des „war against terrorism“ hat der Sicherheitsrat einen Sanktionenausschuss eingeführt, der Listen mit terrorverdächtigen Individuen und privaten Organisationen erstellt und dadurch eine Grundlage zum Einfrieren derer Gelder schafft. 18 Besonders bedeutend ist aufgrund der hohen Anzahl von dort aufgelisteten Individuen und aufgrund ihrer weltweiten Einsetzbarkeit (seit die Taliban in Afghanistan entmächtigt wurden, besteht kein Link mehr zwischen den gelisteten Individuen und einem Staat) Resolution 1267 vom 15. Oktober 1999 (und deren Nachfolge-Resolutionen). 19

Durch die Beurteilung des Internationalen Terrorismus als Friedensbedrohung gerät der Sicherheitsrat bei dessen Bekämpfung in den Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit, in dem gewisse rechtsstaatliche Mindeststandards gegenüber den Grundrechtsträgern zu garantieren sind. 20 Die erfolgende Verdichtung internationaler Rechtsetzung verläuft allerdings nicht koordiniert zu einer Verdichtung des internationalen Grund- und Menschenrechtsschutz, so dass ein materielles Ungleichgewicht zwischen internationalen Rechtswirkungen und internationalen Rechtsschutzmechanismen entsteht. 21

Konkret wirkt sich das dergestalt aus, dass sich gelistete Personen, wenn sie innerhalb des 1267-Regimes, also direkt vom Sicherheitsrat gelistet wurden, 22 nur äußerst eingeschränkt gegen ihre Listung wehren können. Nicht nur das – möglicherweise universell noch nicht anerkannte Recht auf Eigentum gerät durch das Einfrieren der Gelder in Gefahr – sondern insbesondere das universelle Menschenrecht auf ein faires Verfahren, da auf UN-Ebene kein Gremium existiert, das der Einzelne um Rechtsschutz ersuchen könnte. 23 Die Befürworter der Maßnahmen des Sicherheitsrates rechtfertigen diese dadurch, dass durch sie „ein grundlegendes, im allgemeinen Interesse der Völkergemeinschaft liegendes Ziel verfolgt [werde], nämlich der Kampf gegen den internationalen Terrorismus“. 24 Diese Argumentation erinnert jedoch schmerzlich an die „ends-justify-the-means-logic“, welche bei der Reaktion der US Regierung nach den Anschlägen vom 11. September 2001 schwer kritisiert wurde. Sonderermittler des Europarats Dick Marty kritisierte diese Situation mit folgenden harten Worten: „[h]eutzutage hat ein Serienkiller mehr Rechte als ein Mensch, der auf einer Terrorliste steht“. 25

Die parallel gelagerten Fälle Yusuf 26 und Kadi, machen die angesprochene Problematik deutlich 27: die Kläger waren auf die Terrorliste des Sanktionenausschusses gesetzt worden. Die Sicherheitsratsresolutionen, welche dem folgend im Anhang um ihre Namen ergänzt wurden bedürfen allerdings zur Erlangung ihrer Wirksamkeit eines Umsetzungsaktes. 28 Zum Erlass eines solchen Umsetzungsaktes sind die UN-Mitglieder gem. Art. 25 UN-Charta verpflichtet. Innerhalb der EG sieht sich nun die Gemeinschaft, obwohl sie selbst weder UN-Mitglied, 29 noch Nachfolgerin in die Rechte und Pflichten der Mitgliedstaaten i.S.d. Völkerrechts ist, 30 „aufgrund ihres Gründungsvertrages“ „in gleicher Weise wie die Mitgliedstaaten“ an die UN-Charta gebunden. 31 Mithin erlässt sie innerhalb der EG die entsprechenden Umsetzungsakte. In Folge von EG-VO 881/2002 wurden die Konten der aufgelisteten europäischen Staatsbürger bis auf weiteres gesperrt. Die Verordnung war in der Gemeinschaft auf Grundlage der Art. 60, 301 und 308 EG zur Durchführung des Gemeinsamen Standpunkts 2002/402/GASP erlassen worden, welcher wortgleich die Sicherheitsratsresolutionen 1267 (1999), 1333 (2000) und 1390 (2002) inklusive der angehängten Namenslisten umsetzte. 32 So entstehen Handlungen der EG, welche eigentlich deren Justizgewährungspflicht hervorrufen.

Mangels Gerichtsinstanz auf UN-Ebene und aufgrund des Wegfalls des Rechtsschutzes auf nationaler Ebene durch das Tätigwerden der Gemeinschaft 33 suchten die Kläger letztlich auch tatsächlich Rechtsschutz beim EuG. 34 Andere regionale Gerichte, wie z.B. das EGMR, sowie nationale Gerichte wie bspw. das BVerfG sind insoweit von ihrer Justizgewährungspflicht „befreit“, als dass sie mit Verweis auf den „im wesentlichen gleichzuachtenden“ 35 oder „gleichwertigen“ 36 Grundrechtsschutz durch den EuGH ihre Prüfungskompetenz reduzieren oder gar ruhen lassen. 37

Das Gericht sah sich nun in der prekären Situation, die unmittelbar geltende EG-Verordnung eigentlich überprüfen zu müssen, was allerdings eine inzidente Prüfung der zugrundeliegenden Sicherheitsratsresolutionen mit sich bringen würde. 38 Mit Blick auf Art. 25, 48 und 103 SVN und Art. 27 WVRK, sowie Art. 5, 10, 297 und 307 I EG und Art. 5 EU verneinte das EuG eine derartige Zuständigkeit: 39

“Demnach ist davon auszugehen, dass die fraglichen Resolutionen des Sicherheitsrats grundsätzlich nicht der Kontrolle durch das Gericht unterliegen und dass das Gericht nicht berechtigt ist, ihre Rechtmäßigkeit im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht – und sei es auch nur inzident – in Frage zu stellen.” 40

Gemeischaftsrechtliche Grundrechte, an die die Vereinten Nationen nicht gebunden sind, als materiellen Prüfungsmaßstab anzunehmen, sei angesichts der Vorrangstellung des Völkerrechts verfehlt. 41 Diese Selbstbeschränkung komme lediglich zu einem Ende, wo ein materieller Prüfungsmaßstab beginnt. Dies sei, laut EuG, dort, wo das völkerrechtliche jus cogens betroffen werde. 42 UN-Recht, das gegen zwingende Normen des Völkerrechts verstoße, sei gem. Art. 64 WVRK nichtig und könne mithin nicht mehr gem. Art. 103 UN-Charta als vorrangig gegenüber dem Gemeinschaftsrecht angesehen werden. 43 Zwar ist zum jus cogens, wie bereits angesprochen, auch ein menschenrechtlicher Mindeststandard zu zählen. 44 Allerdings lehnt das EuG, welches letztlich eine Überprüfung am Maßstab des völkerrechtlichen Institut des jus cogens vornimmt 45 – im Ergebnis eine Verletzung der Rechte der Kläger in diesem schmalen Bereich ab. 46

Dieses Urteil – und insbesondere die starke Selbstbeschränkung des EuG sah sich zum Teil massiver Kritik ausgesetzt. Diese führe in einer Rechtsgemeinschaft wie der EU, die zu weiten Teilen durch ihre Rechtsstaatlichkeit und den Schutz von Grund- und Menschenrechten legitimiert sei, zu einer „Verunsicherung über den eigenen Anspruch und letztlich über die eigene Identität“. 47

Während in Bezug auf den Eigentumsschutz durchaus eine Einschränkbarkeit angenommen wird, wo die Gefahr besteht, dass Gelder zur Förderung terroristischer Tätigkeiten verwendet werden, 48 stoßen die Ausführungen des Gerichts bezüglich der Garantie des gerichtlichen Verfahrens auf weniger Zustimmung. 49

Das „Grundrecht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz“ 50ist durchaus als Minimalbestand der Anerkennung von Personalität zu rechnen. Ein gewisser Verfahrensstandard muss hierbei gewährleistet werden. 51Dieser kann allerdings nur dort bestehen, wo das Gerichtden zugrundeliegenden Sachverhalt kennt, wird also auf dem Gebiet der Terrorismusbekämpfung zumeist aufgrund der vertraulichen Geheimdienstinformationen gerade nicht gegeben sein. 52

Schon der Pflicht zu einer „exact legal description of the offense (“nature”) and of the facts underlying it (“cause”)“, welche zur Ermöglichung einer angemessenen Verteidigung absolut notwendig wäre, 53 wird gegenüber den vermeintlichen Terroristen nicht nachgekommen. Der Schritt zu den „entrechteten amerikanischen enemy combatants“ ist unter diesem Gesichtspunkt nicht mehr so groß.

Der UN-Menschenrechtsausschuss hat in der Tat in seinem General Comment Nr. 29 (2001) ausdrücklich hervorgehoben, dass die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (i.S.d. Art. 14 IPBPR) wegen ihrer absoluten Natur zu den notstandsfesten Maßnahmen nach Art. 4 des UN-Menschenrechtspaktes gehöre. 54

Ähnlich wurde auch im oben bereits angesprochenen Tadić-Urteil das Recht auf effektiven Rechtsschutz als „peremtory norm of international law“ bezeichnet. 55Ob sich also die gegebenen Einschränkungen des Verfahrensrechts mit Hinweis auf anerkannte Einschränkungen in Zeiten des staatlichen Notstandes auf völkerrechtlicher Ebene rechtfertigen lassen 56erscheint zweifelhaft.

Am 16.01.08 brachte der Generalanwalt Poiares Maduro für den Fall Kadi (Rs. C-402-05 P) seine Schlussanträge heraus und fasste das Urteil des EuG knapp mit folgenden Worten zusammen:

„Wenn der Sicherheitsrat gesprochen hat, muss der Gerichtshof schweigen.“ 57 Er widerspricht einer solchen Sichtweise vehement und knüpft an das Vorbringen des Rechtsmittelführers an, dass das EuG „das Wesen der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Gemeinschaft und das Verhältnis dieser Verpflichtungen zu den Aufgaben der Gemeinschaftsgerichte nach Maßgabe des Vertrags verkannt habe.“ 58 Mit diesem kommt er zu dem Schluss, dass im Verhältnis zwischen Völkerrecht und der (betont autonom und verfassungsrechtlich dargestellten) Gemeinschaftsrechtsordnung „das Völkerrecht [...] diese Rechtsordnung nur unter den durch die Verfassungsgrundsätze der Gemeinschaft aufgestellten Voraussetzungen durchdringen“ könne. 59

Diesbezügliche Einschränkungen, die die Rechtsmittelgegner auch mit Blick auf eine gewisse Selbstbeschränkung des EGMR anraten, lehnt er kurzerhand mit dem Verweis auf den besonderen Charakter der Gemeinschaftsrechtsordnung ab. 60 Das Schweigen des Gerichtshofs im Bosphorus-Fall 61 hinsichtlich einer möglichen Zuständigkeitsbeschränkung aufgrund der zugrundeliegenden Sicherheitsratsresolutionen, welche von Generalanwalt Jacobs kurz angesprochen, aber verworfen worden war, 62 deutet er, wie auch der Rechtsmittelführer als Ablehnung des Ausschlusses einer derartigen gerichtlichen Überprüfung. 63

Er beruft sich auf die Urteile Les Verts 64, sowie Schmidberger 65, welche deutlich machen, dass es sich bei der EG um eine Rechtsgemeinschaft handle, in der keine Maßnahme, die als mit den Menschenrechten unvereinbar anzusehen ist, Bestand haben können. 66 Zudem nimmt er das Bananenmarkt-Urteil vom 10. März 1998 67 als Beispielsfall, in dem der Gerichtshof Rechtsakte der Gemeinschaft, mit denen völkerrechtlichen Verpflichtungen im Innenverhältnis Rechtswirkung verliehen werden sollte, bereits daraufhin überprüft habe, ob sie mit den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts vereinbar waren. 68

Im Ergebnis kommt er zu dem Schluss, dass das Gericht bei seiner Entscheidung, es besitze keine Zuständigkeit zur Überprüfung der angefochtenen Verordnung im Licht der Grundrechte, einen Rechtsfehler begangen habe. Ihmzufolge sei zumindest der zweite Rechtsmittelgrund des Rechtsmittelführers daher als begründet zu erachten und das angefochtene Urteil aufzuheben. 69

Würde der EuGH dem nicht folgen, wies Maduro ausdrücklich – gleichsam drohend – auf verschiedene Urteile nationaler Gerichte hin, die aufzeigen sollen, dass in bestimmten Rechtssystemen  Schwierigkeiten für die Rezeption des Gemeinschaftsrechts entstünden, würde der Gerichtshof von einer umfassenden Grundrechtsprüfung weiterhin absehen, ohne dass auf internationaler Ebene ein vergleichbarer Rechtsschutz sichergestellt wäre. 70

Solange eine Vergleichbarkeit, also in diesem Fall ein unabhängiges Kontrollverfahren der Sicherheitsratssanktionen auf UN-Ebene nicht bestünde, fiele der EuGH bei einer verbleibenden Selbstbeschränkung nicht auf einen gleichwertigen Grundrechtsschutz zurück, so dass verschiedene Verfassungsgerichte (z.B. das BVerfG) und insbesondere der EGMR ihrerseits die eigene Selbstbeschränkung zurücknehmen müssten. 71

IV.Ein Blick auf die Kadi-Entscheidung des EuGH

Die Entscheidung des EuGH zum Fall Kadi wurde mit Spannung erwartet. Schließlich war der Gerichtshof auf der einen Seite zur gerichtlichen Rechtsschutzgewährung gegen mögliche Grundrechtsverletzungen, auf der anderen Seite (wie von den EU-Mitgliedsstaaten gewünscht) zu einem völkerrechtskonformen Verhalten verpflichtet, um die effektive internationale Terrorismusbekämpfung nicht durch seine dezentrale Kontrollausübung zu behindern. 72 Allerdings hätten, wie oben angemerkt, die bestehenden institutionellen Defizite im UN-System bei einer Verweigerung der Rechtsschutzgewährleistung einer Kompensation auf anderer Ebene notwendig gemacht, – und somit gegebenenfalls eine noch stärkere Dezentralisierung mit sich gebracht. 73

Während die Französische Republik, das Königreich der Niederlande, das Vereinigte Königreich und der Rat im Wesentlichen der Würdigung des EuG zustimmten, dass die streitige Verordnung, soweit mit ihr Resolutionen des Sicherheitsrats nach Kapitel VII der UN Charta umgesetzt würden, in Bezug auf ihre materielle Rechtmäßigkeit grundsätzlich von jeder gerichtlichen Kontrolle – auch im Hinblick auf die Einhaltung der Menschenrechte – freigestellt und dementsprechend in diesem Umfang nicht justiziabel sei, 74 widersprach die Klägerseite diesem Vorbringen vehement: „Solange das Recht der Vereinten Nationen denen, die eine Verletzung ihrer Grundrechte behaupteten, keinen angemessenen Schutz biete, müsse es eine Kontrolle der Rechtsakte geben, die die Gemeinschaft zur Umsetzung der Beschlüsse des Sicherheitsrats erlassen habe. Das auf dem diplomatischen Schutz beruhende Überprüfungsverfahren vor dem Sanktionsausschuss biete keinen Schutz der Menschenrechte, der dem Schutz durch die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) gleichkomme, wie ihn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim Şirketi (Bosphorus Airways)/Irland vom 30. Juni 2005 (Reports of Judgements and Decisions 2005-VI, § 155) gefordert habe.“ 75

Die Entscheidung des EuGH erfolgte letztlich am 03. September 08. Tatsächlich hob der Gerichtshof – gerade in Bezug auf die Grundrechtsverletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör – das angegriffene Urteil mit sehr deutlichen Worten auf: Eine Verletzung des Rechts auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz liege eindeutig vor, „[d]a der Rat den Rechtsmittelführern weder die ihnen zur Last gelegten Umstände mitgeteilt hat, mit denen die gegen sie verhängten Restriktionen begründet werden, noch ihnen das Recht gewährt hat, innerhalb einer angemessenen Frist nach Anordnung der betreffenden Maßnahmen Auskunft über diese Umstände zu erhalten“, 76 „da sie nicht davon unterrichtet worden sind, welche Umstände ihnen zur Last gelegt werden,“ 77 und da diese Verletzung auch nicht im Rahmen der angegriffenen Klagen geheilt worden ist, da nach der Rechtsauffassung des Rates derartige Umstände vom Gemeinschaftsrichter nicht überprüft werden dürfen.“ 78 Die Achtung der Menschenrechte sei jedoch eine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Handlungen der Gemeinschaft. Maßnahmen, die mit der Achtung dieser Rechte unvereinbar sind, können in der Gemeinschaft nicht als rechtens anerkannt werden. 79 Die streitige Verordnung sei mithin, soweit sie die Rechtsmittelführer betrifft, aufzuheben, da sie erlassen worden war, ohne dass eine Garantie in Bezug auf die Mitteilung der den Betroffenen zur Last gelegten Umstände oder ihre Anhörung zu diesen Umständen gegeben wurde. Die grundlegenden Verteidigungsrechte, die einem Grundrechtsträger unveräußerlich zustehen, seien mithin in unzulässiger Weise eingeschränkt. 80

Kadis Rechtsanwalt stellte erfreut fest, dass mit diesem Urteil nun endlich die bizarre Politik zurückgewiesen werde, Menschen auf Listen zu setzen, ohne dass sie sich dagegen wehren könnten. 81 Da allerdings lediglich das Verfahren rund um die Terrorlisten als rechtswidrig anerkannt werden konnte, kann darüber keine Aussage getroffen werden, ob sich „die Anordnung derartiger Maßnahmen gegenüber den Rechtsmittelführern in der Sache gleichwohl als gerechtfertigt erweisen kann.“ 82 Um schwere und irreversible Auswirkungen einer Aufhebung der streitigen Verordnung mit sofortiger Wirkung zu vermeiden setzt der Gerichtshof somit gemäß Art. 231 EG fest, die Wirkungen der streitigen Verordnung, soweit die ihren Anhang I bildende Liste die Namen der Rechtsmittelführer enthält, für einen Zeitraum von höchstens drei Monaten ab dem Tag der Verkündung des vorliegenden Urteils aufrechtzuerhalten. 83

 

V. Der Handlungsbedarf auf Ebene der Vereinten Nationen

Die Errichtung eines neuen unabhängigen Gerichts auf UN-Ebene, das über Einsprüche gegen die Aufnahme in die Liste des Sanktionsausschusses entscheidet, 84 ist mithin möglicherweise die einzige Möglichkeit, auf die aktuellen Entwicklungen im Völkerrecht angemessen einzugehen und sowohl eine effektive Terrorismusbekämpfung zu gewährleisten als auch die fundamentalen Rechtsgarantien des Individuums zu schützen.

Der Sicherheitsrat hat hierfür eine Frist von höchstens drei Monaten erhalten. Bleibt das Sanktionenregime unverändert, wird das Vertrauen in den internationalen Menschenrechtsschutz weiter abnehmen und der Sicherheitsrat zunehmend an Legitimität verlieren, 85 was in einem System wie dem der Vereinten Nationen, das letztlich wesentlich auf das einverständliche Mitwirken der Mitgliedsstaaten angewiesen ist, vernichtende Auswirkungen mit sich bringen könnte. 86

In einem derartigen Verlauf würde die Völkerrechtsordnung weiter fragmentiert und die internationale Terrorismusbekämpfung zersplittert werden. 87 Insbesondere darf auch nicht übersehen werden, dass die Inanspruchnahme einer Überprüfungskompetenz durch das EuG/den EuGH, welche als solche möglicherweise noch nicht so viel Grund zur Besorgnis zu geben vermag, für jedes anderen Gericht der Welt ebenfalls eine solche Überprüfungskompetenz bedeuten würde. 88 Nicht immer unabhängige Gerichte politisch interessierter UN-Mitglieder könnten damit beginnen, ihre Bürger mit zweifelhaften Vorwänden vor Entscheidungen des Sicherheitsrat zu schützen und damit dessen Effektivität unter Berufung auf das Völkerrecht durchlöchern, wodurch das System der Friedenssicherung insgesamt erheblich bedroht würde. 89 Die verletzliche internationale Gemeinschaft, die durch ihre gemeinsamen Werte zusammengewachsen ist, würde Gefahr laufen, zusammenzubrechen, wenn das Vertrauen in die Achtung dieser Basis wegfiele. Derart würde eine Zusammenarbeit aufgegeben, wo wegen der globalen Bedrohung durch den internationalen Terrorismus ein Auskommen ohne Zusammenarbeit unmöglich geworden ist. 90

Wäre auf UN-Ebene dagegen ein ausreichender Menschenrechtsschutz garantiert, wäre ein weiteres Eingreifen nationaler oder regionaler Gerichte vermeidbar. 91 Der Sicherheitsrat könnte also die für ihn selbst gefährliche Entwicklung bremsen, indem er auf sie eingeht und das Sanktionenregime in einer Richtung verändert, die die Kritik bezüglich ihrer Konformität mit dem Rechtsstaatlichkeitsprinzip beruhigt. 92

Eine derartige Entwicklung erscheint unter verschiedenen Gesichtspunkten wünschenswert:

Zum einen würde sie die Effektivität des Sicherheitsrat im allgemeinen stärken, insbesondere auch als „a matter of the credibility of the international fight against terrorism“ 93 dessen Handlungen zur Friedenssicherung.

Zum anderen könnte so – und möglicherweise nur so – wirklich effektiver Rechtsschutz geleistet werden. Gerichtliche Kontrolle politischer Entscheidungen beruht nämlich immer auf einer gemeinsamen institutionellen Basis zwischen Gericht und politischem Organ, welche zwischen den Vereinten Nationen und nationalen oder europäischen Gerichten gar nicht geschaffen werden könnte. 94

VI. Schlussbemerkungen

„Rechtsschutz gegenüber Entscheidungen des Sicherheitsrats, der diesen Namen verdient, wird auf Dauer nur auf Ebene der UN entstehen können.“ 95 Die Frist, die dem Sicherheitsrat nun durch das Urteil des EuGH gesetzt wurde, läuft spätestens Anfang Dezember aus. Am 10. Dezember feiert die allgemeine Erklärung der Menschenrechte ihr 60jähriges Bestehen. „In the course of this year,” – so fordert Louise Arbour (UN High Commissioner for Human Rights) – “unprecedented efforts must be made to ensure that every person in the world can rely on just laws for his or her protection. In advancing all human rights for all, we will move towards the greatest fulfillment of human potential, a promise which is at the heart of the Universal Declaration.” 96 Möge der Sicherheitsrat sich entsprechend weiter von einem „guardian of peace“ in Übereinstimmung mit Art. 24 der UN-Charta auch zu einem „guardian of human rights“ entwickeln, 97 und die Menschenrechte – auch im Kampf gegen den Terrorismus schützen, statt diese „im Eifer des Gefechts“ aufzuopfern.

 


Fußnoten:

  1.   Barak, Aharon, Judgments of the Israel Supreme Court: Fighting terrorism within the law, S. 9.
  2.   http://www.cdt.org/security/usapatriot/brochure.pdf (zuletzt besucht am 30.09.08).
  3. Alice Yotopoulos-Marangopoulos, in: Wolfgang Benedek / Alice Yotopoulos-Marangopoulos, Anti-Terrorist Measures, 2004, S. 6.
  4.      Vgl. hierzu: Christian Tomuschat, Der 11. September 2001 und seine rechtlichen Konsequenzen, in Europäische Grundrechte Zeitschrift (EuGRZ) 2001, S. 535 – 545 (S. 535).
  5.   Vgl. Reinhard Müller, „Gericht verlangt Rechtsschutz bei Kontoeinfrierungen“ in FAZ.net vom 03.09.08.
  6.       Bertrand B. Ramcharan, The Security Council and the Protection of Human Rights, 2002, S. ix.
  7.        Michael Fraas, Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und Internationaler Gerichtshof, 1998, S. 86; das ICTY hat in dieser Entscheidung für sich selbst sogar eine Überprüfungskompetenz in Anspruch genommen. ICTY – appeals chamber, decision on the Defence Motion for Interlocutory Appeal of Jurisdiction vom 2. Oktober 1995 (Tadić), Rn. 39; vgl. Jurij Daniel Aston, Die Bekämpfung abstrakter Gefahren für den Weltfrieden durch legislative Maßnahmen des Sicherheitsrats – Resolution 1373 (2001) im Kontext, in Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 62 (2002), S. 257 – 291 (S. 282); Andrea Bianchi, Assessing the Effectiveness of the UN Security Council’s Anti-terrorism Measures: The Quest for Legitimacy and Cohesion, in The European Journal of International Law (EJIL) 17 (2007), S. 881 – 919 (S. 912); Torsten Stein, Das Attentat von Lockerbie vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und dem Internationalen Gerichtshof, in Archiv des Völkerrechts (AVR) 31 (1993), S. 206 – 229 (S. 373).
  8. Matthias Herdegen, Die Befugnisse des UN-Sicherheitsrates – Aufgeklärter Absolutismus im Völkerrecht, 1998, S. 27 f.; Ulrich Haltern, Rechtsschutz in der dritten Säule der EU in: Juristische Zeitung (JZ) 2007, S. 772 – 778 (S. 773).
  9.            Vgl. Bardo Fassbender, Targeted Sanctions and Due Process. The responsibility of the UN Security Council to ensure that fair and clear procedures are made available to individuals and entities targeted with sanctions under Chapter VII of the UN Charter. Study commissioned by the United Nations Office of Legal Affairs – Office of the Legal Counsel – 20 March 2006 (final), http://www.un.org/law/counsel/Fassbender_study.pdf  (zuletzt besucht am 15.09.08), S. 6.
  10. 0          Jurij Daniel Aston, Die Bekämpfung abstrakter Gefahren für den Weltfrieden durch legislative Maßnahmen des Sicherheitsrats – Resolution 1373 (2001) im Kontext, in Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 62 (2002), S. 257 – 291 (S. 267 ff.); Paul C. Szasz, The Security Council Starts Legislating, in American Journal of International Law (AJIL) 96 (2002), S. 901 – 905 (S. 904).
  11.             Bardo Fassbender, Targeted Sanctions and Due Process. The responsibility of the UN Security Council to ensure that fair and clear procedures are made available to individuals and entities targeted with sanctions under Chapter VII of the UN Charter. Study commissioned by the United Nations Office of Legal Affairs – Office of the Legal Counsel – 20 March 2006 (final), http://www.un.org/law/counsel/Fassbender_study.pdf  (zuletzt besucht am 15.09.08), S. 6.
  12.   Helmut Philipp Aust / Nina Naske, Rechtsschutz gegen den UN-Sicherheitsrat durch europäische Gerichte? Die Rechtsprechung des EuG zur Umsetzung „gezielter Sanktionen“ aus dem Blickwinkel des Völkerrechts, in Zeitschrift für öffentliches Recht (ZöR) 61 (2006), S. 587 – 623 (S. 610 ff.); s.a. Bardo Fassbender, Targeted Sanctions and Due Process. The responsibility of the UN Security Council to ensure that fair and clear procedures are made available to individuals and entities targeted with sanctions under Chapter VII of the UN Charter. Study commissioned by the United Nations Office of Legal Affairs – Office of the Legal Counsel – 20 March 2006 (final), http://www.un.org/law/counsel/Fassbender_study.pdf  (zuletzt besucht am 15.09.08), S. 6.
  13.         Michael Fraas, Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und Internationaler Gerichtshof, 1998, S. 83.
  14.     Alexander Orakhelashvili, The Acts of the Security Council: Meaning and standards of Review, in Max Planck Yearbook of United Nations Law 11 (2007), S. 143 – 195 (S. 175); Dapo Akande, The international Court of Justice and the Seurity Council: Is there room for judicial control of decisions of the political organs of the United Nations, in International and Comparative Law Quarterly (ICLQ) 46 (1997), S. 309 – 343 (S. 324); Andrew Hudson, Not a great asset: The UN Security Council’s Counter Terrorism regime: violating human rights, in Berkeley Journal of International Law 2007, S. 203 – 227 (S. 213) (vgl. U.N. Doc. S/RES/1456 (Jan. 20, 2003), § 6).
  15.    Ulrich Haltern, Gemeinschaftsgrundrechte und Antiterrormaßnahmen der UNO, in Juristen Zeitung (JZ) 2007, S. 537 – 592 (S. 537).
  16.           Christoph Möllers, Das EuG konstitutionalisiert die Vereinten Nationen, Anmerkungen zu den Urteilen des EuG vom 21.09.2005, Rs. T-315/01 und T 306/01, in Europarecht (EuR) 2006, S. 426 – 431 (S. 431).
  17.          Andrea Bianchi, Assessing the Effectiveness of the UN Security Council’s Anti-terrorism Measures: The Quest for Legitimacy and Cohesion, in The European Journal of International Law (EJIL) 17 (2007), S. 881 – 919 (S. 881); s.a. Defeis, S. 1452.
  18.             Mehrdad Payandeh, Rechtskontrolle des UN-Sicherheitsrates durch staatliche und überstaatliche Gerichte, in Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 66 (2006), S. 41 – 71 (S. 42); Nikolaos Lavranos, UN Sanctions and Judicial Review, in Nordic Journal of International Law (NJIL) 76 (2007), S. 1 – 17 (S. 2); Stefanie Schmahl, Effektiver Rechtsschutz gegen „targeted santions“ des UN-Sicherheitsrats, in Europarecht (EuR) 2006, S. 566 – 576 (S. 566 f.).
  19. Bardo Fassbender, Targeted Sanctions and Due Process. The responsibility of the UN Security Council to ensure that fair and clear procedures are made available to individuals and entities targeted with sanctions under Chapter VII of the UN Charter. Study commissioned by the United Nations Office of Legal Affairs – Office of the Legal Counsel – 20 March 2006 (final), http://www.un.org/law/counsel/Fassbender_study.pdf  (zuletzt besucht am 15.09.08), S. 4.
  20.   Die Frage, ob ein Staat eine Bedrohung des Friedens darstellt, ist hingegen eine rein politische Frage (Saskia Hörmann, Völkerrecht bricht Rechtsgemeinschaft? Zu den rechtlichen Folgen einer Umsetzung von Resolutionen des UN-Sicherheitsrates durch die EG, in Archiv des Völkerrechts (AVR) 44 (2006), S. 267 – 320 (S. 310).
  21.        Christoph Möllers, Das EuG konstitutionalisiert die Vereinten Nationen, Anmerkungen zu den Urteilen des EuG vom 21.09.2005, Rs. T-315/01 und T 306/01, in Europarecht (EuR) 2006, S. 426 – 431 (S. 429); Andrew Hudson, Not a great asset: The UN Security Council’s Counter Terrorism regime: violating human rights, in Berkeley Journal of International Law 2007, S. 203 – 227 (S. 227); Silke Albin, Rechtsschutzlücken bei der Terrorbekämpfung im Völkerrecht, in Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 2004, S. 71 – 73 (S. 72); Ulrich Haltern, Gemeinschaftsgrundrechte und Antiterrormaßnahmen der UNO, in Juristen Zeitung (JZ) 2007, S. 537 – 592 (S. 537 f.).
  22.         Für Personen, die beispielsweise unter Resolution 1373 z.B. von der EG gelistet wurden, sind die Rechtsschutzmöglichkeiten nicht so sehr eingeschränkt. Vgl. Fall der Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran (EuG, Urteil vom 12. Dezember 2006, Rs. T-228/02).
  23.         Kirsten Schmalenbach, Normentheorie vs. Terrorismus: Der Vorrang des UN-Rechts vor EU-Recht, in Juristen Zeitung (JZ) 2006, S. 349 – 353 (S. 350); Markus Kotzur, Eine Bewährungsprobe für die Europäische Grundrechtsgemeinschaft / Zur Entscheidung des EuG in der Rs. Yusuf u.a. gegen Rat, EuGRZ 2005, S. 592 ff., in Europäische Grundrechtszeitschrift (EuGRZ) 2006, S. 19 – 26 (S. 23).
  24.           EuGH, Urteil vom 3. September 2008, RS C-402/05 P und C-415/05 P, Rn. 92.
  25.             http://www.sueddeutsche.de/ausland/artikel/753/142440/ (zuletzt besucht am 30.09.08)
  26.            Dieser wurde inzwischen von der Terrorliste gestrichen. Das Verfahren wurde eingestellt.
  27.         Die ähnlich gelagerten neueren Fälle vom 12. Juli 2006 Rs. T-253/02 (Ayadi) und T-49/04 (Hassan) bringen keine wesentlichen Neuerungen. Lediglich auf die Möglichkeit zu diplomatischem Schutz durch den Heimatstaat wird verstärkt hingewiesen (vgl. Nikolaos Lavranos, UN Sanctions and Judicial Review, in Nordic Journal of International Law (NJIL) 76 (2007), S. 1 – 17 (S. 7). Da dies für die hiesige Untersuchung weitgehend unerheblich ist, wird auf diese Fälle nicht näher eingegangen.
  28.       Vgl. Andrea Bianchi, Assessing the Effectiveness of the UN Security Council’s Anti-terrorism Measures: The Quest for Legitimacy and Cohesion, in The European Journal of International Law (EJIL) 17 (2007), S. 881 – 919 (S. 883 f.); Stefanie Schmahl, Effektiver Rechtsschutz gegen „targeted santions“ des UN-Sicherheitsrats, in Europarecht (EuR) 2006, S. 566 – 576 (S. 567).
  29.          Gem. Art. 4 Ziff. 1 UN-Charta nur „friedliebende Staaten“.
  30.         Christian Tietje / Sandy Hamelmann, Gezielte Finanzaktionen der Vereinten Nationen im Spannungsverhältnis zum Gemeinschaftsrecht und zu den Menschenrechten – EuG, BeckRS 2005, 70 726, in Juristische Schulung (JuS) 2006, S. 299 – 302 (S. 300); Ulrich Haltern, Gemeinschaftsgrundrechte und Antiterrormaßnahmen der UNO, in Juristen Zeitung (JZ) 2007, S. 537 – 592 (S. 538).
  31.          Markus Kotzur, Eine Bewährungsprobe für die Europäische Grundrechtsgemeinschaft / Zur Entscheidung des EuG in der Rs. Yusuf u.a. gegen Rat, EuGRZ 2005, S. 592 ff., in Europäische Grundrechtszeitschrift (EuGRZ) 2006, S. 19 – 26 (S. 24); Mehrdad Payandeh, Rechtskontrolle des UN-Sicherheitsrates durch staatliche und überstaatliche Gerichte, in Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 66 (2006), S. 41 – 71 (S. 53); Ramses A. Wessel, Editorial: The UN, The EU and JUS COGENS, in International Organizations Law Review (IOLR) 3 (2006), S. 1 – 6 (S. 2 f.).
  32.        Schlussanträge von Generalanwalt Poiares Maduro vom 16. Januar 2008 – Rs. C-402/05 P (Kadi), § 3; vgl. Sebastian Steinbarth, Individualrechtsschutz gegen Maßnahmen der EG zur Bekämpfung des Internationalen Terrorismus – Die Entscheidungen des EuG in den Sachen „Yusuf u.a.“ sowie „Kadi“, in Zeitschrift für Europarechtliche Studien (ZEuS) 2006, S. 269 – 285 (S. 272); s.a. Mehrdad Payandeh, Rechtskontrolle des UN-Sicherheitsrates durch staatliche und überstaatliche Gerichte, in Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 66 (2006), S. 41 – 71 (S. 52); Ulrich Haltern, Gemeinschaftsgrundrechte und Antiterrormaßnahmen der UNO, in Juristen Zeitung (JZ) 2007, S. 537 – 592 (S. 539); Elena Sciso, Fundamental Rights and article 103 of the UN Charter before the Court of First Instance of the European Communities, in The Italian Yearbook of International Law, Volume XV, 2005, S. 137 – 151 (S. 138).
  33.        Vgl. Kirsten Schmalenbach, Normentheorie vs. Terrorismus: Der Vorrang des UN-Rechts vor EU-Recht, in Juristen Zeitung (JZ) 2006, S. 349 – 353 (S. 351); Nikolaos Lavranos, Judicial Review of UN Sanctions by the Court of First Instance, in European Foreign Affairs Review (EFAR) 11 (2006), S. 471 – 490 (S. 486).
  34.          Francesco Francioni, Access to justice as a human right, Oxford, 2007, S. 52.
  35.             So im Vergleich zum nationalen Grundrechtsstandard: BVerfGE 73, 339, 376 (Solange II).
  36.          So im Vergleich zu den EMRK-Rechten: Bosphorus in NJW 2006, 197, Rn. 155.
  37.       Ulrich Haltern, Gemeinschaftsgrundrechte und Antiterrormaßnahmen der UNO, in Juristen Zeitung (JZ) 2007, S. 537 – 592 (S. 537).
  38.      Vgl. Markus Kotzur, Eine Bewährungsprobe für die Europäische Grundrechtsgemeinschaft / Zur Entscheidung des EuG in der Rs. Yusuf u.a. gegen Rat, EuGRZ 2005, S. 592 ff., in Europäische Grundrechtszeitschrift (EuGRZ) 2006, S. 19 – 26 (S. 24); Ulrich Haltern, Gemeinschaftsgrundrechte und Antiterrormaßnahmen der UNO, in Juristen Zeitung (JZ) 2007, S. 537 – 592 (S. 540); Nikolaos Lavranos, Judicial Review of UN Sanctions by the Court of First Instance, in European Foreign Affairs Review (EFAR) 11 (2006), S. 471 – 490 (S. 474).
  39.          EuG, Urteil vom 21. September 2005, Rs. T-315/01 (Kadi), § 222, 223; vgl. Christian Tietje / Sandy Hamelmann, Gezielte Finanzaktionen der Vereinten Nationen im Spannungsverhältnis zum Gemeinschaftsrecht und zu den Menschenrechten – EuG, BeckRS 2005, 70 726, in Juristische Schulung (JuS) 2006, S. 299 – 302 (S. 301); Andrea Bianchi, Assessing the Effectiveness of the UN Security Council’s Anti-terrorism Measures: The Quest for Legitimacy and Cohesion, in The European Journal of International Law (EJIL) 17 (2007), S. 881 – 919 (S. 912 f.); Christoph Möllers, Das EuG konstitutionalisiert die Vereinten Nationen, Anmerkungen zu den Urteilen des EuG vom 21.09.2005, Rs. T-315/01 und T 306/01, in Europarecht (EuR) 2006, S. 426 – 431 (S. 527).
  40.     EuG, Urteil vom 21. September 2005, Rs. T-315/01 (Kadi), Rn. 225.
  41.         Vgl. Christoph Möllers, Das EuG konstitutionalisiert die Vereinten Nationen, Anmerkungen zu den Urteilen des EuG vom 21.09.2005, Rs. T-315/01 und T 306/01, in Europarecht (EuR) 2006, S. 426 – 431 (S. 527); Mehrdad Payandeh, Rechtskontrolle des UN-Sicherheitsrates durch staatliche und überstaatliche Gerichte, in Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 66 (2006), S. 41 – 71 (S. 57).
  42.         Christoph Möllers, Das EuG konstitutionalisiert die Vereinten Nationen, Anmerkungen zu den Urteilen des EuG vom 21.09.2005, Rs. T-315/01 und T 306/01, in Europarecht (EuR) 2006, S. 426 – 431 (S. 527); Christian Tietje / Sandy Hamelmann, Gezielte Finanzaktionen der Vereinten Nationen im Spannungsverhältnis zum Gemeinschaftsrecht und zu den Menschenrechten – EuG, BeckRS 2005, 70 726, in Juristische Schulung (JuS) 2006, S. 299 – 302 (S. 301); Helmut Philipp Aust / Nina Naske, Rechtsschutz gegen den UN-Sicherheitsrat durch europäische Gerichte? Die Rechtsprechung des EuG zur Umsetzung „gezielter Sanktionen“ aus dem Blickwinkel des Völkerrechts, in Zeitschrift für öffentliches Recht (ZöR) 61 (2006), S. 587 – 623 (S. 592); Elena Sciso, Fundamental Rights and article 103 of the UN Charter before the Court of First Instance of the European Communities, in The Italian Yearbook of International Law, Volume XV, 2005, S. 137 – 151 (S. 143).
  43.             EuG, Urteil vom 21. September 2005, Rs. T-315/01 (Kadi), Rn. 226.
  44.   Matthias Herdegen, Die Befugnisse des UN-Sicherheitsrates – Aufgeklärter Absolutismus im Völkerrecht, 1998, S. 27 f.; Ulrich Haltern, Rechtsschutz in der dritten Säule der EU in: Juristische Zeitung (JZ) 2007, S. 772 – 778 (S. 773).
  45.           Dieses Vorgehen wurde nachdrücklich von den Klagegegnern kritisiert (EuGH, Urteil vom 3. September 2008, RS C-402/05 P und C-415/05 P, Rn. 266 ff.).
  46. Ulrich Haltern, Gemeinschaftsgrundrechte und Antiterrormaßnahmen der UNO, in Juristen Zeitung (JZ) 2007, S. 537 – 592 (S. 540); Kirsten Schmalenbach, Normentheorie vs. Terrorismus: Der Vorrang des UN-Rechts vor EU-Recht, in Juristen Zeitung (JZ) 2006, S. 349 – 353 (S. 531); Peter-Tobias Stoll, Das Verfassungsrecht vor den Herausforderungen der Globalisierung, in Das Deutsche Verwaltungsblatt (DVBl) 2007, S. 1064 – 1073 (S. 1069); Jochen Abr. Frowein, The UN Anti-Terrorism Administration and the Rule of Law, in Pierre-Marie Dupuy, Bardo Fassbender, Malcolm N. Shaw, Karl-Peter Sommermann (Hrsg.), Festschrift für / Essays in Honour of Christian Tomuschat, Völkerrecht als Wertordnung – Common Values in International law, Kehl, 2006, S. 785 – 795 (S. 795).
  47.             Ulrich Haltern, Gemeinschaftsgrundrechte und Antiterrormaßnahmen der UNO, in Juristen Zeitung (JZ) 2007, S. 537 – 592 (S. 543).
  48.   S.a. diesbezüglich EuGH, Urteil vom 3. September 2008, RS C-402/05 P und C-415/05 P, Rn. 366.
  49.     Christoph Möllers, Das EuG konstitutionalisiert die Vereinten Nationen, Anmerkungen zu den Urteilen des EuG vom 21.09.2005, Rs. T-315/01 und T 306/01, in Europarecht (EuR) 2006, S. 426 – 431 (S. 430); Markus Kotzur, Eine Bewährungsprobe für die Europäische Grundrechtsgemeinschaft / Zur Entscheidung des EuG in der Rs. Yusuf u.a. gegen Rat, EuGRZ 2005, S. 592 ff., in Europäische Grundrechtszeitschrift (EuGRZ) 2006, S. 19 – 26 (S. 23); Mehrdad Payandeh, Rechtskontrolle des UN-Sicherheitsrates durch staatliche und überstaatliche Gerichte, in Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 66 (2006), S. 41 – 71 (S. 66); Elena Sciso, Fundamental Rights and article 103 of the UN Charter before the Court of First Instance of the European Communities, in The Italian Yearbook of International Law, Volume XV, 2005, S. 137 – 151 (S. 146ff.).
  50.             Schlussanträge von Generalanwalt Paolo Mengozzi vom 26. Oktober 2006, Rs. C-354/04 P und C-355/04, Rn. 81.
  51.      Vgl. Andrew Hudson, Not a great asset: The UN Security Council’s Counter Terrorism regime: violating human rights, in Berkeley Journal of International Law 2007, S. 203 – 227 (S. 214 f.).
  52.   Christoph Möllers, Das EuG konstitutionalisiert die Vereinten Nationen, Anmerkungen zu den Urteilen des EuG vom 21.09.2005, Rs. T-315/01 und T 306/01, in Europarecht (EuR) 2006, S. 426 – 431 (S. 430).
  53.          Vgl. Art. 5 II EMRK; Art. 7 IV American Convention on Human Rights; s.a. Fox, Campbell and Hartley (18/1989/178/234-236), August 30, 1990, § 40); Lawyers Committee for Human Rights, What is a fair trial? (http://www.humanrightsfirst.org/pubs/descriptions/fair_trial.pdf – zuletzt besucht am 28.09.08), S. 15.
  54.     UN-Doc. HRI/GEN/1/Rev. 6, Ziff. 16; vgl. Stefanie Schmahl, Effektiver Rechtsschutz gegen „targeted santions“ des UN-Sicherheitsrats, in Europarecht (EuR) 2006, S. 566 – 576 (S. 573).
  55.           ICTY – appeals chamber, decision on the Defence Motion for Interlocutory Appeal of Jurisdiction vom 2. Oktober 1995 (Tadić), Rn. 42 ff.; vgl. Stefanie Schmahl, Effektiver Rechtsschutz gegen „targeted santions“ des UN-Sicherheitsrats, in Europarecht (EuR) 2006, S. 566 – 576 (S. 573).
  56.           So Kirsten Schmalenbach, Normentheorie vs. Terrorismus: Der Vorrang des UN-Rechts vor EU-Recht, in Juristen Zeitung (JZ) 2006, S. 349 – 353 (S. 352).
  57.      Schlussanträge von Generalanwalt Poiares Maduro vom 16. Januar 2008 – Rs. C-402/05 P (Kadi), § 1.
  58.             Schlussanträge von Generalanwalt Poiares Maduro vom 16. Januar 2008 – Rs. C-402/05 P (Kadi), § 20.
  59.           Schlussanträge von Generalanwalt Poiares Maduro vom 16. Januar 2008 – Rs. C-402/05 P (Kadi), § 24.
  60.           Schlussanträge von Generalanwalt Poiares Maduro vom 16. Januar 2008 – Rs. C-402/05 P (Kadi), § 23 ff.
  61.             EuGH-Urteil vom 30. Juli 1996, C-122/95, Slg. 1998, I-973 (Bosphorus).
  62.         Vgl. Rs. C-84/95, Slg. 1996, I-3953 (Bosphorus), § 53 (Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs).
  63.     Schlussanträge von Generalanwalt Poiares Maduro vom 16. Januar 2008 – Rs. C-402/05 P (Kadi), § 26 ff.
  64.       EuGH-Urteil vom 23. April 1986, C-294/83, Slg. 1986, 1339 (Les Verts), Rn. 23.
  65.   EuGH-Urteil vom 12. Juni 2003, C-112/00, Slg. 2003, I-5659 (Schmidberger), Rn. 73.
  66.     Schlussanträge von Generalanwalt Poiares Maduro vom 16. Januar 2008 – Rs. C-402/05 P (Kadi), § 31.
  67.   EuGH-Urteil vom 30. Juli 1996, C-122/95, Slg. 1998, I-973 (Bosphorus).
  68.        Schlussanträge von Generalanwalt Poiares Maduro vom 16. Januar 2008 – Rs. C-402/05 P (Kadi), § 23.
  69.             Schlussanträge von Generalanwalt Poiares Maduro vom 16. Januar 2008 – Rs. C-402/05 P (Kadi), § 40.
  70.           Vgl. Deutschland: BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 (Görgülü), 2 BvR 1481/04, veröffentlicht in NJW 2004, S. 3407-3412. Tschechische Republik: Ústavní soud, 15 April 2003 (I. ÚS 752/02); Ústavní soud, 21. Februar 2007 (I. ÚS 604/04). Italien: Corte Costituzionale, 19. März 2001, Nr. 73. Ungarn: 4/1997 (I. 22.) AB határozat. Polen: Orzecznictwo Trybunału Konstytucyjnego (zbiór urzędowy), 27. April 2005, P 1/05, pkt 5.5, Serie A, 2005 Nr. 4, poz. 42, und Orzecznictwo Trybunału Konstytucyjnego (zbiór urzędowy), 2. Juli 2007, K 41/05, Serie A, 2007 Nr. 7, poz. 72; zitiert nach den Schlussanträgen von Generalanwalt Poiares Maduro vom 16. Januar 2008 – Rs. C-402/05 P (Kadi), § 31, FN 34.
  71.       Vgl. Nikolaos Lavranos, UN Sanctions and Judicial Review, in Nordic Journal of International Law (NJIL) 76 (2007), S. 1 – 17 (S. 15); Ulrich Haltern, Rechtsschutz in der dritten Säule der EU in: Juristische Zeitung (JZ) 2007, S. 772 – 778 (S. 774). Gerade die Funktion des EGMR ist hier von besonderer Bedeutung, nachdem dieser sich ausdrücklich eine Einzelfallkontrolle in seiner Bosphorus-Entscheidung vorbehielt, während das BVerfG nur einschreiten wird, wenn ein wirksamer Schutz generell nicht mehr gewährleistet wäre (Stefanie Schmahl, Effektiver Rechtsschutz gegen „targeted santions“ des UN-Sicherheitsrats, in Europarecht (EuR) 2006, S. 566 – 576 (S. 576); Nikolaos Lavranos, Das So-Lange-Prinzip im Verhältnis von EGMR und EuGH – Anmerkungen zu dem Urteil der EGMR v. 30.06.2005, Rs. 450 36/98, in Europarecht (EuR) 2006, S. 79 ff. (S. 86). EGMR-Richter Ress hatte bereits in seinem Sondervotum zu Bosphorus die in gewissen Punkten mit den Yusuf / Kadi-Fällen vergleichbare EuG-Entscheidungen in den Fällen Segi und Gestoras Pro Amnistía (Rs. C-354/04 P) als Beispiele für eine offensichtlich mangelhafte Grundrechtskontrolle aufgeführt (Ulrich Haltern, Rechtsschutz in der dritten Säule der EU in: Juristische Zeitung (JZ) 2007, S. 772 – 778 (S. 777)).
  72.            Saskia Hörmann, Völkerrecht bricht Rechtsgemeinschaft? Zu den rechtlichen Folgen einer Umsetzung von Resolutionen des UN-Sicherheitsrates durch die EG, in Archiv des Völkerrechts (AVR) 44 (2006), S. 267 – 320 (S. 308).
  73.           Mehrdad Payandeh, Rechtskontrolle des UN-Sicherheitsrates durch staatliche und überstaatliche Gerichte, in Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 66 (2006), S. 41 – 71 (S. 68).
  74.       EuGH, Urteil vom 3. September 2008, RS C-402/05 P und C-415/05 P, Rn. 262.
  75. EuGH, Urteil vom 3. September 2008, RS C-402/05 P und C-415/05 P, Rn. 256.
  76.            EuGH, Urteil vom 3. September 2008, RS C-402/05 P und C-415/05 P, Rn. 348.
  77.         EuGH, Urteil vom 3. September 2008, RS C-402/05 P und C-415/05 P, Rn. 349.
  78.       EuGH, Urteil vom 3. September 2008, RS C-402/05 P und C-415/05 P, Rn. 350.
  79.     EuGH, Urteil vom 3. September 2008, RS C-402/05 P und C-415/05 P, Rn. 284 (vgl. Gutachten 2/94, Randnr. 34; Urteil vom 12. Juni 2003, Schmidberger, C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Randnr. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).
  80.            EuGH, Urteil vom 3. September 2008, RS C-402/05 P und C-415/05 P, Rn. 352.
  81.        Reinhard Müller, „Gericht verlangt Rechtsschutz bei Kontoeinfrierungen“ in FAZ.net vom 03.09.08.
  82.    EuGH, Urteil vom 3. September 2008, RS C-402/05 P und C-415/05 P, Rn. 374.
  83.        EuGH, Urteil vom 3. September 2008, RS C-402/05 P und C-415/05 P, Rn. 373 ff.
  84.         Vgl. Mehrdad Payandeh, Rechtskontrolle des UN-Sicherheitsrates durch staatliche und überstaatliche Gerichte, in Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 66 (2006), S. 41 – 71 (S. 66); Silke Albin, Rechtsschutzlücken bei der Terrorbekämpfung im Völkerrecht, in Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 2004, S. 71 – 73 (S. 73).
  85.             Helmut Philipp Aust, Between self-assertion and deference: European courts and their assessment of UN Security Council resolutions, in Anuario Mexicano de Derecho International, vol. VIII, 2008, S. 51 – 77 (S. 76); Silke Albin, Rechtsschutzlücken bei der Terrorbekämpfung im Völkerrecht, in Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 2004, S. 71 – 73 (S. 73); Alexander Orakhelashvili, The Acts of the Security Council: Meaning and standards of Review, in Max Planck Yearbook of United Nations Law 11 (2007), S. 143 – 195 (S. 194 f.).
  86. Vgl. Andrea Bianchi, Assessing the Effectiveness of the UN Security Council’s Anti-terrorism Measures: The Quest for Legitimacy and Cohesion, in The European Journal of International Law (EJIL) 17 (2007), S. 881 – 919 (S. 916 f.).
  87.   Stefanie Schmahl, Effektiver Rechtsschutz gegen „targeted santions“ des UN-Sicherheitsrats, in Europarecht (EuR) 2006, S. 566 – 576 (S. 576); Erika De Wet, The International Constitutional Order, in International and Comparative Law Quarterly (ICLQ) 2006, S. 51 – 76 (S. 76).
  88.          Ulrich Haltern, Gemeinschaftsgrundrechte und Antiterrormaßnahmen der UNO, in Juristen Zeitung (JZ) 2007, S. 537 – 592 (S. 539).
  89.          Christoph Möllers, Das EuG konstitutionalisiert die Vereinten Nationen, Anmerkungen zu den Urteilen des EuG vom 21.09.2005, Rs. T-315/01 und T 306/01, in Europarecht (EuR) 2006, S. 426 – 431 (S. 429); Erika De Wet / André Nollkaemper, Review of Security Council Resolutions by National Courts, in German Yearbook of International Law (GYIL) 45 (2002), S. 166 – 202 (S. 197); Saskia Hörmann, Völkerrecht bricht Rechtsgemeinschaft? Zu den rechtlichen Folgen einer Umsetzung von Resolutionen des UN-Sicherheitsrates durch die EG, in Archiv des Völkerrechts (AVR) 44 (2006), S. 267 – 320 (S. 285); Mehrdad Payandeh, Rechtskontrolle des UN-Sicherheitsrates durch staatliche und überstaatliche Gerichte, in Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 66 (2006), S. 41 – 71 (S. 52); Karl Doehring, Normentheorie vs. Terrorismus: Der Vorrang des UN-Rechts vor EU-Recht, in Max Planck Yearbook of United Nations Law (Vol. 1) 1997, S. 91 – 109 (S. 99).
  90.    Stefanie Schmahl, Effektiver Rechtsschutz gegen „targeted santions“ des UN-Sicherheitsrats, in Europarecht (EuR) 2006, S. 566 – 576 (S. 576); Erika De Wet, The International Constitutional Order, in International and Comparative Law Quarterly (ICLQ) 2006, S. 51 – 76 (S. 76).
  91.       Helmut Philipp Aust, Between self-assertion and deference: European courts and their assessment of UN Security Council resolutions, in Anuario Mexicano de Derecho International, vol. VIII, 2008, S. 51 – 77 (S. 77); Kirsten Schmalenbach, Normentheorie vs. Terrorismus: Der Vorrang des UN-Rechts vor EU-Recht, in Juristen Zeitung (JZ) 2006, S. 349 – 353 (S. 353); Ramses A. Wessel, Editorial: The UN, The EU and JUS COGENS, in International Organizations Law Review (IOLR) 3 (2006), S. 1 – 6 (S. 5f.)
  92.             Bernd Martenczuk, The Security Council, the International Court and Judicial Review: What lessons from Lockerbie? in European Journal of International Law (EJIL) 10 (1999), S. 517 – 547 (S. 547); Helmut Philipp Aust, Between self-assertion and deference: European courts and their assessment of UN Security Council resolutions, in Anuario Mexicano de Derecho International, vol. VIII, 2008, S. 51 – 77 (S. 77); Kirsten Schmalenbach, Normentheorie vs. Terrorismus: Der Vorrang des UN-Rechts vor EU-Recht, in Juristen Zeitung (JZ) 2006, S. 349 – 353 (S. 353).
  93.           Matthias Hartwig, Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2004, in Zeitschrift für ausländisches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 66 (2006), S. 985 – 1044 (S. 1017); s.a. Andrea Bianchi, Assessing the Effectiveness of the UN Security Council’s Anti-terrorism Measures: The Quest for Legitimacy and Cohesion, in The European Journal of International Law (EJIL) 17 (2007), S. 881 – 919 (S. 915 f.).
  94.             Christoph Möllers, Das EuG konstitutionalisiert die Vereinten Nationen, Anmerkungen zu den Urteilen des EuG vom 21.09.2005, Rs. T-315/01 und T 306/01, in Europarecht (EuR) 2006, S. 426 – 431 (S. 430).
  95.      Christoph Möllers, Das EuG konstitutionalisiert die Vereinten Nationen, Anmerkungen zu den Urteilen des EuG vom 21.09.2005, Rs. T-315/01 und T 306/01, in Europarecht (EuR) 2006, S. 426 – 431 (S. 431).
  96.           http://www.un.org/events/humanrights/2007/statements.shtml (Stand: 28.09.08).
  97.      Bertrand B. Ramcharan, The Security Council and the Protection of Human Rights, 2002, S. IX.

The European Commission’s White Paper on damages actions for breach of the EC antitrust rules – some unsettled questions

$
0
0

stud. jur. Marc G. Lendermann, Humboldt University Berlin*

(Diesen Artikel als PDF herunterladen)

On 2 April 2008 the European Commission published a White Paper on Damages actions for breach of the EC antitrust rules 1 and an accompanying Staff Working Paper 2 which present and comment the Commission’s policy to improve the legal conditions for victims of such infringements to obtain compensation for damage suffered. In order to achieve this aim, the White Paper suggests different measures, e.g. to allow collective actions, to confer a binding effect to decisions of national competition authorities (NCA), to introduce a fault requirement, to introduce the passing-on defence as well as the presumption that the overcharge was passed on and to modify the limitation period.

The background of this White Paper is that a study 3 undertaken by the law firm Ashurst had revealed that there are still significant obstacles in the Member States’ substantive and procedural laws standing in the way of private enforcement. The Commission then published a Green Paper 4 on 19 December 2005 that identified a number of issues concerning private damages actions and presented various options. This Green Paper sparked off a heated debate. Many comments to the Green Paper questioned whether the European Community is competent at all to adopt legislative action in matters of private enforcement. Unfortunately, neither the White Paper itself nor the Staff Working Paper respond to this question by giving a reference to an appropriate Treaty provision. Even more surprisingly, only few comments 5 on the White Paper received by the Commission deal with that issue. This essay shall explore several provisions which possibly serve as an appropriate legal basis for the European Community to implement the proposals of the White Paper.

An issue that provoked more reactions in the comments to the White Paper is the repercussion of private enforcement, as the White Paper attempts to enhance it, on public enforcement, i.e. existing leniency programmes. Especially the Commission’s proposal to limit the civil liability of immunity recipients in leniency programmes was subject to discussion. Some commentators refuse to acknowledge a need to adapt private enforcement in order to avoid jeopardizing the aim and functioning of the public enforcement leniency programmes. Those commentators see a risk for the principle of full compensation, whereas others welcome the idea and even propose to exclude completely the immunity recipient’s liability.

One should bear in mind, however, that many commentators pursue their own interests. Law firms, for example, have a strong interest in fostering private enforcement, as this augments the number of damage actions that they can file. Given the diverse comments to the Commissions suggestion of liability reduction and the lack of neutrality in the comments, this paper shall therefore present the conflict between public and private enforcement and sum up the most interesting proposals.

 

I. Legal basis for the European Community to implement the proposed measures

Already in reaction to the Commission’s Green Paper, doubts were raised as to the Community’s competence to adopt legislative measures in the matters of private damages claims. Unfortunately, neither in the White Paper nor in the Staff Working Paper, the Commission reacts to this question by giving a reference to the requisite rule-making power. This is surprising, as Community competence has always been controversial in areas of civil and procedural law. Indeed, the European Community does not assume a general and/or comprehensive legislative competence to adopt legislative measures in the area of civil law. Therefore, it is even more astonishing that only a few comments take on this question. 6

Unfortunately, the Commission does not specify by way of what kind of institutional act it wants to transform its proposals into concrete measures. On pages 97 and 98 of the Commission staff working paper it is merely indicated that the Commission considers adopting “legislative measures”. Indeed, the objective of removing law obstacles to damages claims cannot be attained by soft law. 7

Although the EC has no general or comprehensive legislative competence on private law, there may be some punctual competences to harmonize private law. Indeed, the EC has already passed a lot of secondary Community law regulating or harmonizing private law matters. 8 Yet, the Community’s pas legislation does not allow one to conclude that any general legislative competence in civil matters exist at present. 9

It can be understood that the European Commission implicitly bases its competence on the decision of the European Court of Justice in the affair C-453/99 Courage and Crehan 10 which has introduced a right of damages for infringements of the EC antitrust rules and confirmed that “in the absence of Community rules governing the matter, it is for the domestic legal system of each Member State to designate the courts and tribunals having jurisdiction and to lay down the detailed procedural rules governing actions for safeguarding rights which individuals derive directly from Community law”. 11

However, this position is arguable, because the reference to domestic courts and the domestic legal system does not mean an acknowledgment of Community competence in this matter. Moreover, it is even arguable whether the ECJ’s focus in Courage and Manfredi 12 (which confirmed Courage) was on effective private enforcement or rather on compensation only. 13 In any case, it is doubtful, that the decisions of the European Court of Justice alone can constitute a valid legal basis for the legislative measures that the White Paper seems to contemplate. In effect, the Community can act in an area only in so far as the competence has been conferred to it by the Member States. But neither in the White Paper nor in the Staff Working Paper, the Commission provides any indication of the relevant Treaty basis. The questions is therefore, whether or not such a provision can be found.

The aim of the White Paper’s proposals is based in competition law. Thus, the primary legal basis for legislation in that area, Article 83 EC, might apply. Article 83 (1) EC entitles the European Community to pass appropriate regulations or directives to give effect to the principles set out in Articles 81 and 82”. Paragraph 2 of this provision gives some examples, in which measures for enforcement of competition law in national courts are not mentioned, though. It is true, that the enumeration in paragraph 2 is non-exhaustive, but it can be noticed that the given examples only concern questions relating to the extent of competition law and that national law is only mentioned in order to contrast it from Community law. 14 The question is thus, whether Article 83 EC can serve as legal basis for harmonization of national law.

Most authors do not acknowledge that Article 83 EC alone can constitute a legal basis for sanctions for infringements other than voidness of cartel agreements. 15 Others, on the other hand, consider that Article 83 (2) EC covers all measures to ensure the efficiency of EC competition law. According to this point of view the introduction of such measures belongs thus to the Community’s implied powers. 16 This point of view seems to be backed by the ECJ judgement Commission v. Council 17 on the framework decision 2003/80/JHA introducing criminal penalties for environmental offences. 18 This judgement even seems to indicate that the establishment of an effective sanctioning mechanism may be a competence implicitly found in all law-making provisions of the EC Treaty. 19 The Court states state “the Community legislature, when the application of effective, proportionate and dissuasive criminal penalties by the competent national authorities is an essential measure [, is not prevented] from taking measures which relate to the criminal law of the Member States which it considers necessary in order to ensure that the rules which it lays down … are fully effective.” 20 Thus, according to the jurisprudence of the European Court of Justice, Article 83 (1) EC may serve as legal basis for the Commission’s proposals.

Even if Article 83 (1) EC was considered inadequate, a sufficiently strong legal basis should be find in a combination of this provision with Article 308 EC. 21

Notwithstanding, other provisions might be taken into consideration, too. Some authors consider Article 65 lit c EC as possible legal basis. 22 This Article had been introduced by the treaty of Amsterdam in order to eliminate obstacles in the field of judicial cooperation in civil matters having cross-border implications. However, the White Paper’s proposals do not concern the judicial cooperation, but only concern questions of pure domestic law. Yet, the Commission seems to understand Article 65 as a legal basis for the harmonization of purely domestic civil law matters, i.e. questions without any cross-border implication, when parties from other Member States might be deterred from litigation. 23 According to that point of view, the proposed measures could thus be based on Article 83 (1) EC in combination with Article 65 lit c EC. Nevertheless, this opinion is not convincing. As the White Paper’s proposals do not concern judicial cooperation at all, Article 83 (1) in combination with Article 65 lit c cannot give sufficient backing.

Other commentators consider Article 95 EC as possible legal basis. 24 This provision contains the general competence to adopt the measures for the approximation of the provisions laid down by law, regulation or administrative action in Member States which have as their object the establishment and functioning of the internal market.” But as a general provision, this Article is only subsidiary to Article 83 (1) EC as a specific legal basis for the harmonization of substantive and procedural rules governing competition law. 25

To sum up, one can say that Article 83 (1) may serve as legal basis for the European Community the implementation of the White Paper’s proposals, at least in combination with article 308 EC.

Finally, it has to be emphasized that, as neither competition law nor the civil law consequences of an infringement of EC competition law fall within the exclusive competence of the Community, any exercise of a potential law making power in these areas must respect the principles of subsidiarity and proportionality which are laid down in Article 5 EC. Whether these principles allow the Community to exercise any competence in the area of private enforcement, is subject to controversy. Some authors consider that the superiority and necessity of Community action is obvious, because the Member States cannot overcome the difficulties which result from the diversity and lack of clarity of relevant national rules. 26 Others, on the other hand, are doubtful as to the superiority of Community action. According to them, because of the principle of subsidiarity a transformation of the Commission’s proposals by a directive would be preferable. 27

 

II. Interference of private enforcement with public enforcement

After the Commission’s Green Paper doubts were raised as to the question whether public and private enforcement can be fostered at the same time. Indeed, the Commission’s intention to strengthen private enforcement might endanger the effectiveness of public enforcement: the threat of follow-on claims might destroy the functioning of leniency programmes, as it discourages cartel members to make use of these programmes. In such programmes, the Commission abstains from prosecuting those firms which, being party to a cartel, inform the Commission of its existence. Firms that co-operate with the Commission in detecting cartels, can obtain reductions to their fines. It can hardly be denied that the more likely competition law offenders have to pay damages, the less they will be inclined to make their breach of competition law known to any public authority. 28 If leniency applicants must fear to expose themselves to civil liability by being the first members of a cartel that potential plaintiffs can establish a case against, this may be a strong disincentive to seeking leniency. 29 The conflict between public and private enforcement is a serious concern, as leniency has become a crucial tool in the fight against cartels and appears now to be the most important source of which cartel authorities can receive information.

Face with this interaction between public and private enforcement, one should bear in mind that it is widely accepted that private enforcement in Europe is intended to play a rather supplementary role to public enforcement, by offering a possibility of compensation for victims and providing for additional deterrence. 30 In effect, public enforcement is more suitable than private enforcement to address certain public interest concerns, such as determining the optimal amount of fines and pursuing the most meritorious claims; 31 and public enforcement, in pursuing the public interest of protecting competition law through administrative or criminal sanctions, is distinct from private enforcement, which pursues the private interest of protecting competitors and consumers through civil sanctions. 32 Therefore, one can consider that public enforcement should remain the dominant element in an optimal enforcement scheme. 33 This can be justified by the fact that private parties are hardly in a position to detect most practices without a great degree of effort, as it is the case with regard to horizontal restraints, i.e. agreements among competitors, to name but one example. 34 Furthermore, private enforcement potentially entails higher costs than public enforcement because of the effort needed to estimate the damages attributable to anti-competitive conduct, but also as private lawsuits often tend to be prohibitively extensive, at least in comparison to costs expended by competition authorities. 35

Nevertheless, there is not necessarily a contradiction between public and private enforcement of EC competition law: Since both share the objective of increasing the respect of EC competition rules, it should be possible to optimize the co-ordination between leniency applications and damages claims. 36 The challenge consists in finding a balance between both.

To counter this risk posed to leniency programmes by damages claims, the Commission proposes to ensure an adequate protection against disclosure in private actions for damages for corporate statements submitted by a leniency applicant. Yet, it is doubtful whether the protection of corporate statements made by applicants for leniency against disclosure in private lawsuits is sufficient to counter the negative effect that competition law offenders are less inclined to make their breach known to any public authority. Therefore, additional measures are called for in order to preserve the incentives given by leniency programs. 37

Another idea put forward by the Commission in order to ensure that leniency programmes stay attractive is to limit the civil liability of the immunity recipient to claims by his direct and indirect contractual partners. However, this discrimination of victims who do not have a contractual relationship with the immunity recipient is not justified. Thus, the limitation seems to be arbitrary.

Furthermore, there might be a violation of the principle of effective judicial protection (compensation of all harmed individuals), i.e. of the principle of full compensation posed by the Court of Justice and the Commission if these victims were deprived of damages. 38 The principle of full compensation, as it also exists in the domestic law of many member states, e.g. Article 1382 of the French civil code, does not leave any room to reward whistleblowers (i.e. a cartelist providing evidence of an infringement of the antitrust laws in return for amnesty from criminal prosecution). Therefore, it has to be ensured that a reduction in damage liability granted to applicants to leniency programmes does not go to the detriment of the victim, but rather to the detriment of the other cartelists, who remain jointly and severally liable for the whole damage. 39 Indeed, a leniency applicant could be exempted from joint and several liability and be granted the right to compensation by his former co-conspirators for damages paid to private plaintiffs. 40 The Commission could thus make the effective compensation of victims or the commitment thereto a precondition for granting immunity or a reduction of fines. 41 This is what the Commission itself proposed in Option 29 of its Green Paper: leniency applicants could benefit from a reduction of the damage claims against it, if it enables the victims to pursue their claims against other infringers (e.g. by providing evidence).

Controversy exists concerning the extent of such a reduction: for some commentators, the leniency applicant should only be privileged by reducing its liability according to its market share. 42 This proposal has to be refused. It is true that this would save the applicant from proceedings against the other cartel members, but an exact calculation of the market share can be difficult and is subject to variation.

For others, on the other hand, the Commission’s proposal does not go far enough. They think, a better solution would be to exclude completely the immunity recipient’s liability for claims by direct and indirect contractual partners. 43 Indeed, this would not dramatically affect the exercise of the right to damages, under condition that the other cartel members remain jointly and severally liable. Notwithstanding, a mere reduction of liability instead of a complete exclusion should be a sufficient incentive to keep leniency programmes attractive.

Exceptions should be made in some extreme situations: insolvency of one ore more of the liable cartel members can constitute a risk. In this case, exclusion of liability should not apply.

Another exception might be made when the immunity recipient was the ringleader in attempt of the cartel to foreclose the market to a certain competitor. In this case, it may be appropriate to allow that competitor, a cartel outsider, to bring a claim against the immunity recipient. 44

Apart from what has already been discussed above, it should be emphasized that any protection accorded to an immunity recipient should ideally not only extend to applicants under the Commission’s leniency programmes, but also to applicants under national programmes (as far as the application of Article 81 EC is concerned). 45 Otherwise, the exclusion of liability of a leniency applicant might lead to an inconsistency in the liability map, because a leniency application might be made to one Member State, but not to an other. This leaves a corporation open to the full liability to administrative fines in this second Member State, yet its liability in relation to damages claims is reduced by the fact of applying for and obtaining leniency in the first Member State. An EU-wide system of leniency treatment could hence avoid this inconsistency. 46

 

III. Conclusion:

Community competence seems not to pose a problem for legislative action in the matter of private enforcement. Though, it would have been desirable if the Commission had specified on which Treaty provision it wants to rely. In any case, the principles of subsidiarity and proportionality may restrain the Commission’s choice as to the institutional act.

Concerning the interplay between private and public enforcement, it has been shown that the White Paper’s proposals are not sufficient to avoid a risk to leniency programmes. Therefore, adaptations are necessary to ensure that public enforcement remains effective. The suggestions presented in this paper may contribute to a balance between public and private enforcement of EC competition law.

* The author is law student at Humboldt University Berlin and University Paris 2 Panthéon-Assas and student assistant at the Chair for Public Law and European Law of Prof. Dr. Christian Calliess at Freie Universität Berlin.


Fußnoten:

  1. White Paper on Damages Actions for Breach of the EC antitrust rules, COM(2008), 165, 2.4.2008.
  2. SEC(2008) 404, 2.4.2008
  3. the so-called ‘Ashurst Study’: Waelbroeck, Slate and Even-Shoshan, Study on the conditions of claims for damages in case of infringement of EC competition rules (Ashurst 2004); this study is available at http://ec.europa.eu/comm/competition/antitrust/actionsdamages/study.html
  4. Green Paper – Damages actions for breach of the EC antitrust rules, COM(2005) 672, 19.12.2005.
  5. The comments received by the Commission are available at:
    http://ec.europa.eu/comm/competition/antitrust/actionsdamages/white_paper_comments.html
  6. E.g. the comment of the Austrian Ministries of Justice, Economy, Labor and Consumer protection:
    http://ec.europa.eu/comm/competition/antitrust/actionsdamages/white_paper_comments/oster_de.pdf
  7. T. Eilmannsberger,  “The Green Paper on damages actions for breach of the EC Anitrust Rules and beyond : Reflections on the utility and feasibility of stimulating private enforcement through legislative action”, Common Market Law Review 2007, p. 431, at p. 438.
  8. For examples see T. Jaeger, “Gemeinschaftskompetenz ‘private enforcement’”, Juristische Blätter 2007, p. 349, at p. 355 et seq.
  9. cf. T. Eilmansberger, cit. op., supra note 7, at p. 440.
  10. Case C-453/99, Courage and Crehan (ECJ 20 September 2001), ECR I-6297.
  11. Paragraph 29 of the decision.
  12. Joined Cases C-295-298/04, Manfredi (ECJ 13 July 2006), ECR I-6619.
  13. F.W. Bulst, “Of Arms and Armour – The European Commission’s White Paper on Damages Actions for Breach of EC Antitrust Law”, Bucerius Law Journal 2008, p. 81, at p. 82.
  14. T. Jaeger, op. cit., supra note 8, at p. 359.
  15. e.g. Jung, Art 83. para 19, in Calliess and Ruffert (eds.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag (2002).
  16. e.g. Pernice, Art 85. para 16, in Grabitz and Hilf (eds.), Das Recht der Europäischen Union’ (1997).
  17. Case C-176/03, Commission v. Council (ECJ 13 September 2005), ECR I-7879.
  18. T. Eilmannsberger, cit. op., supra note 7, at p. 440; T. Jaeger, op. cit., supra note 8, at p. 360.
  19. Ibidem.
  20. Paragraph 48 of the decision.
  21. T. Jaeger, op. cit, supra note 8, at p. 363; Eilmannsberger, op. cit., supra note 7, at p. 441.
  22. See comment from the Austrian Ministries which consider art. 65 as only possible legal basis.
  23. See T. Jaeger, op. cit., supra note 8,, at p. 361-362.
  24. See comment from the Council of Bars and Law Societies of Europe: http://ec.europa.eu/comm/competition/antitrust/actionsdamages/white_paper_comments/ccbe_en.pdf
  25. T. Jaeger, op. cit., supra note 8, at p. 362.
  26. In that sense, see Basedow, ‘Perspektiven des Kartelldeliktsrechts’, ZweR 2006, p. 294, at p. 298.
  27. T. Jaeger, op. cit., supra note 8, p. 369.
  28. see editorial comments in Common Market Law Review, June 2008.
  29. F.W. Bulst, ‘Private Enforcement of EC Antitrust Law’, EBOR (2006), p. 725 at p. 730.
  30. Ibidem.
  31. W. Wils, “Should Private Enforcement be Encouraged in Europe?” World Competition 2003, p. 473, 480-486.
  32. see P. Nebbia, “Damages actions for the infringement of EC competition law: compensation or deterrence?” European Law Review 2008, p. 23, at p. 25.
  33. C. Diemer: “The Green Paper on Damages Actions for Breach of the EC Antitrust Rules”, European Competition Law Review 2006, p. 309, at p. 312.
  34. Ibidem.
  35. Ibid, at p. 313.
  36. E. De Smijter, “The Commision Green Paper On Damages Actions for Breach of the EC Antitrust Rules”, p.6, www.iue.it/RSCAS/research/Competition/2006(pdf)/200610-COMPed-Woods.pdf
  37. see editorial comments in Common Market Law Review, June 2008.
  38. Ibidem.
  39. In that sense: E. De Smijter, op. cit., supra note 36.
  40. F.W. Bulst, op. cit., supra note 29, at p. 730.
  41. That is suggested in the comment from CDC Cartel Damage Claims:

    http://ec.europa.eu/comm/competition/antitrust/actionsdamages/white_paper_comments/cdc_en.pdf

  42. see comment from students of the Universities of Basel and Freiburg:

    http://ec.europa.eu/comm/competition/antitrust/actionsdamages/white_paper_comments/studi_de.pdf

  43. see comment from the Institute for Studies in Competition Law and Policy:

    http://ec.europa.eu/comm/competition/antitrust/actionsdamages/white_paper_comments/imedipa_en.pdf

  44. F.W. Bulst, op. cit., supra note 13, at p. 88.
  45. Ibidem.
  46. See comment from the Law Society of England and Wales: http://ec.europa.eu/comm/competition/antitrust/actionsdamages/white_paper_comments/lawsoc_en.pdf

Strafrecht und Kultur im Konflikt

$
0
0

Die neuen Straftatbestände der Genitalverstümmelung und der Zwangsheirat

Antonia Eger*, Universität Freiburg

(Diesen Artikel als PDF herunterladen)

 

Mit dem Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat vom 1.7.2011 trat auch der neue Straftatbestand Zwangsheirat (§ 237 StGB) in Kraft. Das 47. Strafrechtsänderungsgesetz vom 24.9.2013 stellte mit dem Straftatbestand § 226a StGB erstmals ausdrücklich die Verstümmelung weiblicher Genitalien unter Strafe. Die Gesetzesänderungen sorgten für rechtspolitischen Diskussionsstoff, da Zwangsheirat bzw. Genitalverstümmelung schon bisher als Nötigung bzw. als Körperverletzung strafbar waren. Der folgende Beitrag fragt nach der Notwendigkeit einer eigenständigen Normierung beider Delikte und setzt sich mit Problemen im Zusammenhang beider Vorschriften auseinander.                                                                                                                                                              

 

A. Einleitung

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Menschen aus allen Teilen der Welt, Menschen mit unterschiedlichen Moralvorstellungen, religiösen und sittlichen Überzeugungen, rechtlichen Ansichten, gesellschaftlichen und sozialen Traditionen treffen aufeinander, leben und arbeiten miteinander. Die Lebenswirklichkeit in Deutschland ist in hohem Maße durch kulturelle Pluralität gekennzeichnet.

Kultur wird im Folgenden als „eine kollektive Lebensweise“ verstanden, „die (1) subjektiv auf bestimmten, von Angehörigen anderer Großgruppen nicht oder jedenfalls nicht vollständig geteilten Einstellungen und Werten beruht und sich (2) in bestimmten Verhaltensweisen objektiv zeigt“ 1.

Kultur und Recht stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander 2. Die Kultur beeinflusst das Recht und wird umgekehrt auch von diesem beeinflusst. Die zunehmende kulturelle Pluralität der Gesellschaft stellt daher auch das Recht vor neue Herausforderungen 3. In dieser Arbeit soll an den Beispielen der Genitalverstümmelung und der Zwangsheirat nach den Herausforderungen für das Strafrecht gefragt werden.

 

B. Weibliche Genitalverstümmelung

1. Begriffsbestimmung und Erscheinungsformen

Die weibliche Genitalverstümmelung ist die teilweise oder vollständige Entfernung bzw. Beschädigung der äußeren weiblichen Geschlechtsorgane 4. Im internationalen Sprachgebrauch wird sie als „Female Genital Mutilation (FGM)“ oder „Female Genital Cutting (FGC)“ bezeichnet 5.Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterscheidet vier verschiedenen Erscheinungsformen 6.

  • Die teilweise oder vollständige Entfernung der Klitoris und/oder der Vorhaut (Klitorisdektomie).
  • Die teilweise oder komplette Entfernung der Klitoris und der inneren Schamlippen mit oder ohne Beschneidung der äußeren Schamlippen (Exzision).
  • Die Verengung der Vaginalöffnung  durch  einen Nahtverschluss nach der teilweisen oder kompletten Entfernung der Schamlippen und der Klitoris (Infibulation).
  • Weitere Veränderungen an den weiblichen Genitalien, z.B. Einschnitte, Ätzungen; Ausbrennen oder Einrisse der Klitoris (Piercing).

 

II. Zahlen und Fakten

Die Genitalverstümmelung ist ein Eingriff, der vor allem an jungen Frauen und Mädchen vorgenommen wird. Weltweit sind etwa 130 – 150 Millionen von ihnen betroffen, wobei diese Praxis insbesondere in Afrika und einzelnen Ländern Asiens verbreitet ist 7. In einigen Ländern Afrikas sind mehr als 90 Prozent der weiblichen Bevölkerung beschnitten. Für das Jahr 2013 wird in Deutschland die Zahl der bereits betroffenen Frauen auf knapp 25 000 und der gefährdeten Mädchen auf 2 500 geschätzt 8.

 

III. Folgen der Genitalverstümmelung

Die körperlichen und seelischen Konsequenzen einer Genitalverstümmelung sind immens. Neben akuten Komplikationen wie z.B. Blutungen, Infektionen oder einem septischen Schock, können auf lange Sicht hin der Verlust des sexuellen Lustempfindens, Probleme beim Wasserlassen oder Gefährdungen bei der Entbindung eintreten 9. Zudem besteht die Gefahr erheblicher psychischer Folgen. Nicht selten begleitet das mit dem Eingriff hervorgerufene Trauma die Frauen und Mädchen ihr Leben lang: Sie können an Angstzuständen und Depressionen leiden 10.

 

IV. Motive für die Genitalverstümmelung

Angesichts der erheblichen gesundheitlichen Folgen ist die Frage zu stellen, warum die Frauen und Mädchen diesen Leiden ausgesetzt werden. Die Begründungen sind vielfältig. Dabei spielt die Tradition die wichtigste Rolle: FGM wird häufig als Initiationsritus begangen. Nur beschnittene Mädchen werden als vollwertiges Gesellschaftsmitglied anerkannt und haben bessere Heiratschancen und Zukunftsperspektiven 11. Außerdem soll die sexuelle Aktivität der Frau kontrolliert, ihre Jungfräulichkeit und eheliche Treue gewährleistet und dadurch ein die Familienehre schädigendes Verhalten verhindert werden. Daneben wird versucht, die Praxis der Genitalverstümmelung durch medizinische und ästhetische Argumente zu rechtfertigen: Nicht beschnittene Frauen seien unhygienisch und unattraktiv; außerdem könne ihre Fruchtbarkeit gesteigert und die Gesundheit des Geschlechtspartners sowie daraus entstandener Kinder verbessert werden 12.

 

V. Rechtliche Aspekte der Genitalverstümmelung

1. Gesetzgebungsgeschichte

Die Vorschrift des § 226a StGB, mit der die Verstümmelung weiblicher Genitalien eigens unter Strafe gestellt wird, ist im September 2013 in Kraft getreten 13. Dem ging jedoch eine langwierige, international angestoßene Diskussion voraus. Die UN-Weltfrauenkonferenz in Peking (1995) bezeichnete die Genitalverstümmelung explizit als Menschenrechtsverletzung und forderte die Regierungen auf, diese durch das Strafrecht zu ahnden 14. Daneben hat auch das Europäische Parlament die Mitgliedsstaaten mehrfach dazu aufgerufen, spezifische Rechtsnormen zum Schutz gegen die Genitalverstümmelung zu erlassen 15. Auch in der deutschen Parteienlandschaft herrschte Einstimmigkeit, aber nur hinsichtlich der Frage des „Ob“ einer Bestrafung. Das „Wie“, also die Frage nach der Ausgestaltung eines eigenen Straftatbestandes blieb bis zur endgültigen Regelung umstritten, was die vielen Gesetzentwürfe verdeutlichen. So haben bereits in der 16. Wahlperiode verschiedene Fraktionen eigene Gesetzesvorschläge zur Pönalisierung der Genitalverstümmelung präsentiert; auch ein fraktionsübergreifender Antrag wurde gestellt; diese Anträge wurden jedoch allesamt nicht in die Tat umgesetzt 16. Zum Ende der 17. Wahlperiode gab es neuerliche Vorstöße durch die einzelnen Fraktionen 17 bis schließlich eine Einigung erzielt und der Gesetzentwurf der damaligen Bundesregierung im Rahmen des 47. Strafrechtsänderungsgesetzes verabschiedet wurde 18.

 

2. Regelungsgehalt des § 226a StGB

a) Wortlaut der Norm

Nach dem neuen § 226a StGB soll mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft werden, „wer die äußeren Genitalien einer weiblichen Person verstümmelt“ (Absatz 1). In minder schweren Fällen ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen (Absatz 2). Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf einige wesentliche Aspekte im Zusammenhang mit der Vorschrift.

b) Geschütztes Rechtsgut

Schon aus der Einordnung der Strafvorschrift in den 17. Abschnitt (Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit) geht hervor, dass durch § 226a StGB die körperliche Unversehrtheit und Gesundheit der betroffenen Mädchen und Frauen geschützt werden sollen 19. Ferner ist das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung in den Kreis der durch § 226a StGB geschützten Rechtsgüter einzubeziehen 20. Dafür sprechen zum einen das Motiv der Unterdrückung der weiblichen Sexualität und zum anderen der (mögliche) Verlust des sexuellen Empfindens.

c) Rechtfertigung

Als möglicher Rechtfertigungsgrund kommt allenfalls die Einwilligung in Betracht. Dabei soll die Einwilligung der Eltern in die Vornahme der Genitalverstümmelung an nicht einwilligungsfähigen Mädchen nach einhelliger Meinung nicht wirksam sein 21. Angesichts der gravierenden Beeinträchtigungen körperlicher und seelischer Art vermag das elterliche Erziehungsrecht keine rechtfertigende Wirkung zu erzielen 22. Etwas anderes soll für die Einwilligung in Genitalverletzungen gelten, die nicht auf eine rituelle Motivation zurückzuführen sind 23.

d) Anwendbarkeit deutschen Strafrechts

Das deutsche Strafrecht gilt für Taten, die im Inland begangen worden sind (§ 3 StGB in Verbindung mit § 9  StGB. Wiederholte Vorschläge von Seiten der damaligen Oppositionsfraktionen, den Straftatbestand in den Katalog des § 5 StGB aufzunehmen und damit dem Weltrechtsprinzip zu unterstellen 24 wurden regelmäßig abgelehnt 25. Diese Ablehnungen können aber als problematisch angesehen werden. Der Eingriff der weiblichen Genitalverstümmelung wird nämlich häufig im Ausland vorgenommen (Ferienbeschneidung), weil diese Praktik mit den in der deutschen Gesellschaft vorherrschenden Moral- und Sozialvorstellungen nicht vereinbar ist 26. Es gibt in der Literatur auch vereinzelte Stimmen, die eine Aufnahme von § 226a StGB in den Kanon des § 6 StGB befürworten. Begründet werden diese Vorschläge mit der Annahme, dass die Genitalverstümmelung auf internationaler bzw. völkerrechtlicher Ebene als Menschenrechtsverletzung benannt wird (z.B. in Art. 23 III UN-Kinderrechtskonvention und Art. 4 der EMRK) 27. Da allerdings keiner der genannten Vorschläge in die Tat um-gesetzt wurde, ist eine Bestrafung von Taten mit Auslandsbezug derzeit nur entsprechend § 7 StGB möglich, d.h. Täter oder Opfer müssten die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Auch müsste die Tat nach dem am Tatort geltenden Recht unter Strafe gestellt sein oder keiner Strafgewalt unterliegen 28. Dies wird jedoch häufig nicht der Fall sein.

Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass eine Verfolgung von im Ausland begangenen Straftaten nur in unbefriedigender Weise erfolgt und § 226a StGB gerade nicht die mit Genitalverstümmelung typischer-weise im Zusammenhang stehenden Verhaltensweisen unter Strafe stellt.

e) Verjährung

Im Zusammenhang mit der Verjährung gibt es zwei Punkte zu beachten: Zum einen verjähren Straftaten nach § 226a StGB gem. § 78 III Nr. 2 StGB erst nach 20 Jahren, zum anderen beginnt die Verjährungsfrist gem. § 78b I Nr. 1 StGB erst mit dem 21. Lebensjahr zu laufen. Diese beiden Normen sind von besonderer Bedeutung, da eine Verfolgung von Straftaten nach § 226a StGB maßgeblich vom Anzeigeverhalten und der Auskunftsbereitschaft der Opfer abhängt. Viele minderjährige Mädchen werden vor einer Anzeigeerstattung zurückschrecken, weil sie Repressionen von Seiten der Familie fürchten. In den meisten Fällen wird die Durchführung dieses Eingriffs nämlich von den Eltern selbst und anderen Familienangehörigen veranlasst oder zumindest ausdrücklich geduldet oder befürwortet 29.

 

3. Erfordernis eines eigenen Straftatbestandes?

Die staatliche Schutzpflicht im Hinblick auf die Rechtsgüter des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit gebietet ausdrücklich eine strafrechtliche Ahndung der Genitalverstümmelung 30. Mit den §§ 223 ff. StGB hatte das geltende Recht allerdings schon vor Einführung des § 226a StGB Sanktionsmöglichkeiten bereitgestellt. Es stellt sich also die Frage, ob es erforderlich war, die Genitalverstümmelung in einer eigenen Vorschrift unter Strafe zu stellen.

a) Geltende Rechtslage vor Einführung des § 226a StGB

Unstreitig war auch schon vor Inkrafttreten des § 226a StGB, dass genitalverstümmelnde Eingriffe den Tatbestand der (einfachen) Körperverletzung gem. § 223 I StGB erfüllen. Darüber hinaus wird regelmäßig auch eine Erfüllung der qualifizierenden Merkmale der § 224 I Nr. 2, 4 und 5 StGB gegeben sein 31. Eine Strafbarkeit wegen Misshandlung Schutzbefohlener (§ 225 StGB) wird nur angenommen werden können, wenn die Eltern die Verstümmelung ihrer Tochter selbst vornehmen. Das wird jedoch nur selten der Fall sein, denn in aller Regel erfolgt der Eingriff durch einen Außenstehenden 32. Zu denken ist ferner an eine Strafbarkeit nach § 226 StGB, die freilich nur im Einzelfall gegeben sein wird. So ist der Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit i. S. d. Abs. 1 Nr. 1 keineswegs als zwingende Folge zu betrachten, ebenso werden keine Körperglieder i. S. d. Abs. 1 Nr. 2 verletzt, da die weiblichen Genitalien Organe sind und auch eine erhebliche Entstellung i. S. d. Abs. 1 Nr. 3 wird mangels äußerer Erkennbarkeit üblicherweise nicht gegeben sein 33. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass die Genitalverstümmelung außerhalb von § 226a StGB regelmäßig nur als Vergehen erfasst würde.

b) Besteht ein Bedürfnis nach einem eigenen Straftatbestand?

Die obige Darstellung der vor der Einführung des § 226a StGB bestehenden Rechtslage zeigt, dass – je nach Einzelfall – durchaus Strafbarkeitslücken bestanden, die sich keineswegs gänzlich mit dem fragmentarischen Charakter des Strafrechts und dem Ultima-ratio-Gedanken rechtfertigen lassen 34. Von der Intensität der Beeinträchtigungen her kann die Genitalverstümmelung (durchaus) mit den in § 226 I StGB genannten schweren Folgen gleichgestellt werden, sodass eine Einstufung als Vergehen als zu niedrig einzuordnen wäre. Das bis zur Reform geltende Recht hat dem Unrechtsgehalt dieser Taten also nicht ausreichend Rechnung getragen. Außerdem gab eine Reform die Möglichkeit, die oben aufgezeigten Unsicherheiten in der Bestrafung durch eine eindeutige Regelung aus dem Weg zu räumen 35.

Die Gesetzesbegründung macht zudem deutlich, dass von der Strafnorm eine Signalwirkung ausgehen soll: Sie will das Bewusstsein dafür schärfen, dass die Genitalverstümmelung schweres Unrecht ist und nicht toleriert werden kann. Außerdem soll sie die Rechtssicherheit erhöhen 36. Ferner sehen Befürworter eines eigenen Straftatbestandes den Vorteil darin, dass er viel eher (im Sinne der Generalprävention) das Umfeld der betroffenen Mädchen und Frauen sowie die Öffentlichkeit für die Gefahr zu sensibilisieren vermag und (im Sinne der negativen Spezialprävention) besser dazu geeignet ist, potenziellen Tätern die zu erwartende Strafe zu verdeutlichen 37. Eine deutliche Bezeichnung der Praktik als Verbrechen könnte zudem Opfer zur Anzeigen-erstattung motivieren und damit zu einer effektiveren Strafverfolgung führen 38. Schließlich wird § 226a StGB eine positive Wirkung zugesprochen, weil sie vorhandene Aufklärungsarbeit unterstützen und rechtlich absichern könnte 39.

Kritiker eines eigenen Straftatbestandes werfen dem Gesetzgeber vor, § 226a StGB sei symbolisches Strafrecht, weil die für Genitalverstümmelung typischen Auslandstaten nicht hinreichend erfasst werden 40. Außerdem spreche dagegen, dass es auch ohne Spezialnorm bislang zu keinem Strafverfahren – und damit erst recht zu keiner Verurteilung – gekommen ist und bezweifelt werden müsse, dass sich an dieser Situation ernsthaft etwas ändere 41. Die defizitäre Strafverfolgung stelle die Signalwirkung in Frage, denn die betroffenen Mädchen würden es angesichts der familiären Verstrickungen oft nicht wagen, die Tat zur Anzeige zu stellen 42. Verbots-gesetze alleine könnten Traditionen nicht ändern, vielmehr bestünde die Gefahr weiterer Kriminalisierung der durch die Vorschrift nachteilig Betroffenen 43. Jene würden meist überhaupt keine Kenntnis von der Norm haben oder sich zumindest nicht davon angesprochen fühlen, weil sie den Haltungen traditioneller Autoritäten größere Bedeutung schenkten. 44 In Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei der Genitalverstümmelung um eine tief verwurzelte Tradition handelt, muss hiernach in Frage gestellt werden, ob die Norm die intendierte generalpräventive Wirkung (Stärkung des Rechtsbewusstseins) überhaupt entfalten kann.

c) Zwischenergebnis

Eine Bekämpfung der Genitalverstümmelung durch § 226 a StGB ist nur schwer vorstellbar. Insbesondere sind präventive Wirkungen des § 226 a StGB eher als gering einzuschätzen. Dennoch sollte man ihn nicht vorschnell verwerfen, denn von gesetzlichen Verboten gehen durchaus auch Signalwirkungen aus. Insofern könnte der § 226 a StGB flankierend die freilich wichtigeren Aufklärungs- und Beratungsangebote begleiten 45. Im Zusammenspiel mit außerstrafrechtlichen Präventionsangeboten kann er Opfer ermuntern, sich aus der Bevormundung zu befreien.

 

C. Zwangsheirat

I. Begriffsbestimmung und Erscheinungsformen der Zwangsheirat

Eine Zwangsheirat liegt vor, wenn mindestens einer der Eheschließenden durch eine Drucksituation zur Ehe gezwungen wird und mit seiner Weigerung kein Gehör findet oder es nicht wagt, sich der Eheschließung zu widersetzen 46. Die eingesetzten Druckmittel reichen von emotionalem oder psychischem Druck, physischer oder sexueller Gewalt, über Einsperren, Entführen sowie Sanktionsandrohungen bis hin zu Ehrenmorden 47. Vier Erscheinungsformen lassen sich unterscheiden:

  • Bereits in Deutschland lebende Personen mit Migrationshintergrund werden verheiratet.
  • Als „Importehegatten“ werden junge Mädchen und Frauen bezeichnet, die aus dem Herkunftsland der bereits in Deutschland lebenden Migranten geholt werden, um sie mit ihnen zu verheiraten.
  • Zu nennen ist ferner die „Heiratsverschleppung“ bzw. „Ferienverheiratung“. Dabei werden in Deutschland lebende junge Frauen oder Mädchen bei einem vorübergehenden Aufenthalt im Heimatland ihrer Eltern verheiratet, ohne vorher darüber informiert worden zu sein.
  • Bei der sog. „Verheiratung für ein Einwanderungsticket“ werden in Deutschland lebende Migrantinnen mit einem sicheren Aufenthaltsstatus einem Mann aus ihrem Herkunftsland versprochen, um diesem im Wege des Ehegattennachzugs die legale Einwanderung zu ermöglichen 48.

II. Zahlen und Fakten

Die Opfer von Zwangsheiraten sind überwiegende minderjährige Mädchen und junge Frauen, vereinzelt aber auch männliche Jugendliche oder junge Männer. Das Phänomen der Zwangsheirat ist keineswegs nur auf den Islam zugeschnitten, sondern kommt auch in afrikanischen Staaten, im buddhistisch-hinduistischen Raum und sogar im christlich geprägten Europa – es sind vor allem Fälle aus Griechenland und Süditalien bekannt – vor 49. Über das genaue Ausmaß in Deutschland bestehen keine gesicherten Daten. Eine Befragung von 830 Beratungseinrichtungen im Bundesgebiet hat ergeben, dass im Jahr 2008 knapp 3500 Personen betroffen waren. 50 Die Dunkelziffer hingegen wird sehr viel höher liegen. 51 Sicher ist, dass hierzulande Personen mit türkischem Hintergrund den größten Anteil an Betroffenen ausmachen 52.

III. Motive und Hintergründe

Die Zwangsheirat beruht auf einem patriarchalisch-traditionellen Familienverständnis, das den Töchtern und Söhnen kein Recht auf Selbstbestimmung zubilligt 53. Darüber hinaus wird bezweckt, die Familienehre zu wahren, sich an der westlichen Lebensweise orientierende Töchter und Söhne zu „disziplinieren“, dem Ehegatten einen Aufenthalt in Deutschland zu ermöglichen und schließlich von eventuellen finanziellen Vorteilen in Gestalt des Brautpreises zu profitieren 54.

IV. Rechtliche Aspekte der Zwangsheirat

1.Gesetzgebungsgeschichte

Am 1.7.2011 ist das Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vorschriften und mit ihm der die Zwangsheirat unter Strafe stellende § 237 StGB in Kraft getreten 55. Vorausgegangen waren – ähnlich wie bei der Genitalverstümmelung als Folge einer internationalen Diskussion  – verschiedene Vorschläge und Entwürfe, der Zwangsheirat mit einer eigenen Strafnorm zu begegnen.  Die Zwangsheirat wird in mehreren internationalen Dokumenten (z.B. Art. 12 EMRK, Art. 23.3 UN-Zivilpakt) ausdrücklich als Menschenrechtsverletzung bezeichnet 56. Außerdem hat die EU im Zeitraum zwischen November 2002 und Dezember 2005 elf Richtlinien erlassen mit dem Ziel, Zwangsehen zu verhindern 57. Mit dem 37. StrÄndG vom 11.2.2005 wurde die Zwangsheirat in den Regelbeispielkatalog für den besonders schweren Fall der Nötigung in § 240 IV 2 Nr. 1 Alt. 2 StGB aufgenommen 58. Dennoch wurde weiter über die Erforderlichkeit eines eigenen Straftatbestandes diskutiert. Den Schlusspunkt unter die langjährigen Debatten setzte schließlich die Gesetzesinitiative der damaligen schwarz-gelben Bundesregierung, den der Bundestag in überraschend schnellem Tempo am 17.3.2011 verabschiedet und damit in § 237 StGB einen eigenen Straftatbestand zur Zwangsheirat geschaffen hat 59.

2. Regelungsgehalt des § 237 StGB

a) Wortlaut der Norm

Nach § 237 StGB ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen, wer einen Menschen zur Eingehung einer Ehe nötigt (Absatz 1). Damit wird nichts anderes beschrieben als die aus § 240 StGB bekannte Nötigung, freilich im Taterfolg beschränkt auf die Eheschließung. Dementsprechend findet sich in Satz 2 auch die Verwerflichkeitsklausel i. S. d. § 240 II StGB. Mit Absatz 2 wurde die Strafbarkeit ausgeweitet. Danach ist auf dieselbe Strafe wie bei Absatz 1 zu erkennen, wenn zur Begehung einer Tat nach Absatz 1 Nötigungsmittel oder List angewandt werden, um den Menschen in ein Gebiet außerhalb des räumlichen Geltungsbereiches dieses Gesetzes zu verbringen, ihn zu veranlassen, sich dorthin zu begeben, oder davon abzuhalten, von dort zurückzukehren. Im Folgenden soll auf ausgewählte Bereiche eingegangen werden.

b) Geschütztes Rechtsgut

Geschützt wird durch § 237 StGB das Rechtsgut der Eheentschließungsfreiheit (Recht, die Ehe mit einer selbst gewählten Person einzugehen 60) als ein spezieller Unterfall der freien Willensentschließung und -betätigung 61. Ferner wird angenommen, dass die Menschenwürde als eigenes Rechtsgut geschützt wird, weil mit Einführung des § 237 StGB eine Strafzumessungsregel zu einem eigenen Straftatbestand aufgewertet und schon in der früheren Einordnung die gesteigerte Intensität des Freiheitseingriffs zum Ausdruck gebracht wurde 62. Allenfalls mittelbar geschützt wird das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung, das häufig im Rahmen von Zwangsehen verletzt wird 63. Häufiger verbreitet ist gleichwohl die Ansicht, dass es gar nicht geschützt wird 64.

c) Objektiver Tatbestand des Absatz 1.: Nötigung zur Eingehung der Ehe

Für die Auslegung der in § 237 I StGB genannten Tatmittel kann weitestgehend auf die Grundsätze des § 240 StGB zurückgegriffen werden 65. Für das Nötigungsmittel der Gewalt ist jedoch festzustellen, dass nur vis compulsiva in Betracht kommt, weil vis absoluta dem Taterfolg der Eheschließung entgegenstehen würde 66. Als Drohung werden in jedem Fall Verhaltensweisen erfasst, die typischerweise im Zusammenhang mit der Zwangsheirat auftauchen wie der Ausschluss aus dem Familienverbund über andere erniedrigende und kontrollierende Handlungen bis hin zur Androhung eines Ehrenmordes 67. Schwieriger zu beurteilen ist der Einsatz subtiler Druckmittel, zu denen die Fälle der suggestiven Überredung, der wiederholten Konfrontation mit dem Heiratsangebot und der Aufbau moralischen Drucks (Androhung des Ehrverlustes bei Ablehnung) gehören 68. In diesen Fällen wird mangels Behauptung einer Einflussnahme (moralischer Druck) oder Vorliegens eines empfindlichen Übels (suggestive Überredungsversuche, Heiratsangebote) schon keine tatbestandsmäßige Drohung gegeben sein 69. Ebenfalls nicht erfasst wird ein vom Familienpatriarchen ausgesprochenes Machtwort 70. Hier wird sich das Opfer aufgrund autoritärer Erziehung und oft auch praktizierter Gewalt nicht trauen, sich dem Willen des Familienoberhaupts zu widersetzen 71. Diese Aspekte weisen auf die Grenzen der strafrechtlichen Sanktionierung der Zwangsheirat hin.

d) Der Ehebegriff des Absatz 1

Vollendet ist das Delikt mit dem Eingehen der Ehe 72. Mit Blick auf den Willen des Gesetzgebers, wonach der Zweck der Vorschrift in der Verhinderung einer ungewollten rechtlichen und persönlichen Verbindung liegt 73, und das geschützte Rechtsgut der verfassungsrechtlich gewährleistete Eheentschließungsfreiheit 74 gilt, liegt das Erfordernis einer rechtswirksamen Ehe nahe. 75 Die gesetzgeberische Entscheidung, rein religiöse oder kulturelle Eheschließungen aus dem Schutzbereich herausfallen zu lassen, ist kritisch zu betrachten. Mit Blick auf die ratio legis der Vorschrift ist festzuhalten, dass auch solche Ehen erhebliche Zwangswirkungen auslösen, denn sie finden bei den Betroffenen meist eine ebenso große faktische Akzeptanz 76. Überträgt man diese Ansicht auf den Tatbestand, so müsste die konkrete Eheschließung unter § 237 StGB fallen, wenn sie nach den Regeln des jeweiligen Kulturkreises als wirksam anzusehen ist 77. Hiergegen wird jedoch – zu Recht – eingewandt, dass eine Einbeziehung rein religiöser Ehen den Anwendungsbereich zu weit und damit – auch im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 II GG – in bedenklicher Weise ausdehnen würde 78.

e) Verschleppung zur Zwangsheirat gemäß Absatz 2

§ 237 II StGB dehnt die Strafbarkeit dahingehend aus, dass auch sog. Ferienverheiratungen bzw. Heiratsverschleppungen vom Tatbestand erfasst sind. Damit werden insb. Fallgestaltungen erfasst, in denen das Opfer der tatsächliche und rechtliche Schutz, der mit seinem Aufenthalt im Inland verbunden ist, durch Einwirkung entzogen wird 79. Hinsichtlich der Tatmittel Gewalt und Drohung mit einem empfindlichen Übel ergeben sich keine Besonderheiten. List i. S. d. Vorschrift ist jedes Verhalten, mit dem der Täter darauf abzielt, unter geflissentlichem und geschicktem Verbergen der wahren Absicht oder der zu deren Realisierung dienenden Mittel, seine Ziele durchzusetzen 80. Bezüglich der Tathandlungen gilt Folgendes: Das Verbringen setzt die Erlangung physischer Herrschaft voraus, während für das Veranlassen bereits jede psychische Beeinflussung ausreichend ist. Bei der Tatbestandsalternative des Abhaltens können sowohl physische als auch psychische Einwirkungen genügen, sofern das Opfer dadurch daran gehindert wird, aus dem fremden Gebiet zurückzukehren 81. Schließlich muss der Täter zur Begehung einer Tat nach Absatz 1 gehandelt haben, wofür nach Wortlaut („zur Begehung“) und gesetzgeberischen Willen Absicht erforderlich ist 82.

f) Verwerflichkeitsklausel des § 237 I 2 StGB

Des Weiteren enthält § 237 I 2 StGB eine – im Wortlaut mit § 240 II StGB identische – Verwerflichkeitsklausel. Verwerflichkeit meint dabei den erhöhten Grad sozialethischer Missbilligung des für das Ziel der Zwangsehe angewendeten Nötigungsmittels 83. Sie bestimmt sich nach einem einheitlichen Maßstab, der den im Inland vorherrschenden Wertvorstellungen zu entnehmen ist, sodass die Zwangsheirat billigende kulturelle Wert-vorstellungen die Verwerflichkeit nicht ausschließen können 84. Die Verwerflichkeitsklausel soll Fälle aus-schließen, bei denen eine Strafandrohung unangemessen wäre wie z.B. bei der Androhung der Aufhebung der Lebensgemeinschaft im Falle einer Nichtheirat 85. Mit Blick auf sozio-ökonomischen Motive, die der Zwangsheirat zugrunde liegen, wonach der Ehegatte bloß Mittel zum Zweck ist und in Fällen der Gewalt wird die Verwerflichkeit aber in aller Regel unproblematisch zu bejahen sein 86.

3. Erfordernis eines eigenen Straftatbestandes?

a) Diskussionsstand

Mit dem Regelbeispiel des § 240 IV Nr. 1 StGB bestand bereits vor Einführung des § 237 StGB die Möglichkeit, strafrechtlich gegen die Zwangsheirat vorzugehen. Es ist also die Frage zu stellen, ob es wirklich notwendig war, die Zwangsheirat in einer eigenen Vorschrift unter Strafe zu stellen.

Der Gesetzgeber hat dem Straftatbestand vor allem eine symbolische Wirkung zugesprochen. So sollte zum einen das Bewusstsein der Öffentlichkeit für das mit der abgenötigten Eheschließung einhergehenden Unrecht geschärft und zum anderen eindeutig klargestellt werden, dass Zwangsheirat gerade keine tolerable Tradition anderer Kulturen darstellt 87. Des Weiteren bezweckte der Gesetzgeber damit das eindeutige Signal zu setzen, dass der Menschenrechtsverletzung mit dem schärfsten ihm zur Verfügung stehenden Mittel unterbinden will 88. Dieser Begründung wird entgegengehalten, dass dieses Schwert für den vorliegenden Fall zu scharf sei. Es ergebe sich schon aus dem Subsidiaritätsgedanken, dass der Gesetzgeber zuerst ein ausgearbeitetes Programm sozial-politischer Vorbeugungsmaßnahmen vorzulegen habe 89. Ohnehin wird vielfach Aufklärungskampagnen und sonstigen Hilfs- und Informationsangeboten eine größere Erfolgsgarantie beigemessen 90.

Weiter wird kritisiert, dass schon die Wahl der Überschrift des neuen Straftatbestandes aus systematischen Gründen nicht passend sei. Es fehle der Zusammenhang zu den anderen Normüberschriften im 18. Abschnitt des StGB, die im Gegensatz zu § 237 StGB allesamt die freiheitsbeschränkende Handlung und nicht den Erfolg benennen. Außerdem rufe die Verwendung eines öffentlichkeitswirksamen, aber eher nichtjuristischen Begriffes die Gefahr hervor, ein missfälliges Bild bestimmter Bevölkerungsgruppen in der Gesellschaft vorzuzeichnen 91.

§ 237 StGB dürfe jedoch nicht auf reine Symbolik beschränkt werden. Eine Daseinsberechtigung für den eigenen Straftatbestand ergebe sich aus dem Regelungsgehalt des § 237 II StGB 92. Dieser weitet die Strafbarkeit auch auf die häufig vorkommenden Ferienverheiratungen aus 93. Angesichts der Relevanz dieser Erscheinungs-form in der Praxis erscheint die Aufnahme in den Tatbestand auch gerechtfertigt.

Für eine eigenständige Normierung spreche zudem, dass die vorherige Rechtslage unbefriedigend gewesen sei. Insbesondere ist an der Aufnahme der Zwangsheirat in den Regelbeispielkatalog des § 240 IV StGB kritisiert worden, dass der Auswahl der dort genannten Verhaltensweisen generell der Makel einer gewissen Beliebigkeit anhafte und diese durch die Lebenserfahrung auch nicht unbedingt vorgeschrieben schien 94. Zumal das Regelbeispiel wohl kaum als Verbot wahrgenommen werde 95.

Ferner könnte sich die Legitimation eines eigenen Straftatbestandes auch aus dem Kriterium der Strafwürdigkeit ergeben. Der hohe Stellenwert des Rechtsguts der Eheentschließungsfreiheit und die über das Normalmaß einer Nötigung hinausgehende psychische Beeinträchtigung rechtfertigen eine herausgehobene Bestrafung 96.

Von Kritikern wird insbesondere in Frage gestellt, ob die eigene Strafvorschrift die beabsichtigte general- und spezialpräventive Wirkung wirklich zu entfalten vermag 97. Diejenigen, die es betrifft, gehören in aller Regel Bevölkerungsgruppen an, die durch ein gefestigtes patriarchalisches Ehe- und Familienverständnis geprägt sind. Der typische Täter werde über eine etwaige Strafbarkeit seinerseits nicht weiter nachdenken und bei Kenntnis der Norm sich nicht von einer Strafandrohung abschrecken lassen 98. Die erhoffte Signalwirkung drohe also ins Leere zu laufen, wofür auch spreche, dass das Anzeigeverhalten schon vorher gering war und eine Veränderung dieser Situation nicht wirklich zu erwarten sei 99. Viele der betroffenen Mädchen und Frauen werden oftmals – nicht den Mut aufbringen, sich an Strafverfolgungsbehörden zu wenden aus Angst vor den teilweise weit-reichenden Konsequenzen seitens der Familie 100. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die praktische Relevanz der Strafvorschrift in Grenzen halten wird, könnte also gegeben sein.

Für eine eigene Normierung spricht zudem, dass dadurch den Betroffenen ein noch stärkeres normatives Argument an die Hand gegeben wird, mit dem sie sich gegen die archaische Tradition und patriarchalische Strukturen wehren könnten (wenn sie wollten) 101. Aus dieser Sicht macht es einen Unterschied, ob die Zwangsheirat lediglich als Teil einer anderen Norm unter Strafe gestellt ist oder ob sie auf eine explizite strafbewehrte Vorschrift verweisen können 102.

Schließlich wird die vom Gesetzgeber intendierte Symbolfunktion aus integrationspolitischer Sicht als problematisch angesehen, da mit der Zwangsheirat eine Verhaltensweise strafrechtlich geahndet wird, die vornehmlich in anderen Kulturkreisen verbreitet ist und die im Zuge der kulturellen Pluralisierung nun mehr Aufmerksamkeit erlangt 103. Es könne aber ebenso wenig im Sinne gelungener Integration sein, wenn Mädchen und Frauen ein selbstbestimmtes Leben in unserer Gesellschaft verwehrt bleibt. Vielmehr sei es ein Gebot effektiver Integrationspolitik ist, Opfer von Zwangsehen besonders zu schützen 104.

b) Zwischenergebnis

Die Signalwirkung des § 237 StGB ist nicht zu leugnen. Mit dem Strafrecht alleine wird sich die tatsächliche Lage der betroffenen Mädchen und Frauen jedoch kaum verbessern lassen. Man wird aber auch anerkennen müssen, dass strafrechtliche Regelungen keineswegs zu unterschätzen sind. Ebenso wenig kann auch die Wirkungskraft von außerrechtlichen Aufklärungs- und Hilfsangeboten bestritten werden. Am effektivsten zur Bekämpfung der Zwangsheirat scheint daher das Zusammenspiel aufeinander abgestimmter gesetzlicher Regelungen 105 und Maßnahmen auf sozialer Ebene.

 

D. Ergebnis

Die Kritiker eigenständiger Straftatbestände der Genitalverstümmelung und der Zwangsheirat warnen vor dem den Hintergrund des Ultima-ratio-Prinzips vor einer ausufernden Anwendung des Strafrechts. Das Ultima-ratio-Prinzip gebiete geradezu auch Lücken zu lassen, zumal das Strafrecht nicht auf eine rein symbolische Wirkung reduziert werden dürfe 106. Symbolisches Strafrecht sei in erster Linie auch die gesellschaftliche Befriedigung von Handlungsbedarf 107, wobei der Effekt im Sinne einer Problemreduzierung bzw. –lösung in Frage gestellt wird 108. Sicherlich ist es auffällig, mit welcher Häufigkeit auf das Strafrecht zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme zurückgegriffen wird. Die Plausibilität der Argumente von Kritikern eigenständiger Strafvorschriften kann nicht ohne Weiteres von der Hand gewiesen werden. Gleichwohl dürfen die symbolischen Wirkungen der Strafe nicht übersehen werden, da sie sehr wohl zu einem wirksamen Rechtsgüterschutz beitragen können 109.

Bei der Genitalverstümmelung und der Zwangsheirat handelt es sich um Praktiken, denen fremdkulturelle Wertvorstellungen zugrunde liegen, die mit den Wertvorstellungen der deutschen Zuwanderergesellschaft nicht unerheblich kollidieren. Zu einer erfolgreichen Integration von Zuwanderern gehört, dass die Migranten die aus ihrer Sicht fremde Rechtsordnung in ihren Grundprinzipien anerkennen. Vor allem fundamentale Rechtsgüter bzw. Menschenrechte dürfen nicht zur Disposition stehen 110. Im Falle der Genitalverstümmelung (körperliche Unversehrtheit) und Zwangsheirat (Willens- und Entschließungsfreiheit) ist es daher gerechtfertigt, das scharfe Schwert des Strafrechts zu zücken. Bleibt die Frage nach der Eignung des Strafrechts bei der Bewältigung interkultureller Konflikte. Die Ausführungen in dieser Arbeit legen die Schlussfolgerung nahe, dass diese mit  strafrechtlichen Sanktionen allein nicht gelöst werden können. Es sollte eher außerrechtliche Problemlösungs-bemühungen nur flankierend begleiten.

 

*Die Autorin studiert im 7. Fachsemester Rechtswissenschaft an der Universität Freiburg und befindet sich zur Zeit in der Examensvorbereitung. Ihr Beitrag basiert auf einer im Februar 2014 im Rahmen des von Prof. Dr. Hefendehl geleiteten Seminars „Das Strafrecht an seinen Grenzen“ verfassten Seminararbeit zum Thema: Strafrecht und Kultur im Konflikt – Beschneidung, Genitalverstümmelung, Zwangsheirat.


Fußnoten:

  1. Hilgendorf, JZ 2009, 139 (140).
  2. Marschelke, Intercultural Journal 2012, 63 (73).
  3. Hilgendorf, JZ 2009, 139 (140).
  4. Zöller/Thörnich, JA 2014, 167 (167); GTZ, Was ist weibliche Genitalverstümmelung?, S. 1.
  5. BT-Drucksache. 17/1217, S. 6; Bauer,  Kindeswohlgefährdung, 181 f.                                                                                                                                            
  6. WHO, Eliminating Female genital mutilation, S. 23 ff.; vgl. Valentiner, StudZR 2012, 461 (462); Wüstenberg, KritV 2012, 463 f.
  7. Graf, Weibliche Gentalverstümmelung. S. 33.
  8. Terre des Femmes, Dunkelzifferstatistik, S. 3.
  9. Rosenke, ZRP 2001, 377 (378); Wüstenberg, Der Gynäkologe 2006, 824 (824).
  10. Vorstand der Bundesärztekammer, DÄBl 2006, 285 (286).
  11. Beck/Freundl, Der Gynäkologe 2008, 719 (721).
  12. Rpsenke, Rechtliche Probleme, S. 30 und 33.
  13. Vorschrift eingefügt durch 47. StrÄndG vom 24.09.2013 (BGBl. I S. 3671) m.W.v. 28.09.2013.
  14. Graf, Weibliche Genitalverstümmelung, S. 85 f.; vgl. UN, Bericht der Weltfrauenkonferenz, Anlage II: Aktionsplattform, Kapitel IV: Strategische Ziele und Maßnahmen, Unterpunkt D. (Nr. 89, 92, 93) und I. (Nr. 232h), abrufbar unter http://www.un.org/depts/german/conf/beijing/anh_2.html, zuletzt abgerufen am 7.3.2014.
  15. Entschließung v. 20. 9.2001 zur Genitalverstümmelung bei Frauen (200112035 (lNI), ABIEG Nr. C 77 E v. 28. 3. 2002,5. 126; Entschließung v. 24.3.2009 zur Bekämpfung der Genitalverstümmelung bei Frauen in der Europäischen Union (2008/2071 (INI).
  16. Vgl. BT-Drs. 16/3842, BT-Drs. 16/3542, BT-Drs. 16/4152 und BT-Drs. 16/12910.
  17. Vgl. zum Antrag der Fraktionen CDU/CSU und FDP BT-Drs. 17/13707 und zum Antrag der SPD BT-Drs, 17/12374.
  18. Zöller/Thörnich, JA 2014, 167 (168).
  19. Zöller/Thörnich, JA 2014, 167 (169); Hagemeier/Bülte, JZ 2010, 406 (409).
  20. AnwK-StGB/Zöller, § 226a Rn.3; Hagemeier/Bülte, JZ 2010, 406 (410).
  21. Mauer, S. 185; Möller, ZRP 2002, 186 (187); Wüstenberg, Der Gynäkologe 2006, 824 (826).
  22. Wüstenberg, FPR 2012, 452 (452f.); BGH NJW 2005, 672 (673).
  23. Wüstenberg, Stellungnahme, S. 2.
  24. vgl. BT-Drs. 17/1217, S. 5;  BT-Drs. 17/12374, S. 3 und BT-Drs. 17/4759, S. 6.
  25. BT-Drs. 17/14218, S. 3.
  26. Zöller/Thörnich, JA 2014, 167 (171); BR-Drs. 867/09, S. 5; vgl. Terre des Femmes, FGM-Studie, S. 10; Hahn, ZRP 2010, 37 (39).
  27. Hagemeier/Bülte, JZ 2010, 406 (410).
  28. Heinrich AT, Rn.67, 69; Satzger, Jura 2010, 190 (190 ff.).
  29. Terre des Femmes, Stellungnahme, S. 2.
  30. Vgl. Jositsch/Mikolasek, AJP 2011, 1281 (1282); Rosenke, Rechtliche Probleme, S. 147.
  31. Vgl. zum Ganzen Zöller/Thörnich, JA 2014, 167 (169); Rosenke, ZRP 2001, 337 (338).
  32. Vgl. BT-Drs. 16/13671, S. 24; Hagemeier/Bülte, JZ 2010, 406 (407).
  33. Dettmeyer/Laux/Friedl/Zedler/Bratzke/Parzeller, Archiv für Kriminologie 2011, 1 (13); AnwK-StGB/Zöller, § 226a Rn.7-12.
  34. AnwK-StGB/Zöller, § 226a Rn.4; Zöller/Thörnich, JA 2014, 167 (169).
  35. Hahn, ZRP 2010, 37 (38).
  36. BT-Drs. 17/1217, S. 6; BT-Drs. 17/4759, S. 5: BR-Drs. 867/09, S. 2.
  37. Hahn, ZRP 2010, 37 (39); Fünfsinn, Stellungnahme, S. 11.
  38. Hahn, ZRP 2010, 37 (39).
  39. Baumgarten/Finke, Ansätze, 125 (127).
  40. Zöller/Thörnich, JA 2014, 167 (173).
  41. Graf, S. 89; Hans/Walker, Genitalverstümmler verlieren Verjährungsschutz, in: Spiegel Online, abrufbar unter http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/weibliche-beschneidung-genitalverstuemmler-verlieren-verjaehrungsschutz-a-634026.html (zuletzt am 14.3.2014).
  42. Wehowsky, Stellungnahme, S. 9.
  43. Baumgarten/Finke, Ansätze, 125 (127); vgl. auch Kalthegener, Rechtliche Regelungen, 203 (214).
  44. GIZ, FGM und Gesetzgebung, S. 2; vgl. auch Lightfoot-Klein, Das grausame Ritual, S. 62.
  45. Kalthegener, Rechtliche Regelungen, 203 (214); vgl. auch Wieczorek-Zeul, Herausforderung, 143 (146).
  46. Schubert/Moebius, ZRP 2006, 33 (34); Sütcü, Zwangsheirat und Zwangsehe, S. 40.
  47. Vgl. BR-Drs. 436/05; Göbel-Zimmermann/Born, ZAR 2007, 54 (54).
  48. Vgl. Freudenberg, BMFSFJ-Studie, 242 (244); Letzgus, FS Puppe, 1231 (1232).
  49. Göbel-Zimmermann/Born, ZAR 2007, 54 (54).
  50. BMFSFJ, Zwangsverheiratung in Deutschland (2011), S. 7.
  51. Schubert/Moebius, ZRP 2006, 34 (34).
  52. Edinger, StAZ 2012, 194 (195); MK/Wieck-Noodt, § 237 Rn.2.
  53. Strobl/Lobermeier, BMFSFJ-Studie, 23 (24); Lehnhoff, Sklavinnen der Tradition,  S. 12.
  54. Bericht der Fachkommission Zwangsheirat der Landesregierung BW, S. 19 f.
  55. BGBl. I, S. 1266 (1268 f.).
  56. Bielefeldt, Zwangsheirat und multikulturelle Gesellschaft, S. 5; Busch, NJ 2010, 18 (20).
  57. Busch, NJ 2010, 18 (21); Letzgus, FS Puppe, 1231 (1233); Sering, NJW 2011, 2161 (2161).
  58. BGBl. I, S. 239.
  59. BR-Drucks. 168/11 v. 25. 3. 2011; vgl. auch MK/Wieck-Noodt, § 237 Rn.20.
  60. BT-Drucks. 17/4401, S. 8; BVerfGE 105, 313 (342).
  61. Schumann, JuS 2011, 789 (790); Eisele/Majer, NStZ 2011, 546 (547); HKGS/Rössner, § 237 Rn.2.
  62. Letzgus, FPR 2011, 451 (454); ders. in: FS Puppe, 1231 (1237).
  63. Eisele/Majer, NStZ 2011, 546 (547).
  64. MK/Wieck-Noodt, § 237 Rn.11; Letzgus, FS Puppe, 1231 (1237).
  65. Bülte/Becker, ZIS 2012, 61 (62).
  66. Ensenbach, Jura 2012, 507 (508).
  67. Valerius, JR 2011, 430 (433); BT-Drs. 17/4401, S. 8; Haas, JZ 2013, 72 (76).
  68. Yerlikaya, Zwangsehen, S. 201.
  69. Vgl. zum Ganzen Yerlikaya/Cakir-Ceylan, ZIS 2011, 205 (207); Haas, JZ 2013, 72 (76).
  70. Eisele/Majer, NStZ 2011, 546 (548); Valerius, JR 2011, 430 (433).
  71. Yerlikaya/Cakir-Ceylan, ZIS 2011, 205 (208); Haas, JZ 2013, 72 (76).
  72. Fischer, § 237 Rn.22; Letzgus, FS Puppe, 1230 (1240).
  73. BT-Drs. 17/4410, S. 12.
  74. BT-Drs. 17/4410, S. 8.
  75. Bülte/Becker, ZIS 2012, 61 (65); Schumann, JuS 2011, 789 (791).
  76. Vgl. BeckOK-StGB/Valerius, § 237 Rn.6.1; vgl. auch Eisele/Majer, NStZ 2011, 430 (432).
  77. Schumann, JuS 2011, 789 (790); vgl. auch Deutscher Juristinnenbund, Stellungnahme, S. 6.
  78. Ensenbach, Jura 2012, 507 (510); Bülte/Becker, ZIS 2012, 61 (66).
  79. BT-Drs. 17/4401, S. 12; Sering, NJW 2011, 2161 (2162) Der Gesetzgeber hat dem Straftatbestand vor allem eine symbolische Wirkung zugesprochen. So sollte zum einen das Bewusstsein der Öffentlichkeit für das mit der abgenötigten Eheschließung einhergehende Unrecht geschärft und zum anderen eindeutig klargestellt werden.
  80. BGHSt 32, 267 (269); 16, 58 (62).
  81. Vgl. zum Ganzen Schumann, JuS 2011, 789 (792); MK/Wieck-Noodt, § 237 Rn.37 ff.
  82. HKGS/Rössner, § 237 Rn.19; Fischer, § 237 Rn.18.
  83. Vgl. BGHSt 17, 328, 332; 35, 270, 276.
  84. Valerius, JR 2011, 430 (433).
  85. BT-Drs. 17/4401, S. 12.
  86. Ensenbach, Jura 2012, 507 (511).
  87. BT-Drs. 17/4401, S. 9; BT-Drs. 17/1213, S. 1 und 9.
  88. Letzgus, FS Puppe, 1231 (1235).
  89. Yerlikaya, Zwangsehen, S. 225; Roxin AT I, S. 37.
  90. Hefendehl, JA 201, 401 (406); Yerlikaya/Cakir-Ceylan, ZIS 2011, 205 (213).
  91. Vgl. zum Ganzen BeckOK-StGB/Valerius, § 237 Rn.1.3; Valerius, JR 2011, 430 (431).
  92. Valerius, JR 2011, 430 (431), Göbel-Zimmermann/Born. ZAR 2007, 54 (59).
  93. Eisele/Majer, NStZ 2011, 546 (552).
  94. MK/Wieck-Noodt, § 237 Rn.22; Terre des Femmes, Stellungnahme Terre des Femmes, S. 5.
  95. Terre des Femmes, Stellungnahme Zwangsheirat, S. 5.
  96. Vgl. Leutheusser-Schnarrenberger, ZStW 123 (2011), 651 (652); NK-Sonnen, § 237 Rn.18.
  97. Göbel-Zimmermann, Öffentliche Anhörung Innenausschuss v. 14.3.2011, S. 15; Kilic, 84. Sitzung des BT, S. 9430.
  98. Haas, JZ 2013, 72 (75).
  99. Göbel-Zimmermann/Born, ZAR 2007, 54 (59); Yerlikaya, Zwangsheirat, 451 (452).
  100. Yerlikaya/Cakir-Ceylan, ZIS 2011, 205 (213); Kelek, ZAR 2006, 232 (235).
  101. NK/Sonnen, § 237 Rn.17; vgl. auch Parhisi, Öffentliche Anhörung Innenausschuss v. 14.3.2011, S. 24.
  102. Schröder, 84. Sitzung des BT, S. 9425.
  103. Valerius, JR 2011, 430 (432).
  104. Göbel-Zimmermann, Öffentliche Anhörung Innenausschuss v. 14.3.2011, S. 13.
  105. Göbel-Zimmermann, Öffentliche Anhörung Innenausschuss v. 14.3.2011, S. 13.
  106. Beck/Valerius, RW 2011, 432 (432); Leutheusser-Schnarrenberger, ZStW 123 (2011), 651 (651).
  107. Hassemer, NStZ 1989, 553 (558).
  108. Lehne, Krim. Journal 1994, 210 (212).
  109. Vgl. Diez Ripollés, ZStW 113 (2001), 516 (519).
  110. Hilgendorf, JZ 2009, 139 (144).

Die Unverjährbarkeit von Wirtschaftsdelikten in der Transformationsperiode in Kroatien

$
0
0

Mr. sc. Sunčana Roksandić Vidlička und Aleksandar Maršavelski, LL.M.*

(Diesen Artikel als PDF herunterladen)

I. Einleitung

In den letzten Jahrzehnten durchlief Kroatien, ehemals Teilrepublik Jugoslawiens, bedeutende politische Transformationen, indem es vom sozialistischen zum marktwirtschaftlichen System wechselte. Diese politischen Transformationen beinhalteten den Wechsel von einem Teil der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawiens zu einem unabhängigen Staat, den Übergang von einer kommunistischen Herrschaft zu einem demokratischen System, die Umwandlung von einem Kriegs- zu einem Friedenszustand und die Einführung eines parlamentarischen statt eines semi-präsidentiellen Systems. Alle diese dynamischen politischen Übergänge hatten einen wichtigen Einfluss sowohl auf die Geschwindigkeit und die Legitimität des Privatisierungsprozesses als auch auf die Verfolgung von Straftaten, die in dieser Zeit geschehen sind.

Dieser Artikel bietet einen Überblick darüber, wie Kroatien versucht hat, Wirtschaftsdelikte in der Transformationsperiode zu bekämpfen. Länder, die sich im sozioökonomischen Übergang befinden, haben einige gemeinsame Merkmale: steigende Kriminalität, wachsende Anomie, Schwäche von Kontrollmechanismen, Entstehung neuer Arten von Straftaten, Ineffizienz der Strafverfolgung, die evidente Erosion des Gewaltmonopol des Staates, allgegenwärtige Angst vor Kriminalität etc. 1 Gerade die Straflosigkeit der Täter schwerer Delikte in der Transformationsperiode, die vor, während und unmittelbar nach dem „Heimatkrieg“ (1990-1995) in Kroatien aufgetreten sind, ist auch ein Beispiel der Nichtverfolgung von Wirtschaftsdelikten in der Konflikt- und Post-Konflikt-Gesellschaft. Um eine wirtschaftliche Erholung zu erreichen war es dringend notwendig Rechtssicherheit für Investitionen zu schaffen. Besonders die Wirtschaftsdelikte hatten dieses Vertrauen ausgehöhlt. 2 Erst vor kurzem hat Kroatien beschlossen, die Nichtverfolgung der großen Privatisierungsskandale aufzuarbeiten.

Schließlich hat Kroatien 2010 die Verfassung dahingehend geändert, 3 dass es keine Verjährung bei Wirtschaftsdelikten in der Transformationsperiode mehr gibt: (1) Straftaten des Kriegsprofitieren 4 und (2) Straftaten im Prozess der Eigentumsumwandlung und Privatisierung 5. Die offizielle Begründung für die neue Regelung war, dass diese Delikte sozial so schwerwiegend sind, dass eine Verjährung nicht im Betracht kommt, insbesondere wenn man die Umstände und verursachten Folgen berücksichtigt.

Infolge der Verfassungsänderung wurde 2011 das Gesetz über die Unverjährbarkeit von Straftaten des Kriegsprofitierens und Straftaten im Prozess der Eigentumsumwandlung und Privatisierung 6 [im folgenden Unverjährbarkeitsgesetz genannt] sowie ein komplett neues Strafgesetzbuch erlassen.

Nachdem die neuen rechtlichen Vorschriften eingeführt worden waren, erwartete die Öffentlichkeit „grandiose“ Reaktionen der Staatsanwaltschaft. 7 Aber bis heute wurden nur acht Strafverfahren abgeschlossen (erstinstanzliche Urteile), von denen nur eines große mediale Aufmerksamkeit erregte, nämlich das gegen den früheren Ministerpräsidenten Kroatiens Ivo Sanader (siehe unten).

 

II. Straftaten des Kriegsprofitierens

Im jeden Krieg gibt es Kriegsprofitieren. 8 Um diese Straftaten verstehen zu können, muss man zunächst klären, warum das Kriegsprofitieren überhaupt zu bestrafen ist. Betriebswissenschaftler Georg Obst schrieb dazu während des Ersten Weltkriegs in seinem Vortrag Was ist Kriegswucher und wie bekämpfen wir ihn? (1917): „Konjunkturgewinne, die sich aus der Kriegsnot ergeben, sind verboten, weil unter allen Umständen verhindert werden muss, dass die Not des einen, der die Ware unbedingt braucht, dem anderen zum Vorteil gereicht; die Kriegsnot muss von allen gemeinsam getragen werden.“ 9 Während eines Krieges ist, die Soziale Gerechtigkeit sehr zerbrechlich und es ist sehr schwer das Verlorene später zurück zu bringen. Aus Präventionsgründen müssen die Straftaten des Kriegsprofitierens daher hart bestraft werden.

Das Unverjährbarkeitsgesetz beinhaltet einen Katalog von Straftaten, die als Kriegsprofitieren bezeichnet werden können (z.B. unerlaubter Handel, Steuerhinterziehung, Unterschlagung, Autoritätsmissbrauch im wirtschaftlichen Verkehr, etc.). Nach Art. 7 Abs. 1 des Unverjährbarkeitsgesetzes sind Straftaten des Kriegsprofitierens solche Straftaten, bei denen der Täter überproportionale Vermögensvorteile verwirklicht hat, indem er die Preise von knappen Gütern angehoben, Staatsvermögen deutlich unter seinem Wert verkauft oder den Krieg anderweitig zur unmittelbaren Bedrohung für die Souveränität und territoriale Integrität des Staates benutzt hat. Der Katalog ist leider nicht vollkommen, z.B. befindet sich Kriegswucher nicht im Straftatenkatalog, obwohl es eine der wichtigsten Modalitäten des Kriegsprofitierens ist. Glücklicherweise hat der Gesetzgeber für diese Fälle auch eine Generalklausel im Art. 7 Abs. 2 normiert. Diese gilt auch für nicht im Katalog genannte Straftaten, sofern sie unter den gleichen Umständen begangen wurden. Die meisten Straftaten hatten im kroatischen Gesetz Verjährungsfristen von  10 oder 15 Jahren.

III. Wirtschaftsstraftaten während der Privatisierung

Obwohl die Privatisierung von staatlichen Unternehmen wegen Geldmangel dringend notwendig war, wurde der ganze Privatisierungsprozess und die Eigentumsumwandlung, die in den frühen 90er Jahren begonnen hatten, ein Synonym für „ungerechtfertigte Bereicherung“ in der kroatischen Gesellschaft. Es erfolgten viele Unregelmäßigkeiten im Privatisierungsprozess. Der Bericht der Umwandlungs- und Privatisierungsrevision des staatlichen Rechnungsprüfungsausschusses aus dem Jahr 2004 zeigte auf, dass Unregelmäßigkeiten bei über 95% von den 1481 Unternehmen auftraten. 10 Noch bedeutsamer war, dass die Gewinne und Erträge aus der Privatisierung nicht am Ende im Staatshaushalt oder in den Händen der Aktionäre, sondern vor allem in den Taschen der Privatisierungsprofiteure versickerten.

Es sollte indessen darauf hingewiesen werden, dass die Nichtverfolgung der Wirtschaftsdelikte der Transformationsperiode nicht nur charakteristisch für Kroatien, sondern auch für andere Länder war, die den wirtschaftlichen und politischen Übergang in den 90er Jahren durchliefen. 11 Die Straftaten, die als Privatisierungsdelikte in Betracht kommen, sind z.B. Unterschlagung, Amtsmissbrauch, Bestechung, Autoritätsmissbrauch im wirtschaftlichen Verkehr usw. Wie in Fällen von Kriegsprofitierensdelikten verjähren diese Straftaten auch nach 10 oder 15 Jahren.

 

IV. Unklarheiten über die Verfassungsänderung und das Unverjährbarkeitsgesetz

Durch Änderung der kroatischen Verfassung wurde im Art. 31 nach dem Absatz 3 folgender Absatz neu eingefügt: „Durch Gesetz bestimmte Straftaten des Kriegsprofitierens sowie Straftaten aus dem Umwandlungs- und Privatisierungsprozess, die in der Zeit des Heimatkrieges und während des Prozesses der friedlichen Reintegration, des Kriegszustandes und der unmittelbaren Gefährdung der Unabhängigkeit und territorialen Integrität des Staates begangen wurden, verjähren nicht, ebenso solche, die nach dem Völkerrecht nicht verjähren. Eigentumsvorteile, die so entstanden sind oder damit in Zusammenhang stehen, werden aberkannt.“ 12

Obwohl gut gemeint, verursachte die Verfassungsänderung einige rechtliche Herausforderungen. Ist eine Rückwirkung der Nichtanwendbarkeit von Verjährungsvorschriften möglich? Welche Straftaten sind von der Begrenzung ausgenommen? Wie definiert man genau Straftaten des Kriegsprofitierens etc.? Die Antworten zu diesen Fragen sollten durch das Gesetz zur Außerkraftsetzung der Verjährung geklärt werden, um die Bestimmungen der Verfassung klar zu definieren. Das Gesetz ließ jedoch einige Unklarheiten übrig. Daher wartet die rechtliche und soziale Gesellschaft darauf, dass das Verfassungsgericht von Kroatien diese Fragen beantwortet. Die Entscheidung wird höchst wahrscheinlich noch einmal durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte überprüft. Es muss betont werden, dass, wenn die Rückwirkung der Verjährungsaufhebungsvorschriften für Straftaten, die schon verjährt sind, rechtlich nicht möglich ist, die meisten der „Privatisierungsdelikte“ nicht strafrechtlich verfolgt werden. In diesem Fall würden alle rechtlichen Änderungen nur als politische Verkündigung ohne tatsächlichen Effekt dienen. Dementsprechend würde soziale Gerechtigkeit in der Transformationsperiode nicht erreicht.

Dass die Verjährung aber kein Recht des Täters ist, kann man als Begründung auch im vergleichenden Recht und der Rechtswissenschaft finden. Z.B., sind nach Art. 112-2 Abs. 4 des Französischen Strafgesetzbuches die Bestimmungen über die Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung auch anwendbar für Straftaten, die vor dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens begangen wurden, sofern die Verjährung zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingetreten ist. Auch in der deutschen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung ist herrschende Meinung, dass die Verlängerung oder Aufhebung noch laufender Verjährungsfristen zulässig ist 13. Roxin hat dafür eine schöne Erklärung: „Der Bürger hat einen Anspruch darauf zu wissen, ob und ggf. wie hoch er bestraft werden kann, aber es ist nicht der Sinn des Gesetzlichkeitsprinzips, ihm zu sagen, wie lange er sich nach verübter Tat verborgen halten muss, um im Anschluss daran wieder unbehelligt hervortreten zu können.“ 14

Anderseits ist die Wiedereröffnung abgelaufener Verjährung nach h.M. nicht zulässig, weil dies als nachträgliche Begründung von Strafbarkeit gegen dem Gesetzlichkeitsprinzip verstößt. Denn mit dem Eintritt der Verjährung ist der Täter straflos und kann darauf vertrauen. Dann kann er beispielsweise  Entlastungsmaterial aus der Hand geben. 15 Trotzdem ist es umstritten, ob der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine solche Rückwirkung menschenrechtswidrig findet oder, ob er die Bestimmung mit einer progressiven Auslegung des Rechts verknüpft.

 

V. Beispiel eines anhängigen Prozesses: Der ehemalige Ministerpräsident Sanader

Obwohl die Öffentlichkeit erwartet hat, dass die Verfassungsänderung einen bedeutsamen Wandel in der Verfolgung der Wirtschaftsdelikte der Transformationsperiode mit sich bringen würde, ist dies bisher nicht geschehen.

Nur acht Strafverfahren haben zu einem erstinstanzlichen Urteil geführt. Der bedeutsamste Fall ist der gegen den ehemaligen Ministerpräsidenten von Kroatien, Ivo Sanader. Eine Anklage gegen ihn wurde im August 2011 erhoben (zum Zeitpunkt der Straftat war Sanader ein stellvertretender Außenminister in der kroatischen Regierung). Die Anklage erfolgte, weil er während den Verhandlungen über die Bedingungen eines von der österreichischen Hypo-Alp-Adria-International-Bank der kroatischen Regierung gewährten Darlehens, einen Deal abschloss, der vorsah, dass die Bank ihm im Gegenzug für den Eintritt der Bank in den kroatischen Markt als Gegenleistung eine Provision in bar in Höhe von sieben Millionen österreichische Schilling auszahle. Die Bank zahlte die Provision im Laufe des Jahres 1995. Die Straftat wurde als Amtsmissbrauch und als Kriegsprofitierensdelikt eingeordnet. 16 Gleichzeitig wurde im November 2011 eine zweite Anklage gegen Sanader bestätigt, der zu dieser Zeit Premierminister war. Diese Anklage erfolgte, weil Sanader 10 Millionen Bestechungsgeld vom Vorsitzenden des Vorstands der MOL dafür erhalten hatte, dass er diesem Kontrollrechte in der INA der ungarischen Ölgesellschaft zu Beginn des Jahres 2008 gewährt hatte.

Für diese zwei Anklagen wurde ein einzelnes Verfahren durchgeführt. Das erstinstanzliche Urteil erfolgte am 20.11.2012. 17 Sanader wurde in beiden Fällen für schuldig befunden: für Amtsmissbrauch und Bestechung (im MOL-Fall). Insgesamt wurde Sanader zu acht einhalb Jahren Haft verurteilt. 18

 

VI. Die Änderung der Verjährung – Das Werkzeug zur Bekämpfung von Straftaten, die vertuscht werden sollten

Die neueingeführten Rechtsinstrumente werfen zusammen mit dem anstehenden Prozess gegen Sanader viele Fragen auf, sowohl von einer kriminologischen, einer soziologischen als auch einer rechtlichen Perspektive: Können rückwirkende Strafverfolgungen von schweren Wirtschaftsdelikten in der Transformationsperiode soziales Vertrauen wieder aufbauen? Die Änderung der Verjährungsdauer ist ein „politischer Trend“ in Kroatien geworden, so die Verjährung auszuweiten oder sie sogar ganz abzuschaffen, um das Problem der Versäumnisse der Strafverfolgung der lange vernachlässigten Straftaten zu lösen. Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Artikels wird die gleiche Lösung vorgeschlagen für die Bekämpfung von politischen Morden während des früheren Regimes, obwohl die Effektivität dieses Rechtsinstruments noch nicht bei den Straftaten in der Privatisierung bewiesen worden ist.

Seit langem sind im Völker-, Europäischen und vergleichenden Recht nur die schwersten Straftaten unverjährbar. 19 Trotzdem scheint es so, dass die Unverjährbarkeitsinitiativen in der Zukunft ein neues Werkzeug der Kriminalpolitik werden könnten. 20 Nach dem Fall Perkovic, 21 der lange vertuscht worden und deswegen in Kroatien verjährt ist, wird das kroatische Strafgesetz in 2014 in Bezug auf die Unverjährbarkeit geändert, damit alle schweren Tötungen nicht verjähren können.

 

VII. Schlussfolgerung

Problematisch ist, ob die Einführung neuer Rechtsvorschriften wie die, die in Kroatien mehr als 20 Jahre nach der Privatisierung eingeführt wurden, als der angemessene und effektivste  Ansatz zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität und zur Wiedererlangung von illegal erworbener Vermögenswerte angesehen werden kann.

Manchmal erscheinen die Änderungen der Verjährungsdauer die einzig praktikable Möglichkeit, die Strafverfolgung vergangener Verbrechen zu ermöglichen. Wie auch immer, ein bloßes Buchstabengesetz kann keine Gerechtigkeit für ein Land in der Transformation schaffen, wenn es in der Praxis nicht umsetzbar ist.

Auch die Gefahr der selektiven und nicht systematischen Verfolgung wirft ihren Schatten auf die rückwirkende Strafverfolgung. Die Möglichkeit eines fairen Prozesses für die Angeklagten bleibt ebenfalls fraglich. Ein neuer Zyklus von Ungerechtigkeit könnte entstehen, ohne dass das ernsthafte Problem der Nichtverfolgung von schweren Straftaten gelöst wird. Auf der anderen Seite könnte das „kroatische Modell“, sofern es sich als erfolgreich, effektiv und rechtmäßig erweist, auch in anderen Ländern der Region implementiert werden und als Modell dienen wie mit „vernachlässigten“ Straftaten, insbesondere Wirtschaftsverbrechen der Transformationsperiode, umgegangen werden kann.

Mit den Verfassungsänderungen hat der Gesetzgeber die Verfolgung bereits verjährter Wirtschaftsstraftaten in der Transformationsperiode ermöglicht, ohne dass das Kroatische Verfassungsgericht ein solches Vorgehen als verfassungswidrig erklären kann. Letztendlich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das letzte Wort.

 

* Mr. sc. Sunčana Roksandić Vidlička und Aleksandar Maršavelski, LL.M. sind leitende wissenschaftliche Mitarbeiter am kriminologischen Institut in Zagreb. Beide sind Doktoranden an der Juristischen Fakultät der Universität in Zagreb und am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg.

Die Autoren bedanken sich bei Linn Katharina Döring für ihre Hilfe beim Verfassen des Artikels in Deutsch.


Fußnoten:

  1. Albrecht, H.-J., ‘Countries in Transition: Effects of Political, Social and Economic Change on Crime and Criminal Justice – Sanctions and Their Implementation’, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice, 1990, vol. 7/4, 448-50
  2. Tiedemann, K.,Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl., München, 2014, S.28 (Rn. 63).
  3. Amtsblatt Narodne novine [Amtsblatt] Nr. 89/2010
  4. Als Kriegsprofitieren kann man die Straftaten bezeichnen, welche Notsituationen in Kriegszeiten ausnutzen, um überproportional hohen Gewinn zu erwirtschaften.
  5. Eigentumsumwandlung und Privatisierung bezeichnen die Transformation von öffentlichem Vermögen in privates Eigentum.
  6. Unverjährbarkeitsgesetz [Kroatien], Narodne Novine [Amtsblatt] Nr. 57/2011.
  7. Mehr dazu in Roksandić Vidlička, S, Severe Economic Crimes Committed in Transitional Periods – Crimes under International Criminal Law?, in: Albrecht, H.-J., Getos Kalac, A. – M.,  Kilchling, M (eds.),  Mapping the Criminological Landscape of the Balkans, Duncker & Humblot, erscheint voraussichtlich im Dezember 2014.); Novoselec/Roksandić-Vidlička/Maršavelski, Retroactive prosecution of transitional economic crimes in Croatia – testing the legal principles and human rights (Buchkapitel). In: The Routledge Handbook of White-Collar and Corporate Crime in Europe (Hrsg. J. van Erp, W. Huisman und G. Vande Walle), Routledge, erscheint voraussichtlich 2015.
  8. ‘People who are harmed and killed in war often die unnecessarily gruesome deaths, often the hands of those in uniforms … No matter who shoots whom, certain power elites make a profit’. Nordstrom, C., Shadows of War: Violence, Power, and International Profiteering in the Twenty-First Century, University of California Press, 2004, S. 33.
  9. Obst, G., Was ist Kriegswucher und wie bekämpfen wir ihn?, Leipzig und Berlin, 1917,  S. 7
  10. State Audit Report on Revision of Ownership Transformation and Privatisation (nur in Kroatien), online abrufbar auf http://www.revizija.hr/izvjesca/2007/revizije-pretvorbe-i-privatizacije/000-izvjesce_o_radu.pdf [Stand 09.11.2014]. 
  11. Mehr dazu in Novoselec/Roksandić-Vidlička/Maršavelski, Retroactive prosecution of transitional economic crimes in Croatia – testing the legal principles and human rights (Buchkapitel). In: The Routledge Handbook of White-Collar and Corporate Crime in Europe (Hrsg. J. van Erp, W. Huisman und G. Vande Walle), Routledge, 2015.
  12. Verfassung [Kroatien], Narodne Novine [Amtsblatt] Nr. 56/90, 135/97, 8/98,  113/00, 124/00, 28/01, 41/01, 55/01, 76/10, 85/10, 05/14.
  13. Daher ist der Entscheidung des Bundesverfassungsgericht zuzustimmen, wenn dort die „rückwirkende Verlängerung der noch nicht abgelaufenen Verjährungsfrist für Mord mangels einer schutzbedürftigen Vertrauensposition für zulässig erklärt wird“. Eser/Heckel, In: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl., München, 2010, § 2, Rn. 6.
  14. Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band I, 4. Aufl ., München, 2006, S. 168. (Rn. 60).
  15. Ibid. S. 167 (Rn. 60)
  16. Komitatsgericht Zagreb, 6-KOV-US-27/11 von 30 Sep. 2011.
  17. Kroatia (2012): Zagreb County Court. Case K-Us-26/11.
  18. Sanader ist der Angeklagte in noch vier Strafverfahren. Der bedeuteste ist das CDU-Fall, indem seine Partei (Croatische Demokratische Union) auch wegen Korruption verurteilt wurde. Mehr dazu in: Marsavelski, A., Responsibility of Political Parties for Criminal Offences: Preliminary Observations, Challenges and Controversies. In: Hrsg. Getos Kalac, A. -M., Albrecht, H.-J. & Kilchling, M., Mapping the Criminological Landscape of the Balkans. “Balkan Criminology” Research Series of the Max Planck Institute for Foreign and International Criminal Law (Duncker & Humblot, Berlin, 2014).
  19. Siehe z.B. Übereinkommen über die Unverjährbarkeit von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (UN GA Res. 2391 (XXIII) vom 26. Nov. 1968); Europäisches Übereinkommen über die Unverjährbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen (Europarat, Strasbourg vom 25. Jan. 1974).
  20. Z.B. wurde 2012 in der Schweiz nach einer Volksinitiative die Unverjährbarkeit der Strafverfolgung und der Strafe bei sexuellen und bei pornografischen Straftaten an Kindern unter 12 Jähren eingefügt.
  21. Josip Perkovic ist ein ehemaliger Geheimdienstgeneral Jugoslawiens, der wegen Mord eines kroatischen Dissidenten im Jahr 1983 von Deutschland mit internationalem Haftbefehl gesucht wurde, aber der in Kroatien festgenommen wurde und nachdem entlassen wurde wegen Verjährung. Im Januar 2014 wurde Perković an Deutschland ausgeliefert. Siehe Oberstre Gerichtshof Kroatiens, KV-EUN-2/14, Entscheidung von 8. Jan. 2014.; Verfassungsgericht Kroatiens, U-III-351/2014, Entscheidung von 24. Jan. 2014.

Der südafrikanische Weg: Verbrechen der Apartheid zwischen Strafrecht und Wahrheitskommission

$
0
0

Leonie Reiser*

(Diesen Artikel als PDF herunterladen)

A) Einführung in die Thematik

Knapp zwei Jahrzehnte ist es nun her, seitdem das politische System der Rassentrennung in Südafrika, die sogenannte Apartheid 1, ihr Ende fand. Was jedoch verblieb, waren die damit korrelierenden unzähligen Verbrechen, denen es an Aufklärung und Verarbeitung fehlte. Ebenso lebten die Südafrikaner in einer instabilen Gesellschaft, die von Unsicherheit und Misstrauen geprägt war. Zur Behandlung dieser Problematiken kam schließlich das Konzept der Transitional Justice zum Tragen, das die Bemühungen und Maßnahmen zur Aufarbeitung eines gewaltsamen Konflikts oder Regimes mit dem Ziel des Übergangs zu einer dauerhaft friedlichen und demokratischen Gesellschaftsordnung umschreibt. 2 Südafrika entschied sich für die Vergangenheitsbewältigung mittels des Strafrechts und einer Wahrheits- und Versöhnungskommission.

Im Folgenden sollen zunächst die historischen und politischen Hintergründe des Apartheidsystems aufgezeigt werden sowie die Gründe erörtert werden, weshalb sich Südafrika gerade für die Heranziehung von Strafrecht und Wahrheitskommission entschieden hat, wie diese Institutionen ihre Aufgaben in die Tat umsetzten und wie sich deren Verhältnis zueinander gestaltet. Schlussendlich erfolgen sowohl eine kritische Beleuchtung des südafrikanischen Wegs, als auch eine Beurteilung, ob diese Form der Vergangenheitsbewältigung erfolgreich war bzw. noch immer ist.

 

B) Der südafrikanische Weg

 

I. Historische und politische Ausgangslage

Ab 1948 entwickelte sich der Rassismus  mithilfe der sogenannten Apartheidgesetze zur Staatsdoktrin Südafrikas. 3 Den zentralen Baustein dieser Gesetzgebung, an welchen sämtliche nachfolgende Normen anknüpften, stellte der Population Registration Act von 1950 dar. Dieser klassifizierte die südafrikanische Bevölkerung anhand von äußerlichen Merkmalen und sozialen Kriterien in drei Kategorien: Weiße, Schwarze (Natives) und Farbige (Coloureds). 4 Auf Basis dieser Kategorien wurden der Rechtstatus und somit auch das Lebensschicksal eines jeden Südafrikaners bestimmt. Im Rahmen der „Großen Apartheid“ erfolgte eine vollständige räumliche Trennung durch den Aufbau von Reservaten und die Zwangsumsiedlung der schwarzen Südafrikaner. 5

Selbstverständlich blieben die Verschärfungen der Rassenpolitik und die daran gekoppelten willkürlichen und intensiven Beeinträchtigungen der Lebensführung nicht ohne Widerstand. Diesen Entwicklungen begegnete die Regierung mit einer immensen Sicherheitsgesetzgebung, die vor allem von politischen Straftatbeständen und einschneidenden Strafandrohungen geprägt war. Die Polizei erhielt weitgehende Befugnisse zur Niederschlagung der Rebellion, was zur Konsequenz hatte, dass immer mehr Menschen spurlos verschwanden oder in Sicherungshaft verletzt, gefoltert oder gar getötet wurden. 6 Die breite Weltöffentlichkeit nahm erst aufgrund dieser Vorkommnisse von der Regierungsweise der Weißen in Südafrika Kenntnis und missbilligte diese. 7 Auch innerstaatlich intensivierten sich die politische und wirtschaftliche Krise und der Widerstand seitens der Bürger nahm zu. 8 In Südafrika herrschten Gewalt, Willkür und Chaos.

Schließlich konnte das Apartheidregime dem äußeren Druck, der Isolierung und der zerrütteten Lage nicht mehr standhalten. Der Staatspräsident, Frederik Willem de Klerk, verkündete am 2. Februar 1990 offiziell das Ende der Apartheid, veranlasste die Freilassung aller politischen Gefangenen und führte Verhandlungen bezüglich eines Systemwechsels in Südafrika mit Nelson Mandela, der Führungsfigur der Anti-Apartheid-Bewegung. 9 Nach äußerst schwierigen und langwierigen Verhandlungen konnten sich de Klerk und Mandela im Record of Unterstanding auf eine gewählte verfassungsgebende Versammlung, eine Übergangsregierung sowie die baldige Festschreibung einer Verfassung mit Grundrechten einigen. 10

 

II. Die Rolle der Transitional Justice im Rahmen einer Aufarbeitung von Apartheidverbrechen

Die Apartheid war beendet und die laufenden Entwicklungen schienen eine vielversprechende Zukunft zu suggerieren. Trotz allem stand noch immer eine Vielzahl an Straftaten im Raum, die Aufarbeitung erforderte. Dabei handelte es sich größtenteils um rassistische Diskriminierungen, Körperverletzungen durch Folter und gezielten Tötungen. Ebenso waren unzählige Brandstiftungen und Entführungen, Zwangsumsiedlungen und Vertreibungen begangen worden. 11 In Südafrika war auch der Wiederaufbau von Sicherheit und Vertrauen der Bürger gegenüber dem Staat und seinen Institutionen notwendig.

Dies war die Schnittstelle für den Rückgriff auf Transitional Justice. Südafrika musste ein Konzept finden, mithilfe dessen die vergangenen gewaltsamen Konflikte aufgearbeitet und ein Übergang zu einer dauerhaft friedlichen und demokratischen Gesellschaftsordnung geschaffen werden konnte.

Für die Auseinandersetzung mit solchen Problematiken stehen die folgenden fünf Lösungsansätze zur Auswahl, welche sich gegenseitig nicht grundsätzlich ausschließen, d.h. auch nebeneinander angewandt werden können. 12

 

1) Strafrechtliche Verfolgung

In Betracht kommt zunächst die strafrechtliche Verfolgung der Taten auf nationaler oder internationaler Ebene durch staatliche Gerichte, internationale oder hybride Kriegstribunale. 13

 

2) Nichtverfolgung

Optional kann die Justiz entweder vollkommen untätig bleiben (faktische Nichtverfolgung) oder eine (General-)Amnestie ausgesprochen und normiert werden. 14 Unter dem Begriff der Amnestie versteht man nach deutschem Recht eine gesetzliche Festlegung der Straffreiheit in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen. 15

 

3) Institutionelle Reformen

Ebenso steht grundsätzlich die Möglichkeit der Entlassung von belasteten Funktionären, Staatsbediensteten sowie der Angehörigen von Polizei und Militär zur Verfügung. Und zwar mit den Zielen einer Sanktionierung der betroffenen Personen einerseits und der Reformierung des Staatswesens andererseits. 16

 

4) Reparation und Wiedergutmachung

Im Rahmen einer Aufarbeitung der Verbrechen können auch Reparationsleistungen erbracht werden. Diese Option schließt sowohl Kompensation, Rehabilitation als auch symbolische Wiedergutmachung mit ein. 17 Eine Reparation erfolgt zumeist durch Sach-, Dienst- oder Geldleistungen seitens des Täters oder des Staates gegenüber dem Opfer zur Anerkennung des erlittenen Verlustes und Leids. 18

 

5) Wahrheits- und Versöhnungskommissionen

Die Aufklärung der Unrechtsvergangenheit kann auch durch eine Wahrheits- und Versöhnungskommission vorgenommen werden. Ziel ist die Untersuchung einer Vielzahl von Straftaten innerhalb eines bestimmten Zeitraums, die offizielle Anerkennung des Unrechts und dessen Festschreibung für die Nachwelt. 19 Meist wird dies durch die Heranziehung der Aussagen von Opfern, Angehörigen und Tätern realisiert. 20

Die Entscheidung, welche der aufgezeigten Optionen herangezogen werden, hängt jeweils von politischen, rechtlichen und kulturellen Faktoren des Einzelfalls ab. Primär relevant ist die Art und Weise, wie der Systemwechsel im jeweiligen Land vollzogen wurde, d.h. ob sich der Wechsel durch eine Revolution bzw. eine militärische Niederlage des ursprünglichen Regimes ergeben hat oder ob der Übergang zum neuen System auf einem Kompromiss basiert. 21 Hinzu kommen das jeweilige Ausmaß der Straftaten, die Stabilität des Landes, die zur Verfügung stehenden gesellschaftlichen Ressourcen und nicht zuletzt die Dynamik und Form der Gewalt. 22

Aufgrund der Vielzahl und Schwere der Apartheidverbrechen erschien zunächst eine umfangreiche strafrechtliche Verfolgung angemessen. Dem stand jedoch das ursprüngliche Regime, das die Zustimmung zu einer lückenlosen Aufklärung und die Verurteilung von Straftätern aus den eigenen Reihen verweigerte, entgegen. 23 Der Wille der letzten Regierung des Apartheidstaates war in Bezug auf die Art und Weise der Aufarbeitung von Bedeutung. Schließlich resultierte der Systemwechsel in Südafrika aus einem Kompromiss zwischen dem Staatspräsidenten de Klerk und dem Vertreter der Widerstandsbewegung, Nelson Mandela. Hinzu kam, dass sich das Land noch immer in einer sehr instabilen Lage befand. Die Ankündigung einer umfassenden strafrechtlichen Sanktionierung hätte vermutlich gewaltsame Reaktionen der Systemanhänger ausgelöst. 24

Seitens der Regierung de Klerks und der Sicherheitskräfte von Polizei und Militär wurde eine Generalamnestie stark befürwortet. 25 Dies war wiederum aus Sicht der Widerstandsbewegung untragbar. Schließlich sollten die Verbrechen nicht verdrängt und vergessen werden. Eine Generalamnestie hätte die Vergangenheitsbewältigung – wenn überhaupt – nur sehr eingeschränkt ermöglicht. 26

Demnach kam für die Aufarbeitung nur ein Mittelweg zwischen umfassender Strafverfolgung und Amnestie in Betracht, welcher mit der im Jahre 1994 in Kraft getretenen Übergangsverfassung festgeschrieben wurde. 27 Die Übergangsverfassung legte fest, dass bezüglich aller Delikte, die eine Verknüpfung mit politischen Zielen aufwiesen und die in Zusammenhang mit vergangenen Konflikten standen, Amnestie gewährt werden sollte. Mit der Aufarbeitung der Vergangenheit und der damit verbundenen Amnestiefrage wurde schließlich die Truth and Reconciliation Commission (TRC) auf Basis des Einheits- und Versöhnungsgesetzes beauftragt. 28

 

 

III. Die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission

 

1) Aufbau und Struktur der Kommission

Mit den Zielen der Wahrheit, Versöhnung und nationalen Einheit wurden drei Komitees ins Leben gerufen.

 

a) Komitee für Menschenrechtsverletzungen

Das Komitee befasste sich damit, alle schweren Menschenrechtsverletzungen, die im Zeitraum zwischen dem 1.März 1960 bis zum 10.Mai 1994 begangen wurden, zu analysieren und zu beschreiben sowie deren Ursachen, Wesen und Ausmaß festzustellen. 29 Im Mittelpunkt der Arbeit standen durch Radio und Fernsehen übertragene öffentliche Anhörungen, in denen die Opfer von ihren Schicksalen berichteten.

 

b) Komitee für Reparationen und Rehabilitierungen

Mithilfe von Workshops und Konsultationen sollte das Komitee für Reparationen und Rehabilitierung feststellen, welche Bedürfnisse Opfer, Überlebende und Gemeinden hatten und anschließend Entschädigungsempfehlungen an das Parlament weiterreichen. Das Komitee selbst nahm keine Anhörungen vor, sondern griff auf die Arbeit der anderen Ausschüsse zurück. 30

 

c) Komitee für Amnestien

Die Zuständigkeit des Komitees umfasste die Gewährung einer individuellen Amnestie gegenüber den Tätern von Apartheidverbrechen. 31

 

aa) Voraussetzungen einer Amnestie

Eine Amnestie erforderte zunächst einen fristgemäßen, schriftlichen Antrag an das Komitee mit der lückenlosen Ausführung des Sachverhalts sowie der Darlegung, inwiefern eine Straftat mit politischen Zielen begangen worden war und in welchem Zusammenhang sie mit den früheren Konflikten stand. 32 Bei Nichtvorliegen eines Antrags war folglich eine Strafverfolgung durch die Justiz vorzunehmen.

 

bb) (Rechts-)Folgen einer Amnestieentscheidung

Neben dem Absehen von strafrechtlicher Verfolgung hatte eine Amnestie durch die Kommission zur Konsequenz, dass die Täter von jeglicher zivilrechtlichen Haftung befreit wurden. Auf Schadensersatz oder Schmerzensgeld konnte also nicht mehr geklagt werden. Laufende Gerichtsverfahren waren zum Zwecke der Aussage vor dem Ausschuss vorübergehend zu unterbrechen, bereits angeordnete bzw. vollstreckte Strafen wurden erlassen und Urteile rückwirkend aufgehoben. 33 Rein rechtlich gesehen sorgte eine Amnestierung also dafür, dass der Täter so gestellt wurde, als hätte er die Tat nie begangen. Die Chance auf eine Straffreiheit bzw. die Vornahme konkreter Strafverfolgungsmaßnahmen durch die Justiz sollten den Betroffenen dazu bewegen, einen Antrag an das Komitee zu stellen. 34

Die Gesamtzahl an Amnestieentscheidungen beläuft sich auf 7.116. Über 75 Prozent der Anträge wurden vollständig abgelehnt. Dies scheint zunächst sehr verwunderlich – mag man doch vermuten, die TRC hätte im Dienste der Wahrheitsfindung großzügig Amnestien gewährt. Allerdings lässt sich dieses Vorkommen damit erklären, dass eine Vielzahl an Anträgen aus formalen Gründen abgelehnt wurde. Beispielsweise weil die Tat, für welche Amnestie begehrt wurde, gar nicht aus politischen Motiven begangen worden war oder aus dem Untersuchungszeitraum des Komitees heraus fiel. 35 Ingesamt waren es nur ca.1700 zulässige Anträge, wovon in knapp 1300 Fällen Amnestie gewährt wurde. Dies entspricht einer positiven Bescheidung in fast 80 Prozent der Fälle. 36 Folglich hat das Amnestiekomitee erwartungsgemäß die Aussagen der Täter und deren Beitrag zur Wahrheitsfindung größtenteils honoriert und eine Straffreiheit gewährt.

 

 

IV. Die Rolle des Strafrechts und der Strafverfolgung

Es scheint auf den ersten Blick so, als wäre die Rolle des Strafrechts gegenüber derjenigen der Kommission auf ein Dasein als Drohkulisse, die den Täter zur Stellung eines Amnestieantrags und somit zu einem umfassenden Geständnis bewegen sollte, reduziert. Ob die staatlichen Strafverfolgungsbehörden auch anderweitig einen Beitrag zur Aufarbeitung des Apartheidunrechts leisteten, soll im Folgenden erörtert werden.

 

1) Vor dem Ende der Apartheid

Vor dem Systemwechsel im Jahre 1994 sind vor allem die Untersuchungen durch die Harms- und Goldstone-Kommission nennenswert. Die beiden Kommissionen waren mit der aufkeimenden Gewalt von Polizei und Widerstandskämpfern Anfang der 1990er Jahre befasst. 37 Was die gerichtlich abgehandelten Straftaten betrifft, ist insgesamt festzustellen, dass der Großteil dieser Taten ohne politische Motivation begangen worden war. Dies ergibt sich daraus, dass zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschieden war, ob bzw. inwiefern Verbrechen der Apartheid verfolgt werden sollten. 38 Im Großen und Ganzen trugen Untersuchungskommissionen und Justiz bis zu diesem Zeitpunkt hin nur sehr wenig zur Aufklärung der Apartheidkriminalität bei.

 

2) Nach dem Ende der Apartheid

Nach dem Ende der Apartheidära wurden weitere Strafverfahren, vorwiegend gegen Sicherheitskräfte und Angehörige des Militärs, durchgeführt. 39 Die Gesamtanzahl an Verfahren mit Bezug zur Apartheid stieg leicht an und mit ihnen auch der hierarchische Rang der Beschuldigten. 40

Schlussendlich bleibt festzuhalten, dass die staatlichen Strafverfolgungsbehörden zwar einen Beitrag zur Vergangenheitsaufarbeitung geleistet haben, dieser jedoch verhältnismäßig gering ist. Vor dem Systemwechsel kann diese Tatsache noch mit dem bestehenden Druck seitens des Apartheidregimes begründet werden. Aber auch anschließend fanden nur wenige Gerichtsverfahren statt, welche politische Bezüge bzw. Parallelen zur Apartheid meist außen vor ließen. 41

 

 

V. Das Verhältnis zwischen Strafrecht und Wahrheitskommission

Grundsätzlich bestand eine Spezialbefugnis des Amnestieausschusses hinsichtlich der Aufarbeitung von Apartheiddelikten. Das Strafrecht übernahm, wie bereits ausgeführt, aber dahingehend eine wichtige Rolle, dass es als Drohkulisse diente und so eine Vielzahl an Straftätern zur Stellung eines Amnestieantrags bewegte. Des Weiteren konnten Erkenntnisse aus Strafverfahren die Ermittlungen der Kommission weiter bringen und zur Überprüfung des Wahrheitsgehalts von Aussagen vor dem Ausschuss dienen. Die Art und Weise, wie die beiden Verfahrensarten zueinander stehen, kann als Wechselwirkungsverhältnis bezeichnet werden. Beide Institutionen agierten zwar unabhängig voneinander, jedoch wirkten sich deren Tätigkeiten aufeinander aus. Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen konnten in die Amnestieentscheidung hineinwirken, während die Gewährung einer Amnestie die Strafverfolgungsbehörde zugleich zur Einstellung ihrer Maßnahmen zwang.

 

 

VI. Vorteile und Defizite des südafrikanischen Wegs

Südafrika hat sich also im Rahmen der Aufarbeitung seiner Apartheidvergangenheit für einen individuellen Weg unter Miteinbeziehung von Strafrecht und Wahrheitskommission entschieden. Doch welche Vorteile und Defizite bringt diese Ausprägung von Transitional Justice mit sich?

 

1) Umfang des Mandats der Kommission

Ein Nachteil des südafrikanischen Aufarbeitungskonzepts zeigt sich bereits im Hinblick auf das Mandat der TRC. Festgelegt wurde, dass die Kommission lediglich mit groben Menschenrechtsverletzungen befasst sein sollte. Dies hatte zur Folge, dass sämtliche Verbrechen, welche während der Apartheid mittels Gesetz legitimiert worden waren, vom Untersuchungsumfang ausgeschlossen wurden. 42

Vertreibungen, die systematische Benachteiligung der schwarzen Bevölkerung sowie die Vorenthaltung politischer Mitwirkungsrechte wurden in den Strafverfahren komplett außen vor gelassen und seitens der TRC nur am Rande behandelt. 43 Vielmehr lag der Schwerpunkt auf den illegalen Exzessen von Individuen und zwar vorwiegend derer des von der Staatsführung geförderten oder zumindest geduldeten Sicherheitsapparats. 44 Das beschränkte TRC-Mandat führte dazu, dass die Öffentlichkeit Individuen zum Sinnbild der Apartheid und ihrer Verbrechen degradierte.

Dieser Feststellung ist allerdings entgegenzuhalten, dass die Aufdeckung der Exzesse zugleich das System der Apartheid und dessen rassistische Gesetze bloßstellt. 45 Das führt in gewisser Weise auch zu einer Miteinbeziehung des systemimmanenten Unrechts.

Es bleibt festzuhalten, dass die Behandlung schwerer Menschenrechtsverletzungen zwar negative Aspekte und Folgewirkungen des Systems aufzeigt, jedoch nur in sehr begrenztem Maße. Seitens der Justiz wurde dieser Entwicklung auch nicht entgegengewirkt, denn dies hätte der Vorrangstellung des Amnestiemodells, das die innerstaatliche Legalität unberührt lässt, widersprochen. 46

Hätte die TRC anstelle der Fokussierung auf Einzeltäter und deren Opfer ein stärkeres Augenmerk auf die strukturellen Gegebenheiten des Systems gelegt, so wäre dies ein Beitrag dazu gewesen, die Hintergründe der Menschenrechtsverletzungen und die Art und Weise ihrer Bewilligung aufzudecken. Unter Umständen wäre dies auch der Schlüssel gewesen, um die Haupttäter und Befehlsgeber zur Rechenschaft zu ziehen. 47

 

2) Öffentlichkeit

 

a) Auswirkungen auf Täterseite

Die starke Miteinbeziehung der Öffentlichkeit in den gesamten Versöhnungsprozess vermochte ebenso nicht nur Vorteile mit sich bringen. Mit der Übertragung von Anhörungen in Radio und Fernsehen wurde von der Person des Täters und dessen Taten sowie der Opfer bzw. Angehörigen weltweit Kenntnis genommen. Zweifelsfrei ist dies im Hinblick auf deren Persönlichkeitsrechte und die Privatsphäre als problematisch zu betrachten. 48 Eine derartige Öffentlichkeitsaufmerksamkeit bringt gegenüber dem Straftäter starke Stigmatisierungseffekte mit sich und kann auch die Wiedereingliederung in die Gesellschaft wesentlich erschweren. Andererseits ist die Bloßstellung des Täters auch als Teil der ‘wiederherstellenden Gerechtigkeit’ anzusehen und stellt quasi das Gegengewicht zur Vergebung dar. 49

 

b) Auswirkungen auf Opferseite

Aus Opfersicht verursachte die Miteinbeziehung der Öffentlichkeit einen Zwiespalt. Sie führte dazu, dass die Opfer bzw. Angehörigen Gelegenheit bekommen, das aufgrund der Menschenrechtsverletzungen erlittene Unrecht und Leid vor einer breiten Personengruppe zu artikulieren und deren Anteilnahme zu spüren. 50 Die Bekanntgabe des Namens des Täters und dessen Taten vermögen eine gewisse Genugtuung verschaffen und zugleich offizielle Anerkennung und Verantwortlichkeit suggerieren. 51 Allerdings kann die öffentliche Fokussierung auch bedingen, dass sich die Opfer dazu gezwungen fühlen, den Erwartungen der TRC zu entsprechen und den Tätern zu vergeben. 52

Hinzu kommt, dass die Anhörungen auch zu einer Sekundärviktimisierung führen können. Die Betroffenen werden ein weiteres Mal in die Opferrolle gedrängt und müssen die schmerzlichen Erfahrungen in gewisser Weise noch einmal durchleben. 53

 

c) Auswirkungen auf Außenstehende

Die Medien waren die Schnittstelle zwischen der Arbeit der TRC und dem einzelnen Bürger, indem sie maßgeblich an der Meinungsbildung mitwirkten. 54 Auch Verfechter des Regimes oder weitgehend unbeteiligte Personen nahmen vom Apartheidstaat und den damit korrelierenden Menschenrechtsverletzungen Kenntnis. 55 Diese Kenntnisnahme konnte die Einstellungen des Einzelnen gegenüber denjenigen, die sich gegen das System gewehrt hatten, verändern. 56 Dadurch war es möglich, sich dem Ziel der nationalen Einheit und Versöhnung weiter anzunähern.

Insgesamt ist die Beteiligung der Öffentlichkeit als positiv zu bewerten. Sie reduzierte das Geschehen nicht nur auf die betroffenen Personen, sondern band die gesamte Gesellschaft erfolgreich in den Versöhnungsprozess mit ein. Ebenso verschaffte sie den Opfern in gewissem Maße Gerechtigkeit.

 

3) Der Amnestieausschuss

Mit der vehementesten Kritik sah sich jedoch der Amnestieausschuss konfrontiert. Dies ist nicht zuletzt auf dessen tragende Rolle im Aufarbeitungsprozess zurückzuführen.

 

a) Verlust zivilrechtlicher Ansprüche bei Amnestierung

Die Rechtsfolge einer Amnestierung, die dem Täter zusätzlich zur strafrechtlichen Unverfolgbarkeit eine Befreiung von jeglicher zivilrechtlichen Haftung zuspricht, ist sehr fragwürdig.

Auf den ersten Blick vermag der Zweck dieser Regelung durchaus sinnvoll erscheinen, denn der Fortbestand an zivilrechtlichen Ansprüchen könnte den Betroffenen dazu bewegen, aus wirtschaftlichen Gründen von einem Amnestieantrag abzusehen. 57 Allerdings wird sich eine Person wohl kaum aus wirtschaftlichen Gründen gegen einen Antrag und somit für das Risiko einer Kriminalstrafe und dem gegebenenfalls damit einhergehenden langjährigen Entzug der Freiheit entscheiden. Jedoch wäre die praktische Durchsetzung von Schadensersatz- oder Schmerzensgeldansprüchen aufgrund des langen Zurückliegens der Vorfälle, der meist sehr schlechten Beweislage und der fehlenden finanziellen Mitteln der Opfer nicht realistisch gewesen. 58 Die Kenntnis über die Unmöglichkeit der Durchsetzung dieser Ansprüche wäre für manch ein Opfer weitaus belastender gewesen, als ein vollständiger Ausschluss der zivilrechtlichen Haftung. 59 Hinzu kommt, dass das Komitee für Reparationen und Rehabilitierung gegenüber der Regierung Vorschläge für Ausgleichszahlungen machen konnte, denen der Staat auch nachkommen wollte. 60 Trotz allem wären zivilrechtliche Ansprüche, wenn auch nur in wenigen Einzelfällen, durchsetzbar gewesen, was zusätzlich zu den Reparationszahlungen zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit beigetragen hätte. Daher überzeugt die südafrikanische Lösung in Bezug auf diesen Aspekt nicht.

 

b) Die Rolle des Täters im Amnestiemodell

Das Amnestiemodell unterband eine passive Teilnahme des Täters, wie sie oftmals in Strafprozessen vorzufinden ist, und sorgte dafür, dass der Täter nicht versuchen musste, sich zu verteidigen und der Verantwortung zu entfliehen. Vielmehr wurde das gesamte Verfahren schon durch den Antragsteller initiiert und dieser umfassend miteinbezogen. 61 Solch ein Amnestiemodell schaffte Akzeptanz auf der Seite des Täters und regte an, neben dem Geständnis gegebenenfalls über den Fall hinausgehende Details zu offenbaren. Diese positive Wirkung zeigte sich im Rahmen der Kommissionsanhörungen auch dadurch, dass viele Täter Reue zeigten und sich für die begangenen Taten entschuldigten. Solch unerzwungene Gesten waren Anlass für die weitere Kommunikation der Konfliktparteien und trugen vielfach zur Versöhnung bei.

 

4) Entschädigung und Rehabilitierung

Kritikwürdig ist auch, dass die Kommission zwar verbindlich über eine Amnestierung entschied, jedoch in Bezug auf die Reparationszahlungen lediglich Vorschläge an die Regierung reichen konnte. Die TRC verteidigte diese Regelung damit, dass sie keine Kompetenz gehabt hätte, über den Staatspräsidenten und das Parlament hinweg, hinsichtlich einer Bereitstellung von Geldern zu entscheiden. 62 Während die Empfehlung der TRC einen Geldbetrag von ca. 15.600 € pro Opfer umfasste, entschied sich die Regierung erst im Jahre 2003 für die Reduktion der Summe auf knapp 2.500 €. 63 Die Höhe der Entschädigungssummen mag für die Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen wohl eher als verhöhnend, untragbar und keinesfalls als Ausgleich angesehen worden sein.

 

5) Strafrechtliche Verfolgung nicht amnestierter Täter

Wie bereits ausgeführt, wäre bezüglich derjenigen Täter, die entweder keinen Amnestieantrag gestellt hatten oder deren Begehren abgelehnt worden war, eine reguläre strafrechtliche Verfolgung vorzunehmen gewesen. Ab Ende 2005 war es den bisher weder strafrechtlich verfolgten noch amnestierten Tätern wieder möglich, einen Antrag auf Nichtverfolgung bei der Generalstaatsanwaltschaft zu stellen. Grundsätzlich galten dieselben Voraussetzungen wie bei Antragstellung gegenüber der TRC. Allerdings waren die Voraussetzungen für eine Amnestie weitaus weniger streng. Diese Neuerung schien gegenüber Opfern und der durch die TRC amnestierten Täter unfair und widersprach dem Geist der Gesetzgebung des TRC-Acts. 64

Im Jahre 2007 erließ der damalige Präsident Mbeki eine Sondergenehmigung zur Begnadigung politischer Straftäter. Ziel war es, der Staatsanwaltschaft ein Mittel an die Hand zu geben, mithilfe dessen sie mit dem Angeklagten vereinbaren konnte, dass sich dieser zu einem geringeren Straftatbestand bekannte und so der Verurteilung wegen eines schwereren Delikts entkam. Die Vorgehensweisen im Begnadigungsprozess wurden vom südafrikanischen Verfassungsgericht als problematisch kategorisiert, weshalb die Regierung schließlich im Jahre 2010 zumindest die Namen der Straftäter, die begnadigt werden sollten, veröffentlichte. 65

Die Gesamtheit an Maßnahmen von Regierung und Justiz sind als defizitär zu bezeichnen. Indem nicht amnestierte Täter keiner regulären Strafverfolgung unterzogen werden, sondern vielmehr durch neue Amnestieregelungen oder Begnadigungsakte in Bezug auf die begangenen Delikte Straffreiheit erlangen, wurde das Gesamtkonzept der TRC untergraben. Derartige Maßnahmen lassen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der südafrikanischen Kommission aufkommen und äußern sich nachteilig für die anvisierte vollständige Versöhnung.

 

 

VII. Südafrika heute

Südafrika hat auch heute noch mit diversen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass viele Bürger Unzufriedenheit mit der Arbeitsweise und den Entscheidungen der staatlichen Behörden bekunden. Auch die Arbeitslosenquote ist hoch, während die Anzahl derer, die in Armut leben, zunimmt. Es mangelt vielerorts an Wohnmöglichkeiten, Wasser und anderen lebenswichtigen Ressourcen. Hieraus resultiert wiederum ein Anstieg der Kriminalität, welche für viele Südafrikaner die einzige Überlebensmöglichkeit zu sein scheint. 66

Aus diesem Grunde versucht die Regierung mit dem Black Economic Empowerment Act of 2003, sowie dessen Erweiterungen, der prekären Lage zu begegnen. Ziel dieses Programms ist, die Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, die Ausbildung junger Südafrikaner zu fördern sowie Führungspositionen bevorzugt mit Personen aus den bisher benachteiligten Bevölkerungsgruppen zu besetzen und so einen sozialen Ausgleich zu schaffen. 67 Ob dieses Vorgehen jedoch schlussendlich zur Verbesserung der gesellschaftlichen Situation in Südafrika beiträgt, bleibt abzuwarten.

 

 

C) Fazit

Obwohl die Art und Weise der Aufarbeitung von Apartheidverbrechen in Südafrika im Hinblick auf die mangelnde Strafverfolgung nicht amnestierter Täter, den Ausschluss zivilrechtlicher Ansprüche und die geringfügigen Entschädigungszahlungen gegenüber den Opfern einige Mängel aufzuweisen vermag, kann im Großen und Ganzen ein positives Fazit gezogen werden. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission hat wesentlich zur Aufklärung von Verbrechen beigetragen, Informationen über das damalige System verschafft und die Wahrheitsfindung vorangetrieben. Ebenso konnte die Toleranz und Akzeptanz der sich entgegenstehenden Bevölkerungsgruppen vorangetrieben werden und in gewissem Maße auch Gerechtigkeit geschaffen werden.

Die mittelbare Miteinbeziehung des Strafrechts hat einen wesentlichen Beitrag zur Arbeit der TRC geleistet, indem sie manch einen Täter zur Stellung eines Amnestieantrags bewegte.

Trotz allem bleibt festzuhalten, dass der Übergang vom Apartheidstaat zu einer friedlichen und demokratischen Grundordnung nicht schon mit dem Ende der Arbeit von TRC und Strafverfolgungsbehörden erledigt ist. Vielmehr handelt es sich bei Transitional Justice um einen langwierigen Prozess, bei dem sich immer wieder gewaltsame Konflikte, Rassismus und Ungerechtigkeiten aufzeigen werden. Doch wenn es Südafrika schaffen sollte, weiterhin an der Stabilisierung seiner gesellschaftlichen, rechtlichen und politischen Lage zu arbeiten und seiner Bevölkerung ein Gefühl von Sicherheit gewähren kann, so vermag eines Tages auch im ehemals von Diskriminierung und Gewalt geprägten Staat weitgehend Frieden einkehren.

* Leonie Reiser ist Studentin der Rechtswissenschaften im neunten Semester an der Universität Freiburg.


Fußnoten:

  1. Schneider/Toyka-Seid, Das junge Politiklexikon, abrufbar unter: <http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/das-junge-politik-lexikon/160815/apartheid> (zuletzt besucht am 27.11.2017)
  2. Buckley-Zistel, SFB-Governance Working Paper Series Nr.15, DFG Sonderforschungsbereich 700, S.3, 5; Roht-Arriaza, Transitional Justice, S.2.
  3. Werle, HFR 1996, S.1.
  4. Marx, Südafrika, S.225f.; Sodemann, Gesetze der Apartheid, S.23f.
  5. Kaußen, Von Apartheid zu Demokratie, S.80f.; Werle, HFR 1996, S.2.
  6. Werle, HFR 1996, S.2.
  7. Eser/Sieber/Arnold, Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht, S.45.
  8. Eser/Sieber/Arnold, Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht, S.45f.; Kaußen, Von der Apartheid zu Demokratie, S.85.
  9. Kaußen, a.a.O., S.101; Marx, Südafrika, S.279ff.
  10. Eser/Sieber/Arnold, Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht, S.51.
  11. Eser/Sieber/Arnold, Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht, S.69ff.; Nerlich, Apartheidkriminalität, S.12, 14.
  12. Buckley-Zistel, SFB-Governance Working Paper Series Nr.15, S.9; Werle/Bornkamm, Transitional Justice, S.84.
  13. Buckley-Zistel, Handreichung Transitional Justice, Plattform zivile Konfliktbearbeitung, S.3; Kutz, Amnestie für politische Straftäter, S.5ff.
  14. Werle/Bornkamm, Transitional Justice, S.81.
  15. Marxen, Grenzen der Amnestie, S.8f.
  16. Buckley-Zistel, SFB-Governance Working Paper Series Nr.15, S.9; Werle/Bornkamm, a.a.O., S.83.
  17. Buckley-Zistel, SFB-Governance Working Paper Series Nr.15, S.9.
  18. Buckley-Zistel, Handreichung Transitional Justice, S.5.
  19. Kutz, Amnestie für politsche Straftäter, S.10; Werle/Bornkamm, Transitional Justice, S.81.
  20. Werle/Bornkamm, a.a.O., S.81.
  21. Kutz, Amnestie für politische Straftäter, S.15.
  22. Albrecht, Regaining Trust and Confidence, in: Ewald/Turković, Large-Scale Victimisation as a Potential Source of Terrorist Activities, S.41; Buckley-Zistel, Handreichung Transitional Justice, S.3.
  23. Bacher, Beitrag von Wahrheitskommissionen, S.82.
  24. Boraine, The third way, S.143; Tutu, Keine Zukunft ohne Versöhnung, S.24.
  25. Boraine, The third way, S.143; TRC Final Report, Vol.1 Ch.4, S.52, abrufbar unter: <http://www.justice.gov.za/trc/report/finalreport/Volume%201.pdf.> (zuletzt besucht am: 18.08.13).
  26. Bacher, Beitrag von Wahrheitskommissionen, S.83.
  27. Hof/Schulte-Werle, Wirkungsforschung zum Recht III, S.293.
  28. Bacher, Beitrag von Wahrheitskommissionen, S.86f.; De Lange, South African TRC, S.14.
  29. Lang, Strafrechtsbezogene Vergangenheitspolitik, S.213.
  30. Durczak, Versuch einer Vergangenheitsbewältigung, S.118.
  31. Wendt, Wahrheits- und Versöhnungskommission, S.184.
  32. § 20 I National Unity and Reconciliation Act 34 of 1995.
  33. Lang, Strafrechtsbezogene Vergangenheitspolitik, S.221.
  34. Fernandez/Nerlich, ZStW 2005, 966 (983); Nerlich, Apartheidkriminalität vor Gericht, S.30.
  35. Lang, Strafrechtsbezogene Vergangenheitspolitik, S.446.
  36. Wendt, Wahrheits- und Versöhnungskommission, S.187.
  37. Kutz, Amnestie für politische Straftäter, S.78, 80f.; Nerlich, Apartheidkriminalität vor Gericht, S.323f.
  38. Nerlich, a.a.O., S.324.
  39. Vgl. dazu ausführlich: Lang, Strafrechtsbezogene Vergangenheitspolitik, S.361ff.
  40. Eser/Sieber/Arnold, Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht, S.116f.; Lang, Strafrechtsbezogene Vergangenheitspolitik, S.378f.
  41. Eser/Sieber/Arnold, Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht, S.119; Nerlich, Apartheidkriminalität vor Gericht, S.328f.
  42. Hof/Schulte-Werle, Wirkungsforschung zum Recht, S.293; Kaußen, Von Apartheid zu Demokratie, S.202f.
  43. Nerlich, Apartheidkriminalität vor Gericht, S.332.
  44. Kaußen, Von Apartheid zu Demokratie, S.202; Nerlich, a.a.O., S.332.
  45. Dyzenhaus, Judging the Judges, S.12.
  46. Nerlich, a.a.O., S.333.
  47. Chapman/Van der Merwe, Truth and Reconciliation in South Africa, S.292.
  48. Bacher, Beitrag von Wahrheitskommissionen, S.147.
  49. Bacher, a.a.O., S.117f.
  50. Hahn-Godeffroy, Die TRC, S.182.
  51. Greenawalt, Amnesty´s Justice, in: Rotberg/Thompson, Truth v. Justice, S.190.
  52. Lyster, The burden of victims, in: Villa-Vincencio/Verwoerd, Looking Back Reaching Forward, S.187; Wendt, Wahrheits- und Versöhnungs-kommission, S.263.
  53. Daly/Sarkin, Reconciliation in Divided Societies, S.73.
  54. Vgl. Bacher, Beitrag von Wahrheitskommissionen, S.147f.
  55. Bacher, a.a.O., S.117; Hahn-Godeffroy, Die TRC, S.179.
  56. Bacher, a.a.O., S.117.
  57. Kutz, Amnestie für politische Straftäter, S.295.
  58. TRC Final Report, Vol.1 Ch.5, S.129.
  59. Kutz, Amnestie für politische Straftäter, S.295.
  60. TRC Final Report, Vol.1 Ch.4, S. 57; TRC Final Report Vol.1, Ch. 5, S.128.
  61. Slye, Amnesty, Truth and Reconciliation, in: Rotberg/Thompson, Truth v. Justice, S.173.
  62. TRC Final Report, Vol.1 Ch.5, S.129.
  63. Moon, Reconciliation as Therapy, in: Veitch, Law and Politics of Reconciliation, S.171; Wendt, Wahrheits- und Versöhnungskommission, S.223.
  64. Wendt, Wahrheits- und Versöhnungskommission, S.264f.
  65. Barkoukis/Villa-Vicencio, Truth Commissions- A comparative Study, S.7, abrufbar unter: <http://www.ijr.org.za/img /trc/ South%20Africa.pdf> (zuletzt besucht am 15.08.13).
  66. Dardagan, Landeskunde- Südafrika nach der Apartheid, abrufbar unter: <http://www.bpb.de/gesellschaft/sport/fussball-wm-2010/64139/landeskunde-suedafrika-nach-der-apartheid> (zuletzt besucht am 26.10.14).
  67. Die Apartheid nach der Apartheid in Südafrika, abrufbar unter: <http://www.srf.ch/news/international/die-apartheid-nach-der-apartheid-in-suedafrika> (zuletzt besucht am 26.10.14); Deutsche Botschaft Pretoria zum Black Economic Empowerment, abrufbar unter: <http://www.southafrica.diplo.de/Vertretung/suedafrika/de/__pr/Botschaft/SOZ/7__BEE.html?archive=3600084> (zuletzt besucht am 26.10.14).

Wahrheitskommissionen – Eine Alternative zum Strafverfahren?

$
0
0

Lea Massow*, Universität Freiburg

(Diesen Artikel als PDF herunterladen)

In vielen Ländern werden in Postkonfliktsituationen Wahrheitskommissionen eingesetzt, um die in großem Ausmaß begangenen Menschenrechtsverletzungen aufzuklären. Wie funktioniert das und was können Wahrheitskommissionen, was die Strafjustiz nicht kann?

 

A. Einleitung

Syrien, Ukraine, Irak – in vielen Ländern gibt es zur Zeit gewaltsame Konflikte und Menschenrechtsverletzungen. Doch was geschieht, wenn die Kämpfe beendet sind? In einer Postkonflikt-Situation, d.h. nach Beendigung eines Kriegs, Bürgerkriegs oder einer Diktatur, ist es eine große Herausforderung für die Gesellschaft eines Landes, die Verbrechen der Vergangenheit aufzuklären und aufzuarbeiten. In Deutschland wurden zu dem Zweck nach dem zweiten Weltkrieg die Nürnberger Prozesse durchgeführt.  Die Aufarbeitung durch juristische Strafverfolgung ist zwar eine Möglichkeit, bietet aber auch viele Schwierigkeiten. Die organisierten Strukturen des Verbrechens und Masse an Täter/innen überfordern das nach einem Krieg oftmals geschwächte oder nicht funktionsfähige Justizwesen. 1 Außerdem kann die  Strafverfolgung von Einzelpersonen die Bedürfnisse der Opfer und der Gesellschaft nach umfangreicher Aufklärung der vielschichtigen Gründe von Massengewalt in vieler Hinsicht nicht erfüllen. Deshalb wurden in vielen Ländern nicht-juristische Methoden, sogenannte „Transitional Justice“- Maßnahmen entwickelt und zur Aufarbeitung eingesetzt, die bekannteste hiervon ist die Wahrheitskommission. Wahrheitskommissionen wurden schon in über 40 Ländern in der ganzen Welt zur Untersuchung, Dokumentation und Aufarbeitung vergangener Menschenrechtsverletzungen eingesetzt. 2 Begonnen hatten Argentinien und Bolivien Anfang der 1980er Jahre, die Kommissionen einsetzten um das Schicksal von in den Militärdiktaturen verschwundenen Personen aufzuklären. Besondere Bekanntheit erreichte die Wahrheits- und Versöhnungskommission von Südafrika, die 1995-2002 zur Aufarbeitung der Apartheid tätig war. Seitdem hat sich die Anzahl der Kommissionen stetig vermehrt, allein im vergangenen Jahrzehnt haben über zwölf Staaten eine Wahrheitskommission beauftragt, darunter Marokko, Indonesien, Ecuador, Liberia und Kanada.

Dieser Artikel soll die Maßnahme „Wahrheitskommission“ vorstellen, ihre Arbeitsweise erläutern und ihre Stärken und Schwächen mit denen des Strafverfahrens vergleichen.

 

B. Definition

Eine international bindende Definition von Wahrheitskommission gibt es nicht. Forscherin Priscilla Hayner definiert eine Wahrheitskommission als ein Organ, das

  • eine Struktur von Menschenrechtsverbrechen untersucht, die über einen längeren Zeitraum in der Vergangenheit stattfanden
  • sich direkt und umfassend mit der betroffenen Bevölkerung auseinandersetzt und seine Informationen von ihren Erfahrungen sammelt mit dem Ziel einen Abschussbericht zu veröffentlichen
  • ein vorübergehend eingerichtetes, unabhängiges Organ ist, und
  • offiziell vom Staat bevollmächtigt oder ermächtigt worden ist. 3

 

C. Arbeitsweise

Die Arbeitsweise einer Wahrheitskommission sowie Art und Weise der Untersuchung variiert von Kommission zu Kommission. Sie ist von vielen Faktoren abhängig: Von den im Mandat erteilten Befugnissen, von den verfügbaren Ressourcen und den gestalterischen Entscheidungen der Mitarbeiter/innen.

Die Wahrheitskommission wird durch Mandat vom Präsident oder Parlament beauftragt. In jüngerer Zeit wurden Mandate auch mehrmals in UN-geführten Friedensverhandlungen beschlossen und später von der nationalen Gesetzgebung konkretisiert. 4 Im Mandat wird die Untersuchung auf bestimmte Arten oder Zeiträume von Verbrechen beschränkt, der zeitliche Rahmen der Untersuchung vorgegeben und die Kommission zur ihrer Durchführung ermächtigt. Manchen Kommissionen wurden gewisse quasi-richterliche Befugnisse verliehen, z.B. zur Durchsuchung und Beschlagnahme oder zur Ladung von Zeugen unter Drohung von Strafe. Außerdem wird im Mandat das Budget festgelegt. Die früheren Wahrheitskommissionen wurden meist national finanziert, inzwischen stammt oft ein Großteil der Gelder von internationalen Gebern, meist ausländischen Regierungen. 5 In beiden Fällen ist die entstehende Abhängigkeit von den Geldgebern problematisch, insbesondere wenn zu Beginn der Arbeit noch nicht die volle Finanzierung bewilligt und verfügbar ist oder der Bedarf größer ist als veranschlagt. Viele Wahrheitskommissionen kämpfen mit finanziellen Engpässen.

 

Als nächsten Schritt werden die Mitglieder der Kommission ausgewählt und Mitarbeiter/innen angestellt. Bei der Auswahl der Kommissar/innen ist ihre Unabhängigkeit und politische Neutralität wichtig. Außerdem sollte die Kommission möglichst viele verschiedene persönliche Hintergründe mitbringen. Insbesondere wenn die früheren Konfliktlinien entlang ethnischen Gruppenzugehörigkeiten liefen, ist es für die Akzeptanz durch die Bevölkerung wichtig, dass Zugehörige jeder Gruppe vertreten sind. 6

 

Die Kommission richtet dann lokale Büros im Land verteilt ein oder stellt mobile Teams von Mitarbeiter/innen zusammen, die die Arbeit der Kommission bei der Bevölkerung bekannt machen, Recherchen anstellen, Betroffene ausfindig machen und die Anhörungen vorbereiten. Die Anhörungen selbst werden dann öffentlich und unter möglichst großer Beteiligung der Bevölkerung abgehalten. Die Kommission sammelt alle Aussagen und Recherchen, wertet sie aus und schreibt einen Abschlussbericht, den sie der Regierung überreicht.

 

Umstritten und je nach Kommission unterschiedlich ist, ob nur Opfer aussagen dürfen, oder auch Täter/innen. 7 Bei der Beteiligung von Täter/innen kann auch deren Sicht zum umfassenden Verständnis der Verbrechen beitragen. Andererseits werden verharmlosenden Darstellungen Tür und Tor geöffnet und das Aufeinandertreffen kann zur Retraumatisierung der Opfer führen.

 

 

D. Stärken und Schwächen von Wahrheitskommissionen

Im Folgenden soll ausgewertet werden, was die Wahrheitskommission als Methode im Vergleich zu Strafverfahren leisten kann und wo ihre Schwächen liegen. Dabei wird ihre Funktionalität und Effektivität in Bezug auf folgende Ziele der „Transitional Justice“ untersucht: Die Wahrheitsfindung an sich, die Erfüllung der Bedürfnisse der Opfer und Friedensförderung.

 

1.     Wahrheitsfindung

Wahrheitskommissionen und  Gerichtsverfahren unterscheiden sich bei der Wahrheitsfindung in ihrer unterschiedlichen Zielsetzung. Das Gerichtsverfahren zielt auf die Feststellung individueller Schuldigkeit ab. Dies ist eine Begrenzung in mehrerer Hinsicht:

Erstens ist der Untersuchungsgegenstand eingegrenzt durch die angeklagten Personen. Es kommen nur diejenigen Personen zur Anklage, bei denen die Beweislage zur Verurteilung für ein konkretes, gesetzlich strafbares Verbrechen ausreicht. Oftmals ist dies bei den niedrigeren Chargen eines Systems der Fall, so dass der Eindruck entstehen kann, die „kleinen“ Täter/innen würden bestraft während die großen nicht belangt werden. 8 Wenn Täter nicht mehr leben, besteht ein Verfahrenshindernis; sodass die Taten toter Täter/innen nie aufgeklärt werden. 9

Die Frage nach der Beteiligung und Schuld von Institutionen, vielleicht sogar der Justiz selbst, bleibt bei Verfahren gegen einzelne Straftäter/innen außer Acht. 10 Gerichte konzentrieren sich zudem nur auf die Schuldfrage im strafrechtlichen Sinne, wobei die komplexen, vielschichtigen Ursprünge für Massengewalt nicht analysiert werden. 11

Das Strafverfahren wird durch die Ermittlung der Fakten determiniert, die zum Beweis der Verbrechen notwendig sind. Die restriktiven Regeln des Beweisverfahrens führen dazu, dass die Informationen, die bei dem Verfahren aufgedeckt werden und zur Sprache kommen können, von vornherein beschränkt sind. 12 Politische, soziale und ökonomische Hintergründe der Gewalt gehören nicht dazu.

Wahrheitskommissionen hingegen sind mit dem Ziel eingerichtet worden, gerade diese Hintergründe sowie die Struktur der Verbrechen zu untersuchen, zu dokumentieren und zu verbreiten. Dabei sind sie frei in ihrer Ermittlungstiefe und können selbst entscheiden, wie sie ihre Ressourcen auf die Fälle verteilen. 13 Sie können außerdem Verantwortlichkeiten besser differenzieren, da sie nicht an die Alternativen von Verurteilung oder Freispruch gebunden sind. 14 Sie müssen auch keine absoluten Beweise liefern, sondern können bereits starke Vermutungen, bruchstückhafte oder widersprüchliche Erkenntnisse oder solche ohne Namen oder genaue Zuordnung veröffentlichen, um wenigstens teilweise die Wahrheit zu erhellen. 15 Diese Fülle und Breite der Ermittlungen ermöglichen besseres Verständnis von komplexen Zusammenhängen und Verbrechensmustern.

 

Wahrheitskommissionen haben aber auch Schwierigkeiten bei der Wahrheitsfindung. Typischerweise leiden sie unter zu geringer Finanzierung und verbunden mit der engen Zeitbegrenzung sind ihre Kapazitäten zu umfangreichen Untersuchungen oft sehr begrenzt. 16 Sie können meist in nur einem kleinen Teil der Fälle überhaupt individuelle Ermittlungen anstellen. 17 Außerdem sagen die Personen vor der Wahrheitskommission oft nicht die volle Wahrheit oder haben Erinnerungslücken. 18 Daher ist es für Wahrheitskommissionen oft schwieriger, die Wahrheit über spezifische Ereignisse herauszufinden.

 

2.     Bedürfnisse der Opfer

Im Laufe der Zeit sind die Bedürfnisse der Opfer sowie ihre Partizipation zu einem normativen Fokus von Transitional Justice geworden, an dem sich Auswahl und Durchführung der Maßnahmen orientieren sollen. 19 Die Heilung und Rehabilitation der Opfer ist ein komplexer, langandauernder und subjektiver Prozess, zu dem Transitional Justice Maßnahmen natürlich nur in begrenztem Maße beitragen können. 20. Neben dem bereits behandelten Bedürfnis, die Wahrheit zu erfahren, gehören zu den wichtigsten Bedürfnissen der Opfer: Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit um ihre Geschichte zu erzählen, die öffentliche Anerkennung der Wahrheit, Vergeltung durch Bestrafung der Schuldigen und Entschädigungen. 21

a.)    Öffentliche Aufmerksamkeit

Opfer haben oft das dringende Bedürfnis, ihre Geschichte zu erzählen und von der Öffentlichkeit gehört zu werden. 22 Dies ist besonders wichtig, wenn das eigene Schicksal bisher ausgeblendet oder totgeschwiegen wurde. 23 Dass ihm zugehört wird, ist eine Wertschätzung des Opfers und seiner Erfahrungen und trägt zu seiner Rehabilitation bei.

Indem die Strafjustiz ihre Legitimation aus dem Strafanspruch der Gesellschaft statt der Opfer bezieht, hat die Opfersicht in Gerichtsverfahren traditionell wenig Relevanz. 24 Opfer können grundsätzlich nur die Funktion eines Zeugen haben und kommen als solche lediglich zu Wort, wenn es zum Nachweis bestimmter Elemente der Tat notwendig ist. 25 Diese Funktionalisierung statt einer aktiven Rolle kann zu Gefühlen von Ausgrenzung und Ohnmacht des Opfers führen. 26 Außerdem sind die Opfer bei Zeugenaussagen ständigen Unterbrechungen, Kreuzverhören und einer grundsätzlichen Skepsis der Justiz ausgesetzt. 27  Die zunehmende Beteiligung als Nebenkläger/innen ist zwar ein Schritt zu mehr Einfluss der Opfer auf das Verfahren, 28 bewegt sich allerdings in einem sehr begrenzten verfahrensrechtlichen Rahmen. 29 Im Strafverfahren ist folglich wenig Raum für die Opfer, ihre Geschichte zu erzählen und gehört zu werden.

Wahrheitskommissionen hingegen sind nicht durch Prozessrecht gebunden und bieten den Opfern eine zentrale Rolle. Ihre Aussagen sind meistens von elementarer Bedeutung als erste Informationsquelle der Wahrheitskommission. 30 Der Vorgang der öffentlichen Anhörungen bietet den Opfern eine Plattform, ihre Geschichte ununterbrochen darzustellen. In Marokko hatte es sich die Kommission zum Grundsatz gemacht, dem Opfer keine Fragen zu stellen, sondern nur zuzuhören. 31 Oft ist es das erste Mal, dass das Opfer seine Erlebnisse vor einem größeren Publikum erzählt. Dies kann Erleichterung nach Jahren des Schweigens oder Unterdrückung von der Regierung bringen und hat oft einen bestärkenden oder kathartischen Effekt. 32

Es besteht aber auch die Gefahr von negativen Auswirkungen auf das Opfer. Um möglichst viele Informationen zu sammeln, fordern die Wahrheitskommissionen oft eine Schilderung in genauen Einzelheiten. 33 Dies kann Druck auf das Opfer ausüben, der Ärger wiederaufleben lässt und zu posttraumatischem Stress führt. 34 Zu beachten ist, dass jedes Opfer auf die Anhörung vor einer Wahrheitskommission  unterschiedlich reagiert und sie deshalb keinesfalls eine einheitliche psychotherapeutische Maßnahme für  alle Opfer darstellt. 35 Zu einer wünschenswerten psychotherapeutischen Begleitung der Opfer durch die Kommission gab es bisher nur wenige Ansätze. 36

b.)    Anerkennung

Ein wichtiges Bedürfnis der Opfer ist, dass die Wahrheit öffentlich gemacht und von offizieller Seite anerkannt wird. 37 Dadurch wird oftmals bisherigen Leugnungen der Geschichte entgegengetreten. Die Anerkennung fördert die Rehabilitierung, d.h. Wiederherstellung der Würde der Opfer.

Strafurteile bringen die Wahrheit über einzelne Fälle ans Licht und können so falsche Versionen entkräften. Allerdings kann es aus Verfahrensgründen statt zu einer Verurteilung zu Freisprüchen oder Einstellungen kommen. Dann entsteht der gegenteilige Effekt: Das Leid des Opfers wird nicht anerkannt. Das kann dazu führen, dass sich das Opfer ungerecht behandelt und vom Staat nicht angenommen fühlt.

Anders ist es bei Wahrheitskommissionen: Opfer berichten, dass sie bereits die Aussage vor der Wahrheitskommission als eine Anerkennung ihrer Geschichte als „Teil des Mosaiks der Geschichte des Landes“ empfunden haben. 38 Im Abschlussbericht stellt die Wahrheitskommission dann die begangenen Menschenrechtsverletzungen dar. Dies ist ein gewisses Maß an offizieller Anerkennung der Erfahrungen der Opfer. Noch wirkungsvoller ist die Anerkennung, wenn der Bericht die Regierung zu einer umfassenden öffentlichen Entschuldigung veranlasst, wie z.B. in Peru und Chile. Einmal gab er auch schon den Anstoß zu einem Eingeständnis einer ausländischen Regierung: Kurz nach der Veröffentlichung des Berichts der Wahrheitskommission in Guatemala gab der damalige US-Präsident Clinton zu, die Unterstützung der Militärkräfte durch die USA sei falsch gewesen. 39 Eine ernst gemeinte offizielle Entschuldigung fördert die Rehabilitierung der Opfer.

c.)    Vergeltung

Eine empirische Studie zeigt, dass die Mehrheit der Opfer eine Strafverfolgung der Täter/innen fordert. 40 Strafverfolgung erfüllt retributive Gerechtigkeit, d.h. sie ist auf Vergeltung ausgerichtet. Als nichtgerichtliche Organe können Wahrheitskommissionen keine strafrechtliche Schuld feststellen oder Strafen verhängen. Sie können lediglich die Befugnis haben, Namen und Verantwortlichkeiten benennen, was zumindest zu einer Exponierung der Schuldigen führt. Zu Erfüllung des Bedürfnisses nach retributiver Gerechtigkeit in Form einer Strafe ist jedoch nur die Justiz fähig und geeignet.

d.)    Entschädigung

Schließlich fordern viele Opfer eine Entschädigung. Oftmals hat das erlittene Unrecht neben den psychischen auch spürbar materielle Folgen (z.B. Erwerbsunfähigkeit, Krankheit, Zerstörung des Eigentums/Wohnraums). 41 Ein Recht auf staatliche Reparationszahlungen ist inzwischen völkerrechtlich anerkannt. 42

In den meisten Rechtsordnungen des „civil law“ können Opfer sich durch ein Adhäsionsverfahren eine Entschädigungsforderung an das Strafverfahren anhängen. 43 Strafverfahren können daher, sofern erfolgreich, gute Voraussetzungen für Entschädigungszahlungen bieten.

Wahrheitskommissionen können im Abschlussbericht Entschädigungszahlungen für die von ihnen identifizierten Opfer empfehlen. In manchen Fällen (z.B. Chile) wurden die Empfehlungen vollständig umgesetzt, oftmals jedoch nicht. Auch wenn sie nicht umgesetzt werden, können sie ein Fixpunkt für Opferanwälte sein. 44 Letztlich können Wahrheitskommissionen aber nur den Weg für Entschädigungen bereiten und die Empfänger identifizieren, die tatsächliche Zahlung bleibt vom politischen Willen der Regierung abhängig. Nur in Marokko hatte die Wahrheitskommission selbst die Befugnis, Entschädigungen direkt zu vergeben. 45

3.     Friedensförderung

 

Mit Friedensförderung ist die Förderung von „positivem Frieden“ gemeint, also nicht lediglich die Abwesenheit von Krieg, sondern der Aufbau eines demokratischen Rechtsstaats, der von der gesamten Gesellschaft getragen wird und dadurch dauerhaft Frieden zu garantieren fähig ist. Untersucht wird, inwiefern Wahrheitskommissionen im Vergleich zu Gerichten die Rechtsstaatlichkeit und die gesellschaftliche Versöhnung fördern können.

a.)    Rechtstaatlichkeitskultur

Für die Schaffung einer Kultur der Rechtsstaatlichkeit sind das Vertrauen der Gesellschaft in die staatlichen Institutionen und ihre Repräsentanten sowie die (Wieder-)Herstellung allgemeinen Respekts für die Rechtsordnung und insbesondere für die Menschenrechte unabdingbar. 46

Die gerichtliche Aufarbeitung kann positive Auswirkungen auf die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit haben. In der Erfüllung von internationalen Verpflichtungen zur strafrechtlichen Ahndung von Völkerrechtsverbrechen manifestiert sich ein grundsätzliches Bekenntnis zu rechtsstaatlichen Standards. 47 Außerdem bekräftigen Gerichtsverfahren die Verantwortlichkeit der Regierung sowie die Gleichheit aller vor dem Gesetz. 48 Mit einer unparteilichen Rechtsprechung wird der Bevölkerung ein gewaltfreier Weg zur Konfliktlösung aufgezeigt. 49 Dies alles setzt aber voraus, dass die Gerichte bereits relativ unabhängig und rechtsstaatlich agieren. Wenn die alten Eliten noch Einfluss auf die Justiz behalten oder die staatlichen Institutionen zu schwach sind, verringern die Verfahren die Glaubwürdigkeit der Justiz bei der Bevölkerung.

Wahrheitskommissionen stärken die Rechtsstaatlichkeitskultur, indem sie öffentlich auf Menschenrechtsverletzungen hinweisen und die verantwortlichen Institutionen und manchmal Individuen benennen. 50 Oft stellen sie in ihren Berichten die Justiz für ihre Inaktivität oder Komplizenschaft an den Pranger. 51 Empfehlungen der Wahrheitskommissionen beinhalten häufig Reformvorschläge für Militär, Polizei und Justizwesen. 52 Dazu gehört auch die Entlassung belastete Funktionsträger. Die Umsetzung der Reformvorschläge hängt jedoch weiterhin vom politischen Willen der Regierung ab und ist in vielen Fällen mangelhaft. 53 Dieser Widerspruch zwischen den Empfehlungen und ihrer Umsetzung können bei der Bevölkerung zu Kritik und Desillusion führen. 54

An Wahrheitskommissionen wird kritisiert, dass sie durch ihren Fokus auf strukturelle Ursachen der Gewalt statt individueller Verantwortlichkeit eine Kultur der Straflosigkeit fördern. 55 Durch die Ermittlung der Wahrheitskommission werden aber in vielen Fällen Täter/innen sowie ihre Familien und ihr Umfeld zum ersten Mal mit ihrem Tun konfrontiert. 56 Zudem kann die Nennung von Namen im Abschlussbericht zu einem gewissen Maß individueller Verantwortlichkeit führen.

b.)    Gesellschaftliche Versöhnung

Bei Strafverfahren hat die Gesellschaft eine rein beobachtende Funktion. Im Gerichtssaal wird durch den Verfahrensablauf eine gegnerische Atmosphäre hergestellt, die eher zur Aufheizung denn zur Versöhnung beiträgt. Außerdem kann durch die Fokussierung auf einige wenige Straftäter/innen ein „Sündenbock-Effekt“ hervorrufen, 57 der die Abgrenzung der Bevölkerung von den Täter/innen in den Vordergrund stellt, statt die Aufarbeitung als eine gemeinsame Aufgabe aller zu begreifen. 58

Im Gegensatz dazu nennen sich viele Wahrheitskommissionen „Wahrheits- und Versöhnungskommissionen“, fühlen sich also der Versöhnung als Ziel gleichermaßen verpflichtet. Dabei gehen die meisten von der Annahme aus, dass Wahrheitsfindung automatisch zu Versöhnung führt. Wahrheitskommissionen können aber auf kurzfristige Sicht durchaus zu sozialen Spaltungen führen, wenn die begangene Gewalt und die Verantwortlichkeits- und Schuldfragen öffentlich diskutiert werden. 59 Auf lange Sicht kann sie jedoch auf verschiedene Weise zur Überwindung der tiefen emotionalen Verfeindung zwischen den ehemaligen Konfliktparteien beitragen.

Wichtig für die Versöhnung ist die Erstellung eines gemeinsamen nationalen Geschichtsbilds, damit die Gesellschaft ein gemeinsames Bewusstsein für das Geschehene erhält. Wahrheitskommissionen können durch die Sammlung, Analyse und Dokumentation der Vorgänge einen ersten Schritt für ein solches Bewusstsein leisten, indem ihr Bericht eine Quelle für öffentliche Bildung und Aufklärung ist. 60 Damit dient sie auch der Entschärfung von potentiellen Konfliktherden, zum Beispiel durch Verhinderung der Entstehung bzw. dem Fortbestand von gefährlichen Mythen. 61 Prominentes deutsches Beispiel für die Explosivität eines Mythos ist die sog. Dolchstoßlegende nach dem ersten Weltkrieg.

Außerdem können Wahrheitskommissionen durch ihre Öffentlichkeitsarbeit zu einer neuen Bildersprache und Symbolik beitragen. 62 Dadurch kann Vorurteilen zwischen Gruppen entgegengewirkt und neue Arten der Interpretation der Vergangenheit angeboten werden. Prominentes Beispiel sind die Reden von Erzbischof Desmond Tutu, dem Vorsitzenden der Südafrika-Wahrheitskommission, der von einer „Regenbogennation“ sprach und das Gedächtnis von Opfern zelebrierte, indem er sie als neue Heldenfiguren darstellte.

Der Versöhnungsprozess hängt auch eng zusammen mit dem wachsenden Gefühl von nationaler Identität und gemeinsamer Bürgerschaft. 63 Die Arbeit einer Wahrheitskommission ist ein nationales Projekt, das idealerweise die verschiedenen Akteure und Schichten der Gesellschaft einbindet. 64 Es handelt sich um ein gemeinsames Erlebnis, das zur Identitätsstiftung und dem Empfinden als einer „Schicksalsgemeinschaft“ beitragen kann. 65

 

E. Resümee

Wie dargelegt wurde, können Wahrheitskommissionen starke positive Auswirkungen auf die Bedürfnisse einer Gesellschaft in einer Postkonfliktsituation haben. Im Vergleich zu Gerichtsverfahren stechen sie insbesondere durch ihre Analyse von politischen und sozialen Hintergründen der Gewalttaten, ihre die ganze Gesellschaft einbindende Herangehensweise sowie ihre besondere Aufmerksamkeit gegenüber den Opfern hervor. Es zeigt sich also, dass die Wahrheitskommission keineswegs eine „schwache Alternative“ zur Strafjustiz ist, die nur eine Berechtigung hat, wenn die Strafverfolgung nicht durchführbar ist, 66 sondern dass sie die Aufarbeitung der Vergangenheit auf eine ganz andere Art und Weise fördert als die Strafjustiz. Es handelt sich bei den beiden Maßnahmen daher nicht um sich ausschließende Alternativen. Wahrheitskommissionen können zusätzlich zum Strafverfahren eingerichtet werden, sie können den Weg für zukünftige Strafverfahren bahnen, und sogar mit Gerichten zusammenarbeiten. 67 Eine Kombination der Maßnahmen kann ihre Stärken addieren und ihre Schwächen ausgleichen, und dadurch eine weitgefächerte Wirkung hervorrufen. Eine solche planvolle Kombination von Wahrheitskommission und Strafjustiz wurde, obwohl vielfach gefordert, bisher erst in ganz wenigen Fällen versucht.

Auch sonst gibt es noch viel Handlungsbedarf, um den Schwierigkeiten von Wahrheitskommissionen zu begegnen und ihr volles Potential auszuschöpfen. Schädlichen Auswirkungen wie der Retraumatisierung von Opfern muss durch ihre psychotherapeutische Begleitung entgegengewirkt werden. Bessere Finanzierung ist in den meisten Fällen zur Erhöhung ihrer Effektivität notwendig. Zur Auswertung des Erfolgs einer Wahrheitskommission bedarf es außerdem vermehrt unabhängiger empirischer Forschung. Die betreffenden Staaten müssen auf die wachsende Menge an Erfahrungen mit dieser Maßnahme zugreifen können, um Fehler von vornherein zu vermeiden und mit Schwierigkeiten in der Durchführung besser umzugehen.

 

In der internationalen Gemeinschaft verdient die Wahrheitskommission als einzigartige Methode der Vergangenheitsbewältigung mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung. Sie muss dabei aber auch als genuin nationale Maßnahme respektiert und darf nicht erzwungen werden. Gerade im Hinblick auf das politische Veränderungspotential durch Umsetzung der Empfehlungen und Reformvorschläge ist es wichtig, dass die Einrichtung der Kommission vom politischen Willen des Staates zur Aufarbeitung getragen wird.

 

* Dieser Artikel beruht auf der im August 2013 von der Autorin erstellten Seminararbeit „Wahrheits- und Versöhnungskommissionen“ im Rahmen des kriminologischen Seminars „Transitional Justice – Gesellschaftliche Transformationsprozesse, Gerechtigkeit und die Rolle des Strafrechts“ bei Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Jörg Albrecht.


Fußnoten:

  1. Pasternak, Wahrheitskommissionen (2003), S. 23 ff.
  2. Eine umfangreiche Übersicht über die Länder und ihre Wahrheitskommissionen findet sich in Hayner, Unspeakable truths (2011), S. 256 f.
  3. Hayner, Unspeakable truths, S.11 f.
  4. Hayner, S. 211.
  5. Hayner, S. 217.
  6. Pasternak, S. 54.
  7. Gonzales/Varney (Hsrg.), Truth Seeking – Elements of creating an effective truth commission (2013), Chapter 6,  S. 38.
  8. Pasternak, S.25.
  9. Pasternak, S.25.
  10. Olson, Mechanisms complementing prosecution (2002), in: International Review of the  Red Cross, Vol. 84 Nr.845, S.173, 175
  11. Bisset, Truth commissions and criminal courts (2012), S.34.
  12. Olson, S. 175.
  13. Pasternak, S.29 f.
  14. Pasternak, S.30.
  15. Pasternak, S.30.
  16. Bisset, S.34.
  17. Freeman, S. 76.
  18. Bisset, S. 35.
  19. Bonacker, Globale Opferschaft : Zum Charisma des Opfers in Transitional Justice Prozessen, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 19. Jhg. (2012), Heft 1, S.5, 6.
  20. Bisset, S. 38.
  21. Pasternak, S.10 ff.
  22. Hayner, S. 147 ff.
  23. Pasternak, S.14.
  24. Bisset, S. 37.
  25. Bisset, S.37.
  26. Bisset, S.37.
  27. Freeman, S.82.
  28. Bonacker, S. 13.
  29. Bisset, S. 37.
  30. Bisset, S. 37 f.
  31. Freeman, Truth commissions and procedural fairness, (2006), S.82 Fn. 363.
  32. Olson, S.177.
  33. Olson, S.177.
  34. Brahm, Uncovering the truth : Examining Truth Comission Sucess and Impact, in: International Studies Perspectives (2007)Vol.8, S.16, 20
  35. Hamber/Wilson, Symbolic closure through memory, reparation and revenge in post-conflict societies,  in: Journal of Human Rights, Vol. 1, Nr.1 (2002), S. 35, 36.
  36. Olson, S. 77.
  37. Pasternak, S.11 ff.
  38. Pasternak, S.13.
  39. Freeman, S.80 Fn.352.
  40. Kiza/Rathgeber/Rhone, Victims of war: an empirical study on war- victimization and victims’ attitudes towards addressing atrocities (2006),  S.97.
  41. Pasternak, S. 15.
  42. Bonacker, S.13.
  43. Freeman, S.79.
  44. Freeman, S.80.
  45. Freeman, S.80.
  46. Pasternak, S. 17.
  47. Weiffen, Der vergessene Faktor- zum Einfluss von Transitional Justice auf die Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit in Demokratisierungsprozessen, in: Zeitschrift für vergleichende Politikwissenschaft (2011) S. 51, 53.
  48. Weiffen, S. 54.
  49. Weiffen, S. 54.
  50. Weiffen, S. 55.
  51. Weiffen, S. 55.
  52. Brahm, Uncovering the truth, S.25.
  53. Hayner, S. 193.
  54. Chapman, Approaches to Studying Reconciliation, in: Assessing the impact of Transitional Justice (2009), S.143, 159.
  55. Weiffen, S. 55.
  56. Pasternak, S. 34.
  57. Pasternak, S.26.
  58. Olson, S.175.
  59. Chapman, S. 158.
  60. Chapman, S. 159.
  61. Paternak, S. 19.
  62. Chapman, S. 163.
  63. Chapman, S. 153 .
  64. Bacher, Der Beitrag von Wahrheitskommissionen zur Friedenskonsolidierung und dauerhaften Versöhnung (2004), S. 79.
  65. Chapman, S. 159.
  66. Freeman, S. 83 f.
  67. Freeman, S. 83.

Rezension zu „Müller, Kommunalrecht Baden-Württemberg“

$
0
0

aus der JURIQ-Reihe des C.F. Müller Verlags

Friederike Düppers*

(Diesen Artikel als PDF herunterladen)

In der Vorbereitung auf Klausuren sieht man sich oft mit einer Frage konfrontiert: Greife ich zum umfassenden Lehrbuch oder zum etwas kürzer gehaltenen Skript? Gerade im Landesrecht ist die Auswahl an Vorbereitungsliteratur beschränkt. Besonders bekannt sind die Skripten der Verlage Alpmann Schmidt und Hemmer. Weniger bekannt ist hingegen noch die JURIQ-Reihe des C.F. Müller Verlags. Umso mehr lohnt es sich, einmal einen genauen Blick auf ihre Skripten zu werfen.

Bereits wenn man das 136 Seiten starke Skript zum Kommunalrecht Baden-Württemberg (3. Auflage 2014) das erste Mal durchblättert, fällt einem ein entscheidender Unterschied zu einem Lehrbuch auf. Das Skript enthält Hinweis- und Klausuren-Tipp-Kästchen in einem hellen Orange-Ton, was dem Buch etwas Farbe verleiht. Stellenweise finden sich auch hervorgehobene Prüfungsschemata und vier etwas größere Übungsfälle sind mit orangenen Balken an der Seite markiert. Teilweise werden Beispiele sogar mit kleinen Zeichnungen veranschaulicht.

Im Vorwort findet sich zunächst eine Erklärung der Symbole, die im Skript immer wieder auftauchen. Definitionen zum Auswendiglernen sind dabei mit zwei Pfeilen gekennzeichnet und Problempunkte durch ein P. Außerdem wird auch auf den Online-Wissenscheck hingewiesen. Denn jedes Skript enthält einen individuellen User-Code, mit dem man sich auf der Homepage anmelden kann. Der Wissenscheck steht einem ab dem Zeitpunkt der Anmeldung für 24 Monate zur Verfügung. Dies ist eine ansprechende Methode, das Erlernte durch Wiederholungen aktuell zu halten und eignet sich daher auch besonders zur langfristigen Wiederholung in der Examensvorbereitung.

Insgesamt ist das Skript in 18 größere Kapitel unterteilt, die wiederum in sich gut gegliedert sind. Kurze Absätze schaffen Übersichtlichkeit. Es finden sich immer wieder abschließende Skizzen, die das vorher in einem Fließtext Erarbeitete noch einmal schematisch darstellen (z.B. zur Staatsverwaltung S.3). Der Text ist prägnant geschrieben, sodass zum Verständnis oft ein einmaliges Lesen der Textpassage ausreicht. Das Skript gibt dabei zwar nur das Wesentliche wieder. Große Lücken oder gar Fehler sind mir jedoch nicht begegnet. Gerade für einen guten Überblick und das Verständnis der Zusammenhänge, die im Verwaltungsrecht von großer Bedeutung sind, eignet sich das Skript sehr. Wer sich aber gerne tiefergehend mit Problematiken und detaillierten Streits auseinandersetzen möchte, muss sich auf ein umfassenderes Lehrbuch verweisen lassen. Die Wissensvermittlung gelingt insgesamt schnell und so fällt einem das Durcharbeiten leicht.

Eine Hilfestellung zur Einordnung der Thematik in ein Gutachten liefern die vier großen Übungsfälle. Sie sind mehrheitlich Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes nachgebildet und werden sauber im Gutachtenstil gelöst. Dies vermittelt auch den Klausuraufbau und die Darstellung von Problemen, die Lehrbücher im Regelfall nicht bieten. Außer den großen Fällen finden sich aber auch zahlreiche, kürzere Beispiele zur Veranschaulichung der Problempunkte.

Hilfreich sind zu diesem Zweck auch die bereits angesprochenen Hinweise am Rand. Dabei handelt es sich teilweise einfach nur um praktische Tipps, wie sich das Inhaltsverzeichnis eines Gesetzes (hier z.B. die der GemO und der LKrO auf S. 1) zu Gemüte zu führen oder auch, wann es sich lohnt, selbst längere Normen mit Katalogen durchzulesen (wie bei § 16 I GemO auf S. 20). Zusätzlich finden sich aber auch noch Klausurtipps in Form von Info-Kästchen. Dabei handelt es sich beispielsweise um Hinweise zum Klausuraufbau. Dort wird dann u.a. darauf hingewiesen, an welcher Stelle im Gutachten eine Diskussion der Probleme notwendig ist. 1 Andererseits bieten diese Kästchen auch Aufzählungen von besonders klausurrelevanten Themengebieten (z.B. eine Zusammenfassung klausurtypischer Verfahrens- und Formvorschriften auf S. 94).

Insgesamt vermittelt das Skript einen sehr positiven Eindruck und hat sich für mich als gute Alternative zum Lehrbuch erwiesen. Gerade bei einem sonst eher vernachlässigten Fach wie dem Kommunalrecht, eignet sich das JURIQ-Skript sowohl zum Einstieg in das Rechtsgebiet, als auch zur Wiederholung in der Examensvorbereitung oder vor dem großen Schein im öffentlichen Recht. Es vermittelt einen guten Überblick über das Rechtsgebiet und legt den Grundstein zur Vertiefung des Wissens anhand von Fällen oder umfangreicherer Lektüre. Von Vorteil ist auch, dass sich das Skript auf baden-württembergisches Landesrecht spezialisiert hat. Anders als bei manchen Sammellehrbüchern für das besondere Verwaltungsrecht, muss man nicht mühsam differenzieren, welche Regelungen im eigenen Bundesland gelten. Für den Preis von 17,99 € inklusive des Online-Wissenschecks ist das JURIQ-Skript zum Kommunalrecht Baden-Württemberg also eine lohnende Anschaffung.

 

* Cand. iur. Friederike Düppers ist Studentin der Rechtswissenschaft an der Universität Freiburg im neunten Semester und befindet sich zurzeit in der Examensvorbereitung.


Fußnoten:

  1.      Z.B. dass ein Eingriff in den Kernbereich kommunaler Selbstverwaltung nicht gerechtfertigt werden kann, sodass eine Diskussion zu Problempunkten bereits frühzeitig zu erfolgen hat (S. 10).

“Recht mitgestalten” beim 70. Deutschen Juristentag (djt) in Hannover

$
0
0

Julia Scholz

(Diesen Artikel als PDF herunterladen)

Vom 16. bis 19. September 2014 fand der 70. Deutsche Juristentag nach 22 Jahren wieder einmal in Hannover statt. Die niedersächsische Landeshauptstadt bot rund 2.500 Juristinnen und Juristen vier Tage lang Gelegenheit, aktuelle Fragen aus Rechtspolitik und Justiz zu diskutieren.

Der Deutsche Juristentag e.V. ist ein eingetragener Verein mit ca. 7.000 Mitgliedern, der Juristinnen und Juristen aus allen Berufsgruppen und Generationen vereint. Der Verein hat es sich zum Ziel gesetzt, rechtliche Entwicklungen zu untersuchen, auf Rechtsmissstände hinzuweisen und Problemlösungen zu erarbeiten, die Anregung und Vorschlag für den Gesetzgeber sein sollen. Zu diesem Zweck wird der djt seit 1860 alle zwei Jahre in einer anderen deutschen Stadt abgehalten. Sechs Fachabteilungen befassen sich mit aktuellen rechtspolitischen Themen und gehen dabei den Fragen nach, wo das geltende Recht reformbedürftig ist, welche sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen rechtspolitischen Handlungsbedarf begründen und ob der Gesetzgeber aufgrund von Vorgaben der Europäischen Union oder internationalen Rechtsentwicklungen tätig werden muss. Die Diskussionsbeiträge aus den Abteilungen werden wörtlich protokolliert und zusammen mit den auf der Grundlage wissenschaftlicher Gutachten und Referaten gefassten Beschlüssen nach der Tagung in zwei Bänden als „Verhandlungsberichte“ veröffentlicht. Damit werden die Deutschen Juristentage ihrem Anspruch gerecht, vorausschauend die aktuelle Rechtspolitik zu begleiten.

Studenten und Referendare gestalten das Recht mit

Eigens für Studenten und Referendare bietet der Juristentag eine Einführungsveranstaltung an, die die Funktionsweise und den Ablauf des Deutschen Juristentages näher erläutert. Zudem kann man als Student oder Referendar an allen Sitzungen der Abteilungen teilnehmen und sich aktiv mit Redebeiträgen an den Diskussionen beteiligen. Hierfür ist vorab eine intensive Auseinandersetzung mit den schriftlichen Gutachten der einzelnen Abteilungen empfehlenswert. Als Mitglied des djt erhält man sogar das volle Stimmrecht bei den Beschlussfassungen. Der jährliche Mitgliedsbeitrag beträgt für Studenten und Referendare 30 EUR. Im Anschluss an die Diskussionen in der jeweiligen Abteilung eröffnet der Juristentag den Nachwuchsjuristen im Rahmen einer Sonderveranstaltung eine besondere Möglichkeit der Mitwirkung; im kleinen Kreise können Fragen direkt an die Abteilungsvorstände gerichtet werden. Dadurch werden viele junge Juristen dazu ermutigt, ihre eigene juristische Auffassung darzulegen und sie mit den Abteilungsvorständen zu diskutieren.

Die Themen des 70. djt
Zum Auftakt sorgte, nach der Eröffnungsrede des djt-Vorsitzenden Prof. Dr. Thomas Mayen, die Festansprache des Bundespräsidenten Joachim Gauck für einen ersten Höhepunkt. Der Bundespräsident setzte sich insbesondere mit der juristischen Vergangenheitsbewältigung auseinander und kritisierte den Umgang der Justiz mit den Verbrechen der Nazi-Zeit.  Zudem mahnte er, dass Gerichte nicht jede Dimension von Schuld aufarbeiten könnten.

Die Fachabteilungen befassten sich in den folgenden Tagen mit den verschiedenen Rechtsgebieten. Die strafrechtliche Abteilung beschäftigte sich mit der Frage, inwiefern die Justiz auf kulturell oder religiös geprägte Vorstellungen von Zuwanderern eingehen muss. Wie soll das Strafrecht auf “islamische Paralleljustiz” reagieren – etwa bei sogenannten Ehrenmorden, Blutrache oder inoffiziellen Scharia-Gerichten zur Streitschlichtung unter Muslimen? Sind Strafmilderungen mit Hinweis auf fremde Kulturkreise angebracht? Die wirtschaftsrechtliche Abteilung ging der Frage nach, ob Manager in Deutschland zu viel oder zu wenig haften und wie sie der Gesellschaft gegenüber in die Pflicht genommen werden können. Außerdem beriet die Abteilung Urheberrecht darüber, wie man den Diebstahl geistigen Eigentums durch das illegale Herunterladen von Filmen oder Musik im Internet eindämmen kann. Auf der Agenda der arbeitsrechtlichen Abteilung stand die Neugestaltung der Tarifautonomie. Hierbei wurde die Frage diskutiert, ob die Streikmacht kleinerer Gewerkschaften beschnitten werden sollte, weil zum Beispiel Lokführer oder Piloten ein Land lahmlegen können. Die öffentlich-rechtliche Abteilung widmete sich der Neuordnung des Länder-Finanzausgleichs. Daneben stand in der Abteilung Prozessrecht die Modernisierung des Zivilverfahrens auf dem Prüfstand. Auf der Schlusssitzung stellten die Abteilungsvorstände die Beschlüsse ihrer Abteilungen vor. Das mit Spannung erwartete »Forum Europa« bildete den Abschluss des 70. Deutschen Juristentages: Unter dem Vorsitz von Richter am EuGH Prof. Dr. Dr. h. c. Thomas von Danwitz diskutierten der Innen- und Außenminister der Hellenischen Republik a. D. Prof. Dr. Anastasios Giannitsis, Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Peter Michael Huber, Vizepräsident des EuGH Prof. Dr. Koen Lenaerts, Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière, MdB, sowie der Geschäftsführende Direktor des Europäischen Stabilitätsmechanismus Klaus Regling die Zukunftsfragen der Europäischen Union bei der Sicherung und Fortentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion.

Vielfältiges Rahmenangebot
Der 70. Deutsche Juristentag begeisterte nicht nur durch sein Fachprogramm. Das facettenreiche Hannover erwies sich als würdiger Rahmen für einen gelungenen Juristentag. Erwähnenswerte Highlights des Rahmenprogramms waren insbesondere die Hannoversche Juristennacht in den barocken Herrenhäuser Gärten, der ehemaligen Sommerresidenz der Welfen, wo zu einem rauschenden Festabend in die Galerie eingeladen wurde und das herausragende Festkonzert der NDR-Radiophilharmonie, wo Ludwig van Beethovens Ouvertüre zu Egmont,  Jean Sibelius Violinkonzert und Antonín Dvoráks 7. Sinfonie erklungen.

Die nächste Chance, am djt teilzunehmen, bietet sich vom 13. bis 16. September 2016 in Essen. Weitere Informationen finden sich unter www.djt.de.

 


Das Konzept des Chancenvollzugs am Beispiel von Niedersachsen

$
0
0

Katja Chalupper*

(Diesen Artikel als PDF herunterladen)

Eine Tendenz in Richtung des Chancenvollzugs als Konzept für die Vollzugsgestaltung war in Niedersachsen schon unter der Geltung des Strafvollzugsgesetzes von 1977 erkennbar. Die Föderalismusreform ebnete schließlich den Weg für eine rechtliche Normierung des Chancenvollzugs im Niedersächsischen Justizvollzugsgesetz. Doch was versteht man in Niedersachsen unter dem Begriff „Chancenvollzug“? Welche Gründe sprechen für dieses Vollzugskonzept? Welche sprechen dagegen? Ist der Chancenvollzug überhaupt mit den Vorgaben des BVerfG vereinbar?

 

A. Einleitung

„Von dem blumigen Wortgeschöpf „Chancenvollzug“ soll der Einstieg in einen harten Verwahrvollzug und intensive Disziplinierung verdeckt werden. [...] Doch deckt sich ein „Wegsperren statt Resozialisierung“ nicht mit der bestehenden Rechtslage.“ So las man 2005 eine Zusammenfassung der Kritik am Einheitlichen Niedersächsischen Vollzugskonzept in einer Gefangenenzeitung 1. Doch wie ist die bestehende Rechtslage? Ist das Konzept mit dieser wirklich unvereinbar? Maßgeblich und unumgänglich zur Beantwortung dieser Fragen sind die vom BVerfG entwickelten Maßstäbe für den Strafvollzug.

Danach ist die Resozialisierung das herausragende Ziel des Vollzugs von Freiheitsstrafen. Aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG erwächst dem Gefangenen ein Anspruch auf die Chance, sich nach Verbüßung seiner Strafe wieder in die Gesellschaft einzuordnen. Der Staat ist aufgrund des Sozialstaatsprinzips, Art. 20 I, 28 I 1 GG, zur Vor- und Fürsorge für diejenigen Gesellschaftsgruppen verpflichtet, die aufgrund von persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen oder sozialen Entfaltung behindert sind. Zu diesen Gruppen gehören auch die Gefangenen 2.

Dabei ist der Gesetzgeber zur Entwicklung eines wirksamen Resozialisierungskonzepts verpflichtet, worauf der Strafvollzug aufgebaut werden soll. Das Resozialisierungsgebot enthält keine Festlegung auf ein bestimmtes Konzept, sondern eröffnet dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum 3. Allerdings hat dieser bei der Ausgestaltung vorhandene Erkenntnisquellen, insbesondere das in der Vollzugspraxis vorhandene Erfahrungswissen, auszuschöpfen und sich am Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu orientieren. Der Strafvollzug ist vom Staat dafür so auszustatten, wie es die Realisierung des Vollzugsziels erfordert 4.

Entscheidend für die Vereinbarkeit mit der bestehenden Rechtslage ist also die Frage, ob das niedersächsische Konzept des Chancenvollzugs sich innerhalb des gewährten Gestaltungsspielraums bewegt und somit den Maßstäben des BVerfG genügen kann.

 

B. Entstehung, Weiterentwicklung und unterschiedliche Ausprägungen des Begriffs „Chancenvollzug“

Zunächst sollen die Entstehung des Begriffs „Chancenvollzug“, das erstmalige Aufgreifen des Begriffs in Niedersachsen sowie die weitere Entwicklung des Chancenvollzugs in Niedersachsen bis zum Erlass des NJVollzG erläutert werden.

I. Angebots- und Chancenvollzug im StVollzG

Der Ursprung des Begriffs „Chancenvollzug“ geht auf die Geltungszeit des StVollzG von 1977 zurück. Während dieser Zeit erfolgte eine grundlegende Veränderung des Behandlungsverständnisses. Zuvor war dieses therapeutisch orientiert und geprägt von der Vorstellung, dass auch mittels Zwang persönlichkeitsverändernde Maßnahmen erfolgreich durchgeführt werden können 5. Diese Vorstellung änderte sich dahingehend, dass der durch die Behandlung beabsichtigte soziale Lernprozess keinen Zwangscharakter mehr haben, sondern vielmehr ein Angebot an den Gefangenen darstellen sollte 6.

Niedergelegt wurde dies in § 4 I StVollzG, der lediglich von der Mitwirkung des Gefangenen an der Gestaltung seiner Behandlung und an der Erreichung des Vollzugsziels ausging. Die Bereitschaft des Gefangenen hierzu war zu wecken und zu fördern. Eine Mitwirkungspflicht des Gefangenen war im StVollzG also gerade nicht vorgesehen. Bei mangelnder Mitwirkungsbereitschaft konnte der Gefangene daher auch nicht disziplinarisch belangt werden. Er wurde nicht (mehr) als Objekt, sondern als Subjekt der Behandlung angesehen 7.

 

II. Chancenvollzug in Niedersachsen unter der Regierung von Ministerpräsident Albrecht

Eine etwas andere Interpretation des Chancenvollzugs entwickelte sich in Niedersachsen erstmals in der Legislaturperiode von Ministerpräsident Albrecht von 1978 bis 1982 8. Dessen Zielvorgabe bezüglich des Strafvollzugs lautete: Sicherheit gewährleisten, die Effektivität des Behandlungsvollzugs überprüfen und optimieren und die Entlassenenhilfe ausbauen. Zielsetzung war die Wiedereingliederung der Gefangenen und die damit verbundene Senkung der Rückfallquote 9. Bedeutend im Sinne des Chancenvollzugs nach dem niedersächsischen Begriffsverständnis war vor allem eine Vorgabe: Der Schwerpunkt der Resozialisierungsbemühungen sollte besonders bei jugendlichen Straftätern und erstbestraften Erwachsenen liegen, da bei diesen beiden Zielgruppen die Resozialisierungsbemühungen noch am ehesten Erfolg versprechend seien 10.

Den Hintergrund für diese Erwägungen bildete das 1977 erstmals in Kraft getretene Strafvollzugsgesetz des Bundes, das es von den Ländern in die Praxis umzusetzen galt. In Niedersachsen galt hierbei die Leitlinie, den Strafvollzug finanziell gesehen nicht nach dem „Gießkannenprinzip“ zu versorgen, sondern hinsichtlich der Förderung Schwerpunkte bei chancenorientierten Maßnahmen zu setzen 11.

 

III. Weitere Entwicklung des Chancenvollzugs in Niedersachsen

Angesichts stets knapper Kassen in der öffentlichen Verwaltung und steigender Ansprüche der Bürger, fand in den 1990er Jahren eine Verwaltungsreform in Deutschland statt, von der auch der Justizvollzug nicht verschont blieb 12.

Trotz zunehmend schwierigeren und gefährlicheren Gefangenen, Überbelegung und erhöhten Sicherheitsanforderungen erforderte die Reduzierung von Personal- und Haushaltsmitteln auch im Justizvollzug mehr Management, wirtschaftliches Denken und Handeln, Kosten- und Leistungsrechnung und effizientere Organisationsstrukturen. Ziel musste sein, trotz der knappen finanziellen Mittel den behandlungswilligen und -fähigen Gefangenen Resozialisierungsangebote zu machen und die Sicherheit der Anstalt nach innen und außen zu garantieren 13.

In Niedersachsen wurde ein Arbeitsplan mit 19 Zielen und entsprechenden Maßnahmenkatalogen vorgelegt. Die Umsetzung eines chancenorientierten Betreuungsvollzugs war zentraler Aspekt der Planungen. Dieser sollte ein Angebot an diejenigen Gefangenen sein, die zur Mitwirkung am Resozialisierungsauftrag des StVollzG bereit waren. Dabei ging es um den Einsatz der begrenzten Behandlungs-, Betreuungs-, Ausbildungs- und Fortbildungsmittel speziell bei motivierten Gefangenen. Eine rein verbal geäußerte Bereitschaft zur Veränderung genügte hierfür nicht. Es wurde eine Mitwirkung durch konkretes Tun und eigenverantwortliches Handeln erwartet. Im Zuge dessen sollten auch die nach dem StVollzG zulässigen ermessensgebundenen Vergünstigungen der Vollzugsausgestaltung, die Vollzugslockerungen, nur noch mitwirkungsbereiten Gefangenen gewährt werden 14. Es sollte einen Grundkonsens über die Fragen geben, welche Angebote wann und wie oft gemacht werden, welcher aktive Beitrag von den Gefangenen erwartet wird und welche Verhaltensregeln einzuhalten sind. Zudem sollte die Frage der Wirksamkeit von resozialisierenden Maßnahmen neu erörtert werden. Denn nur wenn sowohl finanzieller als auch personeller Aufwand von Behandlungsmaßnahmen in einem akzeptablen Verhältnis zum Erfolg stehen, konnte nach damaligem Verständnis die Bevölkerung Vertrauen zu der Effizienz des Strafvollzugs fassen und würde auch nur dann zur Kostentragung bereit sein 15.

 

IV. Chancenvollzug im Einheitlichen Niedersächsischen Vollzugskonzept

Bereits vor Inkrafttreten der Föderalismusreform legte Niedersachsen ein umfassendes gegenteiliges Konzept zum StVollzG vor. Dieses Einheitliche Niedersächsische Vollzugskonzept 16 von 2004 stellte jedoch keinen Gesetzgebungsvorschlag sondern eine Anleitung für die Praxis zum Umgang mit dem StVollzG von 1977 dar 17.

Im Vorwort propagierte die damalige Justizministerin, bei dem Konzept gehe es auch angesichts leerer öffentlicher Kassen um die systematische Überprüfung bestehender Strukturen und vollzuglicher Konzepte und um die Schaffung landeseinheitlicher (Vollzugs-)Standards und gleicher Resozialisierungsbedingungen für alle Gefangenen. Dabei betonte sie die Erkenntnis, dass Resozialisierung kein Selbstzweck sein dürfe. Es mache keinen Sinn, Resozialisierungsmaßnahmen mit dem Füllhorn auszugießen, in der vagen Hoffnung auf Erfolg. Resozialisierung sei kein Selbstläufer, sondern sie fordere vom Gefangenen die Einsicht in die Notwendigkeit bestimmter Behandlungen und Bereitschaft zur Mitarbeit. Nur so führten die Bemühungen, Gefangene wieder in die Gesellschaft zu integrieren, zum Ziel 18.

Angesichts der Einführung einheitlicher Vollzugsstandards sollte es eine Grundversorgung für alle Gefangenen geben. Diese vollzuglichen Mindeststandards wurden durch das StVollzG vorgegeben und enthielten z.B. eine auf menschliche Bedürfnisse ausgerichtete Unterbringung während der Ruhezeit, Anstaltskleidung und –verpflegung, Einkauf, Besuche und Kommunikation, Arbeit und Ausbildung, Gesundheitsfürsorge, Hofgang und soziale Hilfe 19.

Für ausgewählte Gefangene sollte es nach dem EVK den Chancenvollzug geben, welcher aus besonderen Behandlungsprogrammen bestand. Über die Grundversorgung hinaus reichende vollzugliche Behandlungsangebote erhielten nur diejenigen Gefangenen, die einer besonderen Behandlung bedurften, die dazu fähig waren, das Angebot zu nutzen und die bereit waren, an der Erreichung des für sie in der Vollzugsplanung individuell festgelegten Vollzugsziels mitzuarbeiten 20.

Besonders hervorgehoben wurde jedoch, dass Chancenvollzug gerade nicht bedeutet, dass jeder Gefangene nur einmalig eine Chance erhält. Vor allem bei der halbjährlichen Fortschreibung des Vollzugsplans wurde darauf geachtet, den Gefangenen zur Mitarbeit am Vollzugsziel zu motivieren. Derjenige, der eine Chance erfolgreich genutzt hat, qualifizierte sich damit für weitere Behandlungsangebote, sofern diese der individuellen Förderung des Gefangenen dienlich waren. Es sollte keine Anpassung des Gefangenen, sondern eine Aktivierung und Mitarbeit erreicht werden. Lediglich so waren die erheblichen Aufwendungen für die Behandlung nach Ansicht der Regierung wirtschaftlich und vollzugspolitisch vertretbar 21.

 

V. Chancenvollzug im NJVollzG

Im Zuge der Föderalismusreform wurden durch die Übertragung der Gesetzgebungskompetenz bezüglich des Strafvollzugs vom Bund auf die Länder 22 die Voraussetzungen geschaffen, um das Konzept des Chancenvollzugs erstmals gesetzlich zu verankern. Daraufhin erfuhr der Chancenvollzug im Niedersächsischen Justizvollzugsgesetz (NJVollzG) erstmals eine rechtliche Normierung. Neben dem Strafvollzug sind auch der Jugend- und der Untersuchungshaftvollzug mitgeregelt („Kombigesetz“) 23.

 

1. Chancenvollzug im Strafvollzug

Die zentrale Norm für den Chancenvollzug im Strafvollzug bildet § 6 NJVollzG. Darin wird laut Entwurfsbegründung die ständige Rechtsprechung des BVerfG aufgegriffen. Danach soll den Gefangenen die Fähigkeit und der Wille zu verantwortlicher Lebensführung vermittelt werden. Ziel ist, dass die Gefangenen lernen, sich zukünftig unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft ohne Rechtsbruch zu behaupten, sowie ihre Chancen wahrzunehmen und ihre Risiken bestehen zu können 24.

Allerdings kann die Wiedereingliederung nur gelingen, wenn die Gefangenen sich mit den Umständen auseinandersetzen, die ausschlaggebend für ihre Straffälligkeit waren. Das Erreichen des Vollzugsziels setzt die Mitwirkung der Gefangenen voraus. Daher wird ihnen in § 6 I 1 NJVollzG in Form einer Soll-Vorschrift ihre Mitwirkung dahingehend auferlegt, dass sie fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Allerdings soll diese Pflicht disziplinarisch nicht durchsetzbar sein. Dennoch soll ein Sich-Entziehen vom Mitwirkungsgebot bei den Prognoseentscheidungen nach dem NJVollzG zu berücksichtigen sein. Dabei sind vor allem die Prognose bezüglich der Verlegung in den offenen Vollzug gem. § 12 II NJVollzG und die Prognose bezüglich der Gewährung von Vollzugslockerungen nach § 13 NJVollzG relevant. Auch bei der Stellungnahme der Vollzugsbehörde im Rahmen der Strafrestaussetzung zur Bewährung gem. § 57 StGB soll eine fehlende Mitwirkungsbereitschaft Berücksichtigung finden 25.

Der Mitwirkungspflicht der Gefangenen steht gem. § 6 II 1 NJVollzG die Pflicht der Vollzugsbehörden gegenüber, Angebote der Förderung, Qualifizierung und Behandlung bereitzuhalten. Um eine Nachhaltigkeit der sozialen Integration zu erreichen, müssen bei der Auswahl der Angebote drei Faktoren berücksichtigt werden: die Gefangenen müssen das Angebot objektiv benötigen, sie müssen von ihren Fähigkeiten her in der Lage sein, das Angebot zu nutzen und sie müssen das Angebot nutzen wollen. Daran anknüpfend ist in § 6 II 2 NJVollzG festgehalten, dass die qualifizierenden und verhaltensändernden Angebote bei fehlender Mitwirkungsbereitschaft der Gefangenen beendet werden sollen 26.

 

2. Chancenvollzug im niedersächsischen Jugendstrafvollzug?

Die dem § 6 NJVollzG entsprechende Regelung für den Jugendstrafvollzug enthält § 114 NJVollzG. Im bewussten Unterschied zu der Soll-Vorschrift des § 6 I 1 NJVollzG enthält § 114 II NJVollzG eine ausdrücklich normierte Mitarbeitspflicht der jugendlichen Gefangenen. Damit soll nach der Entwurfsbegründung dem Erziehungsgedanken des § 114 I 1 NJVollzG in besonderer Weise Rechnung getragen werden. Konkretisiert wird diese Mitwirkungspflicht durch die Befolgung von Anordnungen, die von der Vollzugsbehörde nach den Vorschriften über die Ausgestaltung des Jugendstrafvollzugs rechtmäßig erlassen wurden. Wer gegen eine solche konkrete Anordnung verstößt, kann mit erzieherischen Maßnahmen oder Disziplinarmaßnahmen nach § 130 NJVollzG belegt werden 27.

Verstöße gegen die Mitwirkungspflicht sind zudem bei der ermessensgebundenen Entscheidung über Lockerungen und die Verlegung in den offenen Vollzug und bei der Stellungnahme der Vollzugsbehörde bezüglich der vorzeitigen Entlassung zu berücksichtigen 28.

Der entscheidende, die Ungleichbehandlung rechtfertigende Unterschied zum Erwachsenenvollzug wird in dem besonderen Erziehungsauftrag gesehen. Dieser soll spezifische Duldungs- und Mitwirkungspflichten erfordern können, die über diejenigen im Erwachsenenvollzug hinausreichen können 29.

 

3. Chancenvollzug in der Untersuchungshaft am Beispiel der JVA Oldenburg

Der Untersuchungshaftvollzug dient gem. § 133 NJVollzG dem Zweck, den in den gesetzlichen Haftgründen zum Ausdruck kommenden Gefahren zu begegnen. Eingriffe in die Lebensführung des Untersuchungsgefangenen, die über diese Zwecke hinausgehen, sind aufgrund der Unschuldsvermutung aus Art. 6 II EMRK unzulässig 30.

Der Untersuchungshaftvollzug zielt also nicht auf Resozialisierung ab. Eine Mitwirkungspflicht wie in § 6 NJVollzG kann den Untersuchungsgefangenen nicht auferlegt werden. Daraus könnte man schließen, dass der Chancenvollzug in der Untersuchungshaft keine Entfaltungsmöglichkeit findet. Am Beispiel der JVA Oldenburg zeigt sich, dass diese Annahme ein Trugschluss ist.

Als Basis für eine freundliche und saubere Anstalt diente dort die Einführung eines Dienstleistungssystems, das als „Service“ bezeichnet wird. Alle Gefangenen können sich daran beteiligen. Wer sich und den Haftraum sauber hält und daran mitwirkt, dass die Wohngruppen, Flure und Gemeinschaftseinrichtungen ordentlich und sauber sind, wird belohnt. Wer dagegen verstößt, verliert den Service. Dabei sind alle Bediensteten des allgemeinen Vollzugsdiensts selbstständig zur Entscheidung darüber befugt, den Service zu gewähren oder zu entziehen 31.

Nach Aussagen des Leiters, Gerd Koop, hat sich dieses Servicesystem bewährt, denn die Gefangenen haben ein Interesse daran, den Service nicht zu verlieren. Sobald ein Haftraum unaufgeräumt oder ein Bett nicht gemacht ist, erfolgt eine Ermahnung durch den diensthabenden Beamten. Ändert sich daraufhin nichts, wird der Kabeleinzelanschluss ohne Diskussion abgeschaltet und die Haftraumtüre verschlossen. Daraufhin ist der Haftraum in weniger als einer Stunde wieder sauber 32.

Sauberkeit, Ordnung, Disziplin und Gewaltfreiheit werden durch großzügige Vollzugsgestaltung belohnt. Im Ergebnis ist das Gefängnis sauber und Disziplinschwierigkeiten sowie Drogenkonsum konnten minimiert werden. Der Chancenvollzug hat in Niedersachsen also auch im Untersuchungshaftvollzug Einlass gefunden 33.

 

C. Positive Aspekte des Chancenvollzugs

Im Folgenden sollen nun zunächst die positiven Aspekte des Chancenvollzugs erläutert werden.

I. Subjektstellung, Autonomie des Gefangenen

Für das Prinzip des Chancenvollzugs jedenfalls im Strafvollzug spricht die Anerkennung der Gefangenen als „selbstbewusste, freie und zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabte Persönlichkeiten“. Dies entspricht dem dem Grundgesetz zugrunde liegenden Menschenbild, welches auch für die Gefangenen gilt. Damit einher geht die Akzeptanz der autonomen Entscheidung des Gefangenen für oder gegen seine Mitwirkung bei der Erreichung des Vollzugsziels. Diese Entscheidung begrenzt die Einwirkungsmöglichkeiten des Strafvollzugs auf natürliche Weise 34.

 

II. Mitwirkung wichtig für Erreichung des Vollzugsziels

Es kann dabei als angemessen erachtet werden, den mitarbeitsbereiten Gefangenen gewisse Vergünstigungen zukommen zu lassen, da die Mitwirkung an der Erreichung des Vollzugsziels ein wichtiger Baustein ist, ohne den eine erfolgreiche Resozialisierung nicht gelingen kann. Für eine soziale Integration des Gefangenen ist es wichtig, dass er sich mit den Umständen auseinandersetzt, die zu der Straftat geführt haben. Daher werden der Wille des Gefangenen zur Mitarbeit und seine Eigenverantwortung betont 35.

 

III. Gewährung von Vorteilen stärkt Motivation

Das Modell, den mitarbeitsbereiten Gefangenen Vorteile zu gewähren, erscheint im Vergleich zu dem Modell, die beständig nicht mitarbeitsbereiten Gefangenen zu bestrafen oder ihnen Disziplinarmaßnahmen aufzuerlegen, auch vorzugswürdig. Denn dies würde den Druck im Strafvollzug zusätzlich erhöhen und vielfach (gewaltsamen) Widerstand hervorrufen. Erfahrungsgemäß stärkt die Gewährung von Vorteilen die Motivation zu einem bestimmten Verhalten mehr als der Versuch, das gewünschte Verhalten zu erzwingen 36.

 

IV.  Positives Klima in den Anstalten

Zudem sorgt der Chancenvollzug in der Praxis für saubere Anstalten, in denen Disziplin und Ordnung herrscht und die weitgehend frei von Gewalt oder Suchtmittelgebrauch sind (s.o.). Nach der Beschreibung des Leiters der JVA Oldenburg erscheint der Chancenvollzug als eine „win-win-Situation“, die sowohl den Gefängnisalltag der (Untersuchungs-)Häftlinge angenehmer gestaltet als auch die Arbeit der JVA-Bediensteten erleichtert und somit zu einem insgesamt angenehmeren Klima in der JVA beiträgt.

 

V. Ökonomie

Einen weiteren Vorteil sehen die Befürworter in der Ökonomie dieses Konzepts. Angesichts stets knapper Haushaltskassen wurde bereits früh festgestellt, dass eine Verteilung der zur Verfügung stehenden Mittel nach dem „Gießkannenprinzip“ nicht effizient ist, sondern stattdessen eine Schwerpunktbildung dort stattfinden sollte, wo die Resozialisierung noch am meisten Erfolg versprechend scheint 37. Dieses Argument ist nicht von der Hand zu weisen. Bei Gefangenen, die eine ablehnende Haltung gegenüber den ihnen angebotenen Maßnahmen zeigen oder diese sogar bewusst und gewollt durch die Verweigerung ihrer Mitarbeit scheitern lassen, könnte das Anbieten und Durchführen der zum Teil sehr kostenintensiven Behandlungsmaßnahmen als bloße Verschwendung erachtet werden. Dabei bildet die Ökonomie des Chancenvollzugs in der Praxis oft das Hauptargument der Befürworter 38.

 

VI. Sicherheitsgewinn und Rückfallminimierung

Zwei weitere wesentliche Punkte liegen aus Sicht der Befürworter im Sicherheitsgewinn und der Rückfallminimierung. Indem Vollzugslockerungen nur noch gezielt den durch ihre Mitarbeitsbereitschaft positiv auffallenden Gefangenen gewährt werden, wird die Zahl der Missbrauchsfälle gesenkt und die Sicherheit erhöht. Dies wiederum führt zu einer höheren Akzeptanz des Strafvollzugs in der Bevölkerung, wodurch die Gefangenen nach ihrer Entlassung besser wieder in die Gesellschaft aufgenommen werden. Durch die Konzentration der Resozialisierungsbemühungen bei den mitarbeitsbereiten Gefangenen werden zudem deren im Vergleich zu anderen Gefangenen besser stehenden Resozialisierungschancen erhöht. Dies führt insgesamt zu einer Minderung der Rückfälligkeitsrate 39.

 

VII. Notwendigkeit einer Mitwirkungspflicht im Jugendstrafvollzug

Hinsichtlich der Mitwirkungspflicht im Jugendstrafvollzug wird angeführt, dass dadurch eine Stärkung der Rolle des Gefangenen als Subjekt stattfindet und so zugleich seine aktive Rolle im gesamten Vollzugsverlauf betont wird. Dabei ist die aktive Rolle Berechtigung und Verpflichtung zugleich. Der Jugendliche kann sich daher nicht, wie dies häufig der Fall ist, auf eine rein passive Rolle zurückziehen. Er ist stattdessen durch Fordern zu fördern 40.

Die mit der Mitwirkungspflicht verbundene Einschränkung der Entscheidungsautonomie beruht auf der vorangegangenen Fehlentwicklung des Jugendlichen. Daran wird erkennbar, dass der Jugendliche seine eigenen Interessen nicht richtig wahrnimmt und zunächst zu einer verantwortlichen Entscheidung hingeführt werden muss. Dabei beruhen Widerstand und Unlust oft auf eingeschliffenen Verhaltensweisen, die der Lebensbewältigung dienen. Durch die Mitwirkungspflicht, die den Gefangenen intensiv und unausweichlich in Anspruch nimmt, sollen diese Verhaltensmuster schrittweise abgebaut und bewältigt werden. Es ist zwar Aufgabe der Vollzugsbehörde eine solche Mitwirkungsbereitschaft zu wecken und zu fördern, jedoch bedarf es nach den Erfahrungen aus der Praxis des Jugendstrafvollzugs einer gesetzlich normierten Mitwirkungspflicht 41.

 

D. Negative Aspekte des Chancenvollzugs

Allerdings gibt es auch gewichtige Gründe, die gegen den Chancenvollzug sprechen.

I. Voraussetzung einer bestehenden Motivation

Problematisch am Chancenvollzug ist schon der Grundgedanke, der der Gewährung von Behandlungsmaßnahmen nach diesem Konzept zugrunde liegt. Im StVollzG war als entscheidendes Kriterium der Interventionsbedarf im Einzelfall vorgesehen. Nach dem Prinzip des Chancenvollzugs werden Resozialisierungsangebote nun hingegen von der Mitwirkungsbereitschaft des Gefangenen abhängig gemacht. Es wird eine bereits bestehende Motivation zur Veränderung beim Gefangenen vorausgesetzt 42. Dabei wird übersehen, dass viele Gefangene aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur zunächst einer dauerhaften Motivation bedürfen oder Grundfertigkeiten erlernen müssen, um den Anforderungen der Arbeit oder Ausbildung standhalten zu können. Dementsprechend ist sowohl in § 4 I 2 StVollzG als auch in § 6 I 2 NJVollzG die Pflicht der Anstalten zur Weckung und Förderung der Mitwirkungsbereitschaft normiert. Der Gedanke des Chancenvollzugs ist hiermit nicht vereinbar. Die Gewährung von Chancen sollte von der Bedürftigkeit und Fähigkeit des jeweiligen Gefangenen abhängig gemacht werden und nicht davon, ob dieser eine Chance nutzt oder nicht 43.

 

II. Gefahr von Willkür

In Zusammenhang damit steht auch der nächste Kritikpunkt. Wird bei der Gewährung von Behandlungsmaßnahmen, wie nach dem StVollzG vorgesehen, auf die Bedürftigkeit abgestellt, ist dies eine objektiv nachprüfbare Größe. Bei dem im Chancenvollzug vorgesehenen Kriterium der Mitarbeitsbereitschaft besteht ein erheblicher Beurteilungsspielraum und daher die Gefahr von Willkür. Im NJVollzG sind eindeutige Voraussetzungen für das Kriterium der Mitwirkungsbereitschaft nicht vorhanden. Vermutlich sollen diesbezügliche Festlegungen der jeweiligen JVA überlassen werden 44.

Dies begründet eine erhebliche Definitionsmacht der JVA. Schon zu Beginn des Vollzugs hat eine Entscheidung stattzufinden, welcher Gruppe der Gefangene angehört. Da zur Vorbereitung der Aufstellung und Fortschreibung des Vollzugsplans Konferenzen abgehalten werden, an denen nach § 9 IV NJVollzG nur die nach Auffassung der Vollzugsbehörde an der Vollzugsgestaltung maßgeblich Beteiligten teilnehmen, sind sowohl der Gefangene als auch sein Verteidiger von jeglicher Einflussnahme ausgeschlossen 45.

Diese Definitionsmacht zieht sich aufgrund vieler Entscheidungen, bei denen ein Beurteilungs- oder Ermessensspielraum der Vollzugsbehörde besteht, durch den ganzen Vollzugsverlauf. Angesichts der enormen Tragweite solcher Entscheidungen für den Gefangenen und der möglicherweise mangelnden Objektivität der Vollzugsbehörde scheint dies wenig sinnvoll. Die Gewährung oder Versagung von Behandlungsmaßnahmen können von persönlichen Sympathien oder Antipathien beeinflusst werden 46.

 

III. Anpassungsdruck

Durch dieses Machtgefälle entsteht ein massiver Anpassungsdruck aufseiten des Gefangenen. Es ist für ihn im Chancenvollzug von enormer Bedeutung, von vorneherein nicht in die Kategorie des therapieunwilligen, unmotivierten und lockerungsungeeigneten Gefangenen zu fallen oder aus dieser Kategorie wieder herauszukommen. Hierfür genügt jedoch nicht allein die verbale Äußerung einer Veränderungsbereitschaft. Erwartet wird eine unbedingte Gefolgschaft, mit der eine vollständige Akzeptanz der Zuschreibungen des Urteils und eine Anerkennung der Therapie- und Hilfsbedürftigkeit einhergehen. Bei fehlender Veränderungsbereitschaft wird gerade nicht auf die sukzessive Herbeiführung einer solchen hingewirkt, sondern diese wird als Kriterium für eine Versagung der Aufnahme oder Fortsetzung einer Therapie sowie einer Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt genutzt. Zudem wird der Gefangene mangels positiver Prognose im geschlossenen Vollzug bleiben, keine Vollzugslockerungen erhalten und die JVA wird negativ zur Strafrestaussetzung auf Bewährung Stellung nehmen. Die Konsequenz daraus ist, dass gerade problematische Fälle untherapiert aus der Haft entlassen werden. Der durch die Versagung von Lockerungen und die negative Stellungnahme bezüglich vorzeitiger Entlassung bezweckte Schutz der Gesellschaft wird dadurch nicht erreicht. Denn eine Reduzierung des Rückfallrisikos kann nur durch therapeutische Behandlungsmaßnahmen erreicht werden 47.

 

IV. Verfestigung devianter Verhaltensweisen

Zudem ist aus kriminologischer Sicht hinlänglich bekannt, dass die eilfertige Übernahme des dem Gefangenen zugeschriebenen Stigmas bei diesem wiederum negative Folgen hervorrufen kann. Es kann zu einem Rückkoppelungsmechanismus der erzwungenen Beichte kommen. Durch die Verinnerlichung der Unterwerfung aufseiten des Täters können die devianten Verhaltensweisen verfestigt und gestärkt werden. Es besteht die Gefahr der Übernahme der dem Gefangenen zugeschriebenen Rolle in sein Selbstbild. Daraus folgen Aufschaukelungsprozesse, aufgrund derer der Gefangene letztendlich das Attribut des Abweichenden durch weitere Taten verwirklicht, mithin rückfällig wird 48.

 

V. Vollzugslockerungen als Hafterleichterung

Die Vollzugslockerungen, die nach dem StVollzG noch als wesentliche Behandlungsmaßnahmen konzipiert waren, werden im Chancenvollzug zu bloßen Hafterleichterungen und Vergünstigen in der Vollzugsgestaltung umgemünzt. Dadurch findet in gewissem Maße eine Rückkehr in einen Stufenstrafvollzug statt, in dem der Gefangene durch angepasstes Verhalten Vergünstigungen erlangen kann. Von diesem Modell hatte sich das StVollzG jedoch bewusst abgewandt, um eine Einengung der Behandlungsmöglichkeiten zu verhindern 49.

 

VI. Informelle und apokryphe Disziplinarmaßnahmen

Umgekehrt kann die Versagung von Lockerungen im Chancenvollzug als informelle Disziplinarmaßnahme genutzt werden. Darunter versteht man eine Maßnahme, die offiziell weder als Disziplinarmaßnahme noch als Hausstrafe bezeichnet wird und zumeist auch nicht primär der Disziplinierung dient, die aber sekundär als nicht unerwünschte Nebenfolge eine disziplinierende Wirkung entfaltet. Als nicht unerwünschte Nebenfolge kommt der Versagung von Vollzugslockerungen im Chancenvollzug insofern eine disziplinierende Bedeutung bei, als dass eine Anpassung an die von der Anstalt gewünschten Verhaltensweisen erfolgen soll. Die Versagung kann als informelle Disziplinierung bezeichnet werden 50.

Zudem wird der oben beschriebene Serviceentzug als apokryphe Disziplinarmaßnahme erachtet. Darunter versteht man eine negativ sanktionierende vollzugliche Maßnahme, die wie eine förmliche Disziplinarmaßnahme aufgrund eines oft nicht näher bestimmten „Fehlverhaltens“ angeordnet wird, die aber entweder nicht als solche Sanktion im Katalog des jeweiligen Vollzugsgesetzes normiert ist oder bezüglich der keine aus dem Gesetz ableitbare Pflicht besteht, gegen die verstoßen worden sein könnte. Im Strafvollzug des NJVollzG besteht keine disziplinarbewehrte Mitwirkungspflicht der Gefangenen (s.o.). Durch das im Chancenvollzug etablierte Servicesystem ist eine solche auch gar nicht notwendig. Denn der Gefangene diszipliniert sich durch sein Verhalten quasi selbst, indem er sich durch mangelnde Mitwirkungsbereitschaft selbst von den Serviceangeboten ausschließt. Schließlich kennt er die Voraussetzungen, unter denen ihm der Service gewährt wird und kann sich entsprechend verhalten (rational choice). Formelle Disziplinarmaßnahmen werden in einem solchen System nahezu entbehrlich 51.

 

VII. Verfassungsrechtlicher Anspruch auf Resozialisierung

Wie bereits oben erläutert besteht ein grundrechtlicher Anspruch des Gefangenen auf Resozialisierung. Dieser dient zugleich dem Schutz der Gesellschaft und besteht vor allem unabhängig davon, ob der Gefangene sich zur Einhaltung gewisser „Spielregeln“ bereit erklärt. Im Chancenvollzug sollen die zunächst nicht mitarbeitsbereiten Gefangenen jedoch von den Resozialisierungsmaßnahmen ausgenommen werden. Die Versagung von Resozialisierungsmaßnahmen, wie sie nach dem Chancenvollzug vorgesehen ist, begegnet somit auch verfassungsrechtlichen Bedenken 52.

 

VIII. Abkehr vom Resozialisierungsvollzug, Ausbau von Repressionen und Einsparungen

Insgesamt wird kritisiert, dass durch das Konzept des Chancenvollzugs eine Abkehr vom Resozialisierungsvollzug stattfindet, die schlimmstenfalls einen reinen Verwahrvollzug ermöglicht 53. Eine Klassifizierung der Gefangenen als nicht resozialisierungsbereit oder –fähig und die damit verbundene Reduzierung auf eine Grundversorgung ohne Resozialisierungsangebote kann nicht mehr als Resozialisierungsvollzug bezeichnet werden. In diesem Fall handelt es sich nur noch um eine sichere Unterbringung der Gefangenen unter mehr oder minder menschenwürdigen Umständen. Realistisch betrachtet stellt eine Vollzugsgestaltung, wie sie nach dem Konzept des Chancenvollzugs vorgesehen ist, damit jedenfalls die Vorstufe oder sogar schon den Einstieg in einen Sicherheits- oder Verwahrvollzug dar 54. Angesichts der knapp bemessenen Finanzmittel ist nämlich trotz der normierten Pflicht zur Weckung und Förderung der Mitarbeitsbereitschaft in Zeiten der wirtschaftlichen Eigenverantwortung nicht von erweiterten und nachhaltigen Bemühungen der Vollzugsbehörde auszugehen 55.

Die Kritik geht sogar so weit, dass es unter dem Deckmantel der wissenschaftlichen Begründung in der Sache lediglich um den Ausbau von Repressionen und Einsparungen gehen soll 56. Insoweit wird der Chancenvollzug der Forderung des BVerfG nicht gerecht, den Strafvollzug mit den erforderlichen personellen und finanziellen Mitteln auszustatten, die zur Erreichung des Vollzugsziels nötig sind. Übersehen wird zudem, dass die Kosten eines qualitativ hochwertigen Resozialisierungsvollzugs letztlich geringer sind als diejenigen, die aufgrund eines resozialisierungsschädlichen Chancenvollzugkonzepts bei erneuter Rückfälligkeit entstehen 57.

 

IX. Pädagogische Aspekte im Jugendstrafvollzug

Bezüglich der Mitwirkungspflicht im Jugendstrafvollzug werden zudem pädagogische Bedenken geäußert. Problematisch ist aus erziehungswissenschaftlicher Sicht der Zwangscharakter dieser Pflicht. Erziehungs- und Behandlungsmaßnahmen können nur nachhaltig erfolgreich sein, wenn die Teilnahme auf freiwilliger Basis erfolgt. Zwang bewirkt in vielen Fällen lediglich eine innere Abwehrhaltung und oberflächliche Anpassungsstrategien, um Sanktionen zu vermeiden und Vergünstigungen zu erhalten, ohne sich wirklich auf die Maßnahme einzulassen. Dadurch kann die ablehnende Haltung sogar verstärkt werden und es kommt zu einer „Scheinresozialisierung“. Im schlechtesten Fall ist der Lerneffekt durch das Verhalten der Vollzugsbehörde für den Jugendlichen sogar, dass Menschen durch äußeren Zwang gefügig gemacht werden können. Zudem bereitet eine solche Unterwerfungsmentalität ungenügend auf eine Bewältigung des Lebens in Freiheit vor. Die Einhaltung von Normen kann nur durch eigene Überzeugung und Verarbeitung verinnerlicht werden. Aus pädagogischer Sicht ist eine Mitwirkungspflicht im Jugendstrafvollzug daher abzulehnen 58.

 

E. Fazit

Insgesamt gesehen können die positiven Aspekte des Chancenvollzugs verglichen mit den negativen nicht überzeugen. Das Hauptargument der Befürworter, die Ökonomie, geht fehl, da der Chancenvollzug wie aufgezeigt nur bei oberflächlicher Betrachtung das kostengünstigere Vollzugskonzept darstellt. Denn der Sicherheitsgewinn und vor allem die Minimierung des Rückfallrisikos erweisen sich bei genauerem Hinsehen als Trugschluss. Die devianten Verhaltensweisen werden durch die erzwungene Anpassung unter Umständen sogar verstärkt und dadurch das Rückfallrisiko erhöht. Dies widerspricht dem Vollzugsziel der Resozialisierung. Auch der Schutz der Allgemeinheit wird dadurch konterkariert.

Sauberkeit und Ordnung in den Anstalten sowie die Mitwirkung als wichtiger Baustein der Resozialisierung werden im Chancenvollzug lediglich durch informelle und apokryphe Disziplinarmaßnahmen erreicht. Im Jugendstrafvollzug ist sogar eine aus pädagogischer Sicht bedenkliche disziplinarbewehrte Mitwirkungspflicht vorgesehen. Damit einher geht ein immenser Anpassungsdruck auf die Gefangenen, die trotz allem bei vielen vollzuglichen Entscheidungen der Gefahr von Willkür durch die Vollzugsbehörden ausgesetzt sind.

Als überzeugendstes Argument für den Chancenvollzug erscheint noch die Subjektstellung und Achtung der Autonomie des Gefangenen. Dem steht auf der anderen Seite jedoch der verfassungsrechtlich verankerte Resozialisierungsanspruch eines jeden Gefangenen gegenüber, der gerade nicht an irgendwelche Bedingungen und erst recht nicht an eine bereits bestehende Motivation zur Veränderung geknüpft ist.

Daher findet durch den Chancenvollzug letztendlich eine verdeckte Abkehr vom Resozialisierungsvollzug statt. Verfassungsrechtlich gesehen erscheint dies als eine eher bedenkliche Entwicklung des Strafvollzugs.

 

* Die Autorin studiert derzeit Rechtswissenschaften im 7. Semester an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und befindet sich in der Examensvorbereitung. Der Artikel beruht auf einer im September 2014 erstellten Seminararbeit zu dem Thema „Das niedersächsische Konzept des Chancenvollzugs“.

 


Fußnoten:

  1. Feest StV 2008, 553, 554.
  2. BVerfG NJW 1973, 1226, 1231; Feest/Lesting/Bung/Feest vor § 2 Rn. 3.
  3. BVerfG NJW 1998, 3337 f.
  4. BVerfG NJW 2006, 2093, 2097; BVerfG NJW 1976, 37, 38.
  5. Krüger, Systeme und Konzepte des progressiven Strafvollzugs 2011, S. 290; Kunz ZStW 101, 75, 85.
  6. Krüger, Systeme und Konzepte des progressiven Strafvollzugs 2011, S. 290; Feest/Lesting/Bung/Feest vor § 2 Rn. 20.
  7. Arloth 3. Auflage § 4 StVollzG Rn. 2.
  8. Krüger, Systeme und Konzepte des progressiven Strafvollzugs 2011, S. 291; Schwind FS-Amelung 2009, 763, 767.
  9. Regierungserklärung in der Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 28. Juni 1978, Beilage zum Niedersächsischen Ministerialblatt Nr. 30 vom 13. Juli 1978, S. XIV.
  10. Regierungserklärung in der Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 28. Juni 1978, Beilage zum Niedersächsischen Ministerialblatt Nr. 30 vom 13. Juli 1978, S. XIV.
  11. Schwind FS-Amelung 2009, 763, 767 f.
  12. Steinhilper FS-Böhm 1999, 177.
  13. Steinhilper FS-Böhm 1999, 177, 178.
  14. Steinhilper FS-Böhm 1999, 177, 185.
  15. Steinhilper FS-Böhm 1999, 177, 186.
  16. Im Folgenden als EVK bezeichnet.
  17. Feest StV 2008, 553, 554.
  18. EVK, S. 3.
  19. EVK, S. 36 f.; Feest StV 2008, 553, 554.
  20. EVK, S. 38; Köhne KritV 2013, 115, 116.
  21. EVK, S. 39 f.
  22. Laubenthal, Strafvollzug 2011, Rn. 132.
  23. Schwind FS-Amelung 2009, 763, 764, 774.
  24. LT-Drs. 15-3565, S. 88; BVerfG NJW 1973, 1226, 1231.
  25. LT-Drs. 15-3565, S. 88.
  26. LT-Drs. 15-3565, S. 88.
  27. LT-Drs. 15-3565, S. 160.
  28. vgl. Kühl, Die gesetzliche Reform des Jugendstrafvollzugs in Deutschland im Licht der European Rules for Juvenile Offenders Subject to Sanctions or Measures (ERJOSSM) 2011, S. 137; Arloth 2. Auflage § 114 NJVollzG Rn. 4.
  29. Arloth GA 2008, 129, 137.
  30. Kaiser/Schöch, Strafvollzug 2002, § 5 Rn. 109.
  31. Flügge/Maelicke/Preusker/Koop, Das Gefängnis als lernende Organisation 2001, S. 186.
  32. Flügge/Maelicke/Preusker/Koop, Das Gefängnis als lernende Organisation 2001, S. 187.
  33. Steinhilper FS-Schwind 2006, 687.
  34. LT-Drs. 15-3565, S. 69.
  35. LT-Drs. 15-3565, S. 88 f.
  36. Köhne KritV 2013, 115, 117 f.
  37. Schwind ZfStrVo 1988, 259, 261.
  38. Köhne KritV 2013, 115, 118.
  39. Kühl, Die gesetzliche Reform des Jugendstrafvollzugs in Deutschland im Licht der European Rules for Juvenile Offenders Subject to Sanctions or Measures (ERJOSSM) 2011, S. 330.
  40. Schwirzer, Jugendstrafvollzug für das 21. Jahrhundert? 2008, S. 69.
  41. Kühl, Die gesetzliche Reform des Jugendstrafvollzugs in Deutschland im Licht der European Rules for Juvenile Offenders Subject to Sanctions or Measures (ERJOSSM) 2011, S. 319 f.
  42. Schneider ZfStrVo 2004, 139.
  43. Herrfahrdt FS-Seebode 2008, 469, 473; Köhne KritV 2013, 115, 118.
  44. Herrfahrdt FS-Seebode 2008, 469, 473; Köhne KritV 2013, 115, 118.
  45. vgl. Schneider ZfStrVo 2004, 139, 140.
  46. Herrfahrdt FS-Seebode 2008, 469, 473; Köhne KritV 2013, 115, 119.
  47. Schneider ZfStrVo 2004, 139, 140 f.
  48. Schneider ZfStrVo 2004, 139, 141.
  49. Schneider ZfStrVo 2004, 139, 141.
  50. vgl. Walter NK 2005, 130, 131 f.
  51. vgl. Walter NK 2005, 130, 131, 133.
  52. Köhne KritV 2013, 115, 118.
  53. Köhne KritV 2013, 115, 119.
  54. Köhne KritV 2013, 115, 119.
  55. Krüger, Systeme und Konzepte des progressiven Strafvollzugs 2011, S. 331.
  56. Alex StV 2006, 726, 727.
  57. Krüger, Systeme und Konzepte des progressiven Strafvollzugs 2011, S. 334 f.
  58. Krüger, Systeme und Konzepte des progressiven Strafvollzugs 2011, S. 320 f.; Kühl, Die gesetzliche Reform des Jugendstrafvollzugs in Deutschland im Licht der European Rules for Juvenile Offenders Subject to Sanctions or Measures (ERJOSSM) 2011, S. 97.

Bedeutung der Rücknahme der deutschen Erklärung zur UN-Kinderrechtskonvention – Ende der Einschränkung der Kinderrechte in Deutschland?

$
0
0

Katharina Thiefes*

(Diesen Artikel als PDF herunterladen)

Selbst in einem wirtschaftlich und politisch so stabilen Rechtsstaat wie Deutschland werden Kinderrechte missachtet: Missbrauch, Misshandlung, Armut, Gewalt, Vernachlässigung, der Status von unbegleiteten Minderjährigen und Kindern mit Behinderung sowie mangelnder Zugang zu Bildung stellen auch in der BRD Einschränkungen der Kinderrechte dar. 1

Ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der Anerkennung und Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland war die Ratifikation der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) 1992. Mit Ratifizierung der KRK als völker- bzw. menschenrechtlichem Vertrag verpflichteten sich die Vertragsstaaten sowohl der materiellen Sicherstellung bestmöglicher Lebensbedingungen für Kinder als auch der rechtlichen Subjektstellung des Kindes.

Am 15.7.2010 nahm Deutschland nach langjähriger Debatte schließlich seine bei Ratifizierung der KRK schriftlich abgegebene Erklärung zurück. Diese Erklärung hatte die Geltung der in der KRK normierten Rechte des Kindes für die BRD in vielen Bereichen eingeschränkt. Nach Rücknahme der Erklärung stellt sich nun die Frage, welche Änderungen sich daraus für die Anerkennung der Kinderrechte in Deutschland ergeben.

 

A.      Einleitung

In der BRD genießen die in der KRK normierten Rechte des Kindes den Status eines einfachen Bundesgesetzes (Art. 59 Abs. 2 Satz 1) 2 und müssten bei Normenkollisionen gemäß der entsprechenden Auslegungsregeln Berücksichtigung finden 3. Auch kann die KRK zur Auslegung der Grundrechte herangezogen 4 und unmittelbar angewendet werden 5. Der vollen Ausnutzung dieses rechtlichen Potenzials standen bis zum 15.7.2010 Teile der deutschen Erklärung zur Konvention entgegen. Daher stellt sich zunächst die Frage, worum es sich bei den einzelnen Teilen der deutschen Erklärung zur KRK handelte – um die Kinderrechte einschränkende Vorbehalte oder lediglich um konkretisierende Interpretationserklärungen. Daraus lässt sich anschließend ableiten, welcher Änderungsbedarf sich nach Rücknahme der deutschen Erklärung zur KRK für die BRD ergibt.

 

B.    Die Rücknahme der deutschen Erklärung zur KRK

I.       Einordnung der deutschen Erklärung

Ungefähr 30 % der Vertragsstaaten haben bei Ratifizierung der KRK Vorbehalte abgegeben. Dies ist im Vergleich zu anderen Menschenrechtsverträgen ein durchschnittliches Niveau. 6 Viele Vorbehalte zur KRK sind allerdings genereller Natur und verhindern Veränderungen des innerstaatlichen Rechtssystems. 7 Diese Vorbehalte verstoßen gegen Art. 27 Satz 1 WVK (i.V.m. Art. 46 WVK), der besagt, dass sich eine Vertragspartei nicht auf innerstaatliches Recht berufen kann, um die Nichterfüllung eines völkerrechtlichen Vertrags zu rechtfertigen. 8

Auch die BRD gab bei Ratifikation der KRK 1992 eine einseitige Erklärung ab, die die Verpflichtungen Deutschlands aus der KRK zum Teil stark einschränkte. 9 Die Teile I und IV dieser deutschen Erklärung bezogen sich auf die KRK im Allgemeinen, die Teile II, III und V betrafen spezifische Artikel der KRK. Von Anfang an war es umstritten, ob die einzelnen Teile der Erklärung nach Art. 51 Abs. 2 KRK mit Ziel und Zweck der Konvention vereinbar oder unzulässig waren. 10

Für Parteien eines völkerrechtlichen Vertrags ist es grundsätzlich möglich, die Bindungswirkung an den Vertrag durch Einreichung eines Vorbehalts einzuschränken (Art. 19-23 WVK) 11. Auch Art. 51 Abs. 1 KRK erlaubt Vertragsstaaten Vorbehalte zur KRK beim UN-Generalsekretär einzureichen 12. Ein Vorbehalt nach Art. 2 Ziffer 1 lit. d WVK liegt vor, wenn ein Staat mit seiner schriftlich abgegebenen Erklärung (Art. 23 Abs. 1 WVK) 13 die Rechtswirkung einzelner Vertragsbestimmungen in Anwendung auf diesen Staat auszuschließen oder zu ändern bezweckt 14. Die KRK verbietet keine Vorbehalte bezüglich einzelner Artikel (vgl. Art. 19 lit. b WVK). Jedoch sind Vorbehalte unzulässig, die mit Ziel und Zweck der Konvention nicht vereinbar sind (Art. 51 Abs. 2 KRK, vgl. Art. 19 lit. c WVK) 15. Die Konvention enthält allerdings keine Klausel, die festlegt, wer über die Rechtmäßigkeit von Erklärungen bzw. Vorbehalten entscheidet 16. Die Beurteilung, welche Vorbehalte mit der KRK übereinstimmen, bleibt somit den anderen Vertragsstaaten mittels Einspruch vorbehalten (Art. 23 Abs. 1 WVK) 17.

Von einem rechtsändernden Vorbehalt sind Interpretationserklärungen zu unterscheiden 18. Sie präzisieren die vertraglichen Pflichten eines Vertragsstaates (Art. 31 Abs. 2 lit. b WVK) 19, indem sie seinen bestimmten Auslegungsstandpunkt wiedergeben 20. Sie zielen nicht darauf ab, Vertragsbestimmungen einzuschränken.

Um zu bestimmen, ob es sich bei einer abgegebenen Erklärung um einen Vorbehalt oder eine Interpretationserklärung handelt, ist nicht die Bezeichnung der Erklärung, sondern ihr Aussagegehalt ausschlaggebend (Art. 2 Ziff. 1 lit. d WVK). Wenn eine Erklärung darauf abzielt, die Rechtswirkung des Vertrags auszuschließen oder abzuändern, handelt es sich um einen Vorbehalt 21.

Zwar konstatierte die Bundesregierung im zweiten Staatenbericht 22, entgegen der Auffassung des KRA, ihre Erklärung für sachlich nicht erforderlich. Sie hielt dennoch an der Auffassung des Bundesrates fest, dass mit der Erklärung Fehl- und Überinterpretationen der KRK verhindert werden müssten 23. Die Bundesländer befürchteten, dass die Rücknahme der Erklärung zu Mehrkosten führen würde 24. Deswegen war die Rücknahme lange am Widerstand des Bundesrates gescheitert 25. Erst das Drängen des Bundestages, der Kinderkommission des Bundestages 26, der National Coalition 27 und anhaltende Kritik des KRA 28 führten dazu, dass die Bundesregierung auf Grundalge eines Kabinettsbeschlusses 29 schließlich die Erklärung zur KRK mit völkerrechtlicher Wirkung zum 15.7.2010 zurücknahm 30.

In Abhängigkeit davon, ob es sich bei den einzelnen Teilen der Erklärung um rechtsverändernde Vorbehalte oder präzisierende Interpretationserklärungen handelte, lässt sich ein konkreter und aktueller Handlungsbedarf für die BRD ableiten.

 

II.     Die allgemeinen Teile der Erklärung

1.      Keine unmittelbare Anwendbarkeit

Wenn Völkerrechtsnormen innerstaatliche Geltung erhalten, bedeutet dies, dass sie Bestandteil der innerstaatlichen Rechtsordnung werden (Transformationsthese) bzw. innerhalb dieser erfüllt werden müssen (Vollzugsthese). Sie binden nicht mehr nur den Staat als Völkerrechtssubjekt, sondern auch innerstaatliche Akteure. Werden Normen eines völkerrechtlichen Vertrags darüber hinaus als innerstaatlich „unmittelbar anwendbar“ anerkannt, ist ihre Geltung nicht vom Erlass innerstaatlicher Durchführungsvorschriften abhängig 31.

In Teil I der deutschen Erklärung wurde betont, dass die KRK lediglich Staatenverpflichtungen begründe. Da das innerstaatliche Recht der BRD mit diesen Staatenverpflichtungen übereinstimme, fände die KRK in Deutschland keine unmittelbare Anwendung 32. Aus kinderrechtlicher Perspektive kommt der Frage nach der unmittelbaren Anwendbarkeit der KRK aus zwei Gründen jedoch besondere Bedeutung zu. Zum einen ist die Zielrichtung der KRK primär innerstaatlich ausgerichtet: Die Erfüllung der Konvention erfolgt vor allem gegenüber dem einzelnen Kind im Hoheitsgebiet der Vertragsstaaten (Art. 2 Abs. 1 KRK). Zum anderen begründet die KRK viele subjektive Rechte 33, auf die sich das einzelne Kind oder sein gesetzlicher Vertreter vor staatlichen Behörden und Gerichten unmittelbar berufen kann 34. Indem Deutschland für sein Hoheitsgebiet die unmittelbare Anwendbarkeit der KRK verneinte, war es für in Deutschland lebende Kinder nicht möglich, die KRK-Rechte unmittelbar geltend zu machen 35. Teil I der deutschen Erklärung kann damit eindeutig als rechtsmodifizierender Vorbehalt qualifiziert werden (Art. 2 Ziff. 1 lit. d WVK), der die in der KRK normierten subjektiven Rechte des Kindes einschränkte 36. Diese Einschränkung muss nach Rücknahme des Vorbehalts aufgehoben werden.

Damit einzelne Bestimmungen der KRK unmittelbar angewendet werden können, muss das objektive Kriterium der Anwendungsfähigkeit erfüllt sein. Die konkrete KRK-Bestimmung muss in ihrer Normstruktur, das heißt in Wort, Inhalt und Zweck, hinreichend bestimmt und unbedingt sein (self-executing) 37. Dieses Kriterium erfüllen einzelne Vorschriften der KRK 38. So sind zum Beispiel Art. 2 Abs. 1 (Nicht-Diskriminierung), Art. 3 Abs. 1 (Vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls), Art. 6 Abs. 1 (Recht auf Leben), Art. 7 (Registrierung, Name, Staatsangehörigkeit), Art. 12 (Mitspracherecht, rechtliches Gehör) und Art. 40 (Kinder im Strafrecht und Strafverfahren) unmittelbar anwendbar 39, da sie ohne weitere Zwischenschritte unmittelbare Rechte und Pflichten erzeugen: Für die Anwendung durch innerstaatliche Behörden ist keine weitere Ausgestaltung der Normen durch einen Transformationsakt notwendig 40. Wenn eine völkerrechtliche Norm unmittelbar anwendbar ist, können sich Rechtsfolgen für den Einzelfall aus ihr ergeben. Die Norm kann in diesem Fall die Entscheidungsgrundlage bilden, auch in Kombination mit weiteren Normen zum Beispiel des nationalen Rechts 41. Darüber hinaus wird vom KRA 42 ebenso wie vom Deutschen Institut für Menschenrechte 43 die Ansicht vertreten, dass auch sogenannte non-self-executing-Bestimmungen der KRK individualrechtlichen Rechtscharakter besitzen und somit justiziabel sind 44.

Nachdem die Bundesregierung ihren Vorbehalt zur unmittelbaren Anwendbarkeit zurückgenommen hat, ist nun auch das subjektive Kriterium der Anwendungsbefugnis 45 durch den Vertragsstaat erfüllt. Dies ist besonders relevant für KRK-Rechte, die in der innerstaatlichen Rechtsordnung nicht vorhanden sind.

In der Rechtspraxis, die bis zur Rücknahme der Erklärung vor allem der unmittelbaren Anwendbarkeit der KRK überwiegend ablehnend gegenüber stand 46, gibt es seither einige Entscheidungen, die tatsächlich anerkennen, dass die KRK subjektive Rechte enthält, die in der innerstaatlichen Rechtsordnung unmittelbar anwendbar sind 47. Das bedeutet, dass nun das Kindeswohl (Art. 3 Abs. 1 KRK) bei allen Entscheidungen, die Kinder betreffen, Vorrang hat. Wenngleich dieser Vorrang nicht absolut ist, sollte dennoch die Argumentationslast immer bei demjenigen liegen, der das Kindeswohl einschränken möchte. Die Umsetzung einer solchen Abwägung zu Gunsten des Kindeswohls zeichnet sich in der Rechtspraxis derzeit allerdings noch nicht eindeutig ab 48. Auch viele andere KRK-Bestimmungen werden in der deutschen Rechtspraxis noch nicht unmittelbar anerkannt 49. Dazu sind offensichtlich zunächst langjährige Verfahren durch das BVerfG und den EGMR notwendig 50.

Auch für die behördliche Praxis ist nach Rücknahme der Vorbehaltserklärung zur unmittelbaren Anwendbarkeit im alltäglichen Verwaltungshandeln vor allem der Kindeswohlvorrang (Art. 3 Abs. 1 KRK) verpflichtend zu berücksichtigen. Zur Verwirklichung dieser Verpflichtung existieren bereits einige Umsetzungsvorschläge wie zum Beispiel die Einführung einer verpflichtenden Kindeswohlverträglichkeitscheckliste im Vorfeld von Bauvorhaben oder die Aufnahme der KRK in die Curricula für den gehobenen Dienst 51.

 

2.      Der Ausländervorbehalt

a) Allgemeine Auswirkungen

Der sogenannte Ausländervorbehalt, Teil IV der deutschen Erklärung zur KRK, räumte ausländerrechtlichen Regelungen Vorrang vor der KRK ein 52. Dies führte dazu, dass ausländischen Minderjährigen, die Asyl oder anderen Schutz suchten, sowie ausländischen Minderjährigen mit Duldungsstatus oder ohne Papiere 53 elementare Rechte der Konvention 54 innerhalb der BRD verwehrt blieben 55. Den betroffenen Kindern wurde in vielen Bundesländern bisher kein ausreichender Zugang zu Gesundheitsleistungen, Schulbildung und angemessenem Wohnraum gewährt 56. Dieser Teil der Erklärung war somit ebenfalls ein Vorbehalt (Art. 2 Ziff. 1 lit. d WVK) 57, der den betroffenen Kindern den Zugang zu den KRK-Rechten versagte, was besonders dem Nicht-Diskriminierungs-Grundsatz des Art. 2 KRK widersprach 58. Die Bundesländer hatten sich gegen eine Rücknahme der Erklärung insbesondere mit Hinblick auf das Ausländerrecht ausgesprochen 59, da sich aus der Rücknahme des ausländerrechtlichen Vorbehalts ableiten lässt, dass minderjährigen AusländerInnen nun der gleiche Schutz und die gleichen Rechte zukommen müssen wie deutschen Kindern 60.

 

b) Abschiebung

Noch immer können beispielsweise unbegleitete Minderjährige 61 in Deutschland bereits an der Grenze zurückgewiesen oder abgeschoben werden, da die Unterrichtung der Jugendämter 62 nicht grundsätzlich erfolgt (Verstoß gegen Art. 20 i.V.m. Art. 22 Abs. 2 KRK) 63. Doch mit Rücknahme der deutschen Erklärung wird die Abschaffung des Vorrangs des Asyl- und Ausländerrechts vor dem SGB VIII gefordert, wofür sich „im deutschen Rechtssystem keine tragfähigen Grundlagen“ fänden 64. Darüber hinaus verlangt der KRA, dass die Rekrutierung als Kindersoldat im deutschen Asylverfahren als kindesspezifischer Verfolgungsgrund anerkannt wird 65.

 

c) Behandlung 16 bis 18-jähriger Flüchtlinge

Des Weiteren werden ausländische oder staatenlose Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren im Widerspruch zu Art. 1 KRK und § 2 BGB in Deutschland nach dem Asyl- und Ausländerrecht als Erwachsene behandelt. Die betreffenden Jugendlichen werden damit als voll handlungs- und verfahrensfähig betrachtet (§ 12 Abs. I AsylVfG und § 80 Abs. 1 AufenthG), sodass ihnen kein Vormund oder Pfleger zur Unterstützung bei komplexen asyl- und ausländerrechtlichen Verfahrensfragen zur Seite gestellt wird. Dies kann zum Scheitern ihres Asylantrags führen. Nach Rücknahme des Ausländervorbehalts ist somit die Bestellung eines Vormunds oder Pflegers für minderjährige Flüchtlinge zwischen 16 und 18 Jahren geboten (§ 42 Abs. 3 u. Abs. 4 SGB VIII) 66.

 

d) Abschiebehaft

Ebenso steht die Abschiebehaft von Minderjährigen in der Kritik: „2005 bis 2007 waren in den einzelnen Bundesländern mindestens 377 Minderjährige bis zu 6 Monate in Abschiebehaft.“ 67 Die KRK hingegen erlaubt einen Freiheitsentzug bei Kindern und Jugendlichen nur als ultima ratio (Art. 37 lit. b KRK) und auch dann nur in jugendgerechten Einrichtungen (Art. 37 lit. c KRK). § 62 AufenthG sieht jedoch keine Altersbeschränkung für die Abschiebehaft vor, sodass die Rechtslage in den einzelnen Bundesländern uneinheitlich ist 68. Die Inhaftierung Minderjähriger zwecks Abschiebung wird dem Verhältnismäßigkeitsmaßstab der KRK nicht gerecht – es wird lediglich das Interesse des Staates und nicht das Kindeswohl (Art. 3 KRK) berücksichtigt und durchgesetzt 69. Darüber hinaus verfolgt die Abschiebehaft kein legitimes Ziel, denn sie widerspricht dem Schutzzweck des Art. 20 KRK 70. Folglich dürften nach Rücknahme der deutschen Erklärung unbegleitete Minderjährige nicht mehr in Abschiebehaft genommen werden 71.

Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger bekannte anlässlich der Rücknahme der deutschen Erklärung, dass die Länder ihre Gesetzgebung und -anwendung im Bereich der Abschiebehaft kritisch überprüfen sollten. Minderjährigen Flüchtlingen bis zum 18. Lebensjahr solle ein Rechtsbeistand zur Seite gestellt werden und minderjährige Asylbewerber sollten nicht in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden. Ferner sollen Sozialbehörden bei der Anwendung des Asylbewerberleistungsgesetzes – vor allem bei der medizinischen Versorgung – die besondere Schutzbedürftigkeit von Kindern und Jugendlichen beachten 72. Doch sind diesen Worten bisher keine Taten gefolgt. Zwar verwies die SPD-Fraktion in einem Gesetzentwurf „zur Verbesserung der Situation Minderjähriger im Aufenthalts- und Asylverfahrensrecht73 vom 28.3.2012 darauf, dass die deutsche Rechtslage nach Rücknahme der Erklärungen an die Maßstäbe der KRK anzupassen sei. Der Bundestag lehnte diese Gesetzesinitiative jedoch ab 74. Bereits bei der Sachverständigen-Anhörung des Innenausschusses des Bundestages 75 war der Gesetzentwurf auf gegensätzliche Resonanz gestoßen 76. So wurde unter anderem die Meinung vertreten, „die Rechtswirkungen der KRK im Bereich des Asyl- und Ausländerrechts [hätten sich] auf die EU-Ebene verlagert“ 77. Es stehe jedoch außer Zweifel, „dass die KRK in der EU-Rechtsordnung eine quasiverfassungsrechtliche Stellung“ einnehme 78. Dies folge aus der Bindung der Mitgliedstaaten an die Rechte des Kindes gemäß der Europäischen Grundrechtecharta Art. 24 79 sowie aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) 80. Der deutsche Gesetzgeber könne in seinen politischen Entscheidungen über die Vorgaben der KRK und der künftigen EU-Asylqualifikations- 81 und Asylverfahrensrichtlinie 82 hinausgehen, sei dazu indes rechtlich nicht verpflichtet 83.

 

 

III.   Die spezifischen Teile der Erklärung

1.      Die Rechte nichtehelicher Kinder

In Teil II der deutschen Erklärung hatte die Bundesregierung die Auffassung vertreten, dass aus Art. 18 Abs. 1 KRK nicht abgeleitet werden könne, dass das elterliche Sorgerecht bei Kindern, deren Eltern nicht verheiratet sind, verheiratet sind aber getrennt leben oder geschieden sind, nicht automatisch und ohne eine Berücksichtigung des Kindeswohls beiden Elternteilen zustehe 84. Die Bundesregierung erklärte daher, dass die innerstaatlichen Regelungen über die gesetzliche Vertretung Minderjähriger (Teil II lit. a), das Sorge- und Umgangsrecht (Teil II lit. b) sowie die familien- und erbrechtlichen Verhältnisse nicht ehelicher Kinder (Teil II lit. c) nicht von der KRK berührt würden.

 

a) Sorgerecht

Zu Teil II lit. a und b der Erklärung lässt sich Folgendes feststellen: Die elterliche Sorge (§ 1626 BGB) umfasst in Deutschland auch die gesetzliche Vertretung des Kindes (§ 1629 BGB). In der BRD werden die Rechte nichtehelicher Kinder seit der Kindschaftsrechtsreform 1998 85 stärker berücksichtigt 86, zum Beispiel ist seitdem die gemeinsame Sorge getrennter Eltern grundsätzlich möglich 87. Bei Eltern, die bei Geburt des Kindes nicht miteinander verheiratet sind, erhält jedoch allein die Mutter die elterliche Sorge, wenn zum Zeitpunkt der Geburt keine Sorgeerklärungen abgegeben wurden (§ 1626a Abs. 3 BGB). Die Bundesregierung behält sich vor, dass in Fällen, in denen sich die Eltern uneinig über die gemeinsame Ausübung des Sorgerechts sind, Einzelfallprüfungen zur Wahrung des Kindeswohls stattfinden. Gerichtliche Entscheidungen können dann gegebenenfalls dazu führen, dass das Sorgerecht – entgegen dem Wortlaut des Art. 18 Abs. 1 KRK – nicht beiden Elternteilen zusteht. Da diese Entscheidungen jedoch zur Sicherstellung des Kindeswohls getroffen werden (§§ 1671 Abs. 1 Nr. 2 und 1684 Abs. 4 BGB), kann eine Einschränkung des Art. 18 Abs. 1 KRK als gerechtfertigt angesehen werden. Denn dem Kindeswohl (Art. 3 Abs. 1 KRK) kommt als grundlegendem Prinzip der KRK eine wichtigere Bedeutung zu als dem lediglich als Elternverantwortung zu interpretierenden Elternrecht des Art. 18 Abs. 1 KRK.

 

b) Umgang

Der Umgang des Kindes (Teil II lit. b der Erklärung) ist im deutschen Recht hingegen grundsätzlich für beide Elternteile vorgesehen. Das Umgangsrecht der Eltern kann jedoch ebenfalls zum Wohl des Kindes von einem Familiengericht eingeschränkt werden (§ 1684 BGB). Da auch in diesen Fällen das Kindeswohl der Richtwert der Entscheidungen ist, ist diese Einschränkung des Art. 18 Abs. 1 KRK ebenfalls gerechtfertigt. Die größte Schwierigkeit besteht in der Praxis allerdings darin, zu bestimmen, was im Einzelfall dem Kindeswohl dient 88.

 

c) Erbrechtliche Verhältnisse nichtehelicher Kinder

Teil II lit. c der Erklärung betraf vor allem die erbrechtlichen Verhältnisse nichtehelicher Kinder. Obwohl Art. 6 Abs. 5 GG den Verfassungsauftrag enthält, dass durch die Gesetzgebung nichteheliche Kinder die gleichen Lebensbedingungen erhalten wie eheliche Kinder, galten nichteheliche Kinder und deren Väter bis 1970 in Deutschland rechtlich nicht als verwandt. Nach einer Gesetzesreform galt dies anschließend nur noch für vor dem 1.7.1949 geborene nichteheliche Kinder 89. Nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 28.5.2009 diese deutsche Regelung in einigen Bereichen für diskriminierend erklärt hatte 90, hob der Gesetzgeber die Benachteiligung nichtehelicher Kinder für Erbfälle nach dem 28.5.2009 auf 91. Seitdem stellte Teil II lit. c der deutschen Erklärung für die meisten Fälle eine zulässige Interpretationserklärung zugunsten des Kindes dar.

 

d) Änderungsbedarf

Die mit Art. 18 KRK in Verbindung stehenden Art. 3 KRK (Wohl des Kindes), Art. 5 KRK (Respektierung des Elternrechts) und Art. 9 KRK (Trennung von den Eltern; persönlicher Umgang) sind weit formuliert und eröffnen den Vertragsstaaten die Möglichkeit der Auslegung 92. Da Deutschland diesen Interpretationsspielraum bis zur Rücknahme seiner Erklärung überwiegend zur Wahrung des Kindeswohls nutzte und zudem die Benachteiligung nicht ehelicher Kinder für Erbfälle weitestgehend aufgehoben hat, kann bezüglich Teil II der deutschen Erklärung zu Art. 18 Abs. 1 KRK von einer zulässigen Interpretationserklärung ausgegangen werden. Es sind daher nach Rücknahme der Erklärung allenfalls geringfügige gesetzliche Änderungen notwendig.

 

2. Die Rechte des Kindes im Strafverfahren

Art. 40 Abs. 2 KRK gewährleistet dem sich strafrechtlich zu verantwortenden Kind 93 allgemeine menschenrechtliche Verfahrensgarantien, die sowohl im IPbpR als auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) rechtlich verankert sind.

 

a) Pflichtverteidiger/Beistand

Art. 40 Abs. 2 lit. b Ziff. ii KRK entspricht den Verfahrensgarantien des Art. 14 Abs. 3 lit. a und b in Verbindung mit Art. 14 Abs. 4 des IPbpR 94 jedoch mit speziellem Bezug auf die Rechte des Kindes und ist insoweit lex specialis. In Teil III lit. a ihrer Erklärung zur KRK hatte die Bundesregierung dargelegt, dass Artikel 40 Abs. 2 lit. b Ziff. ii KRK bei Straftaten von geringer Schwere nicht in allen Fällen Anspruch auf einen Beistand zur Wahrnehmung und Vorbereitung der Verteidigung des Kindes begründe. In diesen Fällen ist nach innerstaatlichem Recht die Teilnahme eines Erziehungsberechtigten oder gesetzlichen Vertreters an der Hauptverhandlung ausreichend (§ 50 Abs. 2, §§ 67 und 69 JGG) 95. Ist jedoch kein gesetzlicher Vertreter des Kindes anwesend, wird Kindern bei Straftaten von geringer Schwere in der BRD nicht „automatisch“ ein Pflichtverteidiger beigeordnet (§ 68 JGG) 96, der dazu dient, allein die Interessen des Kindes im Verfahren zu vertreten 97. Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers richtet sich vor allem nach der Schwere der Tat und der dazugehörigen Rechtsfolge, die bei Verurteilung zu erwarten ist (§ 68 JGG i. V. m. § 140 StPO) und nicht nach dem Alter des Kindes. Durch Ausbleiben eines Pflichtverteidigers bei Straftaten von geringer Schwere fehlt verfahrens-juristische Unterstützung, die aufgrund der Unerfahrenheit und Unsicherheit des Kindes in rechtlichen Angelegenheiten bei seiner Selbstverteidigung notwendig ist. Zusätzlich kann auch die Definition „Straftaten von geringer Schwere“ kritisch betrachtet werden, denn selbst die Anordnung eines Freiheitsentzugs von bis zu vier Wochen im Rahmen des Jugendarrests (§ 16 JGG) war in Deutschland gegen einen nicht verteidigten Jugendlichen bisher möglich 98.

Nach Aussage der Bundesregierung kann sich – auch wenn kein Pflichtverteidiger zugeteilt wird – „der bzw. die Beschuldigte in jeder Lage des Verfahrens des Beistandes einer Verteidigerin bzw. eines Verteidigers bedienen“ 99. Dieser Aussage ist erstens einschränkend hinzuzufügen, dass es sich für das Kind schwierig gestalten kann, einen geeigneten Wahlverteidiger zu finden. Zweitens sind zwar im Falle der Beiordnung eines Pflichtverteidigers dessen Kosten als Teil der Verfahrenskosten vom Verurteilten zu tragen, doch sind diese Kosten erheblich geringer als bei einem Wahlverteidiger 100. Hinzu kommt, dass selbst die kostengünstigere Beiordnung des Pflichtverteidigers der Auffassung des KRA entgegensteht, der zufolge ein Beistand den Kindern unentgeltlich zur Verfügung stehen muss 101. Diese Möglichkeit ist in § 74 JGG vorgesehen.

Von einem Pflichtverteidiger ist im deutschen Recht die jugendstrafrechtliche Beistandschaft (§ 69 JGG) zu unterscheiden 102. In Fällen, in denen ein Pflichtverteidiger angeordnet werden muss, ist keine Beistandschaft möglich (§ 69 Abs. 1 JGG). Ansonsten liegt die Bestellung einer Beistandschaft im Ermessen des Gerichts – eventuell auch auf Bitte des Kindes. Von § 69 JGG wird in der Praxis allerdings selten Gebrauch gemacht, da die Jugendgerichtshilfe (§ 38 JGG) und gegebenenfalls der Pflichtverteidiger als ausreichend für die Gewährleistung fürsorgerischer und verfahrens-juristischer Betreuung des Kindes erachtet werden 103.

Wird Art. 40 Abs. 2 lit. b Ziff. ii KRK im Lichte des IPbpR ausgelegt, lässt sich keine Verpflichtung der Vertragsstaaten ableiten, in allen Fällen einem Kind im Jugendgerichtsverfahren ausnahmslos einen Verteidiger oder Beistand beizuordnen. Denn nach Art. 14 Abs. 3 lit. d IPbpR muss ein Pflichtverteidiger nur bestellt werden, „wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist“. Da Art. 40 Abs. 2 lit. b Ziff. ii KRK jedoch lex specialis zu Art. 14 Abs. 3 lit. d IPbpR darstellt, kann die KRK-Norm durchaus als über die Reichweite der IPbpR-Norm hinausgehend interpretiert werden. Bei einer solchen Auslegung des Art. 40 Abs. 2 lit. b Ziff. ii KRK muss jedem Kind, das der Verletzung der deutschen Strafgesetze verdächtigt oder beschuldigt wird, unabhängig von der Schwere der Tat, ein kostenloser rechtlicher Beistand zur Vorbereitung und Wahrnehmung seiner Verteidigung zur Verfügung gestellt werden, wie dies der KRA in seinem General Comment No. 10 vorsieht 104. Dies kann entweder durch die Beiordnung eines Pflichtverteidigers (§ 68 JGG) oder – für die Fälle, in denen kein Pflichtverteidiger vorgesehen ist – durch die Bestellung eine Beistands (§ 69 JGG) geschehen 105. Außerdem muss von einer Kostenerhebung abgesehen werden (§ 74 JGG) 106.

Da eine solche Anwendung des Jugendgerichtsgesetzes in Deutschland bisher keine einheitliche Praxis war, kann Teil III der Erklärung zu Art. 40 Abs. 2 lit. b Ziff. ii KRK als Vorbehalt qualifiziert werden (Art. 2 Ziff. 1 lit. d WVK). Nach Rücknahme der Erklärung sind damit die §§ 68, 69 und 74 JGG wie beschrieben in der gerichtlichen Praxis anzuwenden. Denn um sich effektiv an einer Gerichtsverhandlung beteiligen zu können, muss das Kind die Anklagepunkte sowie mögliche Konsequenzen und Strafen kennen und verstehen 107, wozu eine kompetente verfahrenstechnisch-juristische Betreuung notwendig ist. Nur so kann ein faires strafrechtliches Verfahren für das Kind sichergestellt werden, auch bei Straftaten von geringer Schwere.

 

b) Überprüfbarkeit des Urteils

Weiterhin legte der spezifische Teil III lit. b zu Art. 40 Abs. 2 lit. b Ziff. v KRK fest, dass ein nicht auf Freiheitsstrafe lautendes Urteil gegenüber Jugendlichen nicht in allen Fällen durch eine zuständige übergeordnete Behörde oder ein zuständiges höheres Gericht überprüfbar sein müsse 108. Die betreffende innerstaatliche Bestimmung findet sich in § 55 JGG und betrifft Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel sowie Berufungsentscheidungen (§ 55 Abs.1 und 2 JGG mit Ausnahme von § 12 Nr. 2 JGG) bzw. Rechtsbehelfe 109.

In ihrem zweiten Staatenbericht an den KRA erklärte die Bundesregierung in Bezug auf Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel, dass diese Sanktionen nicht wegen ihres Umfang oder ihrer Auswahl angefochten werden könnten (§ 55 Abs.1 JGG). Denn Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel besäßen nicht die Qualität und den Charakter von Strafen. Allerdings bestünde die Möglichkeit, die Verurteilung als solche nicht zu akzeptieren und ein Rechtsmittel auf Überprüfung des Urteils bei einem höheren Gericht einzulegen 110, wenn die Vermutung besteht, dass Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel rechtlich oder tatsächlich falsch verhängt wurden 111.

Für die jugendstrafrechtliche Praxis ist die Einschränkung des § 55 Abs. 2 JGG, auf den sich Teil III lit. b der deutschen Erklärung ebenfalls bezog, relevanter. Demnach können Anfechtungsberechtigte gemäß § 55 Abs. 2 S. 1 JGG lediglich ein einziges Rechtsmittel, das heißt Berufung oder Revision, einlegen 112. Diese Regelung ist eine weitergehende Beschränkung der Rechtsmittel des Kindes als im Strafverfahren gegen Erwachsene 113. Dem liegt einerseits die pädagogische Annahme zugrunde, dass eine rechtskräftige Entscheidung zeitnah zur Tat ergehen muss, damit ihr die beabsichtigte erzieherische Wirkung zukommt. Außerdem könnten nicht nur Verfahrensverzögerungen, sondern auch durch Überprüfung gegebenenfalls voneinander abweichende Entscheidungen die gerichtlich-erzieherische Autorität mindern. Diese pädagogischen Vorstellungen werden inzwischen in Frage gestellt 114. Andererseits kann das durch die Rechtsmittelbeschränkung beschleunigte Verfahren auch vorteilhaft für das beschuldigte Kind sein, da der oder die Beschuldigte schneller von der Belastung durch das Verfahren befreit wird 115. Bisher hat das Bundesverfassungsgericht die Beschränkung auf ein Rechtsmittel für mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar erklärt 116.

Der KRA weist in seinem General Comment No. 10 allerdings ausdrücklich darauf hin, dass Art. 40 Abs. 2 lit. b Ziff. v KRK nicht nur auf schwerste Straftaten anzuwenden ist, sondern für jedes verurteilte Kind Gültigkeit besitzt. Der Ausschuss fordert daher die Vertragsstaaten ausdrücklich dazu auf, ihre Vorbehalte bezüglich Art. 40 Abs. 2 lit. b Ziff. v KRK zurückzuziehen 117. Dies unterstreicht, dass bezüglich Teil III lit. b der deutschen Erklärung zu Art. 40 Abs. 2 lit. b Ziff. v KRK ein Vorbehalt (Art. 2 lit. d WVK) beabsichtigt war 118. Dieser Vorbehalt stellte Einschränkungen der Rechte des Kindes bei der Überprüfung von Strafverfahren von geringer Schwere dar. Mit Rücknahme der deutschen Erklärung ist der Vorbehalt unwirksam geworden. Folglich muss § 55 JGG so geändert werden, dass es dem Kind in allen Fällen möglich ist, ein Urteil aus einem Jugendstrafverfahren überprüfen zu lassen und Rechtsmittel einzulegen 119.

 

3.      Mindestalter für die unmittelbare Teilnahme an Feindseligkeiten

Mit Teil V der deutschen Erklärung zu Art. 38 Abs. 2 KRK (Mindestalter für die unmittelbare Teilnahme an Feindseligkeiten) erklärte die damalige Bundesregierung, dass die in der KRK festgelegte Schutzaltersgrenze von 15 Jahren für den Einsatz von Kindersoldaten zu niedrig sei 120. Da die Bundesregierung damit einen Auslegungsstandpunkt zu Gunsten des Kindeswohls bekannt gab, handelte es sich grundsätzlich um eine positiv zu bewertende Interpretationserklärung. Diese Annahme bestätigte sich auf den ersten Blick mit der deutschen Ratifizierung des Ersten Fakultativprotokolls 121 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten im Jahr 2001 122. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass das Erste Fakultativprotokoll die Altersgrenze nur für die obligatorische Einziehung zu den Streitkräften auf 18 Jahre anhebt (Art. 2 1. FP-KRK). Die Bundesregierung legte bei Ratifizierung des Ersten Fakultativprotokolls das Mindestalter für die Einziehung von Freiwilligen zu den nationalen Streitkräften indes auf lediglich 17 Jahre fest (Art. 3 Abs. 1 und 2 1. FP-KRK) 123. Das bedeutet, dass bereits unter 18jährige mit einer diesbezüglichen Ausbildung bei der Bundeswehr beginnen können. Der KRA fordert auch hier eine Anhebung der Altersgrenze auf 18 Jahre 124. Seitens der Bundesregierung ist jedoch bisher keine Änderung beabsichtigt 125. So scheint es auf rechtlicher Grundlage weiterhin möglich zu sein, dass die Bundeswehr sogar bei unter 17jährigen um Nachwuchskräfte wirbt 126.


IV.   Fazit

Erst durch die Rücknahme der deutschen Erklärung ist eine uneingeschränkte Entfaltung der normativen Wirkung der KRK in der BRD möglich geworden, die nun jedoch auch umgesetzt werden muss. Die schwerwiegendsten Einschränkungen der in der KRK kodifizierten Kinderrechte stellten in Deutschland der Vorbehalt zur unmittelbaren Anwendbarkeit der KRK-Normen, der Ausländervorbehalt sowie die Einschränkungen bezüglich der Rechte des Kindes im Strafverfahren (Art. 40 Abs. 2 lit. b Ziff. ii und v) dar.

Im deutschen Recht sind bisher Änderungen zu Gunsten der Kinderrechte partiell erfolgt 127. So gab es einerseits positive Reformen im Kindschafts- und Erbschaftsrecht, die nichteheliche Kinder ehelichen Kindern weitestgehend gleichstellten 128 und das Kindeswohl in den Mittelpunkt familienrechtlicher Entscheidungen rückten 129. Andererseits sind bisher keine Reformen des Jugendgerichtsgesetz im Sinne der KRK erfolgt 130, obwohl der KRA Deutschland bereits 2004 aufgefordert hatte, sein Jugendstrafrecht an die Standards der Vereinten Nationen anzupassen 131.

 

 

D.    Ausblick – Bedeutung der Rücknahme der deutschen Erklärung

Die KRK erfasst die Rechte des Kindes inhaltlich umfassend, weshalb ihr universelle Bedeutung zukommt. Sie bezweckt nicht nur die materielle Sicherstellung bestmöglicher Lebensbedingungen für Kinder, sondern auch die Subjektstellung des Kindes. Die Behandlung des Kindes als rechtliches Subjekt wird in Deutschland jedoch erst allmählich Wirklichkeit. Ein erster Schritt war die Ratifizierung der KRK durch die Bundesregierung 1992, ein zweiter Schritt die Rücknahme der die Rechte des Kindes einschränkenden Erklärung zur KRK im Jahr 2010. Der dritte Schritt besteht nun darin, die Defizite in Bezug auf Anwendung, Durchsetzung bzw. Umsetzung der in der KRK normierten Rechte des Kindes systematisch und effektiv zu beheben, um so eine uneingeschränkte Anwendung der Konvention zu gewährleisten. Hier besteht für die BRD akuter Handlungsbedarf, seitdem die rechtlichen Einschränkungen der KRK nicht mehr rechtswirksam sind 132. Dringend notwendig ist vor allem die unmittelbare Anwendung der KRK-Normen – auch für unbegleitete Minderjährige, sowie eine bessere Anerkennung der Rechte des Kindes im Strafrechtverfahren.

Dazu bedarf es in vielen Bereichen nicht nur gesetzlicher und praktischer Änderungen, sondern auch eines Bewusstseinswandels. Wichtige Katalysatoren eines solchen Prozesses wären die Einrichtung einer unabhängigen Monitoring-Stelle 133 sowie eines Bundeskinderrechtsbeauftragten auf Regierungsebene. Eine zusätzliche Möglichkeit ist die viel diskutierte Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz.

 

* Die Autorin hat im Frühjahr 2014 ihren Bachelor in Internationale Beziehungen an der TU Dresden abgeschlossen.


Fußnoten:

  1. [1] Schmahl, Stefanie, Kinderrechtskonvention mit Zusatzprotokollen, Handkommentar, 2013 [Baden-Baden], Einleitung Rn. 24.

  2. Geiger, Rudolf, Grundgesetz und Völkerrecht mit Europarecht, 5. Auflage, 2010 [München], S. 160.
  3. Z. B. BVerfG v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 – (Görgülü) – BVerfGE 111, 307 [324] = NJW 2004, 3407; v. 14.11.1990 – 2 BvR 1462/87 – BVerfGE 83, 119 [128] = NJW 1991, 1043; v. 26.3.1987 – 2 BvR 589/79 – BVerfGE 74, 358 [370] = NJW 1987, 2427; v. 23.6.1981 – 2 BvR 1107/77, 2 BvR 195/7, 2 BvR 1124/77; 9 – BverfGE 58,1 [34, Rn. 101] und Cremer, Die UN-Kinderrechtskonvention, S. 19.
  4. In Bezug auf die EMRK: BVerfG v. 26.2.2008 – 1 BvR 1602/07 – (Caroline von Monaco III) – BverfGE 120, 180 [199 f., Rn. 49 und 52] = NJW 2008, 1793; v. 10.05.2007 – 2 BvR 304/07 [Rn. 37] – BVerfGK 11, 153 = InfAuslR 2007, 275; v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 – (Görgülü) – BVerfGE 111, 307 [317, 319 f., 329] = NJW 2004, 3407; v. 14.11.1990 – 2 BvR 1462/87 – BverfGE 83, 119 [128] = NJW 1991, 1043; v. 29.5.1990 – 2 BvR 254/88 – BverfGE 82, 106 [120] = NJW 1990, 274; v. 26.3.1987 – 2 BvR 589/79 – BVerfGE 74, 358 [370] = NJW 1987, 2427; in Bezug auf die UN-Behindertenrechtskonvention: BVerfG v. 23.3.2011 – 2 BvR 882/09 – BVerfGE 128, 282 [306, Rn. 52] = NJW 2011, 2113; sowie in Bezug auf die KRK: BVerwG v. 10.2.2011 – 1 B 22.10; LSG BW v. 27.10.2011 – L 7 AY 3998/11 ER-B; KG Berlin v. 23.9.2010 – 1 W 70/08 [Rn. 23] =NJW 201, 535 sowie Schmahl, Kinderrechtskonvention mit Zusatzprotokollen, Einleitung Rn. 25 und Cremer, Hendrik, Die UN-Kinderrechtskonvention, Geltung und Anwendbarkeit in Deutschland nach der Rücknahme der Vorbehalte, DIM 2012 [Tübingen], S. 25.
  5. BVerfG v. 18.7.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 = NJW 2012, 3020 bzgl. Art. 3, 22 Abs. 1, 28 KRK; BVerwG v. 10.2.2011 – 1 B 22.10 [Rn. 9] bzgl. Art. 3 Abs. 1 KRK  und KG Berlin v. 23.09.2010 – 1 W 70/08 = NJW 2011, 535 bzgl. Art. 7 Abs. 1 [Rn. 23] und 8 Abs. 1 [Rn. 34] KRK.
  6. Leblanc, Lawrence, Reservations to the Convention on the Rights of the Child: A macroperspective view of state practice, in: International Journal of Children’s Rights 4, 1996, 357, 379.
  7. Schmahl, Kinderrechtskonvention mit Zusatzprotokollen, Einleitung Rn. 7 und Fastenrath, Ulrich, Entwicklung und gegenwärtiger Stand des internationalen Menschenrechtsschutzes, in: Fastenrath, Ulrich, Internationaler Schutz der Menschenrechte, Entwicklung – Geltung – Durchsetzung, Aussöhnung der Opfer mit den Tätern, Schriftreihe Dresdner Juristische Beiträge, 6, 2000 [München], S. 9-50, S. 15 f. und S. 23-25. Insbesondere akzeptieren einige Staaten (z.B. Afghanistan, Brunei, Iran, Pakistan, Katar und Syrien) die KRK nur, insofern die Bestimmungen nicht der Scharia widersprechen. [Leblanc, Reservations to the Convention on the Rights of the Child, 357, 379 und United Nations Treaty Collection, Convention on the Rights of the Child (Stand: 9.11.2013).]
  8. Schaus, Annemie, 1969 Vienna Convention, Article 27, Internal law and observance of treaties, in: Corten/ Klein (Hrsg.), The Vienna Convention on the Law of Treaties, A Commentary, Volume I, 2011 [Oxford], S. 689-71, Ziff. 1-3 ; Schmalenbach, Kirsten, Article 27, Internal law and observance of treaties, in: Dörr/ Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of Treaties, A Commentary, 2012 [Berlin, Heidelberg], S. 453-473, Rn. 1-4 ; von Schorlemer, Einführung: Die Vereinten Nationen und die Entwicklung der Kinderrechte S. 12 f. und CRC Committee, General Comment No. 5: General Measures of Implementation of the Convention on the Rights of the Child, Ziff. 15.
  9. Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Übereinkommens über die Rechte des Kindes vom 10.7.1992, BGBl. 1992 II S. 990.
  10. Schmahl, Kinderrechtskonvention mit Zusatzprotokollen, Art. 46-54 Rn. 9 und Cremer, Hendrik, Zum Jubiläum der Kinderrechtskonvention: Der deutsche “Ausländervorbehalt” ist nichtig, InfAuslR 11/12/2009, 436, 436.
  11. International Law Commission, Guide to Practice on Reservations to Treaties 2011, Report of the ILC on the Work of its Sixty-third Session, UN Doc. A/66/10/Add.1, Ziff. 1.1; Gautier, Philippe, 1969 Vienna Convention, Article 2, Use of terms, in: Corten/ Klein (Hrsg.), The Vienna Convention on the Law of Treaties, A Commentary, Volume I, 2011 [Oxford], S. 33- 65, Ziff. 39 f. und Walter, Christian, Article 19, Formulation of reservations, in: Dörr/ Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of Treaties, A Commentary, 2012 [Berlin, Heidelberg], S. 239-286, Rn. 1.
  12. Sie werden anschließend an alle anderen Vertragsstaaten weitergeleitet.
  13. Walter, Article 23, Procedure regarding reservations, S. 337-347, Rn. 1 und 7.
  14. Gautier, 1969 Vienna Convention, Article 2, Ziff. 39 f und Walter, Article 19, Formulation of reservations, Rn. 1.
  15. Siehe auch: Human Rights Committee, General Comment CCPR No. 24: Issues relating to reservations made upon ratification or accession to the Covenant or the Optional Protocols thereto, or in relation to declarations under article 41 of the Covenant, UN Doc. CCPR/C/21/Rev.1/Add. 6 (11.11.1994), Ziff. 6-11.
  16. Dies könnte z.B. der KRA tun.
  17. Leblanc, Reservations to the Convention on the Rights of the Child, 357, 373 f. und Vitzthum, Wolfgang Graf, Begriff, Geschichte und Rechtsquellen des Völkerrechts, in: Vitzthum, Wolfgang Graf (Hrsg.), Völkerrecht, 2010 [Berlin/New York], 5. Auflage, S. 1-71, Rn. 121. Dennoch haben lediglich 13 der 193 KRK-Vertragsstaaten bisher Einspruch gegen die Vorbehalte anderer Vertragsstaaten eingelegt: Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Irland, Italien, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Slowakei, Schweden, Tschechische Republik. [United Nations Treaty Collection, Convention on the Rights of the Child, (Stand: 9.11.2013).] Es ist zudem umstritten, welche Rechtsfolgen sich aus dem Einspruch eines Vertragsstaates gegen einen Vorbehalt eines anderen Vertragsstaates ergeben. [Fastenrath, Ulrich, Entwicklung und gegenwärtiger Stand des internationalen Menschenrechtsschutzes, in: Fastenrath, Ulrich, Internationaler Schutz der Menschenrechte, Entwicklung – Geltung – Durchsetzung, Aussöhnung der Opfer mit den Tätern, Schriftreihe Dresdner Juristische Beiträge, 6, 2000 [München], S. 9-50, S. 38 f.] Die Wienervertragsrechtskonvention sieht vor, dass die Bestimmungen, auf die sich der Vorbehalt bezieht, in dem darin vorgesehenen Ausmaß zwischen den beiden Staaten keine Anwendung finden (Art. 21 Abs. 3). Der KRA drängt die Vertragsstaaten daher, zur vollen Verwirklichung der in der KRK verbürgten Rechte, alle Arten von Vorbehalten zurückzunehmen. [CRC Committee, General Comment No. 5: General Measures of Implementation of the Convention on the Rights of the Child, Ziff. 1.]
  18. International Law Commission, Guide to Practice on Reservations to Treaties 2011, Ziff. 1.; Gautier, Article 2, Use of terms, Ziff. 41 f. und Walter, Article 19, Formulation of reservations, Rn. 3.
  19. Dörr, Oliver, Article 31, General rule of interpretation, in: Dörr/ Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of Treaties, A Commentary, 2012 [Berlin, Heidelberg], S. 521-570, Rn. 68 f.
  20. Gautier, 1969 Vienna Convention, Article 2, Use of terms, Ziff. 41 f.
  21. Gautier, 1969 Vienna Convention, Article 2, Use of terms, Ziff. 39 f. und Vitzthum, Begriff, Geschichte und Rechtsquellen des Völkerrechts, Rn. 121.
  22. BMFSFJ, Bericht der Bundesrepublik Deutschland an die Vereinten Nationen gemäß Artikel 44 Abs. 1 Buchstabe b des Übereinkommens über die Rechte des Kindes (Zweiter Staatenbericht), 2001.
  23. BMFSFJ, Zweiter Staatenbericht 2001, Ziff. 83, 85 und 844.
  24. Z.B. Sommer, Hans-Eckhard, Anhörung zum Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Verbesserung der Situation Minderjähriger im Aufenthalts- und Asylverfahrensrecht, BT-Drucks. 17/9187; hier: Stellungnahme als Sachverständiger,12.4.2013, S. 9. Diese Mehrkosten wurden aufgrund von potentiellen Gesetzesänderungen bzw. Änderungen der behördlichen Praxis befürchtet. In ihrem Schattenbericht von 2010 forderte die National Coalition die Bundesregierung aus diesem Grund auf, im Rahmen einer mittelfristigen Finanzplanung in Abstimmung mit den Ländern Eckdaten der erforderlichen finanziellen Mittel zur Umsetzung der KRK offen zu legen. [National Coalition, National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland (NC) - Ergänzender Bericht zum Dritt- und Viertbericht der Bundesrepublik Deutschland, 2010 [Berlin], S. 6.]
  25. Die Zustimmung des Bundesrates war nach Ansicht der Bundesregierung erforderlich. [Deutscher Bundestag, Denkschrift zu dem Übereinkommen, BT-Drucks. 12/42, 12. Wahlperiode, 24.1.1991, S. 39 Ziff. III und Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, Befragung der Bundesregierung zur Rücknahme der Erklärung der Bundesrepublik Deutschland vom 6. März 1992 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes, BT-Plenarprotokoll 17/39, 3746 C.]
  26. Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, BT-Plenarprotokoll 17/39, 3746 C.
  27. Die National Coalition für die UN-Kinderrechtskonvention ist ein Zusammenschluss von rund 100 Organisationen und Verbänden, die sich für die Verwirklichung der Kinderrechte in Deutschland einsetzen und auf Mängel bei der Umsetzung der KRK in der BRD aufmerksam machen.
  28. CRC Committee, Concluding Observations: Germany, UN Doc. CRC/C/15/Add.43 Rn. 13, 27.11.1995 und Concluding Observations: Germany, UN Doc. CRC/C/15/Add.226 Rn. 8, 26.2.2004.
  29. Deutsches Institut für Menschenrechte, Erklärungen und Vorbehalte zur Kinderrechtskonvention, online verfügbar unter: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/?id=465 (Stand: 11.11.2013).
  30. Bundesministerium der Justiz (BMJ), Pressemitteilung: UN-Kinderrechtskonvention – Rücknahme des Vorbehalts rechtswirksam, online verfügbar unter: http://www.bmj.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2010/20100715_UN_Kinderrechtskonvention_Ruecknahme_des_Vorbehalts_rechtswirksam.html?nn=1463060 (Stand: 11.11.2013); Auswärtiges Amt online, Kinderrechte in den Vereinten Nationen, online verfügbar unter: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Menschenrechte/KinderrechteVN_node.html (Stand: 9.11.2013); Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss), BT-Drucks. 17/2509, Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode, online verfügbar unter: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/025/1702509.pdf (Stand: 11.11.2013) und Schmahl, Kinderrechtskonvention mit Zusatzprotokollen, Art. 46-54 Rn. 10. Zuvor hatte der Bundesrat einen entsprechenden Beschluss gefasst. [Beschluss des Bundesrates zur Rücknahme der Erklärung der Bundesrepublik Deutschland vom 6. März 1992 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes, BR-Drucks. 829/09 (Beschluss vom 26.3.2010).]
  31. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht mit Europarecht, S. 157 f.
  32. Deutsche Erklärung Teil I, BGBl. 1992 II S. 990 (10.7.1992).
  33. Schmahl, Kinderrechtskonvention mit Zusatzprotokollen, Einleitung Rn. 36.
  34. Cremer, Die UN-Kinderrechtskonvention, S. 18.
  35. Deutscher Bundestag, Denkschrift zu dem Übereinkommen, S. 41 Buchst. B Ziff. I und II sowie Tomuschat, Human Rights, S. 116.
  36. Es sehr fraglich, ob dieser Vorbehalt mit Ziel und Zweck der Konvention (Art. 51 Abs. 2 KRK) vereinbar oder ob er unzulässig war. Diese Frage soll hier jedoch nicht weiter diskutiert werden, da sie nach Rücknahme der Erklärung nicht mehr relevant ist. [Siehe Schmahl, Kinderrechtskonvention mit Zusatzprotokollen, Einleitung Rn. 36 und Art. 46-54 Rn. 9; Walter, Article 19, Formulation of reservations, Rn. 85-87; Müller, Daniel, 1969 Vienna Convention, Article 20, Acceptance of and objection to reservations, in: Corten/Klein, (Hrsg.), The Vienna Convention on the Law of Treaties, A Commentary, Volume I, 2011 [Oxford], S. 489-537, Ziff. 104 -115 und Tomuschat, Christian, Human Rights, Between Idealism and Realism, 2008 [Oxford], S. 116 und 118 f.]
  37. Schmahl, Kinderrechtskonvention mit Zusatzprotokollen, Einleitung Rn. 26.
  38. Lorz, Ralph Alexander, Nach der Rücknahme der deutschen Vorbehaltserklärung, Was bedeutet die uneingeschränkte Verwirklichung des Kindeswohlvorrangs nach der UN-Kinderrechtskonvention im deutschen Recht?, 2010 [Berlin], S. 16.
  39. Schmahl, Kinderrechtskonvention mit Zusatzprotokollen, Einleitung Rn. 26 und BVerwG v. 10.02.2011 – 1 B 22.10 [Rn. 4] – (UN-KRK).
  40. Eichholz, Reinald, Best Interest – Kindeswohl: Maxime von Recht und Politik?, in: von Schorlemer, Sabine/Schulte-Herbrüggen, Elena (Hrsg.), 1989-2009: 20 Jahre UN-Kinderrechtskonvention, 2010 [Frankfurt am Main], S. 195-209, S. 200. Die unmittelbare Anwendbarkeit des Art. 12 KRK wird z.B. in der Schweiz anerkannt: BGE v. 22.12.1997 – 124 III 90 [91 f.].
  41. Cremer, Die UN-Kinderrechtskonvention, S. 17.
  42. CRC Committee, General Comment No. 5: General Measures of Implementation of the Convention on the Rights of the Child, UN Doc. CRC/GC/2003/5 (27.11.2003), Ziff. 6.
  43. Das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIM) mit Sitz in Berlin wurde im März 2001 auf Empfehlung des Deutschen Bundestages gegründet. Es forscht und informiert über die Lage der Menschenrechte im In- und Ausland, berät Politik und Gesellschaft zur Prävention von Menschenrechtsverletzungen, engagiert sich in der menschenrechtlichen Bildungsarbeit und arbeitet auf internationaler Ebene mit anderen Menschenrechtsinstitutionen zusammen. Beim DIM ist außerdem die nationale Monitoring-Stelle für die UN-Behindertenrechtskonvention angesiedelt.
  44. Cremer, Die UN-Kinderrechtskonvention, S. 10 und von Schorlemer, Einführung: Die Vereinten Nationen und die Entwicklung der Kinderrechte, S. 16.
  45. Verdross, Alfred/ Simma, Bruno, Universelles Völkerrecht, 2010 [Berlin], 3. Auflage, § 866.
  46. Benassi, Günter, Kindeswohlvorrang ins Grundgesetz, Wege zur Umsetzung der Kinderrechte nach der Rücknahme der deutschen Vorbehaltserklärung, Forum der National Coalition: „Kinderrechte JETZT“, Berlin 28.9.2011, S. 3.
  47. BVerfG v. 18.7.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 = NJW 2012, 3020 bzgl. Art. 3, 22 Abs. 1, 28 KRK; BVerwG v. 10.2.2011 – 1 B 22.10 [Rn. 9] bzgl. Art. 3 Abs. 1 KRK  und KG Berlin v. 23.09.2010 – 1 W 70/08 = NJW 2011, 535 bzgl. Art. 7 Abs. 1 [Rn. 23] und 8 Abs. 1 [Rn. 34] KRK.
  48. Benassi, Kindeswohlvorrang ins Grundgesetz, S. 4 f.
  49. Cremer, Kinderrechte und der Vorrang des Kindeswohls, 327, 327.
  50. Benassi, Kindeswohlvorrang ins Grundgesetz, S. 6.
  51. Lütkes, Anne, Kinderrechte im Verwaltungshandeln, Deutsche Liga für das Kind, Wir sind nicht nur die Zukunft, wir sind jetzt schon da!, Berlin 18.10.2013.
  52. Schmahl, Kinderrechtskonvention mit Zusatzprotokollen, Art. 46-54 Rn. 8.
  53. Cremer, Hendrik, Abschiebungshaft und Menschenrechte, Zur Dauer der Haft und Inhaftierung von unbegleiteten Minderjährigen in Deutschland, 2011 [Tübingen], S. 8.
  54. Dazu gehörten z.B. Art. 2 (Nicht-Diskriminierung) und Art. 3 (Wohl des Kindes).
  55. Schmahl, Kinderrechtskonvention mit Zusatzprotokollen, Art. 46-54 Rn. 9.
  56. Rupprecht, Marlene, 20 Jahre UN-Kinderrechtskonvention – eine Bilanz aus bundespolitischer Sicht, in: von Schorlemer/Schulte-Herbrüggen (Hrsg.), 1989-2009: 20 Jahre UN-Kinderrechtskonvention, Erfahrungen und Perspektiven, 2010 [Frankfurt am Main], S. 19-37, S. 22 und Cremer, Georg, Kinderrechte für alle!, Handlungsbedarf nach der Rücknahme der ausländerrechtlichen Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention, 2010 [Freiburg], S. 15 -26. Ein Vertragsstaat kann sich bei der Nichterfüllung völkervertraglicher Pflichten eben nicht auf innerstaatliches Recht berufen (Art. 27 WVK i.V.m. Art. 46 WVK). [Schaus, 1969 Vienna Convention, Article 27, Ziff. 6.]
  57. Auch bei diesem Vorbehalt ist es fraglich, ob er überhaupt mit Ziel und Zweck der KRK vereinbar war. Ein Vertragsstaat kann sich bei der Nichterfüllung völkervertraglicher Pflichten zudem, wie erwähnt, nicht auf innerstaatliches Recht berufen (Art. 27 WVK i.V.m. Art. 46 WVK). [CRC Committee, General Comment No. 6: Treatment of Unaccompanied and Separated Children Outside Their Country of Origin, UN Doc. CRC/GC/2005/6 (1.9.2005), Ziff. 17; Cremer, Kinderrechte für alle!, S. 3; Cremer, Zum Jubiläum der Kinderrechtskonvention: Der deutsche „Ausländervorbehalt“ ist nichtig, 436-440; Schaus, 1969 Vienna Convention, Article 27, Ziff. 6 und Walter, Article 19, Formulation of reservations, Rn. 85-87.]
  58. CRC Committee, General Comment No. 6: Treatment of Unaccompanied and Separated Children Outside Their Country of Origin, Ziff. 18.
  59. Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, BT-Plenarprotokoll 17/39, 3746 CD und 3747 A.
  60. Insbesondere Art. 2 Abs. 1 KRK, sowie CRC Committee, General Comment No. 6: Treatment of Unaccompanied and Separated Children Outside Their Country of Origin, Ziff. 12 und Human Rights Committee, General Comment CCPR No. 17: Rights of the child (Art. 24), Ziff. 5 und 8; DIM, Suggested topics to be taken into account for the preparation of a list of issues by the Committee on the Rights of the Child in Germany, 2013 [Berlin], Ziff. 9 und Cremer, Kinderrechte für alle!, S. 3.
  61. „[…] mit dem Begriff „unbegleitete Minderjährige“ wird eine ausländische oder staatenlose Person bezeichnet, die ohne eines für sie nach dem Gesetz verantwortlichen Erwachsenen nach Deutschland eingereist ist oder einreisen will. Darüber hinaus sind mit dem Begriff Minderjährige gemeint, die nach der Einreise in Deutschland alleine zurückgelassen wurden.“ [Cremer, Abschiebungshaft und Menschenrechte, S. 7.] In Deutschland gibt es derzeit Schätzungen zu folge 3000-6000 unbegleitete Minderjährige ohne gesicherten Status. [Krappmann, Lothar, Gleiche Rechte auch für Flüchtlingskinder, Deutsche Liga für das Kind, Wir sind nicht nur die Zukunft, wir sind jetzt schon da!, Berlin 18.10.2013].
  62. Die Aufgabe des Jugendamtes ist im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe die Unterbringung des schutz- bzw. asylsuchenden Kindes (§ 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII) in einer geeigneten Kinderbetreuungseinrichtung (Art. 20 Abs. 3 KRK).
  63. § 15 AufenthG und DIM, Suggested topics to be taken into account for the preparation of a list of issues by the Committee on the Rights of the Child in Germany, Ziff. 9 sowie Cremer, Kinderrechte für alle!, S. 8 f.
  64. Cremer, Kinderrechte für alle!, S. 8.
  65. CRC Committee, Concluding Observations: Germany, 26.2.2004, Rn. 54 lit. c und CRC Committee, General Comment No. 6: Treatment of Unaccompanied and Separated Children Outside Their Country of Origin, Ziff. 28.
  66. Cremer, Kinderrechte für alle!, S. 8 und Löhr, Tillmann, Gesetzliche Konsequenzen aus der Rücknahme des Vorbehalts zur Kinderrechtskonvention, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR) 11/12/2010, 378, 379 f.
  67. Cremer, Kinderrechte für alle!, S. 13.
  68. In einigen Bundesländern dürfen nur unter 16jährige nicht in Abschiebungshaft genommen werden, in andern nur unter 14jährige, einige Länder haben keine Altersbeschränkung. [Cremer, Abschiebungshaft und Menschenrechte, S. 7.]
  69. CRC Committee, General Comment No. 6: Treatment of Unaccompanied and Separated Children Outside Their Country of Origin, Ziff. 20 f.
  70. CRC Committee, General Comment No. 6, Ziff. 39 f.
  71. Cremer, Abschiebungshaft und Menschenrechte, S. 9 f.
  72. Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, BT-Plenarprotokoll 17/39, 3746 C.
  73. Gesetzentwurf der Fraktion der SPD, Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Situation Minderjähriger im Aufenthalts- und Asylverfahrensrecht, BT-Drucks. 17/9187, 28.3.2012.
  74. Der Antrag wurde mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP, bei Enthaltung der Grünen, abgelehnt. [Stoltenberg, Helmut, Antrag abgelehnt, Aufenthaltsrecht III, Das Parlament Nr. 21-23/21.]
  75. Am 15.4.2013.
  76. Deutscher Bundestag online, SPD-Vorschläge zu jungen Asylbewerbern umstritten, online verfügbar unter: http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2013/43677945_kw16_pa_inneres_minderjaehrige/index.html (Stand: 12.11.2013).
  77. Thym, Daniel, Stellungnahme für die Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags am Montag, den 15. April 2013 zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Situation Minderjähriger im Aufenthalts- und Asylverfahrensrecht, eingebracht durch verschiedene Abgeordnete sowie die Fraktion der SPD (BT-Drs. 17/9187 v. 28. 03. 2012), Ausdrucks. 17 (4)706, 15.4.2013, S.1 f.: Nach Art. 3 Abs. 2 AEUV habe die EU die ausschließliche Befugnis zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge für die Sachebereiche, für die EU-Sekundärrecht angenommen wurde.
  78. Thym, Stellungnahme für die Öffentliche Anhörung des Innenausschusses, S. 2.
  79. Der Vorrang des Kindeswohls scheint sich zusätzlich auch im internationalen Vergleich mit anderen gruppenbezogenen Menschenrechtsverträgen als völkerrechtliche Zielbestimmung herauszubilden. [Lorz, Ralph Alexander/Sauer, Heiko, Kinderrechte ohne Vorbehalt, MRM 1/2011, 5, 11.]
  80. Thym, Stellungnahme für die Öffentliche Anhörung des Innenausschuss, S. 2 und EuGH v. 27.6.2006 – Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769 [Rn. 37] = NJW 2006, 3266 (Ls.) [Rn. 37].
  81. Richtlinie zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Neufassung), 2013/33/EU, 26.6.2013.
  82. Asylverfahrensrichtlinie, 2013/32/EU, 26.6.2013.
  83. Z.B. ginge weder aus der KRK noch aus den Neufassungen der Asylaufnahme- (Art. 24 Abs. 2 UAbs. 2 sowie Art. 18 Abs. 1 lit. b) und Asylverfahrensrichtlinie (Art. 25 Abs. 6) eine Pflicht zur gesonderten Unterbringung für Jugendliche hervor, solange das Kindeswohl beachtet würde. Aus demselben Grund sei der Gesetzgeber rechtlich auch nicht dazu verpflichtet, das Flughafenverfahren für unbegleitete Minderjährige abzuschaffen. [Thym, Stellungnahme für die Öffentliche Anhörung des Innenausschusses, S. 4 f.]
  84. Deutsche Erklärung Teil II, BGBl. 1992 II S. 990 (10.7.1992).
  85. Änderung des Gesetzes über die rechtliche Stellung nichtehelicher Kinder, § 14 BGBl. 1997 I, S. 2942 (19.12.1997), in Kraft getreten am 1.7.1998.
  86. CRC Committee, Concluding Observations: Germany, 27.11.1995, Rn. 28.
  87. Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, BT-Plenarprotokoll 17/39, 3746 C und BMFSFJ, Zweiter Staatenbericht, Rn. 395.
  88. Lorz/Sauer, Kinderrechte ohne Vorbehalt, 5, 15.
  89. Gesetz über die rechtliche Stellung nichtehelicher Kinder vom 19.8.1969, BGBl. I S. 1243, in Kraft getreten am 1.7.1970.
  90. EGMR v. 28.5.2009, Bauer v. Germany, Application no. 3545/04.
  91. Zweites Gesetz zur erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder, zur Änderung der Zivilprozessordnung und der Abgabenordnung vom 12.4.2011, BGBl. I S. 615.
  92. Schmahl, Kinderrechtskonvention mit Zusatzprotokollen, Art. 46-54 Rn. 8.
  93. Hier wird die Definition des „Kindes“ der KRK Art. 1 verwendet: „jeder Mensch, der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat“. Das deutsche Jugendgerichtsgesetz unterscheidet hingegen zwischen Jugendlichen (14-18 Jahre), die bedingt strafrechtlich verantwortlich sind und Heranwachsenden (18-21 Jahre), die generell strafrechtlich verantwortlich sind (§1 JGG, Ausnahme: § 20 StGB). Kinder (bis 14 Jahre) sind strafunmündig (§ 19 StGB).
  94. Vgl. auch Art. 6 Abs. 3 lit. a und c EMRK.
  95. Eisenberg, Ulrich, Jugendgerichtsgesetz, Beck’sche Kurzkommentare, 2010 [München], 14. Auflage, § 50 Abs. 2 Rn. 20. Allerdings nehmen die gesetzlichen Vertreter dieses Recht in der Praxis selten wahr. Selbst zu Verfahren, in denen die Verhängung von Jugendstrafe in Betracht kommt, erscheinen 50 % der Eltern nicht. [Eisenberg, Jugendgerichtsgesetz § 50 Abs. 2 Rn. 21 und § 67 Rn. 3.]
  96. BMFSFJ, Zweiter Staatenbericht 2001, Ziff. 840 und Deutsche Erklärung Teil III lit. a, BGBl. 1992 II S. 990 (10.7.1992).
  97. Streng, Franz, Jugendstrafrecht, 2012 [Heidelberg, München, Landsberg, Frechen, Hamburg], 3. Auflage, Rn. 135 und Ostendorf, Heribert, Jugendgerichtsgesetz, Nomoskommentar, 2009 [Baden-Baden], 8. Auflage, § 68 Rn. 3. Es wird zum einen die Ansicht einer „kooperativen“ Verteidigung vertreten, zum anderen existiert eine „reine“ Verteidigungslehre, die davon ausgeht, dass der staatliche Strafanspruch gänzlich abzuwehren ist. In diesem Spannungsfeld muss der Verteidiger im jeweiligen Verfahren Stellung beziehen. [Streng, Jugendstrafrecht, Rn. 135.]
  98. National Coalition, Ergänzender Bericht der National Coalition zum Zweitbericht der Bundesrepublik Deutschland, 2010 [Berlin], Rn. 1111-1114 und 1123-1127.
  99. BMSFSJ, Zweiter Staatenbericht 2001, Ziff. 836. Gemäß § 137 StPO i.V.m. § 2 JGG.
  100. Dazu vor allem Nr. 4104 und Nr. 4108 VV RVG (Gesetz über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte).
  101. CRC Committee, General Comment No. 10: Children’s rights in juvenile justice, UN Doc. CRC/C/GC/10 (25.4.2007) Ziff. 49.
  102. Der Beistand hat nur in der Hauptverhandlung die Rechte eines Verteidigers (Art. 69 Abs. 3 JGG).
  103. Streng, Jugendstrafrecht, Rn. 37 f.
  104. CRC Committee, General Comment No. 10: Children’s rights in juvenile justice, Ziff. 49 f. und Human Rights Committee, General Comment CCPR No. 32: Article 14: Right to Equality before Courts and Tribunals and to Fair Trial, UN Doc. CCPR/C/GC/32 (23.8.2007), Ziff. 10, 32 und 42.
  105. Die Jugendgerichtshilfe ist zur Verteidigung des Kindes indes nicht geeignet, da darin nicht ihre Hauptaufgabe besteht. Die Jugendgerichtshilfe nimmt vielmehr auch die Position eines Ermittlungshelfers ein und übt Überwachungsfunktion über das Kind aus. [Streng, Jugendstrafrecht, Rn. 106.]
  106. CRC Committee, General Comment No. 10: Children’s rights in juvenile justice, Ziff. 49.
  107. CRC Committee, General Comment No. 10, Ziff. 46 und Schmahl, Kinderrechtskonvention mit Zusatzprotokollen, Art. 40 Rn. 8.
  108. Deutsche Erklärung Teil III lit. b, BGBl. 1992 II S. 990 (10.7.1992).
  109. Eisenberg, Jugendgerichtsgesetz, § 55 Rn. 40 und Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz, § 55 Rn. 26. Die Rechtsmittelbeschränkung gemäß § 55 Abs.1 JGG gilt nur bei den dort aufgeführten Sanktionen. Werden zusätzlich härtere Sanktionen verhängt, gilt diese Beschränkung auch für die Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel nicht. [Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz, § 55 Rn. 27.]
  110. BMSFSJ, Zweiter Staatenbericht 2001, Ziff. 843.
  111. Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz, § 55 Rn. 25.
  112. Streng, Jugendstrafrecht, Rn. 576.
  113. Die Rechtsmittel im Jugendstrafrecht stellen dann eine Einschränkung gegenüber dem allgemeinen Strafverfahren dar, wenn in erster Instanz der Jugendrichter oder das Jugendschöffengericht zuständig war. Denn gegen Urteile des Landes- oder Oberlandesgerichts steht ohnehin keine Revision zur Verfügung (§ 333 StPO). [Streng, Jugendstrafrecht, Rn. 576.]
  114. Van Bueren, Geraldine, Article 40, Child Criminal Justice, in: Alan, André/ Vande Lanotte, Johan/ Verhellen, Eugeen/Ang Fiona/ Berghmans Eva/ Verheyde, Mieke (Hrsg.), A Commentary on the United Nations Convention on the Rights of the Child, 2006 [Leiden, Boston], Ziff. 1 f. und Human Rights Committee, General Comment CCPR No. 32: Article 14: Right to Equality before Courts and Tribunals and to Fair Trial, Ziff. 44.
  115. Eisenberg, Jugendgerichtsgesetz, § 55 Rn. 35 f. Fraglich bleibt dennoch, wieso „bei Rechtsfolgen von hoher Eingriffsintensität (Verpflichtung nach § 12 Nr 2 [Abs 1 S 2], JStrafe [Abs 1 S 1]) zwar einerseits die erzieherische Funktion einer Beschleunigung hinter dem rechtsstaatl Erfordernis einer (umfassenden) Überprüfbarkeit der Rechtsfolgenentscheidung zurücktritt, andererseits aber gleichwohl nach Abs 2 der Instanzenzug – abweichend vom allg StVR – idR beschränkt ist.“ [Eisenberg, Jugendgerichtsgesetz, § 55 Rn. 36.]
  116. BVerfG v. 23.9.1987 – 2 BvR 814/87 = NJW 1988, 477.
  117. CRC Committee, General Comment No. 10: Children’s rights in juvenile justice, Ziff. 60 f.
  118. Schmahl, Kinderrechtskonvention mit Zusatzprotokollen, Art. 46-54 Rn. 8.
  119. Das Recht auf Recht auf Überprüfung jeglichen strafrechtlichen Urteils sieht auch Art. 14 Abs. 5 IPbpR vor. [Human Rights Committee, General Comment CCPR No. 32: Article 14: Right to Equality before Courts and Tribunals and to Fair Trial, Ziff. 45 und 48.]
  120. Deutsche Erklärung Teil V, BGBl. 1992 II S. 990 (10.7.1992).
  121. Das Erste Fakultativprotokoll zu dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes, betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten ist für Deutschland am 13.1.2005 in Kraft getreten (BGBl. 2004 II S. 1354, 30.6.2004).
  122. Rupprecht, 20 Jahre UN-Kinderrechtskonvention – eine Bilanz aus bundespolitischer Sicht, S. 28.
  123. United Nations Treaty Collection, Optional Protocol to the Convention on the Rights of the Child on the involvement of children in Armed Conflict, verfügbar unter: http://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?mtdsg_no=IV-11-b&chapter=4&lang=en (Stand: 1.12.2013).
  124. CRC Committee, List of issues in relation to the combined third and fourth periodic reports of Germany (CRC/C/DEU/3-4), UN Doc. CRC/C/DEU/Q/3-4, 10.7.2013, Ziff. 17.
  125. Replies of Germany to the list of issues, UN Doc. CRC/C/DEU/Q/3-4/Add.1, 8.11.2013, Ziff. 103 f.
  126. Z.B. in der Jugendzeitschrift Bravo oder bei Fußballturnieren. [Karschnick, Ruben, Der Krieg soll attraktiver werden, Zeit-online vom 13.05.2013, S. 2, online verfügbar unter: http://www.zeit.de/studium/2013-05/bundeswehr-karrierecenter (Stand: 12.11.2013).]
  127. Schmahl, Kinderrechtskonvention mit Zusatzprotokollen, Einleitung Rn. 24.
  128. Gesetz zur Reform der elterlichen Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern, BGBl. 2013 I, S. 795 (16.4.2013), in Kraft getreten am 19.5. 2013 und Änderung des Gesetzes über die rechtliche Stellung nichtehelicher Kinder, § 14 BGBl. 1997 I, S. 2942 (19.12.1997), in Kraft getreten am 1.7.1998.
  129. Benassi, Kindeswohlvorrang ins Grundgesetz, S. 1.
  130. BMFSFJ, Dritter und Vierter Staatenbericht 2010, Ziff. 303-309. Aktuelle Änderungen im Jugendstrafrecht: BGBl. I S. 1854, 7.3.2013; BGBl. I S. 2425, 1.6.2013; BGBl. I S. 1854, 7.10.2012; BGBl. I S. 1854, 8.9.2012; BGBl. I S. 2554, 1.1.2012; BGBl. I S. 2274, 1.1.2012; BGBl. I S. 1003, 4.5.2011.
  131. CRC Committee, Concluding Observations: Germany, 26.2.2004, Rn. 61. Dazu zählen die Beijing-Regeln (Jugendgerichtsbarkeit), Riad-Richtlinien (Jugendkriminalität), Regeln der Vereinten Nationen für den Schutz Jugendlicher, denen ihre Freiheit entzogen ist und die Wiener Aktionsrichtlinien (Kinder im Strafjustizsystem).
  132. Walter, Article 22, Withdrawal of reservations and of objections to reservations, Rn. 30.
  133. Diese könnte wie für die UN-Behindertenrechtskonvention beim Deutschen Institut für Menschenrechte angesiedelt werden.

Prostitution und Strafrecht

$
0
0

Xenia Verspohl*

(Diesen Artikel als PDF herunterladen)

 

I. Einleitung

Der rechtspolitische Diskurs über den Umgang mit Prostitution hat innerhalb Europas zu sehr unterschiedlichen Entscheidungen geführt. Im Zentrum der vorwiegend emotional geführten Debatte steht die Frage, ob das Phänomen der Prostitution untrennbar mit dem Problemgelage der Zwangsprostitution und des Menschenhandels verbunden ist, oder ob es tatsächlich Frauen gibt, die sich reflektiert und selbstbestimmt für einen Job als Sexarbeiterin entscheiden. Aus rechtswissenschaftlicher Sicht ist das Thema der Prostitution vor allem deshalb von Interesse, weil sich im Umgang mit ihr zentrale Probleme des Strafrechts spiegeln. Zum einen die Frage nach der Legitimation von Strafbewehrung unter dem Gesichtspunkt des Rechtsgüterschutzes und zum anderen die Frage nach den Grenzen des Strafrechts als dem „schärfsten Schwert“ des Staates.

Die vorliegende Arbeit wird nach einem historischen Überblick über die Entwicklung des deutschen Sexualstrafrechts (II.) die ideologischen Grundlagen der verschiedenen Regelungsmodelle – verbunden mit einem Rechtsvergleich – beleuchten (III.). Sodann soll auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Prinzip des Rechtsgüterschutzes und dem Strafrecht als „ultima ratio“ auf der einen und der zu beobachtenden Überkriminalisierung und „Symbolisierung“ des Strafrechts auf der anderen Seite eingegangen werden. Hierzu werden zunächst abstrakt sowohl der klassische Aufgabenbereich des Strafrechts als auch die Merkmale des sog. „symbolischen Strafrechts“ umrissen (IV.), bevor in einem zweiten Schritt konkret danach gefragt wird, ob die in Bezug auf die Prostitution vorgeschlagenen Änderungen tatsächlich den Aufgabenbereich des Strafrechts betreffen oder ob es sich diesbezüglich um eine nicht zu rechtfertigende Überschreitung seiner Grenzen handelt (V.)

 

II. Die Reform des Sexualstrafrechts

1. Gesellschaftliche Voraussetzungen

Die in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jhd. beginnende Reform des Sexualstrafrechts war Folge einer intensiven gesellschaftlichen Diskussion, an deren Ende die straftheoretische Einsicht stand, dass Aufgabe des Strafrechts nicht die Wahrung der Moral und Sittlichkeit ist, sondern die Verhinderung sozialschädlichen Verhaltens (näher s.u.). 1 Der Paradigmenwechsel, der sich sowohl in der Literatur 2 als auch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung 3 niederschlug, ging in erster Linie auf eine sich verändernde Sexualmoral der Gesellschaft zurück. Während die Sexualmoral im herkömmlichen Sinne sexuelle Praktiken (voreheliche Sexualität, Homosexualität etc.) weitgehend losgelöst von ihrem Kontext als verwerflich ansah, bezog sich die neue sog. „Verhandlungsmoral“ auf das Zustandekommen von sexuellen Handlungen: Als Maßstab der Moralität diente fortan der ausdrückliche Konsens zu bestimmten sexuellen Handlungen oder Praktiken. 4 Vorangetrieben wurde der gesellschaftliche Umschwung durch die studentischen Protestbewegungen der späten 60er Jahre, die sich gegen die auch im Sexuellen manifesten autoritären Strukturen der Gesellschaft wandten. 5

 

2. Die Große Strafrechtsreform

Die Große Strafrechtsreform in den 1960er und 1970er Jahre stand entsprechend unter dem Motto: „Weg vom Schutz der Moral, hin zum Rechtsgüterschutz“. 6 Das erste Gesetz zur Reform des Strafrechts (1. StrRG) v. 25.6.1969 7 beseitigte zunächst die „antiquiertesten“ Tatbestände aus dem Bereich der klassischen Sittlichkeitsdelikte (Ehebruch, Unzucht zwischen Männern, etc.). 8 In einer zweiten Etappe änderte das 4. StrRG v. 23.11.1973 9 die Überschrift des 13. Abschnitts des StGB (vormals: „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“) in „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ und brachte eine durchgängige Neufassung des Abschnitts. Die Prostitutionsdelikte profitierten hierbei nur eingeschränkt von der neuen Rechtsgutsbezogenheit. So enthielt der neue § 180 a StGB 10 den kriminalpolitisch bedeutsamen Rest der alten Kuppeleivorschrift und beruhte auf der immer noch vorherrschenden Auffassung, die Prostitution stelle für die Betroffenen ein „Übel“ dar, welches zumindest innerhalb der Praktikabilitätsgrenzen verhindert werden müsse. 11 Nach § 180 a Abs. 1 Nr. 2 a.F. war daher jegliche „über das bloße Gewähren von Wohnung, Unterkunft oder Aufenthalt und die damit üblicherweise verbundenen Nebenleistungen hinausgehende“ Prostitutionsförderung strafbar. Verfolgt wurden konsequent alle Personen, die andere in die Prostitution verstrickten und es ihnen erschwerten, sich aus ihr wieder zu lösen – völlig unabhängig davon, ob es sich um einen Fall der selbstbestimmten Prostitution handelte oder nicht. 12 Nach der Formulierung des BGH war entsprechend schon die „Schaffung besonders günstiger und angenehmer Arbeitsbedingungen“ 13 verboten. Es folgten, insbesondere in den 90er Jahren, zahlreiche weitere Reformen des 13. Abschnitts, die in Bezug auf die Prostitutionsvorschriften allerdings keine wesentlichen Änderungen brachten.

 

3.  Das Prostitutionsgesetz

Am 1.1.2002 trat das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten (ProstG) 14 in Kraft, das erneut einen radikalen Paradigmenwechsel darstellte. 15 Explizites Ziel des Gesetzgebers war die Verbesserung der gesellschaftlichen und rechtlichen Position der Prostituierten. Nicht bezweckt hingegen war der Schutz „der Kunden, Bordellbetreiber und anderer.“ 16 Zwar war Prostitution bereits seit der Einführung des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten (GeschlKrG) 17 im Jahre 1927 und der Aufhebung des Prinzips der unter Polizeiaufsicht legalen, sonst aber strafbaren Prostitution 18 nicht mehr verboten, ihr haftete allerdings das Verdikt der Sittenwidrigkeit an. Die Einstufung als „gemeinschaftsschädlich“ ging in erster Linie zurück auf eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 1965, in welcher das Gericht die Prostitution (die „Ausübung der Gewerbsunzucht“) der Betätigung als „Berufsverbrecher“ gleichstellte. 19 Als Maßstab der Sittenwidrigkeit diente auch hier die vom Reichsgericht 1901 entwickelte Formel  des „Anstandsgefühls aller billig und gerecht Denkenden.“ 20 Teil des unabdingbaren gesellschaftlichen Grundkonsenses war bis zur Einführung des ProstG die Auffassung, dass Sexualität nicht vermarktbar sei. Betroffen vom Verdikt der Sittenwidrigkeit waren sowohl das Verhältnis Freier – Prostituierte als auch das Verhältnis Prostituierte – Zuhälter bzw. Bordellwirt. Folge war die weitgehende Enthaltsamkeit der Rechtsordnung gegenüber der Prostitution, insbesondere bot sie gem. § 138 BGB kein Forum für die Durchsetzung sittenwidriger Ansprüche. 21

Nach § 1 S. 1 ProstG steht der Prostituierten nunmehr ein Rechtsanspruch auf das vereinbarte Entgelt zu. 22 Aufgrund der Höchstpersönlichkeit der Sexualität hat der Freier allerdings keinen rechtlich durchsetzbaren Anspruch auf Vornahme einer sexuellen Handlung (§ 2). Es handelt sich also nicht um einen üblichen gegenseitigen Vertrag. Um den Frauen den Zugang zu den Sozialversicherungssystemen  zu ermöglichen und ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern, wurde ihnen der Status von Arbeitnehmerinnen zuerkannt. […]. Schließlich hoffte man, durch die Reform den verbreiteten kriminellen Begleiterscheinungen und der organisierten Kriminalität den Boden zu entziehen. 23

 

4. Die Reform der §§ 180 a, 181 a

Korrespondierend mit den Zielen des ProstG wurde das Umfeld der Prostitution in Form von Änderungen des StGB entkriminalisiert. Denn wenn die Ausübung der Prostitution nicht länger rechtlich missbilligt wird, muss es auch straffreie Formen der Prostitutionsförderung geben. Der § 180 a Abs. 1 Nr. 2 a.F. wurde entsprechend gestrichen, an seine Stelle trat der neue § 180 a, der sich nicht mehr gegen die Prostitution per se wendet, sondern sich auf die Pönalisierung des Haltens in einer „persönlichen und wirtschaftlichen Abhängigkeit“ beschränkt. Die Tatbestände der ausbeuterischen (§ 181 Abs. 1 Nr. 1) und der dirigistischen Zuhälterei (§ 181 a Abs. 1 Nr. 2) blieben in ihrer alten Fassung bestehen, eingeschränkt wurde lediglich die gewerbsmäßige Vermittlung nach § 181 a Abs. 2. Denn die Vermittlung sexuellen Verkehrs an eine selbstbestimmte und unabhängige Prostituierte soll nach Sinn und Zweck des ProstG gerade nicht mehr strafbar sein. 24

Geschütztes Rechtsgut der Delikte des 13. Abschnitts ist die sexuelle Selbstbestimmung. Der Gesetzgeber ist dabei davon ausgegangen, dass sich das einheitliche Rechtsgut in den einzelnen Tatbeständen in unterschiedlicher Weise konkretisiert (s. § 184 g Nr. 1: „das jeweils geschützte Rechtsgut“). 25 Konkretes Schutzgut der Tatbestände gegen die Förderung und Ausnutzung der Prostitution (§§ 180 a Abs. 1 u. Abs. 2 Nr. 2, 181 a) ist die persönliche und wirtschaftliche Freiheit der prostitutionsausübenden Person. 26 Es reicht nach neuer Rechtslage also gerade nicht mehr aus, dass Ort, Preis und Zeit der sexuellen Kontakte im Rahmen eines Arbeitsvertrages festgelegt werden. Vielmehr ist erforderlich, dass sich die Prostituierte in einer Abhängigkeit befindet, aus der sie sich nicht ohne weiteres zu lösen vermag. 27 Unerheblich ist dabei, ob eine Beeinträchtigung auch im konkreten Fall eingetreten ist, da es sich um abstrakte Gefährdungsdelikte handelt. 28

 

5. Die Reform der Menschenhandelsdelikte

Die jüngste Reform der Menschenhandelsdelikte erfolgte durch das 37. StRÄndG v. 11.2.2005. 29 Der neue § 232 ersetzt  – in erweiterter Form  – die gleichzeitig gestrichenen Prostitutionstatbestände der §§ 180 b, 181 a.F. Die Tathandlung wird (von § 232 Abs. 4 Nr. 2 abgesehen) nunmehr einheitlich als „Bringen“ zur Prostitution oder zu sexuellen Handlungen beschrieben. Geschützt ist neben der sexuellen Selbstbestimmung nunmehr auch das Vermögen. Dass dem Gesetzgeber ein wirtschaftliches Verständnis der Ausbeutung vorschwebte, ergibt sich sowohl aus den Gesetzesmaterialien 30 als auch aus der Parallele zur Ausbeutung der Arbeitskraft (§ 233). Die zwei Grundtatbestände in § 232 Abs. 1 werden durch Qualifikationen in Abs. 3 und Abs. 4 Nr. 1 sowie durch einen Vorfeldtatbestand in Abs. 4 Nr. 2 ergänzt. § 233 a wertet schließlich Beihilfehandlungen zum Menschenhandel zur Täterschaft auf und ordnet die Versuchsstrafbarkeit an. 31

Die Reform stellt gleichsam den Kontrapunkt der Liberalisierung der Prostitution durch das ProstG dar. Beiden Gesetzen liegt aber derselbe Gedanke zugrunde: Es geht um die diffizile – für die rechtliche Regelung jedoch essentielle – Unterscheidung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Prostitution und die entsprechende Ausdifferenzierung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung. Die neuen §§ 232 ff. sind vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen zu sehen und setzten seiner Zeit den europäischen Rahmenbeschluss zur Bekämpfung des Menschenhandels in nationales Recht um. 32

 

III. Die zugrunde liegenden Wertungen – zugleich ein Blick über die Grenzen

1. Prostitution als autonome, rechtsethisch neutrale Entscheidung

Den – insbesondere jüngeren – deutschen Reformen liegt die Vorstellung zu Grunde, dass in einem freiheitlichen Rechtsstaat nur solche Handlungen strafwürdig sind, die die Prostitution als fremdbestimmt erscheinen lassen. 33 Die selbstbestimmte Entscheidung des Einzelnen für die Ausübung der Prostitution hat die Rechtsordnung hingegen zu respektieren. Es ist nicht Aufgabe des Staates, moralische Verhaltensstandards durchzusetzen oder die Bürger vor den Folgen ihres eigenverantwortlichen Handels zu bewahren (Autonomieprinzip). 34

Betont wird also ein liberales, subjektives Grundrechtsverständnis:  Die Grundrechte sind in ihrer traditionellen Funktion Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat („status negativus“) 35 – sie begrenzen die Befugnisse des Staates gegenüber der Freiheitssphäre des Einzelnen. Ob und aus welchen Motiven der Einzelne von seiner grundrechtlichen Freiheit Gebrauch macht ist – innerhalb der bestehenden Schranken 36 – jedem selbst überlassen. Dass der Einzelne auf seine Menschenwürde, anders als auf die meisten anderen Freiheitsgrundrechte, nach h.M. nicht verzichten kann, steht diesem subjektiven Verständnis nicht entgegen. 37 Denn in selbstbestimmtem, „unwürdigem“ Verhalten liege schon gar keine Verletzung von Art. 1 I GG. Die Würde eines Menschen sei auch dann noch vorhanden, wenn „[er] die Möglichkeit freier Selbstgestaltung zur Selbsterniedrigung missbraucht“. 38 Ausschlaggebend für die Interpretation der Würde ist also das individuelle Grundrechtsverständnis des Trägers. Das Definieren seiner eigenen Würde ist Ausdruck der in Art. 2 I GG gewährleisteten allgemeinen Handlungsfreiheit und somit staatlicherseits hinzunehmen. 39

Neben dogmatischen Begründungsansätzen liegen dem Gesetz vor allem pragmatische Erwägungen zugrunde. Auch die Befürworter und Initiatoren des Gesetzes bestreiten nicht, dass die Vorstellung von Sex als Handelsware zumindest ein gewisses Unbehagen verursache. „Solange die gesellschaftlichen Verhältnisse sind wie sie sind, [müsse] der Schutz der Prostituierten vor Diskriminierung aber vorrangig gegenüber moralisch-ideologischen Bedenken gegen die Prostitution[sein].“ 40

 

2. Prostitution als Verletzung der Menschenwürde

Entgegen den obigen Ausführungen in der Prostitution per se einen Verstoß gegen die Menschenwürde zu sehen, ist Ausfluss eines objektiven Funktionsverständnisses der Grundrechte, wonach insbesondere Art. 1 I GG (als zentraler Wert der Verfassung) der Verfügungsgewalt des Einzelnen entzogen ist. 41 Die Menschenwürdegarantie schütze jeden Menschen davor, dass er einer Behandlung ausgesetzt sei, die seine Subjektsqualität in Frage stelle und ihn zum bloßen Objekt degradiere („Objektformel“). 42 Ein ebensolches Degradieren zum Objekt finde statt, wenn eine Frau – sei es als Prostituierte oder in einer „Peep Show“ – zum reinen (Lust- und Erregungs-) Objekt, also zum bloßen Mittel gemacht werde. 43 Neben der Würde der Prostituierten selbst verletze die Vermarktung des menschlichen Körpers darüber hinaus grundlegende Wertvorstellungen der Bevölkerung. Diese dürfe der Gesetzgeber nicht leichtfertig preisgeben und hierdurch ein falsches Signal setzen. 44 In der rechtspolitischen Diskussion Deutschlands wird die Auffassung, Prostitution stelle eine Verletzung der Menschenwürde dar, vor allem von Seiten der CDU/CSU vertreten. Unterstützung erfahren sie – obgleich mit teilweise anderer Begründung – durch Feministinnen, welche Prostitution als erkaufte Vergewaltigung sehen. 45

Im europäischen Kontext basiert insbesondere die schwedische Prostitutionsgesetzgebung auf vergleichbaren Erwägungen. Doch auch in Frankreich hat das Parlament Ende 2013 ein neues Gesetz verabschiedet, das Geldstrafen von bis zu 1500 Euro und “Aufklärungslektionen gegen käuflichen Sex” für Freier vorsieht. 46 In Schweden muss seit dem Inkrafttreten  des „Gesetzes zum Verbot des Kaufs sexueller Dienste“ (1.1.1999) mit einer Geld- oder Gefängnisstrafe rechnen, wer „sich für eine Gegenleistung kurzzeitige sexuelle Verbindungen verschafft.“ 47 Während Zuhälterei schon vor Inkrafttreten des Gesetzes strafbar war, setzt das Sexkaufverbot bei den Freiern an – denn die Nachfrage sei der Kern des Problems. Die sich prostituierenden Frauen bleiben in Schweden als „Opfer“ straffrei – ihnen werden Angebote zur Fortbildung und Gesundheitsvorsorge gemacht. 48 Dahinter steht die Grundannahme, dass Prostitution niemals wirklich freiwilliger Natur sein könne. 49 Sie widerspreche zudem diametral der fundamentalen Gleichheit zwischen Männern und Frauen. Neben der mit ihr einhergehenden Menschenwürdeverletzung manifestiere sie die gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen durch Männer. 50

Natürlich wird das Sexkaufverbot in Schweden von der Hoffnung getragen, Prostitution eindämmen und langfristig beseitigen zu können. 51 Dass dies ein äußerst langwieriges – wenn nicht unmögliches – Unterfangen ist, ist aber auch dem schwedischen Gesetzgeber bewusst. Im Vordergrund steht daher zunächst die normbildende Funktion von Gesetzen, also das Ziel, gemeinsame, integrierende Werte zu etablieren. 52 Zudem erhoffte man sich eine generalpräventive, abschreckende Wirkung.

Rückendeckung hat das „schwedische Modell“ jüngst durch eine nicht bindende Resolution des Europäischen Parlaments erhalten, in der die Abgeordneten betonen, dass nicht nur Zwangsprostitution, sondern auch „freiwillige“ sexuelle Dienstleistungen die Menschenrechte und die Würde des Menschen verletzen. 53

 

3. Stellungnahme

Die hinter der schwedischen Prostitutionspolitik stehende Werthaltung mag nachvollziehbar sein, allerdings geht das „schwedische Modell“ zu Unrecht davon aus, dass Prostitution gleichzusetzen sei mit Menschenhandel und Zwangsprostitution. Wer ausnahmslos alle in der Prostitution arbeitenden Frauen zu Opfern erklärt, zeichnet ein verzerrtes Bild der Realität und entmündigt auch all diejenigen Frauen, die sich tatsächlich reflektiert und selbstbestimmt für die Sexarbeit entscheiden. 54 Auch die (freilich umstrittenen) Auswirkungen des Gesetzes sprechen gegen den schwedischen Prohibitionismus: Zwar ist die Straßenprostitution um ca. 40 % zurückgegangen, man geht allerdings davon aus, dass es sich hierbei um einen Verdrängungseffekt handelt. Die Wohnungs- und Clubprostitution wird zudem aufgrund des großen Zeit- und Personalaufwandes kaum von der Polizei kontrolliert, sodass ein großer Teil der Prostitution nicht erreicht wird. Schließlich ist die Arbeit für die Prostituierten riskanter geworden. Nicht selten nutzen Freier die unsichere Marktlage bewusst aus, um den Preis „zu drücken“ oder sexuellen Verkehr ohne Kondom zu erwirken. Um geschäftliche Konsequenzen zu vermeiden, melden Prostituierte Fälle von Gewaltanwendung seltener der Polizei als früher. 55

 

IV. Aufgaben und Grenzen des Strafrechts

Die Diskussion über die Erfolge bzw. Misserfolge des ProstG wird nach wie vor äußerst kontrovers geführt. Und auch das Problem der Zwangsprostitution gilt nach der Neuregelung der Menschenhandelsdelikte (§ 232 ff.) als noch nicht abschließend gelöst. Wie so häufig werden auch in diesem Zusammenhang Rufe nach dem Strafrecht laut. Bevor allerdings geklärt werden kann, ob die zweifellos bestehenden Probleme tatsächlich den Einsatz des Strafrechts erfordern, stellt sich die Frage, was das Strafrecht überhaupt leisten kann und soll.

 

1. Die klassische Aufgabe des Strafrechts

a) Der Rechtsgüterschutz

Das Strafrecht ist nach herrschender Meinung ein Schutzrecht. 56 Es obliegt ihm, das Zusammenleben von Menschen in unserer gegenwärtigen, durch das Grundgesetz geprägten Gesellschaft vor Angriffen zu schützen, d.h. sozialschädliches Verhalten zu bekämpfen. 57 Nach überwiegender Auffassung in der Literatur erfüllt das Strafrecht diese Aufgabe durch  den Schutz (individueller und kollektiver) Rechtsgüter. 58 Zwar stehen Teile der Literatur dieser strafrechtsbegrenzenden Funktion des Rechtsgüterschutzes skeptisch gegenüber 59, aber auch die Lehren, die im Verbrechen eine Pflichtverletzung sehen oder dem Strafrecht eine vornehmlich sozial- ethische Funktion zuschreiben, können sich nicht völlig vom Rechtsgutsbegriff lösen. 60

Vertreten werden innerhalb der Rechtsgutslehre verschiedene Funktionen des Rechtsgutsbegriffs: Während teilweise davon ausgegangen wird, er liefere die Maßstäbe, anhand derer Entscheidungen des Gesetzgebers beurteilt und gegebenenfalls kritisiert werden können (systemtranszendenter Rechtsgutsbegriff) 61, leitet ein systemimmanenter Rechtsgutsbegriff das Rechtsgut aus dem Strafgesetzbuch ab, orientiert sich also nicht an einer vorpositiven Güterlehre, sondern zielt auf „Sammlung und Ordnung des bereits Gegebenen“. 62 Für ersteren Rechtsgutsbegriff spricht, dass es nicht darauf ankommen kann, dass sich ein Rechtsgut oder die Sozialschädlichkeit eines Verhaltens konstruieren lässt, sondern ob bzw. warum ein bestimmtes Verhalten sozialschädlich ist. 63

Ohne Zweifel sollte die Diskussion über das zu schützende Rechtsgut und den Einsatz des Strafrechts möglichst rational geführt werden: Je konkreter und bestimmter das zu schützende Rechtsgut, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass das Strafrecht durch Gesetzgebung seine präventiven Aufgaben erfüllt. Entsprechend sind rein ideologisch motivierte Straftatbestände oder ausschließlich gegen Tabus oder sonstige Moralen der Gesellschaft verstoßende Normen dem Deliktskatalog fernzuhalten. 64 Die Frage der Pönalisierung bestimmter Verhaltensweisen allein aufgrund eines rationalen, allgemeingültigen Rechtsgutsbegriffs entscheiden zu wollen, dürfte allerdings ebenso schwierig sein. Denn die Gesamtheit aller schützenswerten Güter in eine Definition zu fassen, führt zwangsläufig zu Verallgemeinerungen und einem hohen Abstraktheitsgrad. 65 […]

b) Das Strafrecht als „ultima ratio“ 

Da strafrechtliche Sanktionen als das „schärfste Schwert des Staates“ besonders gravierend in die Rechte des Betroffenen eingreifen und das Strafurteil regelmäßig auch mit einem sozial- ethischen Tadel verbunden ist, kommt dem Strafrecht im Verhältnis zu den anderen Teilrechtsgebieten subsidiäre Bedeutung zu. 66 Es darf also im Sinne einer „ultima ratio“ nur dann eingesetzt werden, wenn alle anderen Mittel der sozialen Problemlösung versagen. 67 Entscheidendes Prüfungskriterium ist nach der Rechtsprechung des BVerfG dabei das aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Verhältnismäßigkeitsprinzip 68, wobei dem Gesetzgeber zwar ein weiter Beurteilungsspielraum zusteht. Die drei Elemente der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit aber oftmals so großzügig ausgelegt werden, dass das gesetzgeberische Ermessen de facto nicht eingeengt wird. 69 […]

 

V.  Strafrechtlicher Handlungsbedarf  – Die Freierbestrafung und die Revision des ProstG als symbolisches Strafrecht?

Strafrechtlicher Handlungsbedarf wird im Rahmen des rechtspolitischen Diskurses in folgenden Bereichen gesehen. Zunächst wird die Bestrafung der Freier von Zwangsprostituierten gefordert. 70 Aber auch die ausnahmslose Verfolgung aller Freier nach schwedischem Vorbild erhält zunehmend prominenten Zuspruch. 71 Ebenfalls zur Debatte steht die Revision des ProstG und damit einhergehend die Rückkehr zu § 180 a Abs. 1 Nr. 2 a.F. 72 Schließlich  wird die Abschaffung des „Vermieterprivilegs“ in § 180 a Abs. 2 73 sowie eine Verbesserung des Minderjährigenschutzes verlangt. 74

Die nachfolgenden Ausführungen werden sich auf die besonders umstrittenen ersten beiden Änderungsvorschläge beschränken: Die Freierbestrafung (1.) und die Revision des ProstG (2.). Da eine Bestrafung aller Freier einen eklatanten Widerspruch zu den (m.E. sinnvollen) Zielen und Wertungen des ProstG darstellen würde, wird die Inanspruchnahme der Dienste von Zwangsprostituierten im Mittelpunkt stehen.

Beide Vorschläge sollen mit dem Vorwurf des symbolischen Strafrechts konfrontiert werden. 75 Als Maßstab dient hierzu das Verhältnismäßigkeitsprinzip, wobei die drei Elemente der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit möglichst präzise definiert und mit dem Prinzip des Rechtsgüterschutzes verbunden werden sollen.

 

1. Die Bestrafung des Freiers

Die bestehenden Strafvorschriften sehen als Adressaten lediglich Zuhälter, Bordellbetreiber und Menschenhändler vor. Diese vermeintliche Gesetzeslücke sei – so die Ansicht einiger – dringend zu schließen. Bestraft werden sollen demnach künftig Freier, die wissentlich und willentlich die Zwangslage der Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution ausnutzen. 76 Darüber hinausgehend wird teilweise die Sanktionierung schon leichtfertigen Verhaltens vorgeschlagen. 77

 

a) Das zu schützende Rechtsgut

Fraglich ist zunächst, ob überhaupt ein Rechtsgut existiert, welches es durch eine Verhaltensnorm – unabhängig von einer Sanktionsbewehrung – zu schützen gilt.

aa) Denkbar wäre zunächst eine Konstruktion des entsprechenden Delikts als Angriff auf Interessen der Allgemeinheit, also auf Universalrechtsgüter. In diesem Falle würde sich jedenfalls die Einwilligungs- bzw. Grundrechtsverzichtsdebatte (s.o.) erledigen, denn Schutzgüter der Allgemeinheit stehen nicht zur Disposition des Einzelnen. 78 Die Berufung auf Unmoral oder die „allgemeine Sittlichkeit“ vermag nach heutiger Auffassung eine Strafbewehrung aber gerade nicht zu rechtfertigen (s.o.).

bb) Im Vordergrund einer Freierbestrafung steht vielmehr der Schutz von Individualrechtsgütern. Diskutiert wird die Aufnahme eines entsprechenden Tatbestandes sowohl in das Sexualstrafrecht im 13. Abschnitt 79 als auch – anknüpfend an die Vortat des § 232 – in den 18. Abschnitt des StGB. 80 Unabhängig davon, welchem der beiden Vorschläge gefolgt wird, kann geschütztes Rechtsgut nur die sexuelle Selbstbestimmung sein.

Sexuelle Selbstbestimmung wird verstanden als Freiheit, über die Bedingungen und Umstände der eigenen Sexualkontakte zu entscheiden. 81 Geschützt ist sie nur in ihrer negativen Form, sprich als Freiheit vor sexuellen Handlungen, nicht hingegen positiv als Freiheit zu sexuellen Handlungen. 82 Die sexuelle Interaktion gehört in den von Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG geschützten Bereich, den das BVerfG als „unantastbaren Bereich der privaten Lebensgestaltung“ bezeichnet 83. Aus dieser Wertung als Teil der Intimsphäre resultiert eine besondere Vulnerabilität durch ungewollte sexuelle Kontakte, die erstens über bloße körperliche Auswirkungen hinausgeht und deren Unrechtsgehalt zweitens nicht schon unter Verweis auf die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) deutlich wird. 84 Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung werden von den Betroffenen regelmäßig als besonders schwerwiegender Eingriff in ihre Würde empfunden und haben nicht selten schädliche körperliche und seelische Folgen. 85 Eine Beeinträchtigung der sexuellen Selbstbestimmung ist regelmäßig dann anzunehmen, wenn es zu sexuellem Körperkontakt gegen den Willen des Opfers oder sonst ohne rechtswirksame Einwilligung kommt. 86 Problematisch ist hierbei vor allem das Kriterium der Freiwilligkeit bzw. der (rechts-)wirksamen Einwilligung. Denn in der Regel wird die Zwangsprostituierte – von extremen Fällen der gewaltsamen Vorführung, Fesselung etc. abgesehen – ihr faktisches Einverständnis zum sexuellen Kontakt geben. Dies  reicht indes für den Ausschluss der Schutzwürdigkeit nicht aus: Denn rechtlich wirksames Handeln setzt die kognitive und physische Fähigkeit voraus, autonome Entscheidungen zu treffen. Die Anwesenheit von Zwang, Gewalt, Drohung oder List schließt diese Fähigkeit notwendigerweise aus. 87 Das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung erscheint als hinreichend gewichtig, um eine Verhaltensnorm zu rechtfertigen.

Zu klären bleibt aber, ob der Grund für die Rechtsgutsbeeinträchtigung gerade in einem Verhalten des Freiers liegt, ob seinem Verhalten also eine selbstständige Bedeutung zukommt. Man könnte argumentieren, die Beeinträchtigung der sexuellen Selbstbestimmung scheitere daran, dass der Freier den Willen des Opfers nicht aktiv beeinflusse. Dies ist indes für eine Strafbarkeit, wie bspw. § 179 (sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen) zeigt, gerade nicht erforderlich. 88 Wenn die §§ 180 a, 181 a, 232 die persönliche und wirtschaftliche Abhängigkeit der Prostituierten von Zuhältern und Menschenhändlern pönalisieren, erscheint es folgerichtig, sie auch vor der dadurch erst ermöglichten Beeinträchtigung durch den Freier zu schützen. Er ist es, der die bereits bestehende Notlage des Opfers ausnutzt und für sexuelle Handlungen missbraucht. 89 Er verursacht durch den ungewollten sexuellen Kontakt mit der Prostituierten also eine eigenständige, originäre Rechtsgutsverletzung, die nicht bloß als Anschlussdelikt zu qualifizieren ist. 90

Der Vergleich mit dem vielfach kritisierten 91 Tatbestand der Geldwäsche (§ 261) 92 überzeugt hingegen nicht. Denn das Bestreben, dem Menschenhandel durch Regulierung der Nachfrage die finanzielle Basis zu entziehen 93 – also seine Triebfeder zu neutralisieren – tritt anders als bei § 261 nur neben den Primärzweck des (Individual-) Rechtsgüterschutzes. 94

Schließlich schlägt auch der Einwand nicht durch, eine Kriminalisierung der Freier diene durch Bekenntnis zu bestimmten Werten lediglich der Selbstdarstellung politischer Gruppen und bezwecke die Beschwichtigung der Bevölkerung. Denn sofern eine Norm – wie vorliegend – in erster Linie dem Rechtsgüterschutz dient, steht dies ihrer Legitimität nicht entgegen (s.o.). 95

b) Bestimmtheitsgrundsatz 

Da die Einführung eines Freiertatbestandes zwar im aktuellen Koalitionsvertrag angekündigt wird 96, ein konkreter Gesetzesentwurf aber noch nicht vorliegt, werde ich mich im Folgenden an Formulierungsvorschlägen aus Politik und Literatur orientieren. 97 Das Verbot unbestimmter Strafgesetze ist Ausfluss des in § 1 StGB sowie in Art. 103 II GG verankerten Gesetzlichkeitsprinzips. 98 Art. 103 II GG verpflichtet den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu benennen, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen. 99 Dies dient einerseits dazu, dass der Normadressat erkennen kann, was verboten ist, und sichert zweitens den Grundsatz der Gewaltenteilung. 100 Renzikowski schlägt vor, dass bestraft werden solle, wer „eine andere Person dadurch missbraucht, dass er unter Ausnutzung einer Zwangslage oder der Hilflosigkeit, die mit ihrem Aufenthalt in einem fremden Land verbunden ist, sexuelle Handlungen an ihr vornimmt oder sexuelle Handlungen von ihr an sich oder vor sich vornehmen lässt.“ 101 Nach dem Gesetzesentwurf der CDU/CSU soll es darauf ankommen, dass „die durch eine rechtswidrige Tat nach § 232 geschaffene Lage des Opfers eines Menschenhandels […] missbraucht“ wird. Eine Verletzung des Art. 103 II GG ist nicht ersichtlich, beiden vorgeschlagenen Formulierungen lässt sich eindeutig entnehmen, dass es ausschließlich um wissentliche und willentliche Inanspruchnahme gehen soll. Dass sich diesbezüglich Beweisschwierigkeiten ergeben können, wird erst im Rahmen der Geeignetheit relevant.

c) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

aa) Ein an die Freier von Zwangsprostituierten adressierter Straftatbestand müsste geeignet sein. Es müsste also zu erwarten sein, dass durch die Norm(-anwendung) das Eintreten der intendierten Folgen wahrscheinlicher ist als ohne strafrechtliche Sanktionierung. 102

Bezogen auf den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung ist für die Geeignetheit zunächst danach zu fragen, ob zwischen dem Verhalten des Freiers und der potentiellen Rechtsgutsverletzung eine „aufgrund allgemeiner Erfahrungsgrundsätze feststellbare Kausalbeziehung“ besteht. 103 Die Auswirkungen einer Beeinträchtigung der sexuellen Selbstbestimmung werden durch vielfältige individuelle und gesellschaftliche Faktoren bedingt – eine vollständige wissenschaftliche Klärung ist aufgrund der Komplexität der Zusammenhänge bisher nicht gelungen. 104 Dies ist indes auch nicht notwendig: Die Tatsache, dass die pönalisierte Handlung nicht in jedem einzelnen Fall zu einer Rechtsgutsverletzung führt, ist unschädlich. 105 Es muss als ausreichend angesehen werden, dass gewichtige Anhaltspunkte für die Annahme einer Rechtsgutsbeeinträchtigung vorliegen. 106 Dass sexuelle Kontakte gegen den Willen des Opfers zu einer Beeinträchtigung der sexuellen Selbstbestimmung führen können, und dass dem Verhalten des Freiers insofern eigenständige Bedeutung zukommt, wurde bereits im Rahmen der Frage nach dem zu schützenden Rechtsgut (S. 13, dd)) bejaht. Das Verhalten des Freiers erscheint als hinreichend gefährlich, es handelt sich nicht um einen Fall der bedenklichen Auflösung zwischen pönalisierter Handlung und Rechtsgutsverletzung (s.o.). 107 Bezogen auf die Geeignetheit gerade einer strafrechtlichen Sanktion ist auf ihren – zumindest partiell wissenschaftlich gesicherten – generalpräventiven Effekt zu verweisen. 108

Es drängt sich allerdings die Frage auf, wie dem Freier im konkreten Fall nachgewiesen werden soll, dass er vorsätzlich die Dienste einer Zwangsprostituierten in Anspruch genommen hat. 109 Es wird eingewandt, dass die Berufung des Freiers auf Nichtwissen in der Regel nicht widerlegbar sei, sodass die Norm de facto leerlaufe. 110 Die Abgrenzung von freiwilliger und unfreiwilliger Prostitution ist in der Tat diffizil. Zwar gäbe es objektive Kriterien wie vergitterte Fenster, der deutschen Sprache gänzlich unkundige Personen oder offensichtlich Minderjährige. 111 Der Nachweis der Kenntnisnahme dieser Umstände durch den Freier dürfte sich aber als noch schwieriger gestalten als der generelle Nachweis der Zwangsprostitution. Unabdingbare Voraussetzung ist auch hier die Aussage des Opfers, welches sich zunächst aus seiner unfreiwilligen Abhängigkeit lösen müsste. 112 Eine Erleichterung der Nachweisbarkeit böte aber z.B. eine gewerberechtliche Lizensierung von Bordellen (dazu näher s.u.). Zudem sind Nachweisprobleme eine unvermeidbare Begleiterscheinung zahlreicher Delikte des Sexualstrafrechts. Denn naturgemäß ist eben  kein neutraler Beobachter zugegen, so dass das Gericht zwei sich widersprechende Darstellungen auf ihre Glaubwürdigkeit hin zu untersuchen hat. 113

Die Bestrebung, den Beweisschwierigkeiten durch Einführung eines Leichtfertigkeitstatbestandes begegnen zu wollen, 114 ist hingegen abzulehnen. Denn das Sexualstrafrecht kennt gerade keine fahrlässige Verletzung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts, 115 was bezogen auf die Prostitution vor dem Hintergrund der schwierigen Abgrenzung von freiwilliger und unfreiwilliger Prostitution durchaus gerechtfertigt erscheint. 116 Schließlich setzt auch ein Leichtfertigkeitstatbestand voraus, dass entsprechende objektive Kriterien vorliegen, deren grob fahrlässige Missachtung den Vorwurf der Leichtfertigkeit begründet.

Hinsichtlich des Ziels der Verbrechensbekämpfung erscheint problematisch, dass eine Kriminalisierung des Freiers dessen Hinweis- und Aussagebereitschaft erheblich mindern könnte. Dies gilt zum einen für den Fall, dass ein Freier aus eigenem Antrieb Bedenken gegen die Freiwilligkeit der Dienste einer bestimmten Prostituierten hegt, einen Hinweis aus Angst vor Bestrafung aber unterlässt. Zum anderen wird er sich in einem möglichen Verfahren – sei es als Angeklagter oder als Zeuge – auf sein Schweigerecht (§ 136 StPO) bzw. sein Auskunftsverweigerungsrecht (§ 55 StPO) berufen. 117 Beides würde die Aufdeckung der Verbrechen von Menschenhändlerringen deutlich erschweren und insofern dem Ziel der Norm diametral entgegenstehen. Zumindest der ersten Konstellation (Hinweise „aus freien Stücken“) könnte man entgegenhalten, dass insbesondere achtlose Freier oder solche, die ihr Handeln mit dem Gedanken „wofür ich bezahlt habe, das ist in Ordnung“ 118 legitimieren, durch die drohende Bestrafung zu einem (anonymen) Hinweis veranlasst werden könnten. Das Argument, das Problem der reduzierten Mithilfebereitschaft habe schon im Rahmen der Debatte um die Besitzstrafbarkeit von Kinderpornographie und illegalen Drogen kein Gehör gefunden 119, vermag zwar allein nicht zu überzeugen. Jedenfalls die Einführung einer Kronzeugenregelung – wie sie im europäischen Recht im Kampf gegen die organisierte Kriminalität ausdrücklich anerkannt ist 120 – könnte die Kooperationsbereitschaft der Freier aber erhöhen. Eine Verbotsnorm erscheint – trotz nicht bestreitbarer praktischer Schwierigkeiten – geeignet.

bb) Eine Pönalisierung des Freiers müsste weiter erforderlich sein. Voraussetzung hierfür ist erstens, dass nicht schon andere Tatbestände existieren, die den Schutz des gefährdeten Rechtsguts hinreichend gewährleisten (1) und zweitens, dass die Bewehrung der Verhaltensnorm gerade mit kriminalrechtlichen Sanktionen erforderlich erscheint, also keine milderen, gleich geeigneten Reaktionsmöglichkeiten denkbar sind (2).

(1) In Betracht käme eine Teilnahme des Freiers im Rahmen der §§ 180 a, 181 a. Bezogen auf § 180 a Abs. 1 setzt eine Teilnahme grundsätzlich voraus, dass gerade der Bordellbetrieb als solcher gefördert wird. Der Freier nimmt aber – selbst wenn er den Täter zu einer konkreten Vermittlung anstiftet –  lediglich eine bereits bestehende Gelegenheit wahr. 121 Eine Strafbarkeit kommt daher erst in Betracht, wenn die Unterstützung auf die Aufrechterhaltung des Abhängigkeitsverhältnisses selbst abzielt, wozu der Freier in die für die Förderung der Prostitution maßgeblichen Strukturen eingebunden sein müsste. 122 Auch für eine Teilnahme an § 181a müsste der Freier das Tatgeschehen beherrschen oder zumindest wesentlich (mit-) steuern. 123 Diese Voraussetzungen werden bei den meisten Freiern – die lediglich schnellen und unkomplizierten Sex suchen – gerade nicht erfüllt sein.

Auch eine Teilnahmemöglichkeit an den §§ 232 ff. ist zwar – insbesondere durch den weiten Tatbestand des § 233 a – grundsätzlich denkbar. Die Schwelle zur Strafbarkeit ist allerdings auch hier erst überschritten, wenn die Teilnahme auf das Einwirken selbst abzielt, wenn der Freier also bspw. „Nachschub“ bestellt oder die Zwangslage, etwa einer drogensüchtigen Prostituierten, dazu ausnutzt, einen erheblichen Preisnachlass zu erwirken. 124

Ebenso wenig greift in der Regel der § 177 Abs. 1 Nr. 3 gegenüber dem Freier von Zwangsprostituierten ein: Zwar befindet sich das Opfer in der vom Gesetz geforderten „schutzlosen Lage“. Erforderlich ist aber, dass das Opfer aus Furcht vor dem Täter den unerwünschten Sexualkontakt erleidet. 125 Die Resignation der Zwangsprostituierten beruht aber in der Regel auf der Angst vor der physischen und psychischen Übermacht des Zuhälters, nicht der des Freiers. 126

Schließlich käme eine Bestrafung wegen Körperverletzung nach den §§ 223 ff. in Betracht. Aber selbst wenn man die – nicht unumstrittene 127 – These vertritt, Penetration als solche stelle bereits eine körperliche Misshandlung dar, ist doch die Schutzrichtung eine andere: Den §§ 223 ff. geht es um den Schutz der körperlichen Unversehrtheit.

Dem Verhalten der Freier wird also durch keinen bereits bestehenden Tatbestand Rechnung getragen.

(2) Es dürfte weiter kein milderes, gleichgeeignetes Mittel geben. In Betracht käme eine Ahndung des Freierverhaltens als Ordnungswidrigkeit. Straftaten und Ordnungswidrigkeiten unterscheiden sich nicht schon durch die Existenz bzw. das Fehlen eines Rechtsguts, letztere sind aber immer dann vorzugswürdig, wenn ein Gesetzesverstoß wegen seiner geringen Sozialgefährlichkeit keiner Kriminalstrafe bedarf. 128 Aufgrund der Gewichtigkeit des betroffenen Rechtsguts und aufgrund der Tatsache, dass der Freier durch sein Verhalten eine originäre Rechtsgutsverletzung verursacht, ist eine Ahndung mit den Mitteln des Ordnungswidrigkeitenrechts vorliegend nicht ausreichend. Wer willentlich und wissentlich die Dienste einer Zwangsprostituierten in Anspruch nimmt, verhält sich in einem hohen Maße missbilligenswert, sodass das dem Strafrecht eigene sozial- ethische Unwerturteil gerechtfertigt erscheint. Auch der erhoffte Effekt der negativen Generalprävention, also die Abschreckung skrupelloser bzw. gedankenloser Freier, 129 spricht für eine Bevorzugung des Strafrechts. Andere gleichgeeignete Mittel sind aus dem genannten Grunde ebenfalls nicht ersichtlich.

cc) Schließlich dürfte die Belastung der strafrechtlichen Sanktion nicht außer Verhältnis stehen zu dem damit verfolgten Zweck, also für den Adressaten des Verbots nicht „unzumutbar“ sein (Übermaßverbot). 130 Zur Beurteilung der Angemessenheit bedarf es einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe. 131 Die objektive Gewichtigkeit des geschützten Rechtsguts sowie das hohe Handlungsunrecht auf subjektiver Seite (s.o.) lassen eine strafrechtliche Sanktion angemessen erscheinen.

 

d) Zwischenergebnis

Das Verhalten des Freiers mit strafrechtlichen Sanktionen zu belegen erscheint also erstens unter dem Gesichtspunkt des Rechtsgüterschutzes legitim und genügt zweitens den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit. […]

 

VI. Sonstiger Handlungsbedarf

Wie gesehen erscheint die strafrechtliche Regulierung der Prostitution nur äußerst eingeschränkt geeignet, den vielfältigen mit der Prostitutionsausübung verbundenen Risiken zu begegnen. Zwar geht es um den Schutz gewichtiger Rechtsgüter, unter dem Gesichtspunkt der Effektivität führen strafrechtliche Sanktionen aber entweder zu erheblichen praktischen Schwierigkeiten (Freierbestrafung) oder stellen sich sogar als kontraproduktiv dar (Rückkehr zu § 180 a a.F.). Dass Handlungsbedarf im Bereich der Zwangsprostitution und der Ausbeutung in der Prostitution besteht, belegt indes bereits die Kriminalitätsentwicklung im Hellfeld. 132 Noch dringlicher erscheint er vor dem Hintergrund des immensen Dunkelfeldes. Fraglich ist, welche außerstrafrechtlichen Strategien der Ausbeutung von grundsätzlich freiwillig als Prostituierte arbeitenden Frauen entgegengenwirken und einen Beitrag zur Bekämpfung der Zwangsprostitution leisten können.

 

1. Gewerberecht

Denkbar wäre zunächst eine gewerberechtliche Regulierung der Prostitution und der Prostitutionsstätten. Unabdingbare Voraussetzung hierfür ist, dass es sich bei dem sogenannten „ältesten Gewerbe der Welt“ 133 überhaupt um ein solches handelt. Unter den Begriff des Gewerbes fällt „jede erlaubte, auf Gewinnerzielung gerichtete und auf Dauer angelegte selbständige Tätigkeit, ausgenommen Urproduktion, freie Berufe und die bloße Verwaltung eigenen Vermögens.“ 134 Bezogen auf das Merkmal „erlaubt“ ist für die Ablehnung des Gewerbecharakters der Hinweis auf die „soziale Unwertigkeit“ der Tätigkeit nicht mehr ausreichend. Denn der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung gebietet die Ausstrahlungswirkung des ProstG auch auf den Sittlichkeitsbegriff des öffentlichen Rechts. 135 Problematisch erscheint aber das Kriterium der „Selbstständigkeit“. Denn selbst wenn eine Prostituierte im gemieteten Zimmer formal auf eigene Rechnung tätig wird, unterliegt sie häufig zahlreichen Vorgaben in Bezug auf Arbeitszeiten, Höhe des zu verlangenden Entgeltes, vorzunehmende Sexualpraktiken etc. 136 […]. Für die Annahme der Gewerbefähigkeit der Prostitution spricht die gewerbliche Anzeigepflicht (§ 14 GewO), 137 die eine behördliche Überwachung im Hinblick auf die mit der Ausübung der Prostitution verbundenen Risiken ermöglichen würde. Vielfach wird jedoch eingewandt, die Nutzung von Umgehungsmöglichkeiten werde das Milieu noch intransparenter machen. 138 Gerade ordnungsgemäß angemeldete Gewerbebetriebe dürften aber  – schon aus Konkurrenzgründen – geneigt sein, Informationen über die fehlende oder fehlerhafte Anmeldung anderer Betriebe an die Behörden weiterzuleiten. Auch die Erlaubnis zur Ausübung eines Gewerbes 139 könnte nicht mehr unter Hinweis darauf versagt werden, dass zu erwarten sei, „dass die Schaustellungen den guten Sitten zuwiderlaufen werden“ (§ 33a Abs. 2 Nr. 2 GewO). Die Unterscheidung von konzessionierten und illegalen Bordellen böte zudem auch für Kunden einen Anknüpfungspunkt (s.o.). 140 Schließlich könnte das Instrument der Gewerbeuntersagung (§ 35 GewO) zum Einsatz kommen. Als Grund für die Annahme von Unzuverlässigkeit käme konkret vor allem die Missachtung von Abgabepflichten in Betracht, aber auch die Begehung von Straftaten. 141 […].

 

2. Baurecht

Auch das Baurecht böte Anknüpfungspunkte für die Regulierung der Prostitution. Während im Bereich des Bauplanungsrechts der Schwerpunkt der Problematik auf der Zulässigkeit von Wohnungsprostitution und bordellartigen Betrieben in Wohn- und Mischgebieten liegt (beides wird meist mit Verweis auf „milieubedingte Unruhen“ untersagt), stellt das Bauordnungsrecht, für Baden- Württemberg insbesondere die §§ 1- 40 LBO, eine Möglichkeit zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen dar. 142 Denn vielfach wohnen und arbeiten die Prostituierten in kleinen und fensterlosen Zimmern und teilen sich die Sanitäranlagen mit Kunden. 143

 

3. Polizeirecht

Flankierend zu gewerberechtlichen Anzeige- und Erlaubnispflichten sind die präventiven und repressiven Befugnisse der Polizei wenn nötig auszuweiten, zunächst aber konsequenter einzusetzen. Insbesondere seit den Terroranschlägen auf das World Trade Center im Jahre 2001 sind die personellen und finanziellen Ressourcen der Polizei verstärkt in die Terrorismusbekämpfung geflossen. Folge ist vielfach die Vernachlässigung der eigentlichen Aufgabenbereiche der polizeilichen Arbeit. 144 Zudem hat die Polizei durch die Entkriminalisierung des Milieus im Zuge des  ProstG in der Tat einen Ermittlungsansatz verloren. 145 (Und) Auch die EU- Osterweiterung, die den Bürgern der neuen Mitgliedsstaaten den legalen Aufenthalt in Deutschland gestattet, hat die Strafverfolgung erschwert. 146

Abhilfe könnte zunächst die konsequentere Nutzung der „klassischen“ Befugnisse des Polizeirechts schaffen 147, insbesondere die Kontrolle von Personen und Sachen an gefährlichen Orten. 148 In Baden- Württemberg finden sich die entsprechenden Befugnisse in den §§ 26, 29 und § 30 BW PolG, wobei § 26 Abs. 1 Nr. 2 ausdrücklich Erforschungseingriffe an Orten gestattet, an denen der Prostitution nachgegangen wird. Auch eine Verschärfung des Polizeigesetzes zur leichteren Kontrolle von Bordellen und des Straßenstrichs, wie sie jüngst die schwarz- rote Regierung des Saarlandes im Rahmen eines „Maßnahmenpaketes zur Eindämmung der Prostitution“ beschlossen hat 149, ist erwägenswert. Aufgrund der vielfach grenzübergreifend agierenden Täter ist zudem die Kooperation internationaler Ermittlungsbehörden auszubauen. 150 Für Deutschland erscheint überdies die Einrichtung milieunaher Spezialdienststellen, die Präsenz sog. „polizeilicher Milieuaufklärer“ und die initiative Kontaktaufnahme zu potentiellen Opfern sinnvoll. 151 Denn aufgrund der komplexen Tat- und Täterstrukturen gelingt die Auslösung eines Verfahrens häufig nur aufgrund proaktiver Ermittlungstätigkeit.

 

4. Opferschutz und Ausländerrecht

Im Strafverfahren gegen Menschenhändler sind die Geschädigten die wichtigsten Zeugen, ihre Aussage für eine Verurteilung meist unerlässlich. Zwar hat Deutschland inzwischen die „Richtlinie des Rates über die Erteilung kurzfristiger Aufenthaltstitel für die Opfer der Beihilfe zur illegalen Einwanderung und des Menschenhandels, die mit den zuständigen Behörden kooperieren“ vom 29.04.2004 152 ins nationale Recht umgesetzt (vgl. § 25 Abs. 4a AufenthG), die Frauen erhalten allerdings nur einen befristeten und zweckgebundenen Aufenthaltstitel, was teilweise als zweite Instrumentalisierung des Opfers – diesmal durch den Staat – kritisiert wird. 153 Eine Stärkung der Opferrechte brächte insofern ein humanitäres Aufenthaltsrecht, bspw. nach Art. 14 Abs. 1 lit. A der „Convention on action against trafficking in human beings“. Dieses sollte unabhängig von einem Strafverfahren gewährt werden und begleitende psychologische und rechtliche Beratung – z.B. um Rechtsansprüche des Opfers gegen die Täter durchzusetzen – vorsehen. 154

 

5. Prävention, Beratung und Ausstiegshilfen

Unerlässlich für einen effektiven Rechtsgüterschutz sind schließlich außerrechtliche Ansatzpunkte. Ein präventiver Ansatz muss zunächst eine Vielzahl verschiedenster Faktoren berücksichtigen und kann mit der Formel „Eine gute Sozialpolitik ist die beste Prävention“ 155 umschrieben werden. Reduzierung der Armut in der Herkunftsländern, Chancengleichheit in der Bildung, intensive Begleitung von Opfern sexueller Gewalt sowie der Einsatz von Jugendämtern oder Streetworkern, die gefährdete Mädchen vor dem Abgleiten in die Prostitution bewahren, sind nur einige Faktoren. Für die bereits in der Prostitution arbeitenden Frauen sind Einrichtungen zur Beratung und Ausstiegsbegleitung verstärkt zu fördern. Zurzeit widmen sich vor allem Nicht- Regierungsorganisationen, häufig mit äußerst knappem Budget 156, dieser anspruchsvollen Aufgabe. 157 Das Einbinden auch staatlicher Stellen, bspw. durch Angebote der Kommunen, könnte das Vertrauen in staatliche Institutionen generell fördern, was wiederum zu einem Anstieg der Anzeigebereitschaft in Bezug auf Gewalt- und Menschenhandelsdelikte führen könnte. Auch die Inanspruchnahme der durch das ProstG verbesserten Möglichkeiten (z.B. zivilrechtliche Ansprüche wegen Wuchermieten, § 138 BGB) würde durch Aufklärung und Beratung gefördert, denn dass diese bislang nur vereinzelt genutzt werden, liegt nicht zuletzt an der mangelnden Informiertheit vieler Betroffener. 158 […].

 

VII. Resümee und Ausblick

Die Abgrenzung zwischen selbst- und fremdbestimmter Prostitution bereitet erhebliche Schwierigkeiten. Prostitution mit Menschenhandel und Zwangsprostitution gleichzusetzen, stellt allerdings eine Verkürzung der Realität dar. Beide Phänomene verlangen unterschiedliche Handlungsstrategien, die vorrangig außerhalb des Strafrechts zu suchen sind.

Die Freier von Zwangsprostituierten sind vor dem Hintergrund des hohen Unrechtsgehalts ihrer Tat strafwürdig. Dass ein entsprechender Straftatbestand u.U. mit Beweisproblemen verbunden ist, steht dem nicht entgegen.

Mit der Anerkennung der Prostitution als autonome Entscheidung des Einzelnen hat der deutsche Gesetzgeber eine Grundentscheidung gefällt. Nach wie vor verhindern aber moralische Bedenken, mangelnde praktische Erfahrung oder vermeintliche Unzuständigkeit eine konsequente Umsetzung dieser Grundentscheidung.

Wünschenswert wäre ein politisches Gesamtkonzept zum Umgang mit der Prostitution, an dessen Durch- und Umsetzung alle auf Bundes- und Länderebene beteiligten Stellen mitwirken. Für die grundsätzlich freiwillige Prostitution eröffnet das ProstG sinnvolle Optionen, die Implementierung scheitert indes häufig an der mangelnden Informiertheit der Betroffenen. Die Bekämpfung von Ausbeutung in der Prostitution und Zwangsprostitution kann durch die öffentlich- rechtliche Regulierung der Prostitution sowie ein effektives und lückenloses Kontrollinstrumentarium erleichtert werden. Schließlich sind Opferrechte zu stärken und Beratungsstellen und Ausstiegsprogramme finanziell wie personell zu fördern.

Einige der hier befürworteten Vorschläge sind auch im aktuellen Koalitionsvertrag enthalten. 159 Neben einem „Freiertatbestand“ werden schärfere Kontrollen sowie eine “Erlaubnispflicht für Bordellbetriebe” angekündigt. Es soll ein Verbot besonders ausbeuterischer Geschäftspraktiken (z.B. die sog. “Sex- Flatrate“) eingeführt und der Erhalt eines Aufenthaltsrechts für Zwangsprostituierte erleichtert werden.

*Dieser Artikel von stud. iur. Xenia Verspohl beruht auf einer im SS 2014 im Rahmen des Seminars „das Strafrecht an seinen Grenzen“ bei Prof. Dr. Hefendehl geschriebenen Seminararbeit.


Fußnoten:

  1. Hamdorf/Lernestedt, KJ 2000, S. 355.
  2. Hanack, ZStW 77, 1965, S. 404 f.; Baumann u.a., AE Besonderer Teil, Sexualdelikte, S.9.
  3. BGHSt 23 40, 43 f. („Fanny Hill“).
  4. Hörnle in: LK, Vor § 174 Rn. 10, 27.; Schmidt: SPIEGEL SPECIAL 1/1999.
  5. Gillen, SPIEGEL ONLINE einestages v. 26.11.2007.
  6. Renzikowski in: Das Prostitutionsgesetz, S. 133.
  7. BGB1. I S. 645.
  8. Maurach/Schröder/Maiwald, BT, § 17 I Rn. 2.
  9. BGB1. I S. 1725.
  10. Alle §§ ohne ausdrückliche Nennung sind solche des StGB
  11. BT- Drs. 6/1552, S. 9, 18, 25, 29; 6/3521, S. 47, 49.
  12. Vgl. Hörnle in: LK, § 180 a.
  13. z.B. BGH, NJW 1986, 596; BGH, NJW 1987,  3210.
  14. ProstG v. 20.12.2001, BGBI I 2001, 3983.          
  15. Renzikowski in: Das Prostitutionsgesetz, S. 136.
  16. BT- Drs. 14/5958, S. 4.
  17. RGB1. 1927 I, S. 61 ff.
  18. ALR (1794), Abschnitt Theil II Titel 20 §§ 999 bis 1026 („Gemeine Huhrerei“).
  19. BVerwGE 22, 286, 289.
  20. RGZ 48, S. 114, 124.
  21. Kavemann/Steffan, APuZ 9/2013, S. 10 f.
  22. Kavemann/Steffan, APuZ 9/2013, S. 10 f.
  23. BT- Drs. 14/5958, S. 4.
  24. Wolters/Horn in: SK, § 181 a Rn. 3 ff.
  25. BT- Drs. 7/514, S. 12; Perron/Eisele in: Schönke/Schröder, Vor §§ 174 ff. Rn. 1 .
  26. Wolters/Horn in: SK, Vor § 174 Rn. 3.
  27. BGHSt 48, 314, 319f.; StV 2003, S. 617, OLG Düsseldorf, StV 2003, S. 165f.
  28. BGH NJW 1986, 596; Frommel in: NK, § 180 a Rn. 16 ff.
  29. BGB1. I S. 239.
  30. BT- Drs. 15/4048, S. 12.
  31. Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, BT, § 9 Rn. 1b.
  32. ABI. EG Nr. L 203 vom 01.08.2002, S. 1.
  33. Herz, Menschenhandel, S. 49.
  34. Renzikowski, ZRP 2005,  S. 216; s.a. Hefendehl, GA 2007, S. 8.
  35. Pieroth/Schlink, Grundrechte, § 4 I 2 Rn. 76.
  36. Pieroth/Schlink, Grundrechte, § 6 II 2 Rn 222ff.
  37. Kunig in: Münch/Kunig, Art. 1Rn. 34; Epping, Grundrechte, Rn. 606.
  38. VG Berlin, NJW 2001, 984, 986.
  39. Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 109 f.; v. Ohlshausen, NJW 1982, 2222; Höfling,  NJW 1983, 1583; Würkner, NVwZ 1988, 600 ff.
  40. BT- Drs. 11/7140, S. 12 (Gesetzesentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN).
  41. VG Neustadt, 21.05.1992 („Zwergenweitwurf“), BVerwGE 115, 189 („Laserdrome“).
  42. BVerfGE 96, 375, 399; BVerfGE 115, 118, 152.
  43. BGH, NJW 1976, 1883, 1885; VG Minden, NVwZ 1998, 666; BVerwG 64, 274 ff.
  44. Eichhorn, in: Plenarprotokoll 14/196, 19.10.2001, S. 19195; BT-Drs. 14/6781, S. 2, 8.
  45. z.B. Terre des femmes: http://www.frauenrechte.de/online/index.php/themen-und-aktionen/tdf-positionen/allgemein-offene-briefe/614-positionspapier-zu-prostitution-in-deutschland
  46. Lehnartz, DIE WELT v. 04.12.2013.
  47. Svensk författningssamling (SFS) 1998: 408, Om förbud mot köp av sexuella tjänster  (Übersetzung: Dodillet, APuZ 2013, S. 1).
  48. z.B.: Winberg, Prostitution ist sexuelle Gewalt!.
  49. Kavemann in: Das Prostitutionsgesetz, S. 13, 14.
  50. z.B.: Winberg, Prostitution ist sexuelle Gewalt!.
  51. Kavemann in: Das Prostitutionsgesetz, S. 14.
  52. Dodillet, ApuZ 9/2013, S. 31.
  53. Vgl.: Pressemitteilung des EU- Parlaments v. 26.02.2014 (http://www.europarl.europa.eu/news/de/news-room/content/20140221IPR36644/html/Die-Freier-bestrafen-nicht-die-Prostituierten-fordert-das-Parlament).
  54. Rabe, APuZ 9/2013, S. 16.
  55. Kavemann in: Das Prostitutionsgesetz, S. 25 ff.
  56. Vgl. Hefendehl, JA 6/2011, S. 401.
  57. Roxin, AT, §  2 Rn. 7.
  58. Rengier, AT, § 3 Rn. 1; Wessels/Beulke/Satzger, AT, § 1 I 2, Rn. 6; Lenckner/Eisele in; Schönke/Schröder, Vor §§ 13 ff. Rn. 8 ff.; Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, BT, § 1 Rn. 2
  59. Vgl. Jeschek/Weigend, AT, § 26 S. 257 ff.; Welzel, StrafR, § 1 S. 1ff.; Lenckner in: Schönke/Schröder, Vor §§ 13 ff. Rn. 11; Strathenwerth, AT, § 2 Rn. 5 ff., 13 ff.
  60. Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 3 Rn. 15 ff.
  61. z.B.: Roxin, AT, § 2 Rn. 12; Hassemer, NStZ 1989, S. 557.
  62. z.B.: Honig, die Einwilligung des Verletzten, S. 94.
  63. Roxin, AT, § 2 Rn. 14; Hamdorf/Lernestedt, KJ 2000, S. 362.
  64. Roxin, AT, § 2 Rn. 7 ff.; Hassemer, NStZ 1989, 557.
  65. Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 17.
  66. Radtke in: MüKo, Vor §§ 38 ff. Rn 2.
  67. Roxin, AT, § 2 Rn. 97; BVerfG v. 28. 5. 1993; BVerfGE 88, 203, 288; BVerfG v. 9. 7. 1997.
  68. Degenhart, Staatsrecht I, § 4 Rn. 399.
  69. z.B.: BVerfG NJW 2008, 1137; BVerfGE 90, 145; 7, 377.
  70. BT- Drs. 15/5326 (Gesetzesentwurf der Fraktion der CDU/CSU); BR- Drs. 140/05 (Gesetzesantrag des Freistaates Bayern); BT- Drs. 16/1343 (Gesetzesentwurf des Bundesrates); Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 18. Legislaturperiode, S. 73.
  71. Wie z.B. jüngst die baden-württembergische Sozialministerin Katrin Altpeter (Vgl.: http://www.emma.de/artikel/spd-ministerin-fuer-freierbestrafung-313273).
  72. BT-Drs. 16/1343; BR-Drs. 140/05.
  73. BT- Drs. 16/4146, S. 32, 44.
  74. z.B.. Renzikowski in: Das Prostitutionsgesetz, S. 143.
  75. Degenhart, Staatsrecht I, § 4 Rn. 395.
  76. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 18. Legislaturperiode, S. 73.
  77. BT- Drs. 15/5326, S. 5; BR- Drs. 140/05.
  78. Hamdorf/Lernestedt, KJ 2000, S. 366.
  79. Renzikowski, ZRP 2005, S. 215.
  80. Vgl. Thoma, NK 2/2005, S. 54; BT- Drs. 16/1343.
  81. Renzikowski, ZPR 2005, S. 216; BGHSt 42, 179.
  82. Maurach/Schröder/Maiwald, BT, § 17 IV Rn. 14ff.
  83. BVerfG 6, 32, 41; BVerfG 27, 1, 6; BVerfG 34, 238, 245.
  84. Hörnle in: LK, Vor §§ 174 Rn. 29.
  85. Fischer, Vor § 174 Rn. 5.
  86. Hörnle in: LK, Vor § 174 Rn. 28.
  87. Hörnle in: LK, Vor §§ 174 Rn. 31.
  88. Renzikowski, Aktionsbündnis gegen Frauenhandel, S. 39.
  89. Renzikowski, ZRP 2005, S. 215; BT- Drs. 15/5326, S. 4.
  90. Renzikowski, ZRP 2005, S. 215; Merk, ZRP 2006, S. 251.
  91. z.B. Kilchling, APuZ 38-39/2013, S. 10.
  92. Schröder, NJW 2005, 1394; Merk, ZRP 2006, S.252.
  93. BT- Drs. 15/4048, S. 10; 15/5326, S. 4.
  94. Renzikowski, ZRP 2005, S. 215.
  95. Baumann/Weber/Mitsch, AT, § Rn. 25, Roxin, AT, § 2 Rn. 37.
  96. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU, SPD (18. Legislaturperiode), S. 73.
  97. BT- Drs. 15/5326, S. 5 (Gesetzesentwurf der Fraktion der CDU/CSU); Renzikowski,

    Gutachten im Auftrag des BMFSFJ, S. 55.

  98. Hefendehl, JA 2011, S. 403.
  99. BVerfG NJW 1993, 1911; BVerfG NJW 1969, 1059.
  100. Roxin, AT, § 5 Rn. 67.
  101. Renzikowski, Gutachten im Auftrag des BMFSFJ, S. 55.
  102. Vgl. Hefendehl, JA 6/2011, S. 404.
  103. Vgl. Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 37.
  104. Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 37; Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, § 1 Rn. 7.
  105. Vgl. BVerfG 96, 10, 23; BVerfG NJW 2008, S. 1137, 1138.
  106. Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 37.
  107. Maurach/Schröder/Maiwald, § 20 I Rn. 4; Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, BT, § 10 Rn. 6.
  108. Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 3 Rn. 26, 28.
  109. Renzikowski, ZRP 2005, S. 215.
  110. Frommel, Menschen- und Frauenhandel, S. 2.
  111. Renzikowski, ZPR 2005, S. 215.
  112. Schmidbauer, NJW 2005, S. 872.
  113. Merk, BT- Drs 15/5326, S. 5.
  114. So Merk, ZPR 2005, S. 252.
  115. Zypries, BT- Plenarprotokoll 15/135 S. 12369 f.
  116. Renzikowski, ZRP 2005, 215.
  117. Vgl. Merk, BT- Drs 15/5326, S. 5.
  118. Gerheim, ZEIT ONLINE v. 29.11. 2013.
  119. So Merk, ZRP 2006, S. 252.
  120. Art. 4 EU- Rahmenbeschluss zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität v. 24.10.2008, AB1. L 300/42.
  121. Renzikowski in: MüKo, § 180 a Rn. 52; Perron/Eisele in: Schönke/Schröder, § 180 a Rn. 20.
  122. Laufhütte/Roggenbuck in: LK § 180 a Rn. 18.
  123. Laufhütte/Roggenbuck in: LK, § 181a Rn. 21.
  124. Renzikowski in: MüKo, § 232 Rn. 84; Eisele in: Schönke/Schröder, § 232 Rn. 36.
  125. BGH, NStZ 2006, S. 395, 399; Fischer, § 177 Rn. 43.
  126. Renzikowski, Aktionsbündnis gegen Frauenhandel, S. 39; Hörnle in: LK, § 177 Rn. 93
  127. BGH NStZ 2007, 218; BGH NJW 1963, 1683; Fischer, § 223 Rn. 4.
  128. Roxin, AT, § 2 Rn. 130.
  129. Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 3 Rn. 26 ff.
  130. Degenhart, Staatsrecht I, § 4 Rn. 419.
  131. z.B. BVerfG NJW 2008, 1137.
  132. z.B.: Lagebild Menschenhandel (2012).
  133. Vgl. Schmitter, APuZ 9/2013, S. 22 ff.
  134. Huber in: Besonderes Verwaltungsrecht, S. 426.
  135. Renzikowski, Broschüre des BMFSFJ, S. 19; BVerwG NVwZ 2003, 603 („Swingerkluburteil“).
  136. Gurlit, Broschüre des BMFSFJ, S. 25.
  137. Huber in: Besonderes Verwaltungsrecht, S. 430.
  138. Ottemeyer, Broschüre des BMFSFJ, S. 34.
  139. Huber in: Besonderes Verwaltungsrecht, S. 430.
  140. Wiemann, Verbesserungsmöglichkeiten der polizeilichen Bekämpfung, S. 62.
  141. Gurlit, Broschüre des BMFSFJ, S. 27.
  142. Rabe in: Das Prostitutionsgesetz, S. 117 ff.
  143. Winter in: Das Prostitutionsgesetz, S. 226.
  144. z.B. Pressemitteilung der Gewerkschaft der Polizei NRW v. 13. November 2011 (http://www.gdp.de/gdp/gdpnrw.nsf/id/DE_Rechtsextremistische-Terroranschlaege).
  145. Schmidbauer, NJW 2005, S. 872.
  146. Kavemann/Steffan, APuZ 9/2013, S. 14.
  147. Renzikowski, JZ 2005, S. 885.
  148. Holznagel in: Das Prostitutionsgesetz, S. 231; Renzikowski, ZRP 2005, S. 217.
  149. Ternieden, SPIEGEL ONLINE v. 25.02.2014.
  150. Schmidbauer, NJW 2005, S. 872.
  151. Wiemann, Verbesserungen der polizeilichen Bekämpfung, S. 60.
  152. RL 2004/81/EG, AB1. EG Nr. L 261/19 . 6.8.2004.
  153. Renzikowski in: Das Prostitutionsgesetz, S. 149.
  154. Rabe, APuZ 9/2013, S. 20 ff.
  155. Vgl. Renzikowski, Gutachten im Auftrag des BMFSFJ, S. 63.
  156. Kavemann in: Das Prostitutionsgesetz, S. 179.
  157. Renzikowski, Gutachten im Auftrag des BMFSFJ, S. 63.
  158. Kavemann/Raabe in: Das Prostitutionsgesetz, S. 305.
  159. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU, SPD (18. Legislaturperiode), S. 73.

Cross Border Merger Control by the Competition Commission of India: Law and Practice

$
0
0

Ajay Kr. Sharma*

(Diesen Artikel als PDF herunterladen)

This article extensively analyses pertinent statutory provisions and critiques certain important recent decisions including, in the highly contentious Jet-Etihad and Mylan-Agila combinations rendered by the Competition Commission of India (CCI) relating to cross-border mergers under its merger control jurisdiction. At the onset the article explores the competition policy dimension of merger control. The improper manner in which the power to impose penalty for non-furnishing of information on combinations is exercised by the CCI under Section 43A of the Competition Act is  also elaborately discussed and criticized with the help of decided cases. Thus, this article offers significant insights into the salient aspects pertaining to the Indian competition authority’s law and practice in this key area.

I. Introduction

The Indian competition authority, Competition Commission of India (CCI), is relatively in the stage of infancy with only five years of experience, 1 when compared to its counterparts in certain other jurisdictions like, almost a century old US Federal Trade Commission (FTC) 2. The practice of CCI has become tremendously exciting, and yet it is somewhat intriguing. This article explores pertinent contemporary aspects pertaining to the CCI’s powers, conferred under the Indian Competition Law, the Competition Act, 2002, appertaining to the merger control (or combinations) 3. After discussing ‘merger control’ from competition policy perspective, this article explores some pertinent provisions of the Indian Competition Act of 2002 and Combination Regulations of 2011, and critiques certain decisions of the Commission in cases concerning cross-border combinations 4. One of them concerns the aviation sector, the Jet-Etihad combination 5, whereas the other relates to the pharmaceuticals sector, the Mylan inc. case 6 based on the Mylan-Agila deal which, until recently, was the largest pharmaceutical merger in India. The bone of contention in the Mylan-Agila deal, so far as CCI is concerned, was the presence of a “non-compete clause” in the relevant transaction document. An element of uncertainty which exists in the current Indian competition law and policy regime pertaining to merger control increases the transaction costs for businesses. This uncertainty may be attributed largely to one reason, the ‘inexperience’ of the regulator. The interpretation of legal provisions will also become clearer once more decisions have been rendered.

Cross-border mergers may invoke the extra-territorial jurisdiction of the CCI; and so the relevant provision is discussed 7. Another aspect pertains to the critiquing the manner in which CCI exercises powers under Section 43-A of the said 2002 Act to impose penalty for non-furnishing of information on relevant combinations to the CCI. Some cases discussed herein will highlight the improper and arbitrary exercise of this statutory power by the CCI.

 

II. Merger Control, the Competition Policy

The ideal merger control review policy is debatable. Two general caveats given by a well-known author must be kept in mind by Competition Authorities: 8

  1. Competition policy is not concerned with maximizing the number of firms, and
  2. Competition policy is concerned with defending market competition in order to increase welfare, not defending competitors.

He defines “Competition Policy” as “the set of policies and laws which ensure that competition in the marketplace is not restricted in such way as to reduce economic welfare 9.” This should be read in conjunction with the objective set up for competition authorities and courts to pursue viz., economic welfare 10, which also becomes the yardstick to determine the competitive effects of a merger. 11Economic welfare in an industry is an aggregate of the consumer surplus (or consumer welfare) and producer surplus 12.

It is generally agreed that two aspects relating to a merger need to be scrutinized by the Competition/Anti-trust Authorities 13:

1. whether the merger leads the merged firm to unilaterally exercise market power and raise prices (i.e., leading to single firm dominance) (i.e., the unilateral effects), and

2. where though the merged firm may not unilaterally increase prices, whether the merger leads to such industry conditions where the scope of collusion (called coordinated effects in the US merger policy) between the remaining firms in the  market increases (i.e., leading to joint/collective dominance) (the pro-collusive effects).  

However, even in mergers the gains in efficiency may be such that they outweigh the enhanced market power and benefit consumers by leading to lowered prices resulting in higher welfare. 14 Though the mergers are generally classified as either Horizontal Mergers or Vertical Mergers 15 this article focuses on Horizontal Mergers, as they primarily cause anti-competitive concerns. The concept of dominance plays a central role in merger review 16. For the assessment of market power, and its potential increase, the definition and determination of the ‘relevant market’ is indispensable.

The traditional approach to analyze the unilateral effects has been to define the ‘relevant market’ and then, to assess the market power enjoyed by the merging entities 17. To determine the scope of the ‘relevant market’ the SSNIP (i.e., Small but significant non-transitory increase in prices) test a.k.a. the Hypothetical Monopolist Test furnishes a guide to analyze the appropriateness of the relevant market definition chosen in a given case 18.

The next important stage after determining the relevant market is to assess the unilateral market power. Though, a theoretical measure of market power is the Lerner index 19 its direct application in practical cases may cause problems; and the competition authorities traditionally have given primary importance to the market shares, whose crossing the prescribed thresholds leads to an inference regarding dominance of the firm 20. Despite the central importance of market shares a few other factors like, ease and likelihood of entry and buyers’ power are also important in this regard.

The ability of the merging firms to exercise enhanced market power post-merger in respect of their pricing decisions largely depends on the number of rival competitors in the relevant market; and thus concentration of the market becomes important. A merger in a highly concentrated sector will thus, ceteris paribus, cause more concern than in a fragmented sector. The most popularly used concentration index used as a screening device to measure unilateral effects of a merger is the Herfindahl-Hirschman Index (HHI) 21.

The aspect pertaining to the determination of pro-collusive (or coordinated) effects of a merger may exist even in the absence of any clear finding regarding inimical unilateral effects, requiring stalling the merger on the basis of the unilateral effects review 22. The concept of joint dominance applies in this scenario as the merger is likely to create the structural conditions for the firms which may not be able to collude pre-merger, to attain collusive outcome, either explicitly or tacitly 23.

In view of the importance given to the efficiency gains objective in mergers, pleading an efficiency defence may be allowed even if a single firm dominance is imminent, as it may lead to price decreases 24.

The final aspect in merger review policy concerns “merger remedies”. It is arguable, that despite some apprehensions about the effects of a merger on competition, the competition authorities may approve certain mergers, if the remedies offered by the parties are found acceptable by the concerned anti-trust authority 25. The US and European Competition Authorities explicitly incorporate many of these aspects in their Merger Review Guidelines 26.

Competition Law and Policy go hand in hand complementing each other 27.

In a very generic sense however, competition law effectuates the competition policy, and so the latter subsumes the competition law. After understanding the nuances of ‘merger control’ competition policy, this article now proceeds to examine the Indian Competition Law and Practice dealing with the regulation of ‘combinations’.

 

III. Appreciating the CCI’s review of ‘Combinations’: The Law

The S.V.S. Raghavan Committee in its report, pursuant to which the Competition Act, 2002 was enacted, duly emphasized in its recommendations on the competition policy on merger review in India 28.  Though, the Indian Competition law applies to all types of mergers, as discussed previously, the Raghavan committee rightly opined on the competition policy focusing on horizontal mergers as they usually provide a cause of concern 29. This article now examines salient statutory provisions in the Competition Act, 2002 and the CCI (Procedure in regard to transaction of business relating to combinations) Regulations, 2011, to understand the scheme and procedure of merger review in India in nutshell 30.

Section 6(1) of Act imposes a prohibition on a ‘combination’ 31 ‘which causes or is likely to cause an appreciable adverse effect on competition within the relevant market in India, 32 and further annuls such a combination by declaring it as ‘void’. Subject to this sub-section, Section 6(2) makes it mandatory (by using the word ‘shall’) for any person 33 or enterprise 34, who or which proposes to enter into a ‘combination’ which corresponds to one of the three types of combinations specified in clauses (a), (b) or (c) of Section 5 of the Act viz., acquisition of control, shares, voting rights or assets of an enterprise; or acquisition of ‘control’ of an enterprise when the acquirer ‘has already direct or indirect control over another enterprise engaged in production, distribution or trading of a similar or identical or substitutable goods or provision of a similar or identical or substitutable service’; or, a merger or amalgamation respectively, and which crosses the monetary asset or turnover thresholds specified therein, to give notice to the CCI disclosing details of the proposed combination, within thirty days of specified events appertaining to these combinations 35.

The provisions pertaining to ‘acquisition’ 36 viz., clauses (a) and (b) of Section 5 of the Act contextually show that the acquirer is a standalone acquirer. The said assets and turnover thresholds for a ‘combination’ under different clauses of Section 5, as modified by the Section 20(3) notification 37, are as follows:

For both Parties to the acquisition [for clause (a)]/ For enterprise whose control is acquired and the enterprise over which acquirer already has control jointly [for clause (b)]/Enterprise remaining after Merger or Created after amalgamation [for clause (c)]

 

Criteria Location Monetary Value of Threshold
AssetsOR In IndiaORIn or Outside India More than (Indian Rupees) INR. 1500 Crore 38(Aggregate)USD 750 Million including, INR 750 Crore is in India
Turnover In IndiaORIn or Outside India More than INR4500 Cr.USD 2250 Million including, INR 2250 Crore is in India

 

OR,

For Groups to which the above parties/enterprises belong post acquisition/merger or amalgamation:

Criteria Location Monetary Value of Threshold
AssetsOR In IndiaORIn or Outside India More than INR6000 Crore(Aggregate) USD 3 Billion including,  INR750 Crore is in India
Turnover In IndiaORIn or Outside India More than INR18000 CroreUSD 9 Billion including,  INR 2250 Crore is in India

 

Schedule I to the 2011 Regulations (read with its Regulation 4) currently lists ten categories of combinations which are ‘ordinarily not likely to cause an appreciable effect on competition in India’ and thus in such cases notice under Section 6(2) ‘need not normally be filed.’ 39

The inquiry into whether a ‘combination’, referred to in Section 5, has caused or is likely to cause an appreciable adverse effect on competition in India may be done by the CCI, as per Section 20 of the Act, on its own initiative; but the initiation of this inquiry can only be done within one year from the date on which the combination has taken effect 40. Further, sub-section (2) of Section 20 prescribes for the usual mode of said inquiry by the CCI upon receipt of notice under Section 6(2).Sub-section (4) of Section 20  lists various factors which the CCI will have ‘due regard’ to in its above determination in the said inquiry.

The notice is to be filed in Form I or Form II, appropriately drafted, by the acquirer or jointly by the parties along with the requisite fee, as prescribed 41. Within 30 days of receipt of the notice the CCI forms a prima facie opinion under Section 29(1) of the Act, ‘as to whether the combination is likely to cause or has caused an appreciable adverse effect on competition within the relevant market in India.’ 42 Before forming this prima facie opinion the CCI may call for additional information from the parties concerned or examine and accept any modification offered by the parties 43. If the prima facie opinion is against the combination, show cause notice is issued to the parties for them to respond within 30 days of its receipt, ‘as to why an investigation in respect of such combination should not be conducted’ 44. After receiving response from the parties concerned, the CCI may call for a report from the Director General, within the directed time 45. Where the prima facie opinion is against the combination, parties are directed to publish the details of the combination, as directed, so that the affected stakeholders including, members of the public have the knowledge of the combination and can be permitted to file written objections before the CCI 46. The culmination of combination review results in a Section 31 order under its relevant sub-section. Three courses are provided for by that provision. If the CCI opines against the combination on the basis that it is likely to cause or has caused an appreciable adverse effect on competition (AAEC) it results in a Section 31(2) order, ordering that the combination shall not have effect, resulting it to be void 47. However, if in addition to this finding the CCI is also of the opinion that ‘such adverse effect can be eliminated by suitable modification to such combination’, under Section 31(3), the CCI may propose appropriate modification to the parties, to be carried out within the time specified by the CCI. The third course of action open is to render a Section 31(1) order approving the combination. Subject to statutorily prescribed relaxations, a period of two hundred and ten days from the date of Section 6(2) notice is prescribed under Section 31(11) for the CCI to pass an appropriate order under sub-sections (1), (2) or (7) of Section 31.

 

IV. Analyzing Jet-Etihad Combination Review

Let us now proceed to the discussion of the Jet-Etihad ‘combination’ review by the CCI. In this ‘combination’ Jet Airways (India) Ltd. proposed a sale of 24% of its equity to Abu-Dhabi based Eithad Airways PJSC for US Dollars (USD) 379 million [price per share of Indian Rupees (INR) 754.74] along with some other rights. Pursuant to entering the three transaction documents viz., Investment Agreement (‘IA’), a Shareholder’s Agreement (‘SHA’) and a Commercial Cooperation Agreement (‘CCA’), all executed on April 24, 2013 the notice under Section 6(2) was given by the parties to the CCI on 1 May, 2013. The review of this combination resulted in two orders. The majority order granted approval under Section 31(1), and the minority order under Section 29(1) by the sole member, Mr Anurag Goel, found prima facie that the proposed combination is likely to cause appreciable adverse effect on competition (AAEC), and thus suggested further investigation 48.

Etihad, the national airline of UAE is a wholly owned company of the Government of Abu Dhabi, and its hub airport is Abu Dhabi, the capital of UAE. Whereas, Jet, a listed Indian company incorporated in 1992 primarily engages in the business of ‘low cost and full service scheduled air passenger transport services to/from India.’ 49 The CCI order began by emphasizing the sovereignty of nations over their airspace and then went on to discuss the significance of bilateral air service agreements (BASAs) between two countries in this regard 50.

The importance of the definition of the relevant market in an industry like the ‘airline industry’ in a given fact situation is well highlighted by this case. The majority on basis of the demand based approach to the market definition used the popular Origin & Destination (O&D) pair approach in airline industry for defining the relevant market. The relevant market for international passengers in this way, as per the majority comprised of: (a) on the O&D pairs originating from or ending in nine specified pertinent cities in India, and (b) on the O&D pairs originating from or ending in India to/from international destinations on the overlapping routes of the parties to the combination 51. It however went further than the O&D approach and covered the potential ‘network effects’ in its analysis 52. Through both the aforementioned approaches the CCI (i.e., the majority) was of view that this combination did not cause AAEC in the relevant market in India. The minority order defines the relevant market to be the international air passenger transportation from and to India 53, and assessed the impact on macro and micro levels as follows 54:

a) Macro level impact on the different sectors of international air passenger traffic from and to India; and

b) Analysis of the extent of overlaps of flights of the two airlines between specific points of origin and destination (O&D pairs or routes).

 

One important study in this sector commissioned by the CCI and FIAS of the World Bank Group was conducted in the year 2008 by the Administrative Staff College of India (ASCI) entitled “Competition Issues in the Domestic Segment of the Air Transport Sector in India” 55. This study observed on the basis of the 1997 OECD Report on “Competition Policy and International Airport Services” that: “the provision of air services between any two given cities requires two complementary inputs: aircrafts services and airports services. Therefore there must be effective competition in both these markets if we want effective competition in the air transport sector.” 56 The relevant market was defined in this study as “the route between city pairs at a particular time on a particular date”.

 

The crux of CCI’s approach has been to proceed to its analysis for each O&D pair on two presumptions: incorporating indirect flights in its analysis on the presumption of price sensitive Indian customers, and airport substitutability in the same catchment area particularly, considering Abu Dhabi, Sharjah and Dubai to be substitutable mainly due to free shuttle service by Emirates and Etihad between Abu Dhabi (AUH) and Dubai and public transport between them (each being within two hours distance of each other). Wherever, existing competitor had credible market share this fact, without much analysis, was simply taken in favor of the proposed combination.

The above ASCI study indulged in an analysis incorporating therein inter alia the discussion on slot allotment policy in airports and slot dominance and barriers to new entrants into the already oligopolistic market; HHI analysis on various O&D pairs to calculate market concentrations, as explained above; scope of demand substitution; price data analysis and analyzing price parallelism between dominant market players; fleet size and average fleet age of players and other factors affecting their competitiveness. Going by these parameters discussed extensively in the ASCI study it may appear, that particularly in view of an adverse order under Section 29(1), the remaining members of the CCI could have done a more elaborate investigation before forming its prima facie opinion resulting in passage of Section 31(1) order.

 

To the credit of the minority it showed more pragmatically, skepticism about Air India’s (AI) capacity to pose significant competitive restraints post combination. 57It examined at least one transaction between the parties concerning slots at one of the busiest airports, London Heathrow Airport (‘LHR Airport’) 58. But, detailed slot and time analysis of each relevant airport in O&D analysis was not done by the minority also, though it did point out to the relevance of availability of slots in its analysis 59. The minority did not appear to be convinced with the independence of the data provided by the parties to the CCI 60, and seemed to underestimate other competitors and somewhat overestimated the parties’ market power post-merger, particularly on the basis of seat allocation enhancement under the then recent MoU between India and UAE (Abu Dhabi) to 50,000 from 13,330 61. A few other salient aspects from the minority order which reveals some chinks in the CCI Order are as follows:

  1. 1. It rubbished the parties claim regarding substitutability of Abu Dhabi with Dubai on the basis of the analysis of data of the overlapping routes provided by the parties, which showed that “passengers travelling to Dubai are not using Abu Dhabi as a substitutable option 62. Furthermore, it was also pointed out that website of none of the Indian carriers including, Jet showed Dubai as substitutable to Abu Dhabi or vice versa.
  2. Furthermore, the inclusion of indirect flights in its analysis by the majority on the basis of price sensitivity of the Indian consumer was effectively challenged in the minority order which said that 63

 

[A] premium customer who travels business/executive class is time-sensitive and will therefore prefer a direct point-to-point connection over a connecting one-stop or two-stop flight. For the remaining passengers who are not time-sensitive but may be fare-sensitive, again the direct point-to-point flight may be the preferred option over connecting flights for the routes Mumbai-Abu Dhabi and Delhi-Abu Dhabi, as the direct flights are found to be cheaper on average as compared to connecting flights.  (emphasis supplied)

 

Another important aspect in this matter concerns one of the CCA clauses which restricts Jet not to code share 64 with other airlines in certain O&D pairs. Though the majority anticipated the anti-competitive effects that such cancellations of code sharing agreements may have, it was of the view that the competition which the parties will face from the ‘credible’ airlines named therein would constrain their combined power 65. The minority order however views this clause leading to a prima facie conclusion about its having AAEC inter alia due to resultant weakening of inter-hub competition which may restrict passengers’ choices in their journeys from/to certain destinations 66. Finally, though the majority saw this combination resulting in enhanced efficiency and price reduction for consumers, 67 and sort of incorporated a failing firm defense, appreciating benefits of it for Jet, which was beleaguered with huge debt; 68 the minority on the other hand was not convinced by these efficiency claims, as they were not quantified 69. This concludes the analysis of both the majority and minority orders in the Jet-Etihad Combination Review.

 

V. Critiquing the Mylan-Agila Combination Review

5.1 Discussing generally the Section 31(1) Order

In the Mylan-Agila deal, Mylan Inc., a US Corporation acquired Agila India for INR 94.8 billion in cash and contingent buyout. 70The main problem with this combination was the presence of the non-compete obligation contained in both the Share Purchase Agreement (SPA) and the restrictive covenant agreement (RCA) signed between the acquirer, Mylan Inc., and Strides Arcolab Limited (SAL) with its promoters. Agila India, which was a wholly owned subsidiary (WoS) of SAL, and Onco Therapies Ltd. (OTL), which was a WoS of Agila India were the ‘Target Enterprises’ in the deal. We shall first turn to certain aspects examined by the CCI in this matter resulting in its Section 31(1) approval order.

Agila India was involved in the development and manufacturing of various injectable products. OTL’s core business concerned R&D and manufacturing of oncology related pharmaceutical products including, injectables. Mylan with its subsidiaries was involved in generic and specialty (viz., respiratory, allergy, psychiatric and anti-retroviral therapies) pharmaceuticals with presence in around 140 countries. Its Indian subsidiaries were manufacturing Active Pharmaceutical Ingredients (APIs). The CCI importantly noticed, that both the Acquirer and Target Enterprises had limited presence in the domestic market in India; and Targets’ sale in domestic market were less than 5 per cent of their consolidated sales in the year 2012 71. Further, it noted that the products offered by the acquirer and the target entities to the consumers in the Indian market fell in different therapeutic categories except for a few products, that were also entirely different in their characteristics and intended use 72. Another significant observation in favor of the combination was, that the majority of the domestic sales in India of the acquirer were in APIs and of the target enterprises were in injectables 73. Furthermore, the majority of these APIs were non-sterile which cannot be used to formulate injectables 74. These facts went in favour of the proposed combination.

 

5.2 The CCI’s Concerns in relation to the Non-compete Clauses

Despite the CCI’s approval, the non-compete obligation in the SPA and RCA initially created concerns, as the CCI observed 75:

SPA and the RCA provide that for a period of six years from the date of closing of the proposed combination, each of Arun Kumar, Pronomz Ventures LLP, SAL and any of SAL’s group companies (collectively known as the “Promoters“) shall not (whether alone or jointly with another and whether directly or indirectly) carry on or be engaged, concerned or interested economically or otherwise in any manner in the business of developing, manufacturing, distributing, marketing or selling any injectable, parenteral, ophthalmic or oncology pharmaceutical products for human use, anywhere in the world.

 

The acquirer justified these clauses imposing non-compete obligations on promoters of target enterprises and the selling shareholders, at the time of their exit, to protect business interests of the acquirer and target entities. 76The CCI quoted its following view on non-compete obligations from its former order in the matter relating to combination of Hospira-Orchid (Comb. Reg. No. C-2012/09/79) 77:

 

non compete obligations, if deemed necessary to be incorporated, should be reasonable particularly in respect of (a) the duration over which such restraint is enforceable; and (b) the business activities, geographical areas and person(s) subject to such restraint, so as to ensure that such obligations do not result in an appreciable adverse effect on competition.”

 

Actually in the Hospira-Orchid deal the Business Transfer Agreement (BTA) in its non-compete clause stipulated that Orchid Chemical and Pharmaceuticals Ltd. (OCPL) and its promoter cannot undertake certain business and R&D activities pertaining to the transferred business for a period of eight and five years respectively 78. As a justification for the same the parties to the Hospira-Orchid combination review contended that the incorporation of such non-compete clauses was a standard industry practice, which was ‘generally considered necessary for the effective implementation of the proposed combination and allows the acquirer to obtain full value from the acquired assets’ 79. Being questioned by the CCI, the parties suggested certain modifications in the Hospira-Orchid matter by offering to reduce the time period to four years in relation to the domestic market in India and removed certain R&D restrictions, which were accepted by the CCI 80.

 

In Mylan-Agila the CCI observed that ‘in spite of the fact that the Target Enterprises are engaged in the business of injectable products belonging to a few therapeutic categories, the non-compete covenant sought to impose a blanket restriction covering injectable products across all the therapeutic categories’. It went on to say, that ‘the scope of the non-compete covenant covered all products under the oncology and ophthalmic categories even though there are products under these categories which are not being currently manufactured by the Target Enterprises’ 81. In view of the CCI, the non-compete clause should only cover those products which are being currently developed, manufactured or sold by the target entities; and thus acquirer was issued notice to provide a justification for the above non-compete clauses 82. In response the parties offered to: modify the non-compete covenant by reducing the time period to four years (like in Hospira-Orchid case); curtailing the scope of the non-compete obligation to the Indian market, and only to the products either manufactured by the target entities or which are in the pipeline or development phase, which were accepted by the CCI before passing its favorable Section 31(1) order 83. However, in the US this deal raised concerns with the FTC which initiated an investigation of the proposed acquisition leading to the respondents Mylan and Agila to enter into a consent agreement with the FTC, in terms of which it also conditionally approved the Mylan-Agila transaction. Agila India was to divest its eleven generic injectable drugs to its competitors as there were less competitors in these eleven markets 84.

There is a view that the CCI is skeptical about non-compete clauses in Brownfield pharmaceutical sector combinations, and combinations in other sectors with non-compete clauses were cleared by the CCI without objections. As an example, lawyers point to the SunCoke-VISACoke combination approved by CCI in Jan. 2013 85. Thus, in absence of a clear policy regarding such ancillary restraints, the CCI practice in this regard may become subjective and arbitrary with passage of time 86. The CCI can evolve general guidelines regarding non-compete clauses in combinations, like the ones contained in the European Commission’s ‘notice on restrictions directly related and necessary to concentrations’, lending its analysis more objectivity and predictability for the parties concerned 87.

Probably as a response to the background concerns post Mylan-Agila deal the 2014 FDI Policy the Government though continuing to allow 100% FDI in the Brownfield Pharmaceuticals sector introduced the following two new restrictive conditions 88:

(i) ‘Non-compete’ clause would not be allowed except in special circumstances with the approval of the Foreign Investment Promotion Board.(ii) The prospective investor and the prospective investee are required to provide a certificate along with the FIPB application as per Annex-11.

 

Interestingly but unfortunately, they are self-contradictory. This ‘certificate’ in ‘Annex-11’ expressly mentions in one of the clauses: “It is also certified that none of the inter-se agreements, including the shareholders agreement, entered into between foreign investor(s) and investee Brownfield pharmaceutical entity contain any non-compete clause in any form whatsoever.” Since, the above condition (ii) requiring submission of certificate in Annex-11 precludes presence of non-compete clauses in the transaction documents the exception in the preceding condition (i) is rendered nugatory and otiose.

 

VI. Extraterritorial Application:

The cross-border combinations review with an Indian nexus due to the target being an Indian company has been elaborately discussed above through the Jet-Etihad and Mylan-Agila combinations reviews conducted by the CCI. However, if say, the combination between foreign companies takes place outside India, the CCI’s jurisdiction to review such combination may be questioned on the basis of territorial scope of the Act as provided in Article 1. Although, Section 5 incorporates the ‘effects doctrine’ 89 and the relevance of the AAEC in India, to put doubts to rest, Section 32 confers extraterritorial jurisdiction to the CCI to inter alia inquire in accordance with Sections 20, 29 and 30 in respect of a combination outside India 90 or where all the parties to the combination are located outside India 91 provided the concentration has or is likely to have an AAEC in the relevant market in India, and to pass such orders as it may deem fit in accordance with the provisions of the Competition Act, 2002.

In both cross border ‘combination’ cases, Jet-Etihad and Mylan-Agila Section 32(e) was applied. Perhaps the only matter where both clauses (d) and (e) of Section 32 become pertinent is the 2013 Titan Combination, 92 whose Section 43A order is discussed below. Both parties to the combination were foreign corporations, Titan International, Inc. (a US Corporation) and Titan Europe Plc. (a UK Company), with the former acquiring the entire share capital of the latter, resulting in indirect acquisition of 35.91 per cent share capital of an Indian Company, Wheels India from Titan Europe. It was observed by the CCI that ‘there is no horizontal overlap in the business activities of Titan International and Wheels India, as Titan International has no significant presence in India except its indirect stake in Wheels India’ and ‘that post combination, there is no change in the number of players in the market for steel wheels in India’, and thus the CCI passed a favorable Section 31(1) order 93.

 

VII. Imposition of Penalties under Section 43A

This penultimate section examines the manner of exercise of an important power conferred upon the CCI under Section 43A. This section reads as follows:

If any person or enterprise fails to give notice to the Commission under sub-section (2) of section 6, the Commission shall impose on such person or enterprise a penalty which may extend to one percent of the total turnover or the assets, whichever is higher, of such a combination.

Though a ‘belated notice’ beyond the time prescribed under Section 6(2) may be admitted by the CCI under Regulation 7 of the 2011 Regulations, both the belated notice and failure to file notice, which is dealt under Regulation 8 94, attract proceedings under Section 43A. The use of the word ‘shall’ suggests mandatory imposition of penalty. This interpretation is also supported by the mandatory duty to serve a notice imposed under Section 6(2), when falling within its purview and unless excepted out, due to the use of the word ‘shall’ therein, which was substituted for the words ‘may, at his or its option’ by the Competition (Amendment) Act, 2007; one of consequences of whose non-compliance is given in Section 43A 95.

The first Section 43A order sought to be examined was rendered in the Jet-Etihad matter discussed above 96. CCI imposed the penalty of INR One Crore on Etihad for consummating and implementing certain parts of transaction, LHA Transaction and CCA without giving notice in accordance with Section 6(2), as imposed on it under Regulation 9 of the 2011 Regulations. The CCI, keeping in view the facts and circumstances as summarized by it in its order, opined that the penalty imposed served the ends of justice said 97.

Although the penalty of INR one crore imposed on Etihad in an apparently well-reasoned order may not appear excessively harsh to many, this opinion may change in light of another previous Section 43A order passed in Zulia-Kinder matter 98 where for a very serious and inordinate delay of 399 days the penalty imposed by the CCI was only INR Fifty Lakhs i.e., half of penalty imposed in Jet-Etihad matter just discussed. The latter also concerned a cross border combination, based on the Share Purchase Agreement (SPA), dated April 2, 2012 yet the belated Section 6(2) notice was filed on June 6, 2013, with a delay of around 399 days 99. This matter highlights the failure on the part of the CCI, in spite of internal mechanisms, to detect the proposed combination in time. Had it been consummated, the CCI would have lost its power to inquire into the same after one year from the date on which such combination has taken effect, as discussed earlier 100.

In Zulia-Kinder the main justifications for the delay, which was rejected by the CCI,  were: incomplete and hence erroneous legal advice given by the first set of Indian counsel on the applicability of the Competition Act, the proposed transaction being entirely offshore, and the fact that this is the acquirers’ first merger notification in India 101. There was a previous Section 43A in an intra-group merger in Dewan Housing case 102. In this case the delay was that of 388 days, similar to Zulia-Kinder, and a similar plea of incorrect legal advice leading to this delay was raised. Despite the apparent absence of bad faith, and although the CCI considered that the delay was due to a bonafide mistake and consequently to be a mitigating factor, it did not exculpate the parties. The CCI however imposed a fine of INR 5 Lakhs only, although it could have imposed a fine of up to around INR 230 Crores, 4600 times the amount actually fined 103. Notably, intra-group mergers are excluded from the notification requirements in several jurisdictions and so even this decision in Dewan Housing has been subject to criticism 104. In April, 2013 an exemption from notification for certain intra group mergers was introduced in the Schedule I to 2011 Regulations 105. Later amendments to the 2011 Regulations in March 2014 inter alia added sub-regulation (5) to regulation 9 providing for determination of requirements for filing notice to be ‘determined with respect to the substance of the transaction’, and omitted category (10) in its Schedule I which previously exempted a combination ‘taking place entirely outside India with insignificant local nexus and effect on markets in India’ from notice requirement. Apart from questioning the legality of the CCI Section 43A orders imposing fines in intra-group mergers, as arguably infringing Public International Law, an article also criticizes the above March 2014 amendments as exacerbating this issue further 106.

In the same year, before the Zulia-Kinder matter, in the Titan combination the CCI through its Section 43A order imposed a penalty of INR One Crore, although the delay was of around six months 107. As per a view, the fine in Dewan Housing is justified on comparison with Titan on the basis, that the transaction in Titan unlike in Dewan had been implemented 108. A similar justification may be given on comparison between Zulia-Kinder with Titan. However, it is contended that the quantum of the fine in Titan, which is double to that imposed in Zulia-Kinder, with arguably much more serious lapses in respect of serving Section 6(2) notice suggests unjustified leniency on the part of the CCI in Zulia-Kinder matter. If however, the Zulia-Kinder decision serves as a yardstick, then the quantum of the fine in Jet-Etihad is also unjustified.

This inconsistency in approach of the CCI in regard to the imposition of a penalty under Section 43A is reinforced by another case, where discretion is used by the CCI in not imposing a fine. This discretion was exercised on a flimsy and unjustifiable ground. In a Section 43A order of April 2012 in the matter of a combination concerning Siemens Ltd. (SL) and Siemens Power Engineering Pvt. Ltd. (SPEL), although the Section 6(2) notice was served belatedly approximately forty days after the Board Resolutions approving the scheme of amalgamation between the parties, the CCI condoned the delay and did not impose any penalty 109. Paragraph 4 of the order, reproduced below, gives these reasons for this decision: “Considering the facts and circumstances of the case coupled with the fact that this is the first year of implementation of enforcement provisions relating to combinations in the Act, the Commission is of the opinion that no penalty is required to be imposed on SL and SPEL in terms of Section 43A.” These reasons forming the basis of this Section 43A order can be challenged on the following grounds:

(1)    As discussed above, once the condition of notice or failure to serve notice under Section 6(2) is fulfilled, as per Section 43A, it is mandatory for the CCI to impose a penalty.

(2)    The CCI in its order has not been able to justify reading of ‘shall’ in Section 43A as ‘may’, giving it discretion in not imposing a penalty thereunder.

(3)    Even if assuming, although not conceding, such a discretion is read into Section 43A, the CCI has not given a speaking order with due appreciation of the facts and circumstances of the case. Merely to state, that ‘considering the facts and circumstances…” does not provide any insight in the adjudicatory reasoning adopted by the CCI in deciding this issue.

(4)    The only adjunct reason to support its order is, that ‘this is the first year of implementation of provisions relating to combinations in the Act’. This is an extraneous consideration for rendering this decision, and may raise questions about the competence of the CCI to handle such issues given its inexperience. Imposing optimal penalties which are not disproportionate to the violation most certainly is important in order to reduce recidivism and to have a deterrent effect on future violators 110.

In fact, this is not the only case where such condonation was done by the CCI. In the Dewan Housing penalty order the CCI admittedly states, that subsequent to its order dated 28 December 2011, clarifying the notice requirements for intra-group mergers, in several cases, ‘belated notices’ were received in response in respect of mergers between parent and subsidiary companies; and the CCI in such cases decided not to impose any penalty as it was the first year of enforcement of the pertinent provisions of the Competition Act 111. The CCI’s adjudication in these cases can also be subject to the above criticism. The CCI may also contemplate evolving guidelines in this regard to lend more objectivity and certainty in this regard, thereby more efficaciously enforcing the provisions of the Competition Act, 2002 furthering its objectives 112. The 2006 EC ‘Guidelines on the method of setting fines’ 113may be instructive in this regard.

 

VIII. Conclusion

This article analyzed the Indian competition law pertaining to the ‘combination’ review, giving special emphasis on the mergers with a cross-border component, and critically commented on the CCI’s merger control practice in this regard. After discussing competition policy issues, the article discussed ‘combinations’ review mechanism as contained under the pertinent provisions of the Indian Competition Act, 2002 read with the  Combinations Regulations, 2011.The merits and demerits of the CCI’s majority and minority’s Jet-Etihad combination review orders were discussed next. The Mylan-Agila combination review order of the CCI threw some interesting issues, particularly regarding the manner in which ‘non-compete’ clauses in the transaction documents are being viewed by the CCI. The CCI’s inconsistent practice in restricting these ‘non-compete’ clauses was discussed there. The last issue curiously revealed inconsistent and somewhat arbitrary practice of CCI in the imposition of penalties under Section 43A of the Competition Act, 2002 as demonstrated through the Section 43A orders discussed therein. By and large, this article objectively reveals the relative inexperience of the CCI in combinations review, but apparently shows its zeal in enforcing the legal provisions applicable. If there is a competence problem too, that needs to be thoroughly researched into by researching into law and practice concerning appointments of the members of the CCI, preferably through a comparative law study, but the same falls outside the scope of this research article.

 

* LL.B. (Delhi), LL.M. (Gold Medalist with Distinction) (ILI), Ph.D. Candidate (NLUJ). Assistant Professor of Law, National Law University, Jodhpur, India. Comments can be mailed to: aksnluj@gmail.com. This article is adapted from a chapter of author’s Ph.D. thesis submitted to the NLU, Jodhpur. The author expresses gratitude to his colleague Dr. Souvik Chatterji for discussing some of the ideas and views expressed in this paper. Any errors and shortcomings are entirely attributable to the author.


Fußnoten:

  1. Notification S.O. 1198(E), Ministry of Finance (Department of Company Affairs) (Government of India), (14 Oct. 2003), http://www.mca.gov.in/Ministry/notification/Notifications_2003/noti_14102003_1198(E).html (last visited August 29, 2014) Though CCI was established with effect from Oct. 14, 2003 but it could not be made functional till May, 2009Competition Act, 2002 replaced the Monopolies and Restrictive Trade Practices (MRTP) Act, 1969, and was based on the recommendations given in the Report of the High Level Committee on Competition Policy and Law, https://theindiancompetitionlaw.files.wordpress.com/2013/02/report_of_high_level_committee_on_competition_policy_law_svs_raghavan_committee.pdf (last visited  August 29, 2014)  (SVS Raghavan Committee Report). 
  2. FTC was set up after enactment of the Federal Trade Commission Act of 1914 by the US Congress. Another major legislation passed in the same year was the Clayton Act. See Debra A. Valentine, US Competition Policy and Law: Learning from a Century of Antitrust Enforcement, in International and Comparative Competition Laws and Policies , 71–79 (YC Chao et al. eds., 2001). Of course, the good old pioneering legislation, Sherman Act of 1890 cannot be forgotten, as the genesis of the anticompetitive law regime in the United States. The most relevant statutory provisions are Sections 1 and 2 of the Sherman Act, Section 5 of the Federal Trade Commission (FTC) Act, 1914 (15 U.S.C §§ 41-58) and Section 7 of the Clayton Act which prohibits mergers if “in any line of commerce or in any activity affecting commerce in any section of the country, the effect of such acquisition may be substantially to lessen competition, or to tend to create  a monopoly.” Both FTC and Department of Justice are the agencies involved under these Federal Antitrust Laws. 
  3. In this area the experience of CCI is even lesser as the pertinent provisions of the Competition Act, 2002 were only notified with effect from June 1, 2011, see Notification S.O. 479(E), Ministry of Corporate Affairs (Government of India), dated March 4, 2011).
  4. CCI (Procedure in regard to transaction of business relating to combinations) Regulations, 2011 (India).
  5. See CCI Order under Section 31(1) of the Competition Act, 2002 in the matter of Etihad Airways PJSC and Jet Airways (India) Limited (Combination Registration No. C-2013/05/122, dated Nov. 12, 2013), http://www.cci.gov.in/May2011/OrderOfCommission/CombinationOrders/C-2013-05-122%20Order%20121113.pdf (last visited August 29, 2014).
  6. See CCI Order under Section 31(1) of the Competition Act, 2002 in the matter of Mylan Inc. (Combination Registration No. C-2013/04/116, dated June 20, 2013), http://www.cci.gov.in/May2011/OrderOfCommission/CombinationOrders/C-2013-04-116.pdf (last visited August 29, 2014).
  7. See Section 32 of the Competition Act, 2002, supra n. 1.
  8. See Massimo Motta, Competition Policy: Theory and Practice 39 (2004).
  9. Id. at 30
  10. Id. 
  11. Id. at 231 et. seq.
  12. Id. at 18. Consumer surplus is defined by the author as ‘the aggregate measure of surplus of all consumers’. Whereas, producer surplus is simply defined as ‘the sum of all profits made by producers in the industry’. The consumer welfare appears to have much more importance that the producer surplus in an efficiency defence raised in merger review, see Article 2.1 of EC Merger Regulation.
  13. See Motta, supra note 8 at 231, and Simon Bishop & Mike Walker, The Economics of EC Competition Law 259 (2 ed. 2002). 
  14. Motta, id. at 233, 238.
  15. The basic distinction between the two is, that a horizontal merger is between two competitors, and a vertical merger is ‘between firms operating at successive stages of production process’, see id. 231. A third category of merger is known as conglomerate merger which doesn’t fit in the either description of relationship, see Bishop and Walker, supra note 13 at 259.
  16. See id. at 260.
  17. Id.
  18. See id. at 102.
  19. See Motta, supra note 8 at 116. 
  20. See id. at 117-18.
  21. See id. at 124, 235.
  22. See Gisela Aigner, Oliver Budzinski & Arndt Christiansen, The Analysis of Coordinated Effects in EU Merger Control: Where do We Stand After SONY/BMG and IMPALA?, 2 Eur. Competition J. 311 (2006).
  23. See Motta, supra note 8 at 251.
  24. Id. at 252.
  25. Id. at 265.
  26. See ‘Guidelines on the assessment of horizontal mergers under the Council Regulation on the control of concentrations between undertakings’ (2004/C 31/03), supra note 29; and US ‘Horizontal Merger Guidelines’, (DoJ and FTC, August 19, 2010), supra note 20. See Alan Goldberg, Merger Control, in COMPETITION LAW TODAY, 93 (Vinod Dhall ed., 2007).
  27. See Report of the Working Group on Competition Policy (Planning Commission, Government of India), (2007), http://theindiancompetitionlaw.files.wordpress.com/2013/02/report-of-the-working-group-on-competition-policy.pdf (last visited August 29, 2014).
  28. See SVS Raghavan Committee Report, supra note 1, ¶ 4.6.1. See also Dr. S. Chakravarthy, Indian Competition Law on the Anvil, World Competition 24(4): 571 (2001) (offering useful historical insights and perspectives on the then draft Indian Competition Act, and comparisons with the then extant Monopolies and Restrictive Trade Practices (MRTP) Act, 1969, the (in)famous predecessor of the Competition Act, 2002); and Avinash Sharma, Revisiting Competition Law in India: Challenging Dimensions in the Era of Globalized Economy, World Competition 31, no. 4 (2008) 607 (extensively analyzing both the MRTP Act and the Competition Act regimes).     
  29. Id. See also, S.M. Dugar, 1 Commentary on MRTP Law, Competition Law & Consumer Protection Law 844–46 (4 ed. 2006)., and T. Ramappa, Competition Law in India 190 (2 ed. 2009).
  30. See also Tony Reeves & Dan Harrison, India’s New Merger Control Regime: When Do You Need to File?, 26 Antitrust 94 (2011).
  31. Regulation 2(1)(b) of the 2011 Regulations reads: ‘”Combination” means and includes combination as described in section 5 of the Act and any reference to combination in these regulations shall mean a proposed combination or the combined entity, if the combination has come into effect, as the case may be.” Though there was some skepticism regarding review of Joint Ventures under CCI combinations review, the position seems to have been settled by Section 31(1) Order in Combination Registration No. C-2011/07/01, dated July 26, 2011 approving acquisition by RIL and RIIL (which was held by CCI to fall under Section 5(a) of the Act), http://www.cci.gov.in/May2011/OrderOfCommission/CombinationOrders/RILOrder270711.pdf (last visited August 29, 2014).   See also,  Ramappa, supra note 45 at 224.
  32. ‘Relevant Market’ is defined in Section 2(r) of the Competition Act, 2002, supra note 1,  as: ‘”relevant market” means the market which may be determined by the Commission with reference to the relevant product market or the relevant geographic market or with reference to both the markets.’ Section 2(s) defines  “relevant geographic market”; and Section 2(t) defines  “relevant product market”. (emphasis supplied)
  33. ‘Person’ is defined in Section 2(l) of the Competition Act and provides for a very wide inclusive definition including, an individual, a firm, a Company and any body corporate by or under the laws of a country outside India.  
  34. ‘Enterprise’, defined in Section 2(h) of the Competition Act, includes both a ‘person’ and a ‘government department’ under its ambit, which is or has been engaged in an (economic) activity of the description and in the manner prescribed therein. 
  35. These events are: in case of a proposal for a merger or amalgamation, approval of the proposal by the board of directors of the enterprises concerned with such merger or amalgamation; and in case of acquisitions covered by Sections 5(a) or 5(b) execution of any agreement or other document for acquisition.  Furthermore,

    Section 6(2-A) of the Competition  Act states: “No combination shall come into effect until two hundred and ten days have passed from the day on which the notice has been given to the Commission under sub-section (2) or the Commission has passed orders under Section 31, whichever is earlier.” 

  36. The statutory definition of ‘acquisition’ as given in Section 2(a) of the Competition Act reads: “’acquisition’ means, directly or indirectly, acquiring or agreeing to acquire—

    shares, voting rights or assets of any enterprise; or

    control over management or control over assets of any enterprise.”

  37. The last Section 20(3) notification was S.O. 480(E), dated Mar. 4, 2011 (Ministry of Corporate Affairs, Government of India), http://www.mca.gov.in/Ministry/notification/pdf/Notifications_4mar2011.pdf (last visited August 29, 2014), whereby the Central Government in consultation with the CCI enhanced, on the basis of wholesale price index, the value of assets and turnover, by fifty percent for the purposes of Section 5  of the Act. Though, Section 20(3) prescribes for a fresh notification after every two years no fresh notification has been issued subsequent to the said Mar. 4, 2011 notification till date.
  38. 1 Crore = 10 Million; and 1 Crore= 100 Lakhs.
  39. See Regulation 4 of the 2011 Regulations, supra note 4.   
  40. See supra note 1, proviso to Section 20(1) of the Competition Act.
  41. See Regulations 9 to 13 of the 2011 Regulations, supra note 4.
  42. See id. Regulation 19(1) of the 2011 Regulations, and Section 29 of the Competition Act, supra note 1.
  43. See id. Regulation 19(2) of the 2011 Regulations.
  44. See Section 29(1) of the Competition Act, supra note 1. The section bears the heading “Procedure for investigation of combinations”. 
  45. See Section 29(1-A) of the Act, id., and Regulations 20 and 21 of the 2011 Regulations, supra note 4.
  46. See id., sub-sections (2) and (3) of Section 29 of the Act. 
  47. See id. Section 31(13) of the Act. 
  48. Majority order under Section 31(1) of the Act, dated  Nov. 12, 2013, supra note 5; and the Minority Order was passed on  Oct. 14, 2013 under Section 29(1) of the Act, http://cci.gov.in/May2011/OrderOfCommission/CombinationOrders/FINAL%20Order%20M(AG)%20-%20141013.pdf (last visited August 29, 2014); a kind of supplemental order to this Oct. 14, 2013 order was again passed by the same CCI member on 5 Feb., 2014, taking note of the majority Section 31(1) order of  Nov. 12, 2013, but still reiterating succinctly its said earlier minority order, http://www.cci.gov.in/May2011/OrderOfCommission/CombinationOrders/C-2013-12-144%20M(AG)%20Minority.pdf. It is submitted that this later Feb. 2014 minority order was unnecessary in view of the prior majority order, and subsequent references to the minority order in this case refers only to the Oct. 14, 2013 order of dissent.  
  49. See Jet-Etihad CCI Order, supra note 5, ¶ 12. 
  50. See id., ¶ 21.
  51. See id., ¶ 32.
  52. See id., ¶ 39 and note 9 therein.
  53. See Jet-Etihad Minority Order, supra note 48, ¶ 11.
  54. Id.
  55. Administrative Staff College of India (ASCI) Research & Consultancy, Competition Issues in the Domestic Segment of the Air Transport Sector in India (2008), http://www.cci.gov.in/images/media/completed/transport_20090421133744.pdf (last visited August 29, 2014).
  56. See id. at 99.
  57. See Jet-Etihad Minority Order, supra note 48, ¶ 17.
  58. See id., ¶ 47.
  59. See id., ¶ 13.
  60. See id., ¶ 22.
  61. See id., ¶¶ 14, 15.
  62. See id., ¶ 33.
  63. See id., ¶  37.5.
  64. Jet Airways website itself explains code sharing as: “A Codeshare is an arrangement between two airlines (Airline A & Airline B) whereby Airline A will market and sell the flights of Airline B as though they were the flights of Airline A and / or vice versa. This arrangement allows us to provide you with a greater choice of destinations with seamless connections.”, see Codeshare Partners, Jet Airways, http://www.jetairways.com/EN/IN/AboutUs/CodeShare.aspx (last visited August 29, 2014).
  65. See supra note 5, ¶ 43.
  66. See Jet-Etihad Minority Order, supra note 68, ¶ 25.
  67. See supra note 5, ¶ 6, ¶¶ 46-50.
  68. See id., ¶ 51.
  69. See supra note 68, Jet-Etihad Minority Order, ¶ 42.
  70. See Mylan-Agila Transaction Summary (Deal No. 730521) on Mergerstat M&A Database (on LexisNexis Academic).
  71. See Mylan Inc. Section 31(1) Order, supra note 6, ¶ 14.
  72. See id., ¶ 15.
  73. See id., ¶ 16.
  74. See id.
  75. Ibid., ¶ 17.
  76. See id., ¶ 18.
  77. See id., ¶ 19 (citing from ¶ 10 of Hospira-Orchid, Section 31(1) Order dated Dec. 21, 2012).
  78. See Hospira-Orchid, Section 31(1) CCI Order dated Dec. 21, 2012, ¶ 9, http://www.cci.gov.in/May2011/OrderOfCommission/CombinationOrders/C-2012-09-79.pdf (last visited August 29, 2014).
  79. Id.
  80. See id., ¶¶ 10-12.
  81. See Mylan Inc. Order, supra note 6, ¶ 20.
  82. See id., ¶ 20.
  83. See id., ¶¶ 21-23.
  84. See Decision and Order In the Matter of Mylan Inc.,(Docket No. C-4413) FTC Order dated Dec. 12, 2013, available at: http://www.ftc.gov/sites/default/files/documents/cases/131218mylando.pdf (last visited August 29, 2014); and Mylan-Agila Transaction Summary (Deal No. 730521) on Mergerstat M&A Database, supra note 70. (on LexisNexis Academic). 
  85. See CCI’s Non-Compete Concerns!, The Firm (2013), http://www.moneycontrol.com/video/management/ccis-non-compete-concerns-_912663.html (last visited August 29, 2014).
  86. See Payaswini Upadhyaya, Hospira, Mylan modify clauses for CCI nod on buys Moneycontrol.com (2013), http://www.moneycontrol.com/news/cnbc-tv18-comments/hospira-mylan-modify-clauses-for-cci-nodbuys_912570.html (last visited August 29, 2014).
  87. See Commission Notice on restrictions directly related and necessary to concentrations,  http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2005:056:0024:0031:EN:PDF (last visited August 29, 2014).
  88. See Consolidated FDI Policy, 2014 (DIPP, Government of India), ¶ 6.2.18.3.
  89. See Vinod Dhall, The Indian Competition Act, in COMPETITION LAW TODAY, 530–31 (Vinod Dhall ed., 2007).
  90. See clause (d) of Section 32 of the Competition Act, supra n. 1.
  91. See id., clause (e) of Section 32.
  92. See Titan-Titan CCI Order under Section 31(1) (Combination Registration No. C-2013/02/109), April 2, 2013, http://www.cci.gov.in/May2011/OrderOfCommission/CombinationOrders/C-2013-02-109.pdf (last visited August 29, 2014).
  93. See id., ¶  5.
  94. Regulation 8, supra note 4, prescribes that in case of failure to file notification for a combination the Commission, upon its own knowledge or information regarding the same, shall direct parties to file notice in Form II and inquire into the same.
  95. See Francis Bennion, Bennion on Statutory Interpretation 44–57 (5 ed. 2008).
  96. Order under Section 43A in Combination Registration No. C-2013/05/122 (CCI, Dec. 19, 2013), http://www.cci.gov.in/May2011/OrderOfCommission/CombinationOrders/Order%20191213.pdf (last visited August 29, 2014). 
  97. Id., ¶ 12.
  98. Order under Section 43A in Combination Registration No. C-2013/06/124 (CCI, Aug. 1, 2013), http://www.cci.gov.in/May2011/OrderOfCommission/CombinationOrders/P-C-2013-06-124.pdf (last visited August 29, 2014).
  99. See id., ¶ 4.
  100. See id., ¶ 15.
  101. See id., ¶ 8.
  102. CCI Order under Section 43A in Combination Registration No. C-2012/11/92 (CCI, Jan. 3, 2013), http://www.cci.gov.in/May2011/OrderOfCommission/CombinationOrders/P-C-2012-11-92.pdf (last visited August 29, 2014).
  103. Id., ¶ 11.
  104. See, Ruchit Patel, The Treatment of Late Filings in Indian Merger Control, World Competition 37 no. 2 (2014) 249, 255-56.
  105. See Category 11 of the Schedule I to the Combinations Regulations, supra note 4.
  106. Supra note 104, 256-57.
  107. CCI Order under Section 43A in Combination Registration No. C-2013/02/109 (CCI, 2 Apr. 2013), http://www.cci.gov.in/May2011/OrderOfCommission/CombinationOrders/P-C-2013-02-109.pdf (last visited August 29, 2014).
  108. Supra note 104 at 254.
  109. Order under Section 43A in Combination Registration No. C-2012/03/43 (CCI, Apr. 19, 2012), http://www.cci.gov.in/May2011/OrderOfCommission/CombinationOrders/NP-C-2012-03-43.pdf (last visited August 29, 2014).
  110. See Robert Cooter & Thomas Ulen, LAW AND ECONOMICS 491–517 (5 ed. 2007).; and Wouter P.J. Wils, Optimal Antitrust Fines: Theory and Practice, 29 World Competition 183 (2006).
  111. See supra note 102,¶ 8.
  112. See also supra note 104, at 258 (making a similar suggestion); and at 257-58 (demonstrating through analysis of Dewan, Titan and Zulia-Kinder (‘Temasek’) how the ‘level of fine imposed by the CCI is not necessarily linked to the length of delay’, and is ‘heavily influenced’ by other more non-quantifiable factors).   
  113. Guidelines On The Method Of Setting Fines Imposed Pursuant To Article 23(2)(A) Of Regulation No 1/2003 (EC, 2006/C 210/02), http://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/ALL/?uri=CELEX:52006XC0901(01) (last visited August 29, 2014).

Kartellrecht als Ausgleichsmechanismus bei planwidrigem Einsatz von Standardpatenten

$
0
0

Eva Fischer*

(Diesen Artikel als PDF herunterladen)

 

Kartellrecht, der Hüter des Wettbewerbs? Führt die Geltendmachung von Immaterialgüterrechten zu dysfunktionalen Effekten, wird das Kartellrecht oft als letztes Regulierungsinstrument bemüht. Am Beispiel der wirtschaftlich begehrten Standardpatente zeigt sich jedoch, dass das Kartellrecht insbesondere bei der Abgrenzung des relevanten Marktes und bei der Feststellung einer marktbeherrschenden Stellung eines Patentinhabers an seine Grenzen stößt.

“Considering the exclusive right to invention as given not of natural right, but for the benefit of society, I know well the difficulty of drawing a line between the things which are worth to the public the embarrassment of an exclusive patent, and those which are not.” 1 - Thomas Jefferson (1813)

 

A. Einleitung

Standardisierungen können einen missbräuchlichen Umgang mit Patentschutz verstärken. Ist die Offenhaltung von Märkten Aufgabe des Kartellrechts, so gewährt ein Schutzrecht dem Inhaber ausschließliche Nutzung. Weil andere Wettbewerber im Falle eines Standardpatents auf das Patent angewiesen sind, kann der Inhaber damit potentiell Wettbewerb beschränken. Grundidee der Patenterteilung war jedoch die Schaffung von Innovationsanreiz durch die Möglichkeit zur Refinanzierung der getätigten Investitionen. Patente sollten gerade nicht zur massiven Einschränkung von Wettbewerb, der Verschließung von Märkten oder der Verhinderung neuer innovativer Entwicklungen dienen 2.

Die Bedeutung von bestehenden Standards könnte sich durch ständig neue Innovation relativieren 3. Schnelle technologische Entwicklung und die folgende Patentierung nämlich überholen laufend einen gesetzten Standard. Damit hat der Inhaber von Standardpatenten nur für eine begrenzte Dauer ein marktmächtiges Instrument. Längst sind Standards jedoch Gegenstand von Wettbewerbsstrategien geworden. Bereits im Standardisierungsverfahren gibt es Verfahrensmissbräuche, sogenannte Patenthinterhalte. Die Bildung von Patentpools führt zur Akkumulation großer Patentportfolios, die durch die gepoolten Standardpatente entscheidenden Einfluss am Markt haben können. Besonders im Mobilfunksektor handeln sogenannte Privateers. Diese erhalten Standardpatente von produzierenden Unternehmen für Verletzungsverfahren 4. Grundsätzlich verstärkt werden die Folgen der Standardsetzung durch sog. Netzwerkeffekte: Aktuell wird das iPhone 6 auf dem US-Markt mit Apple Pay Funktion vermarktet. War Google mit Google Wallet bisher nicht erfolgreich, sprechen Experten nun von einer zweiten Chance für das erste mobile Kreditkartenzahlsystem mit NFC- Technik. Denn warum, so die Argumentation, sollten Warenhäuser neben Apple Pay nicht auch Google Wallet zulassen: Ist Apple Pay bei Verbrauchern beliebt, wären Android- Kunden zur Nutzung von Google Wallet motiviert. Beide Systeme machen sich nämlich gegenseitig bekannt. Die NFC- Technik wäre dann für alle Smartphonehersteller wichtig. Damit werden NFC- Patente so bedeutend, dass trotz Fehlens rechtlicher Verbindlichkeit der NFC- Standard den Austausch mit einer neuen Technologie mit gleichen Funktionen unwahrscheinlich macht. Damit kann ein Standard den Markt für neue Innovation verschließen 5.

Dennoch kann Standardsetzung auf Informations- und Technologiemärkten positiv wirken. Bei schneller technologischer Entwicklung und kurzlebigen Produktzyklen hat ein einzelner Unternehmer nicht ausreichend Innovationspotenzial. Dieser ist auf die Nutzung von Standardtechnologie angewiesen. Koordination bei Standardsetzung verhindert Doppelinnovation und senkt Marktrisiken der beteiligten Unternehmen, die sich zum Beispiel auf die Nutzung des Standards durch andere Unternehmen einstellen können 6.

In diesem Zusammenhang wird das Kartellrecht häufig als Regulationsinstrument gesehen. Als letzter Anker zur Bewahrung funktionierenden Wettbewerbs sollen die negativen Folgen von Standardisierung verhindert werden. Dies soll am Beispiel von Patentpool, Patenthinterhalt und Privateers hinterfragt werden.

Bei der Anwendung des Kartellrechts durch die Europäische Kommission (Kommission) konzentriert sich diese hauptsächlich auf die Verwertungshandlung der Standards 7. Um wettbewerbsschädigende Nutzung von Patenten zu verhindern, müssten – so die These dieses Beitrags – kartellrechtliche Mechanismen jedoch vor der eigentlichen Verwertungshandlung durch Lizenzierung greifen. Denn diese – nachträgliche – Kontrolle kann die Schäden für den Wettbewerb nur noch begrenzen. Regulative außerhalb des Kartellrechts haben sog. Standardisierungsorganisationen etabliert 8. Schnittstellen zum Kartellrecht finden sich auch im Marken- und Urheberrecht 9. Gegenstand des vorliegenden Beitrags sind jedoch Standardpatente.

Zunächst sollen daher ein Standard definiert und die Problemlagen herausgearbeitet werden. Darauf sollen die kartellrechtliche Verhaltens- und die Fusionskontrolle angewandt werden, um bezüglich deren Wirksamkeit zur Sicherung des unverfälschten Wettbewerbs zu einer Beurteilung zu gelangen.

 

B. Standardsetzung auf dem Mobilfunkmarkt

I. Möglichkeiten der Standardsetzung 

Standards wie NFC entstehen in Standardisierungsorganisationen (SSO) wie beispielsweise der europäischen SSO ETSI 10. Davon zu unterscheiden sind am Markt entstehende Standards, sogenannte de facto Standards 11 und Normungen. Letztere werden von Unternehmen 12 oder in staatlich anerkannten SSOs wie DIN gesetzt 13.

Die NFC zugrunde liegenden Standards Bluetooth und RFID sowie NFC sind durch Patente geschützt, zu denen es (noch) keine technischen Substitute am Markt gibt 14. Diese sind essentiell zur Standardimplementierung, also standardessentielle Patente (SEP).

Allen Standards ist gemein, dass sie aufgezeichnet werden und Regelungsgehalt haben 15. Ihre wiederholte Anwendung ist durch mehrere Wettbewerber möglich. NFC kann etwa von iOS und Android getriebenen Smartphones implementiert werden. Ein Standard wirkt also vereinheitlichend 16. Wegen dieser Gemeinsamkeiten sind Standards im Folgenden gleich zu behandeln.

 

II. Märkte der Mobilfunkbranche

Grundsätzlich können in der Mobilfunkbrache drei Märkte unterschieden werden: Innovations- 17, Technologie-, und Produktemarkt 18. Dabei ist der Innovationswettbewerb den beiden letzteren, und damit der Technologie und dem Produkt, vorgelagert 19. Dort entsteht durch Entwicklung etwa die NFC- Technik. Idealerweise besteht zwischen diesen Märkten ein Wertschöpfungszusammenhang. Einschränkungen des Wettbewerbs auf einer Stufe der Wertschöpfung aber werden durch knock-on Effekte weiter gegeben 20.

Liegt ein SEP vor, ist der Innovationswettbewerb bereits abgeschlossen. Eine Technologie hat sich durchgesetzt. Daher ist der Technologiemarkt im Zusammenhang mit SEPs entscheidend.

 

III. Problemstellung auf dem Technologiemarkt bei Standardisierung

1. Patenthinterhalt

Vor der Verwendung eines Standards am Markt finden Wettbewerbsbeschränkungen im SSO- Verfahren statt 21. Beispielhaft wird der sog. Patenthinterhalt herausgegriffen. Dabei unterlassen Teilnehmer des SSO- Verfahrens die Offenlegung von Patenten und Patentanmeldungen, die Teil des Standards werden 22. Nach Standardsetzung kann das Unternehmen mit dem Kartellrecht unvereinbare Verwertungshandlungen begehen oder sich kartellrechtskonform verhalten.

 

2. Standards in Technologiepools 

Nach Abschluss eines Standardisierungsverfahrens werden zur Lizenzierung der Patente häufig Patentpools gebildet. Dabei schnüren zumeist mehrere Parteien ein Paket meist zusammengehöriger Technologien, hier von SEPs 23. Positiv verringert das „one-stop-shop“-Prinzip Transaktionskosten. Standards können wirksam implementiert werden, da der Hersteller die SEPs nicht separat lizenzieren muss 24. Pools verringern jedoch den Anreiz, die Gültigkeit der Patente zu überprüfen und neue Technologien zu entwickeln 25.

 

3. Standards in Portfolios von Privateers

Ebenfalls über große Patentportfolios mit SEPs verfügen auf dem Technologiemarkt Privateers 26. Die SEPs werden durch andere Unternehmen an Privateers wie Rockstar übertragen. Rockstar erwarb 6000 Patente des insolventen Nortel- Konzerns aus finanziellen Mitteln von Apple, Microsoft, Sony, Ericsson und Blackberry 27. Bei anschließenden Verletzungsklagen gegen Wettbewerber setzen Privateers auf einen günstigen Vergleich. Diese sind besonders wegen der hohen Kosten bereits vor Prozessbeginn 28 erzielbar. Sollte dies fehlschlagen, können attraktive Lizenzgebühren ausgehandelt werden. Praktischer Hintergrund ist, dass etwa Rockstar kein Interesse an sog. Kreuzlizenzen hat 29, da Rockstar mangels produktiver Tätigkeit keiner Lizenzen bedarf. Somit könnte der Zugang zu SEPs erschwert und ein Wettbewerber auf dem Produktemarkt für einige Zeit verhindert werden. Die Zugangsverhinderung verringert die Produktauswahl für den Verbraucher 30. Zur rechtlichen Bewertung fehlen aber oft Detailinformationen 31.

 

C. Verhaltenskontrolle als Ausgleichsmechanismus für Standardsetzung

I. Anwendbarkeit von Kartellrecht 

Lange war die Anwendbarkeit des Kartellrechts auf immaterielle Güter fraglich 32. Jetzt ist anerkannt, dass Patent- und Kartellrecht gemeinsame Ziele von Wettbewerbs- und Wohlstandsförderung verfolgen 33. Grund dafür ist schon der auf Verfassungsebene verankerte Schrankenvorbehalt des Eigentums, Art. 14 II GG 34. Damit ist jedes Marktverhalten an den Wettbewerbsregeln zu messen 35.

 

II. Kontrolle durch Missbrauchsverbot einer marktbeherrschenden Stellung, Art. 102 AEUV

Die missbräuchliche Verhaltensweise in einer SSO, eines Patentpools, oder eines Privateers wie Rockstar müsste von marktbeherrschenden Unternehmen ausgehen.

 

1. Marktbeherrschende Stellung

a) Adressatenstellung

Die Teilnehmer des SSO-Verfahrens und die Mitglieder eines Patentpools erfüllen unproblematisch den funktionalen Unternehmensbegriff, indem sie einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen 36. Rockstar könnte hingegen Unternehmen oder Unternehmensvereinigung sein. Eine Unternehmensvereinigung liegt dann nicht mehr vor, wenn Rockstar aufgrund eigenständiger Tätigkeit im Geschäftsverkehr als Unternehmen auftritt 37. Rockstar handelt nach eigenen Angaben selbstständig 38 und ist daher Unternehmen.

 

b) Relevanter Markt

Die unternehmerische Tätigkeit müsste auf dem relevanten Markt stattfinden. Nach dem Bedarfsmarktkonzept grenzt sich der sachlich relevante Markt nach der Substituierbarkeit der Produkte aus Sicht der Marktgegenseite ab 39. Bei Patenten könnte auf die Nachfrager der Technologie bzw. des Produktes abzustellen sein.

Aus Sicht der Produktnachfrager könnten alle Smartphones mit einem NFC- Feature zum gleichen Produktemarkt gehören 40. Auf dem vorgelagerten Technologiemarkt ersetzt ein Patent bzw. eine Technologie wie NFC das Produkt 41. Um überhaupt auf dem Produktemarkt tätig zu werden, also das Smartphone mit NFC- Feature herstellen zu können, muss Zugang zur Technologie erlangt werden 42. Eine alleinige Konzentration auf den Technologiemarkt würde jedoch eine Substituierbarkeit des Standards auf dem Produktemarkt unberücksichtigt lassen. Bei Berücksichtigung käme es allerdings auf die Sicht der Nachfrager des Produktes an. Für den Zugang zum Produktemarkt relevant ist aber allein die Marktgegenseite zum Patent, also der Nachfrager der durch das Patent geschützten Technologie 43.

Der Umfang dieses Technologiemarktes richtet sich nun danach, ob andere Technologien bestehen, die gleiche Funktionen erfüllen. Dies können andere geschützte oder freie Lehren sein, die mit dem fraglichen Standard konkurrieren 44. Dieser Grundsatz müsste nun auf das Vorliegen von SEPs übertragen werden. Dabei verzichtet die Kommission häufig auf eine Abgrenzung des relevanten Marktes, weshalb es an Kasuistik fehlt 45. Dennoch müsste wegen der fehlenden Austauschbarkeit des SEPs mit anderen geschützten oder nicht geschützten Lehren der Markt auf das einzelne SEP begrenzt werden 46. Damit bliebe aber die faktische Austauschbarkeit mit anderen Standards auf dem Technologiemarkt unberücksichtigt. Überzeugender ist es daher, auf austauschbare Standards als auf die Austauschbarkeit des SEPs abzustellen 47. Dafür spricht auch, dass es unbillig wäre, ein Unternehmen als Inhaber eines SEPs dem Kartellrecht zu unterstellen, wenn der dahinterstehende Standard auf dem Markt jeglicher Relevanz entbehrt.

Der räumlich relevante Markt besteht aus dem Wirtschaftraum, in dem sich die objektiven Wettbewerbsbedingungen gleichen 48. Im Mobilfunksektor besteht ein weltweiter Wirtschaftsraum 49. Der zeitlich relevante Markt deckt sich grundsätzlich mit der Geltungsdauer der wettbewerbsrelevanten Maßnahme und ist daher nicht separat zu bestimmen 50.

 

c) Marktbeherrschende Stellung auf relevantem Markt

Auf dem relevanten Technologiemarkt müsste die Marktmacht von Rockstar oder Teilnehmern der SSO ausreichen, sich unabhängig von Verbrauchern, Wettbewerbern und Abnehmern zu verhalten 51. Wird einer engen Abgrenzung des relevanten Markts gefolgt, dann hat der Inhaber eines SEPs konsequenterweise per se eine marktbeherrschende Stellung. Denn das SEP ist zur Implementierung des Standards nicht substituierbar und der Inhaber kann sich aufgrund der Alleinstellung unabhängig von anderen Marktteilnehmern verhalten. Mit einer solchen per se Betrachtung blieben jedoch die Marktrealitäten außer Betracht. Die tatsächliche Marktmacht eines Inhabers hängt – zumindest wirtschaftlich – von der Bedeutung des Standards auf dem Produktemarkt ab. Bestehen dort andere Standards, die den Bedürfnissen der Verbraucher ebenfalls gerecht werden, verringert das die Marktstellung des SEP-Inhabers 52. Somit bedeutet die Wesentlichkeit des SEPs für den Standard noch nicht, dass daraus Marktmacht folgt 53.

Fraglich ist, woran die Marktmacht erkennbar ist. Die Marktmacht könnte sich am Marktanteil des Standards festmachen lassen 54, der durch substituierbare andere Standards auf dem Markt begrenzt wird und dadurch bestimmt werden kann 55. Jedoch sind die Normadressaten die Unternehmen, die Inhaber eines SEPs, nicht aber des Standards sind. Der Anteil eines SEPs am Marktanteil, den der Standard messbar auf sich vereinigt, ist aber wohl nicht feststellbar. Denn in den Produkten wird der Standard, nicht das einzelne SEP implementiert 56. Daher kann der Marktanteil nicht als Kriterium herangezogen werden und es ist auf das SEP, nicht auf den Standard zur Bestimmung der Marktmacht abzustellen.

Ausnahmsweise kann sich Marktbeherrschung durch ein SEP beispielsweise durch eine gesetzliche Vorschrift zur Einhaltung eines bestimmten Standards oder aus faktischer Verbindlichkeit ergeben. Eine solche besteht etwa, wenn Verbraucher nur Produkte annehmen, die einen bestimmten Standard implementieren 57.

Fraglich ist jedoch die Bestimmung von Marktmacht im Normalfall. Marktmacht könnte bestehen, wenn das SEP wie eine Marktzutrittsschranke wirkt. Dabei können Parameter wie Ablösewahrscheinlichkeit des Standards oder die Lizenznehmerquote mitberücksichtigt werden 58. Diese Marktzutrittsschranke kann sich verschiedentlich äußern. Sog. switching costs der Nutzer zwischen den Standards binden die Nutzer an einen Standard und verstärken die Marktmacht des Inhabers der dahinterstehenden SEPs 59. Netzwerkeffekte etwa zwischen Google Wallet und Apple Pay haben gleiche Wirkung 60. Daraus kann etwa ein natürliches Monopol entstehen, da neue Nachfrager dem bestehenden großen Netzwerk beitreten anstatt einem alternativen 61. Sollte sich das Bezahlsystem durchsetzen, haben Kaufhäuser beispielsweise nur Vorrichtungen für NFC- Erkennungstechnik, nicht für alternative Datenübertragungsmöglichkeiten.

Das von Rockstar erworbene Nortel- Portfolio umfasste unter anderem SEPs für Wlan 62. Eine Marktzutrittsschranke läge vor, wenn Rockstar anderen Unternehmen die Verwendung der Wlan-Technik untersagen könnte, da Mobiltelefone ohne Wlan für Kunden unattraktiv wären. Portfolios von Privateers zeichnen sich durch fehlende Zusammengehörigkeit der Patente aus, so dass die vorhandenen SEPs nicht zwangsläufig genügen, um einen Standard wie Wlan gänzlich zu blockieren 63. Ob eine Marktzutrittsschranke vorliegt, ist daher vom Beweisvortrag abhängig.

 

d) Beeinträchtigung des Binnenmarktes 

Der Binnenmarkt als ganzer ist bei Vorliegen einer marktbeherrschenden Stellung auf dem Mobilfunkmarkt aufgrund seiner internationalen Bedeutung betroffen.

 

e) Zeitpunkt der Marktbeherrschung

Beim Patenthinterhalt stellt sich das Problem, dass zwischen der Verwertungshandlung und der Unterlassung der Offenlegung zu unterscheiden ist. Bei Vornahme der Missbrauchshandlung muss Marktbeherrschung vorliegen. Während der Verwertungshandlung verleiht der implementierte Standard dem Inhaber Marktbeherrschung. Ausnahmsweise kann bei der Verletzung der Offenlegungspflicht hohe Nachfrage nach einem Patent vor Standardsetzung dem Inhaber Marktmacht verleihen 64. Dies dürfte aber schon deswegen selten sein, da interne Verfahrensregeln von SSOs die Standardisierung eines bestehenden Patentes oft verhindern. Daher liegt Marktmacht erst mit Standardimplementierung vor.

Bei SEPs könnte es jedoch gerechtfertigt sein, auf Marktmacht zu verzichten 65. Dazu könnte rechtsvergleichend die Figur des attempt to monopolize herangezogen werden. Nach Sherman Act Section 2 ist im us-amerikanischen Rechtssystem lediglich die Wahrscheinlichkeit von Monopolmacht nachzuweisen 66. Zwar hat Art. 102 AEUV mit der Voraussetzung eines Missbrauchs eine andere Schutzrichtung, der Rechtsgedanke von Section 2 zur Erfassung missbräuchlichen Verhaltens vor signifikanter Marktmacht könnte jedoch übertragbar sein 67.

Andererseits wäre eine „antizipierte“ marktbeherrschende Stellung anzunehmen, wenn aufgrund des Hinterhalts nach Standardsetzung Marktmacht erlangt würde 68. Dabei ist aber bereits die Bestimmung des relevanten Marktes schwierig, da der Markt des SEPs noch gar nicht besteht 69.

In Hinsicht auf die Rechtssicherheit ist beides abzulehnen. Die besondere Verantwortung des Unternehmens, die die Anwendung des Kartellrechts auf das Ausschließlichkeitsrecht rechtfertigt, ergibt sich erst mit Marktmacht. Es widerspräche auch einer liberalen Wirtschaftsordnung, wenn Kartellamt bzw. europäische Kommission auf diese Weise die Kompetenz erhielten, jede Standardsetzung zu kontrollieren.

Aufgrund der besonderen wirtschaftlichen Bedeutung von Standards ließe sich aber argumentieren, dass eine Kontrolle der Standardsetzung rechtspolitisch wünschenswert wäre. Denn durch einen Missbrauch kann eine Technologie zum Standard werden, die nicht die beste ist und somit nicht zum Wohle der Verbraucher künftig in allen Endprodukten implementiert wird. Die Annahme hängt davon ab, ob sich im Folgenden die Verletzung von Offenlegungspflichten im Zuge eines Patenthinterhalts als missbräuchlich darstellt.

 

2. Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung

a) Missbrauch durch Patenthinterhalt

Der Patenthinterhalt findet vor der Verwertungshandlung statt. Daher müsste sich die Verletzung der Offenlegungspflichten als missbräuchlich darstellen. Wie eine solche einzuordnen ist, wird unterschiedlich bewertet. Die Durchsetzung eines Patents als Standard wird von manchen Stimmen als kartellrechtsneutral eingestuft 70. Andere weisen darauf hin, dass auch einzelne Unterlassungen der Offenlegung Teil eines Gesamtplanes sein könnten und damit als Ganzes als Missbrauch angesehen werden müssen 71. Ferner könnten die Teilnehmer des SSO- Verfahrens zur Garantie unverfälschten Wettbewerbs und damit von vornherein zur Offenlegung verpflichtet sein 72. Eine solche Garantenstellung wurde bisher aber nur nach Art. 101 AEUV angenommen 73. Auch finden bei Patenthinterhalt nicht mehrere Missbräuche statt, sondern es wird die SSO- Pflicht zur Offenlegung verletzt 74. Daher ist die Verletzung nicht missbräuchlich. Auf eine Modifizierung des Marktmachterfordernisses kommt es folglich nicht an.

 

b) Missbrauch durch Privateers oder Patentpool

Bei Privateers und Patentpools stellt sich dies Problem nicht. Ihre relevanten Handlungen entstehen erst nach Standardsetzung. In Betracht kommen zunächst missbräuchliche Lizenzverträge, auf die zwar Art. 102 AEUV anwendbar ist, aber die nicht Inhalt dieses Beitrags sind.

Darüber hinaus verwendet ein Privateer präventiv vor Lizenzverhandlungen Abmahnungsstrategien, welche einen Missbrauch begründen könnten. Ein solches Verhalten kann auch der Pool 75 aufgrund der gepoolten SEPs begehen.

Ob ein solcher Missbrauch durch die Geltendmachung von SEPs vorliegt, bestimmt sich danach, ob der Beklagte dem Anspruch den sog. Zwangslizenzeinwand nach Art. 102 AEUV entgegenhalten kann. Anwendbares Recht wäre in einem solchen Unterlassungsverfahren das Recht des Schutzlands 76. Bei einem deutschen Patent ist die Anwendbarkeit des Zwangslizenzeinwandes, gerichtlich mit „Orange-Book“ 77 bestätigt und neben § 24 PatG anerkannt 78. Die gerichtliche Geltendmachung des SEPs als Ausschließlichkeitsrecht ist noch nicht missbräuchlich. Es müssten also weitere Umstände hinzukommen, die die Anwendung des Missbrauchstatbestands rechtfertigen 79. Ein gültiges SEP wie GSM, 3G, 4G, LTE im Rockstar- Portfolio könnte auf dem Produktemarkt ein Erzeugnis verhindern. Diese Verhinderung wäre bei Geltendmachung aber gerechtfertigt. Zwar sind die Anforderungen an ein Angebot des Lizenzsuchers derzeit strittig und die Entscheidung des EuGH noch abzuwarten. Dass aber gar kein vorheriges Angebot ausreichen könnte, ist eher unwahrscheinlich 80. Da ein Privateer aber gerade wahllos abmahnt, dürfte kein Angebot zum Lizenzvertrag des Beklagten vorliegen.

Sollte der Zwangslizenzeinwand dennoch greifen, etwa bei einem Pool, fehlt es an einer generellen Abschreckungswirkung, da das einzige Prozessrisiko des Klägers in der Gewährung einer angemessenen Lizenz liegt. Bereits die Erhebung der Unterlassungsklage hat erhebliches Schädigungspotenzial beim Beklagten, führt doch die drohende Unterlassungsverfügung in den meisten Fällen zur Einstellung des Unterfangens und zu womöglich vernichtenden wirtschaftlichen Schäden 81. Langwierige Prozesse und etwaige Schadensersatzforderungen verleihen schon der Klageerhebung zusätzlich Drohpotenzial 82.

 

3. Würdigung

Ein wirksamer Ausgleichsmechanismus müsste daher möglichst früh in der Wertschöpfungskette greifen. Fällt der Innovationswettbewerb bei Standardsetzung schon aus dem Anwendungsbereich, so kann eine marktbeherrschende Stellung bzw. eine Marktzutrittsschranke auf dem Technologiemarkt schwer nachgewiesen werden. Selbst der prozessuale Ausgleich greift bei Privateers oft zu kurz und führt im Ergebnis zu einer angemessenen Lizenz.

Ebenso kann bei Patenthinterhalt zwar die Verwertung reguliert, nicht aber die ursprünglich missbräuchliche Durchsetzung verhindert werden. Dahingehend sind auch die Vorschläge aus der Literatur zu verstehen, die neue Verwertungsmodelle für den Fall des Patenthinterhalts anregen wie niedrigere Lizenzgebühren nach Patenthinterhalt oder ein transparenteres Lizenzierungsverfahren 83.

Art. 102 AEUV ist damit auf die Verwertungshandlung angelegt. So hat die Kommission nach Art. 9 VO 1/2003 die Möglichkeit, bei Verpflichtung zu angemessener Lizenzierung von der kartellrechtlichen Sanktion abzusehen 84. Auch befördert ein Mangel an Offenlegung vor allem sog. hold-up Strategien. Das Tätigen von Investitionen in Erwartung des Standards aber und die anschließende Ausnutzung dieser Abhängigkeit des investierenden Unternehmens durch den SEP- Inhaber ist durch Lizenzregulation zu verhindern 85.

 

III. Kontrolle durch Kartellverbot, Art. 101 AEUV 

Zweiseitige Verhaltensweisen könnten bei einem Patentpool, bei Standardsetzung oder im Beispielsfall Rockstar zu spürbaren Wettbewerbsbeschränkungen führen.

 

1. Koordinierung, Art. 101 I AEUV

Es müsste eine Koordinierung mindestens zweier Unternehmen über ein zukünftiges gemeinsames Auftreten am Markt vorliegen 86. Eine Standardsetzung zwischen Unternehmen in einer SSO und Errichtungsvereinbarungen von Pools erfüllen diese Voraussetzung.

Bei Privateers könnte eine Koordinierung mit den investierenden Unternehmen vorliegen. Zwischen diesen könnte aber ein Beherrschungsverhältnis bestehen, sodass nicht unabhängige Unternehmen am Markt tätig wären. Folglich würde das sog. Konzernprivileg greifen 87. Ein Beherrschungsverhältnis setzt die Möglichkeit zur Einflussnahme voraus. Dies wird bei Anteilsmehrheit, § 17 II AktG, oder bei vertraglichem Beherrschungsvertrag vermutet. Bei Rockstar könnte dafür Indiz sein, dass systematisch nur Android nutzende Unternehmen verklagt werden und Apple den Kauf der Nortel- Patente zu überwiegendem Anteil finanziert hat. Dies würde für ein Beherrschungsverhältnis und das Konzernprivileg sprechen. Ob ein koordiniertes Verhalten nach Art. 101 I AEUV oder ein Beherrschungsverhältnis vorliegt, ist eine Beweisfrage. Wird letzteres abgelehnt, dann stellen sich für die Annahme von Koordinierungen zwischen Rockstar und Apple die gleichen Beweisprobleme. Zumindest nach eigenen Angaben handelt Rockstar eigenständig. Art. 101 AEUV ist daher mangels anders gelagerter Beweise nicht auf Privateers anwendbar.

 

2. Wettbewerbsbeschränkung

Mit Koordinierung müsste nach Inhalt und Ziel der Handlung eine Wettbewerbsbeschränkung auf dem relevanten Markt bezweckt oder bewirkt werden 88. Durch Standardsetzung und die Schaffung eines Pools zur Verwertung des Standards können der Wettbewerb zwischen den Vertragsparteien verringert und alternative Technologien ausgeschlossen werden 89. Eine Wettbewerbsbeschränkung liegt vor.

 

3. Spürbarkeit und Zwischenstaatlichkeit

Bei Annahme von Marktmacht ließe sich bei Vereinbarung eines internationalen Mobilfunkstandards mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vermuten, dass zumindest potenziell der Handel zwischen den Mitgliedsstaaten betroffen ist 90. Dies wäre aufgrund der Marktmacht durch SEPs 91 auch spürbar. Das ist genauso wie bei Art. 102 AEUV eine Beweisfrage.

 

4. Ausnahmen vom Kartellverbot, Art. 101 III AEUV

Eine Freistellung des SSO- Verfahrens oder eines Pools ist möglich, wenn Vorteile für Verbraucher, Produkte und Fortschritt überwiegen, Art. 101 III AEUV.

 

a) Freistellung des Standardisierungsverfahrens

Standardsetzung gilt zwar als grundsätzlich wettbewerbsfördernd und wird generell freigestellt.

Die Kommission könnte jedoch im Rahmen der Freistellung Offenlegungspflichten als interne Verfahrensregeln verlangen, obwohl diese zu den IPR- Policies der SSO gehören 92. Dadurch könnte einem Patenthinterhalt, der nicht von Art. 102 AEUV erfasst ist, vorgebeugt werden. In der SSO ETSI kam es zur Verletzung von Offenlegungspflichten, da das ETSI-Mitglied Sun Teile der Patente mit Relevanz für den neuen Standard GSM 03.19 nicht offenlegte 93. Nach Bekanntwerden verlangte die Kommission eine Änderung der Verfahrensregelungen von ETSI. Dabei leitete sie ein Verfahren, gestützt auf Art. 101 AEUV, ein. Anschließend implementierte ETSI die Vorschläge der Kommission im SSO- Verfahren 94. Damit waren die folgenden Verfahren der Standardisierung von ETSI wieder nach Art. 101 III AEUV freigestellt. Somit kann die Kommission Einfluss auf Verfahrensvorschriften nehmen.

 

b) Freistellung eines Patentpools

Der Patentpool könnte bereits durch die TT-GVO freigestellt sein. Mangels Herstellungselement und der Vereinbarung von mehr als zwei Unternehmen (Art. 1 c) TT-GVO) ist dies aber nicht der Fall 95.

Daher ist auf Art. 101 III AEUV abzustellen. Positive Effekte des Pools wie etwa Kostensenkung durch zentrale Lizenzvergabe 96 führen zu Verbesserung der Warenerzeugung und dienen dem Fortschritt. Preiskartelle und Ausschluss alternativer Technologien haben gegenteilige Wirkung 97. Das Überwiegen positiver oder negativer Effekte hängt entscheidend an der gepoolten Technologie. Dies bestimmt daher über die Freistellung.

Dafür lassen sich die Leitlinien zur TT-GVO heranziehen 98, die auf die Förderung der Innovation durch Anreize für Forschung und Entwicklung abzielen 99. Dafür entwirft die Kommission einen „Safe-Harbour“ für einen Technologiepool, also eine garantierte Freistellung.

Dies gilt für wesentliche Technologie 100. Darunter fällt solche, die innerhalb und außerhalb des Pools kein wirtschaftlich oder technisch mögliches Substitut hat 101. Solange ein SEP Patentschutz genießt und eine nicht ersetzbare Technologie schützt, kann der Pool freigestellt werden. Dass tatsächlich SEPs gemeint sind, ergibt sich auch aus einem Umkehrschluss aus der Abgrenzung zu „nichtessentiellen Technologien“ 102.

Neu eingeführt ist, dass der Pool offen sein muss. Sensible Information darf nur eingeschränkt ausgetauscht. Nicht- Exklusivlizenzen zwischen Pool und Inhaber sowie Lizenzen zwischen Pool und Dritten nur nach FRAND- Bedingungen vergeben werden dürfen. Die Gültigkeit der SEPs muss überprüfbar bleiben 103. Der Ausschluss von Wettbewerbern soll damit verhindert werden. Die Beschränkung des Informationsaustausches soll Missbräuche im Verfahren und sog. over declarations verringern 104. Damit sollen Wettbewerber zur Partizipation und zur Lizenzierung ihrer Patente durch den Pool nach Standardsetzung durch garantierte Freistellung motiviert werden 105. Denn ein Pool basiert auf Freiwilligkeit 106. Soll dieser aber gerade seine positiven Effekte wie das „one-stop-shop“- Prinzip verwirklichen, müssen alle SEPs durch die Inhaber an den Pool gegeben werden.

Dass diese Lizenzen ferner nicht exklusiv sein dürfen, dient der Abgrenzung zu Privateers, die die Patente exklusiv erhalten. Durch die Möglichkeit zur ständigen Überprüfung der gepoolten SEPs kann neue Technologie auf den Markt kommen 107. Die Kommission ermöglicht damit, über Privilegierungen auf dem Technologiemarkt auch den Innovationswettbewerb zu fördern.

Mit berücksichtigt werden typische IPR- Policies wie die Einschaltung von Sachverständigen und die Etablierung von Streitbeilegungsverfahren 108. Somit entsteht ein starker Anreiz zu deren Einhaltung auch durch Auferlegung von Bußgeldern durch die SSO. Diese verhindert damit kartellrechtliche Sanktionen und wird für Unternehmen interessant.

Im Safe Harbour ist der Pool freigestellt, was der Kommission die Durchsetzung von wettbewerbspolitischen Zielen bei SEPs ermöglicht.

 

5. Würdigung

Trotz des möglichen Einflusses auf die Verfahrensvorschriften einer SSO zur Verhinderung eines Patenthinterhalts oder der Begrenzung negativer Pooling – Effekte bleiben die Folgen begrenzt 109. Verfahrensvorschriften können nur als nicht rechtsverbindliche Codes of Conduct vorliegen 110. Ein Schadensersatzanspruch der SSO aus einem Gesellschaftsvertrag kann nach § 280 I BGB gegen den Verletzer bestehen 111, als inter alia Pflicht aber nicht gegenüber Dritten. Ob die Patente tatsächlich standardessentiell sind, ist auch nicht überprüfbar. Besonders nach Patenthinterhalt wäre die Forderung nach Standardrücknahme effektiver. Wegen der dann verlorenen Entwicklungskosten und der log-in Effekte, die am Markt an den Standard binden 112, ist dies angesichts einer unterlassenen Offenlegung eines Patents nicht interessengerecht.

Durch mehr Bereitschaft zur Partizipation, dem Ziel des Safe Harbours, könnten Missbräuche verringert werden 113. Sind die Verfahren attraktiver für Wettbewerber, kann das Prinzip des „one-stop-shop“ verbessert werden, da die Wahrscheinlichkeit der freiwilligen Lizenzierung wächst. Denn wegen des Bedarfs zahlreicher SEPs zur Standardimplementierung ist Pooling wirtschaftlich sinnvoll 114. Der dem Safe Harbour entsprechende Pool hat also Ausgleichsfunktion für Schwachstellen des SSO- Verfahrens. Insofern lässt sich ein kartellrechtliches Regulativ festmachen. Dieses ist jedoch wegen der bleibenden Freiwilligkeit der Teilnahme begrenzt.

 

D. Fusionskontrolle als Ausgleichsmechanismus nach Standardsetzung

Wenn, wie gezeigt, das Marktverhalten schwer greifbar ist, könnte bereits die Entstehung eines Privateers durch die Fusionskontrolle zu regulieren sein. Die Fusionskontrolle ist dabei Gegenspieler zur Verhaltenskontrolle und will die Marktstruktur als solche schützen. Daher könnte sie angemessenes Kontrollinstrument sein. Dabei sollen die kritischen Punkte in Kürze dargestellt werden. Beispielhaft ist das Verfahren Motorola Mobility/Google zu nennen, in dem die Kommission den Erwerb von SEPs gestattete.

 

I. Aufgreifkriterien

1. Unternehmenszusammenschluss, Art. 3 FKVO

Zwischen den Unternehmen, 115 etwa Rockstar und Nortel, müsste ein Zusammenschluss nach Art. 3 FKVO vorliegen 116. Dafür gelten, anders als für die deutsche Fusionskontrolle, qualitative Kriterien 117.

 

a) Voraussetzungen von Art. 3 FKVO 

Auf das Beispiel Rockstar angewandt, müsste das Unternehmen mit rund 6000 erworbenen Patenten die Möglichkeit zur bestimmenden Einflussnahme haben. Dabei ist ein Kontrollerwerb i.S.v. Art. 3 I b) FKVO bereits an einem Unternehmensteil möglich 118, sofern dieser eigenen Umsatz und rechtliche Selbstständigkeit hat 119. Dass Rockstar etwa nicht alle Unternehmensteile von Nortel kaufte, sondern nur große Teile des Patentportfolios, schadet demnach nicht. Fraglich ist weiter, wer Erwerber im Falle Rockstar wäre. Dies bestimmt sich nach Art. 3 I b) FKVO. Ein Privateers wie Rockstar könnte ein eigenes Unternehmen sein oder mit Apple, Microsoft, Sony, Ericsson und Blackberry in einem Mutter-Tochter-Verhältnis stehen. Dies würde eine 10%-ige Beteiligung der Mutter an der Tochter voraussetzen 120. Dies ist wohl nicht beweisbar. Weil einige Nortel- Patente nach dem Erwerb an Google verkauft wurden 121, könnte Google, nicht Rockstar Erwerber sein. Der Zwischenerwerb durch Rockstar und der Weiterverkauf hätten jedoch vorab rechtsverbindlich festgelegt werden müssen 122. Dies ist nicht erkennbar. Rockstar ist also Erwerber.

 

b) Problematisch: das Kontrollmittel

Im Falle des Erwerbs von SEP ist jedoch das Kontrollmittel zur Eröffnung des Anwendungsbereichs der FKVO problematisch. Nach Art. 3 II 3. HS FKVO setzt Kontrolle die bestimmende Einflussnahme voraus. Die Möglichkeit (2.HS) der Ausübung über Rechte, Verträge und faktische Mittel ist durch Gesamtschau aller Umstände zu ermitteln 123. Unter einen Vermögenserwerb nach Art. 3 I lit. a) FKVO (Asset Deal) fallen durch Übertragung 124 oder Lizenzierung 125 auch Patente 126. Diese müssten einen Geschäftsbereich bilden, dem ein Marktumsatz zuzuordnen ist 127. Grund dafür ist, dass erst mit Leistung an Dritte strukturelle Veränderung der Marktbedingungen eintreten, die eine Anwendung der FKVO rechtfertigt 128. Microsoft etwa übernahm mit Nokia auch Verkauf und Produktion von Feature- Phones 129.

Problematisch ist die Übertragung rein immaterieller Assets. Statt eines Geschäftsbereichs verlangt die Kommission dann Exklusivlizenzen auf einem Gebiet mit umsatzgenerierender Tätigkeit 130. Rockstar erwarb lediglich die Patente ohne umsatzgenerierende Tätigkeit. Danach wäre die FKVO unanwendbar. Zweck dieser Einschränkung ist, dass der Erwerber in die bestehende Markstellung des Veräußerers eintreten soll, welcher ausscheidet 131. So würde der Erwerb zur weiteren Marktkonzentration beitragen. Dies wäre anzunehmen, wenn die immateriellen Güter Marktbedeutung hätten. Für das Kriterium spricht, dass die Kommission wegen der Beurteilungsschwierigkeiten im Fall des Erwerbs rein immaterieller Assets von Unternehmensteilen in einer Gesamtschau auf den wirtschaftlichen Gehalt des Zusammenschlusses abstellt 132. Rechtsvergleichend könnte die Figur des loss of going concern hinzugezogen werden 133. Scheidet der Veräußerer also aus dem relevanten Markt aus, kommt es zur Verschiebung von Marktstrukturen. SEPs gültiger Mobilfunkstandards sind Güter mit großer Marktbedeutung, denn sie sind in der Lage, die Implementierung eines Standards zu verhindern. Dies spricht dafür, den Kauf von SEPs mit der Übertragung des Geschäftsbereichs gleichzusetzen 134. Zahlreiche SEPs wären Kontrollmittel über einen Teil des Nortel-Konzerns.

 

II. Eingriffsvoraussetzungen, Art. 2 FKVO

Der Zusammenschluss müsste mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar sein, sog. SIEC- Test 135.

 

1. Relevanter Markt

Der Umfang des relevanten Marktes könnte durch die Zielrichtung der FKVO von dem der Verhaltenskontrolle abweichen 136. Nach der Kommissionspraxis ist dabei der Verwendungszweck maßgeblich 137. Ein SEP kann auf dem Technologie- oder Produktemarkt eingesetzt werden 138. Auf dem Technologiemarkt stellt die Kommission nicht auf den Standard, sondern auf das einzelne SEP ab 139. Diese Reduktion ist sachgerecht, da der Zusammenschluss von Unternehmen durch einzelne Assets und nicht durch den ganzen Standard geschieht. Denn das Unternehmen hat nur einzelne SEPs inne. Auf dem Produktemarkt entstehen Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen den Implementierungen der SEPs in den Produkten. Grundsätzlich besteht ein Markt für mobile devices 140. Für Rockstar wäre nur der Technologiemarkt relevant.

 

2. Marktbeherrschende Stellung, Art. 2 III FKVO

a) Marktanteil

Kriterium für Marktmacht (Art. 2 III FKVO) des Unternehmens ist der Marktanteil, der sich an der Zahl und der Bedeutung der Wettbewerber misst 141. Zwar besteht keine Marktbeherrschungsvermutung, dennoch spricht ein Marktanteil von unter 25% gegen Marktmacht 142. Die Kommission verglich das Portfolio von Google post-merger etwa mit dem des Wettbewerbers Sony 143. Rockstar wäre noch unbedeutender als Google. Marktmacht ist aber schwer am SEP zu messen 144.

 

b) Marktzutrittsschranken 

Ein Wettbewerbshindernis kann durch Zutrittsschranken entstehen. Anders als bei der Verhaltenskontrolle müssen diese nicht Marktmacht statuieren, sondern es müssen post-merger signifikante Wettbewerbsbeschränkungen eintreten.

 

aa) Wahrscheinlichkeit von Markeintritten

Diese abschottende Wirkung könnte sich an der Wahrscheinlichkeit des Marktzutritts anderer Wettbewerber messen 145. Google könnte nach Erwerb Android nur noch in eigenen Endgeräten, den ursprünglichen Motorola Geräten, implementieren 146. Google generiert hauptsächlich durch Online-Dienste Einkommen. Dazu muss Android möglichst weit verbreitet sein 147. Trotz Smartphones von Google können neue und bestehende Hersteller Android nutzen. Der Zugang zum Betriebssystem und damit der Zugang zum Smartphone- Markt wird also nicht entscheidend versperrt. Durch die Abmahnstrategie von Rockstar und das fehlende Interesse an Lizenzierung könnten aufgrund fehlender Substituierbarkeit der SEPs Zutrittsschranken entstehen. Wettbewerber wären am Markteintritt gehindert.

Dennoch ist der schnell wachsende Mobilfunkmarkt für potenzielle Wettbewerber sehr rentabel 148. Dies schwächt das blockierende Verhalten von Rockstar ab. Auch ist Rockstar kein etablierter Wettbewerber, der den Wettbewerbsdruck derart verringert, dass der Eintritt für andere Wettbewerber wegen des Erwerbs der SEPs unrentabel würde. Trotz des Zusammenschlusses besteht noch potenzieller Wettbewerb. Dies spricht gegen wirksame Marktzutrittsschranken.

 

bb) Förderung weiterer Wettbewerber

Würden durch den Zusammenschluss Newcomer ermöglicht, würde das den Wettbewerb bestärken, statt zu beschränken 149. Dennoch waren Newcomer nach bisheriger Kommissionspraxis nicht ausreichend zur Verneinung von Marktzutrittsschranken 150. Mit Erwerb erhalten Microsoft und Google erstmals Mobilfunkpatente und hardware- Produktion 151 und können Smartphones herstellen. Dies betrifft allein den Produktemarkt, weshalb dies nicht berücksichtigt wird. Berücksichtigung findet, ob die Bereitschaft von Google zur Lizenzierung abnehmen oder verstärkt würde, da insofern Google durch Inhaberschaft der SEPs neuer Wettbewerber ist. Dies wird zwar verneint 152. Bei einem Privateer würde jedoch Gegenteiliges gelten, denn Lizenzbereitschaft an den erworbenen assets besteht gerade nicht. Dies spräche für Beschränkungen des potenziellen Wettbewerbs post-merger.

Ob durch Verhinderung von Newcomern also doch Marktzutrittsschranken anzunehmen wären, kann offen bleiben, wenn es an der Kausalität nach Art. 2 III FKVO fehlt oder Abhilfemaßnahmen vorliegen.

 

c) Kausalität, Art. 2 III FKVO

Der Zusammenschluss zwischen Rockstar und Nortel ist nach Art. 2 III FKVO nicht zu untersagen, wenn das wettbewerbsschädliche Verhalten nicht kausal aus dem Zusammenschluss folgt (not merger specific 153) 154. Nicht kausal ist unabhängiges Unternehmensverhalten 155. Da etwa Nokia das Mobilgerätegeschäft mit Verkauf aufgab, könnte auch Nokia die SEPs zu Verletzungsklagen nutzen. Denn nach Zusammenschluss mit Microsoft blieben die SEPs bei Nokia, Microsoft erhielt nur für 30.000 SEPs eine Nicht-Exklusivlizenz 156. Daher versicherten Microsoft und Nokia, keine Absprachen bezüglich des Umgangs mit den Nokia- SEPs getroffen zu haben 157. Nokia würde bei Abmahnung aufgrund eigener SEPs eigenständig handeln.

Auf die Kausalität, auch failing company defence, kommt es aber nur in der Sanierungsfunktion an 158. Nokia schied wegen fehlender Wettbewerbsfähigkeit aus dem Mobilfunkmarkt post-merger aus. Rockstar aber kaufte die SEPs aus der Insolvenzmasse 159 von Nortel. Damit schied Nortel nicht erst in naher Zukunft 160 aus dem Markt, sondern war bereits ausgeschieden. Da Rockstar nicht zwangsläufig der Nortel- Marktanteil zugewachsen wäre, ist das Verhalten post-merger auf den Zusammenschluss rückführbar.

 

d) Abhilfemaßnahmen

Ein Zusammenschluss kann auch dann nicht nach Art. 2 III FKVO untersagt werden, wenn sich die Parteien zu Abhilfemaßnahmen verpflichten. Zwar zielt die Fusionskontrolle hauptsächlich auf strukturelle Maßnahmen zur Wettbewerbssicherung. 161 Dennoch sind Verhaltenszusagen anerkannt 162. Diese Privilegierung des Zusammenschlusses ist besonders bei SEPs sachgerecht. Denn dadurch kann die Verwertung der SEPs etwa durch FRAND- Verpflichtung erreicht werden. Ohne den fraglichen Zusammenschluss würden die SEPs nämlich ohne Verwertungspflicht beim Veräußerer bleiben.

Google etwa verpflichtete sich zu FRAND-Lizenzen 163 ebenso wie Nokia 164. Rockstar sicherte zu, die SEPs aus dem Nortel- Portfolio nicht für Unterlassungsklagen zu verwenden 165. Damit war eine Genehmigung durch die amerikanische Kartellbehörde möglich. Da die spezifische Wirkung möglicher Zutrittsschranken dadurch entfällt, könnte dies auch von der Kommission angenommen werden.

 

III. Würdigung

Ist das Vorliegen von Markzutrittsschranken schon fraglich, ist bei einer Abhilfemaßnahme die Untersagung des Zusammenschlusses nicht mehr gerechtfertigt. Wird durch den Zusammenschluss negatives Verhalten ermöglicht, verweist die Kommission auf Art. 101, 102 AEUV 166. Die Entstehung eines Privateers wird also nicht verhindert.

Die Patenthäufung bei Unternehmen wie Google oder Apple könnte aber deshalb nicht wünschenswert sein, da beispielweise der Kauf von Motorola durch Google hauptsächlich dazu diente, Gegenklagen gegen Rockstar anzustrengen. Handelt es sich dabei schon um unabhängiges Unternehmensverhalten, muss sich die Bewertung der Fusion auf den dafür relevanten Markt beziehen. Obwohl Google durch den Ankauf von Patenten nunmehr auch Smartphones herstellt und der Konzern als solcher sich vergrößert, kann nur der Markt des SEPs berücksichtigt werden.

Ferner ist das Wohl des Verbrauchers Maßstab für die Beurteilung des Zusammenschlusses. Dem ordnet sich die Beurteilung des potenziellen Wettbewerbs unter 167. Ein Zusammenschluss kann Qualität und Quantität der Innovationen fördern 168. Dies wäre zum Wohle der Verbraucher. Damit werden Zusammenschlüsse grundsätzlich nicht allzu restriktiv behandelt. Dies ist auch sachgerecht, da die Vorhersage künftiger Marktverhältnisse schwer ist 169. Gegen eine Erweiterung der Befugnisse der Kommission zu restriktiveren Fusionskontrollen spricht auch die Vertragsfreiheit der Unternehmen i.S.v. Art. 16 GRCh 170.

 

E. Abschließende Betrachtungen

Grundidee des Patentschutzes ist, dem Erfinder eine angemessene Vergütung für seine Leistungen verschaffen. Auf die Forschungs- und Entwicklungstätigkeit von Unternehmen übertragen, soll durch die Möglichkeit zur Patentierung der Innovation eine Refinanzierung gesichert werden.

Mit Standardsetzung aber wird zwischen konkurrierender Technologie ausgewählt und somit deren Wettbewerb beendet. Da die Implementierung von Standards für die Kaufentscheidung relevant ist, benötigen Unternehmen Lizenzen für die SEPs. Dabei ist die Verwertung im Technologiepool wirtschaftlich sinnvoll. Jedoch kommt es zu ungewollter Ausnutzung dieser Privilegierung, wenn Wettbewerber ausgeschlossen werden oder alte Technologie gepoolt wird. Denn dann verliert sich der Anreiz für Investitionen in Forschung und Entwicklung, weil die Refinanzierung versperrt ist. Daher ist die Freistellung eines Pools an wettbewerbsschützende Kriterien zu binden.

Verläuft aber schon die Standardsetzung missbräuchlich, ist zweifelhaft, ob sich die beste verfügbare Technik durchsetzt. Kartellrechtlich bedenklich ist insbesondere der Patenthinterhalt; dieser fällt nicht unter Art. 102 AEUV. Die Prävention mit Hilfe der Durchsetzung von Verfahrensvorschriften über die Freistellung des Standardisierungsverfahrens nach Art. 101 III AEUV bietet geringen Schutz. Dem Schutzzweck besonders evident zuwider läuft die Abmahnstrategie eines Privateers, welcher damit auf Verringerung des Substitutionswettbewerbs zielt 171. Neben stattfindender Wettbewerbsverzerrung erfolgt durch das Patent keine Refinanzierung und nicht nur eine Verhinderung des Imitationswettbewerbs. Wegen Beweisfragen und wegen fehlender Marktmacht eines Privateers ist Art. 101, 102 AEUV meist unanwendbar. Zwar könnte die Entstehung über die FKVO reguliert werden. Ist dabei aber das Kontrollmittel schon fraglich, verhindern Abhilfeerklärungen die Anwendung von Art. 2 III FKVO. Eine Abhilfeerklärung abzugeben, ist aber reizvoll, da die Abmahnstrategie eines Privateers auch mit nicht standardessentiellen Patenten gelingen kann. Andererseits scheint sich dieses Strategie nicht durchzusetzen. Zumindest zeigt der Ausverkauf aller Rockstar- Patente und die Beruhigung der Patentkriege in eine andere Richtung.

Auf Standardpatente kann wegen Marktzutrittsschranken also grundsätzlich Kartellrecht angewandt werden. Eine Kontrolle von Offenlegungspflichten und Privateers unterbleibt. Über die Freistellung ist ein geringes Maß an Kontrolle möglich. Abgesehen von Ausnahmen kann das Kartellrecht damit nur zur Kontrolle der Lizenzierung der Patente greifen und ist damit ein Mittel zur Schadensbegrenzung.

 

* Die Autorin war studentische Hilfskraft bei Herrn Prof. Dr. D. Murswiek und ist derzeit am Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb in München. Sie studiert Rechtswissenschaft und Geschichte (BA) an der Ludwig- Maximilians- Universität München. Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen der Seminararbeit im Schwerpunktbereich 3 (Wettbewerb, Geistiges Eigentum und Medienrecht) zum Thema „Gebrauch und Missbrauch von Schutzrechten: Kartellrecht als Ausgleichsmechanismus?“ im WS 2014/15.

 


Fußnoten:

  1. Jefferson, Jefferson to Issac McPherson, 13. August 1813, in: LIPSCOMB/BERGH (Hg.), The Writings of Thomas Jefferson, Vol. 20: The Founder’s Constitution, Volume 3, Article 1, Section 8, Clause 8, Document 12, Washington 1905, 333 ff.
  2. Diskutiert beim sog. „evergreening“; deutlicher im Urheberrecht bei neuen Werkformen wie „Mash-ups“.
  3. Spulber, J. Com. L. & Ec. 2013, 778.
  4. Abzugrenzen von Patenttrollen; vgl.: Jerruss/Feldmann/Walker, Duke L. & Tech. R. 2012, 359.
  5. Lemley, Cal. L. R. 2002, 1938.
  6. Baron/Pohlmann, J. Com. L. & Ec. 2013, 908; Gall/Waller, J. Com. L. & Ec. 2012, 449.
  7. Komm., Leitlinien für Technologietransfer- Vereinbarungen, 2014/C 89/03, Rn. 7; EuGH, Slg. 1996, 429 – Consten und Grundig.
  8. IPR- Policies wie Datenbank und Schlichtungsverfahren, Bruzzone/Boccaccio, Standards under EU Competition Law: The Open Issues, in: Caggiano,/Muscolo (Hg.), Competition Law and Intellectual Property. A European Perspektive, New York 2012, 96-111, 102.
  9. Abgrenzungsvereinbarung bei Jette Joop; urheberrechtlich geschützte Schnittstellen zur Kompatibilität wie im Fall Microsoft.
  10. http://www.etsi.org/deliver/etsi_ts/102100_102199/102190/01.01.01_60/ts_102190v010101p.pdf (abgerufen: 6.11.2014), auch in ISO und ECMA.
  11. Auch going-it-alone- Strategie, wegen steigender Investitionskosten ist die langfristige Durchsetzung wirtschaftlich unattraktiv: Lea/Hall, Info. Ec. & P. 2004, 75; etwa PAL & SECRAM; Forrester, The Interplay between Standardization, IPR and Competition Law, in: Caggiano|Muscolo|Tavassi (Hg.), Competition Law and Intellectual Property. A European Perspective, New York 2012, 113-145, 117.
  12. Sog. Werkstandards: Wölker, Entstehung und Entwicklung des Deutschen Normenausschusses, Berlin, u.a. 1992, 21 f.
  13. Shapiron/Varian, Hav. B. S. P. 1999, 44, 228 ff.; synonyme Verwendung der Begriffe: Komm., Leitlinien zu Technologietransfer- Vereinbarungen, 2004/C 101/02, Rn. 167.
  14. Komm., Case No COMP/M.6381- Google/Motorola Mobility, Rn. 54; Ullrich, Patent Pools – policy and problems, in: Drexl, Research Handbook on Intellectual Property and Competition Law, Cheltenham/Northampton 2008, 139-161, 147.
  15. Dorn, Technische Standardisierung im Spannungsfeld von Immaterialgüterrechten, Kartellrecht und Innovation, Studien zur Rechtswissenschaft Bd. 322, Hamburg 2014, 11.
  16. Auch Ziel der internationalen Standards der WTO: Struck, Product Regulations and Standards in WTO Law, Global Trade Law Series Bd. 45, Alphen aan den Rijn 2014, 70.
  17. Kritisch zu Innovations“markt“, Hilty, http://www.ip.mpg.de/files/pdf2/Taetigkeitsbericht_2010-2011.pdf, (abgerufen am 1.11.2014), 36.
  18. Überblick: Katz/Shelanski, Anti. L. J. 2007, 39 f.; Abgrenzung von drei Märkten: Komm., Leitlinien zur Anwendung von Art. 101 AEUV, 2011/C11/01, Rn. 261; Picht, GRUR Int. 2014, 7; anwendbar wegen Gleichbehandlung von Normung und Standardisierung: Emmerich, Kartellrecht, 12. Aufl., München 2012, § 8 Rn. 53.
  19. Deskriptiver Begriff, engl. downstream market im Gegensatz zu upstream market, vgl. Früh, Immaterialgüterrechte und der relevante Markt, Schriftenreihe zum gewerblichen Rechtsschutz Bd. 181, Köln 2012, 159.
  20. Wirtschaftsnobelpreisträger 2014, Jean Tirole in der Financial Times, Whipp/Harding, http://www.ft.com/intl/cms/s/0/01bc3910-52ca 11e4-a23600144feab7de.html?siteedition=intl#axzz3G6o8g1ps, (abgerufen am 14.10.2014).
  21. Kooperation als Wettbewerbshindernis, negative Einflüsse auf Produktemarkt durch Marktmacht, Ausschluss von Nichtmitgliedern und von alternativer Technologie: vgl.: Walther/Baumgartner, WuW 2008, 162 ff.
  22. Fall Rambus in SSO JEDEC, FTC, In the Matter of Rambus Inc., Docket No. 9302, http://www.ftc.gov/enforcement/cases-proceedings/011-0017/rambus-inc-matter (abgerufen: 6.11.2014), Immenga, GRUR Int. 2006, 929; ebenso: Dell-Fall endete mit Vergleich; FTC, In the Matter of Dell Computer Corporation, Docket No. 3658, Consent Order v. 20.5.1996, S. 616 ff. (http://www.ftc.gov/system/files/documents/cases/960617dellconsentorder.pdf , Stand: 5.10.2014, 17h45); vgl. Fischmann, GRUR Int. 2010, 185; Stambler v. Diebold Inc., 11 U.S.P.Q.2d, 1709 ff. (1988); aktives Werben um Aufnahme in den Standard ohne Offenlegung der eigenen Anmeldung: Wang Laboratories, Inc. V. Mitsubishi Electronics America, Inc., 103 F3d 1571 ff. (1997); nach Verpflichtung, keine Patentanmeldungen nach Informationserhalt zu tätigen, werden Patente Teil des Standards: In the matter of Union Oil Company of California, FTC Compliant, Doc No. 9305; http://www.ftc.gov/sites/default/files/documents/cases/2005/08/050802do.pdf (abgerufen: 10.10.2014). .
  23. Klawitter, Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, 2. Aufl. München 2008, § 13 Rn. 302.
  24. Verbruggen/Lörincz, GRUR Int. 2002, 827.
  25. Heyers, GRUR Int. 2011, 215.
  26. Pools als Trolle: Schickedanz, GRUR Int. 2009, 902.
  27. McMillen, How Apple and Microsoft Armed 4,000 Patent Warheads, http://www.wired.com/2012/05/rockstar/all/ (abgerufen am 22.10.2014), 1; Nach Veröffentlichung dieses Artikels wird es Rockstar nicht mehr geben, s.: http://www.ft.com/intl/cms/s/0/2ab78182-8ad1-11e4-be0e-00144feabdc0.html#axzz3MzfUwW2c (abgerufen: 23.12.2014).
  28. Andrews, Col. Sc. & Tech. L. R. 2011, 222.
  29. Kostenreduktion, US Supreme Court in Standard Oil Co. v. United States, 283 U.S. 163 (1931).
  30. Geradin, J. L. & Ec. 2013, 1126.
  31. Ewing/Feldmann, Stan. Tech. L.R. 2011, Rn. 14, 90.
  32. Haedicke, Handbook Patent Law, München 2014, § 1 Rn. 180; Vardner, Hav. J. L. & Tech. 2001, 226.
  33. Aufgabe Inhaltstheorie, sog. Komplementaritätsthese: Drexl, GRUR Int. 2004, 720.
  34. Art. 17 I 3 GRCh., Walz, GRUR Int. 2013, 719; vorher: Ausschließlichkeitsrechte stehen nicht im Widerspruch zur Wettbewerbsordnung; schutzrechtsimmanente Schranken: Lober, GRUR Int. 2002, 7.
  35. Vgl. Dorn, 206 ff. m.w.N.; Nebeneinander der Schutzrechte: Schmidt, Lizenzverweigerung als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung, Schriften zur Rechtswissenschaft Bd. 49, Berlin 2005, 60 ff.
  36. EuGH, Slg. 2004, I-2493 Rn. 46 – AOK.
  37. Zimmer, Immenga/Mestmäcker, § 1 Rn. 72.
  38. „We are separate“ – John Veschi, McMillen, 1.
  39. EuGH Slg. 1998, I-7791 Rn. 32 f. – Bronner; Komm., Bekanntmachung zum relevanten Markt, 97/C 372/03, Rn. 7, 15; Kritik: Früh, 205 m.w.N.
  40. Sofern als austauschbar angesehen: zumindest getrennte Märkte Feature Phones/Smartphones, Komm., Fn. 13, Rn. 41.
  41. Wolf, Effizienzen und europäische Zusammenschlusskontrolle, Wirtschaft und Wirtschaftspolitik Bd. 231, Baden-Baden 2009, 274; missverständlich zwei Produktionsstufen: EuGH, GRUR Int. 2004, 644, Rn. 45 – IMS Health; Spindler/Apel, JZ 2005, 135.
  42. Bspw.: EuGH v. 6.4.1995, Slg. 1995-I-743 – Magill, Rn. 56; Schwintowski, WuW 1999, 850.
  43. Burghartz, Technische Standards, Patente und Wettbewerb, Schriften zum Technikrecht Bd. 10, Berlin 2011, 203.
  44. Picht, Strategisches Verhalten bei der Nutzung von Patenten in Standardisierungsverfahren aus der Sicht des europäischen Kartellrechts, in: Drexl, Josef (Hg.), Münchner Schriften zum Europäischen und Internationalen Kartellrecht, Band 31, Bern 2013, 434 f.
  45. Melischek, The Relevant Market in International Economic Law, Cambridge international Trade and Economic Law, Cambridge University Press 2013, 33, Grund: Marktbeherrschung kann ohnehin verneint werden.
  46. Komm., Fn. 13, Rn. 54.
  47. Komm., Fn.17, Rn. 116; Komm., Case AT.39985 – Motorola – Enforcement of GPRS Standard Essential Patents, Rn. 192.
  48. EuGH, Slg. 2001, II-3414 – AAMS, Rn. 39.
  49. So zumindest: “client PC operating systems, work group server operating systems and media players”, Komm., Case COMP/C-3/37.792 – Microsoft, Rn. 427; erweitert auf Betriebssysteme von Mobiltelefonen: Komm., Fn. 13, Rn. 31, 33.
  50. Jakobs, Standardsetzung im Lichte der europäischen Wettbewerbsregeln, Wirtschaftsrecht und Wirtschaftspolitik Bd. 259, Baden-Baden 2012, 82.
  51. EuGH Rs. 85/76, Slg. 1979, 461– Hoffmann-La Roche/Kommission, Rn. 38.
  52. Keine Marktmacht per se: EuGH v. 6.4.1995, Slg. 1995-I-743 – Magill, Rn. 46; Schommer, Die „essential facility“- Doktrin im Europäischen Wettbewerbsrecht, Münchner Juristische Beiträge Bd. 38, München 2003, 210.
  53. Monopolmacht bejahend: Conde Gallego, GRUR Int. 2006, 22.
  54. Komm.: keine Marktmacht bei weniger als 40 %; EuGH: Marktmacht bei 75 %, EuG 70 %; zwischen 25% und 70% nachzuweisen, Übersicht: Holzmüller, Einseitige Wettbewerbsbeschränkungen als Regelungsproblem des internationalen Kartellrechts, Münchner Schriften zum Europäischen und Internationalen Kartellrecht Bd. 21, Bern 2009, 182; Picht, 440.
  55. Ullrich, GRUR 2007, 827; Weiß, Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Kommentar, 4. Aufl., München 2011, Art. 102 AEUV, Rn. 14.
  56. Etwa: Picht, 440.
  57. Burghartz, 205.
  58. EuGH v. 6.4.1995, Slg. 1995-I-743 – Magill, Rn. 47; etwas unklar getrennt: BGH, GRUR 2004, 966 (968); Berücksichtigung von Marktverhalten, Dynamik, Standardnutzung trotz Substituierbarkeit, Marktdynamik, Picht, 442 ff.; Maaßen, Normung, Standardisierung und Immaterialgüterrechte, KWI Bd. 13, München 2006, Rn. 547 ff.
  59. Farrell/Klemperer, Coordination und Lock-in: Competition with Switching Costs und Network Effects, in: Armstrong,/Porter, Handbook of Industrial Organization, Handbooks in Economics Bd. 3, 3. Aufl., Oxford 2007, 1967-2072, 1967; sog. log-in Effekte, etwa Maaßen, Rn. 229.
  60. Knott, Apple Pay nach 72 Stunden: Millionen Fans in den USA, Alibaba inklusive. Trotz prominentem Widerstand, http://www.netzwelt.de/news/149631-apple-pay-72-stunden-millionen-fans-usa-alibaba-inklusive.html, (abgerufen am 2.11.2014)1.
  61. Heinemann, Immaterialgüterrechte in der Wettbewerbsordnung, Jus Privatum. Beiträge zum Privatrecht Bd. 65, Tübingen 2002, 63.
  62. http://www.justice.gov/opa/pr/statement-department-justice-s-antitrust-division-its-decision-close-its-investigations (abgerufen: 22.10.2014).
  63. Genau darauf baut das Prinzip von Privateers auf, da sie einen Standard wie Wlan nicht blockieren wollen, wohl aber Tantiemen durch Verletzungsverfahren erhalten: Crane, Tex. L. R. 2009, 286.
  64. Weck, NJOZ 2009, 1187.
  65. Picht, GRUR 2014, 17.
  66. Swift & Co. v. US, 196 US 375; Spectrum Sports Inc. v. McQuillan, 506 US 447, 456 (1993); gegen Ausweitung des Kartellrechts: Kobayashi/Wright, J. Com. L. & Ec. 2009, 516.
  67. Bjorkman, Pug. L. R. 1982, 290; American Bar Association, Anti. L. J. 1980, 1197.
  68. Petritsi, World Com. 2005, 34 ff.
  69. Geradin/Rato, ECJ 2007, 160.
  70. Staniszewski, JIPLP 2007, 676; berufend: EuGH, v. 6.10.1988, Rs. C-238/87 – AB Volvo v Erik Venk UK Ltd, Rn. 8.
  71. Fischmann, GRUR Int. 2010, 192.
  72. Loest/Bartlik, ZWeR 2008, 52.
  73. Dreher, ZWeR 2008, 288, 290.
  74. Brakhahn, Manipulation eines Standardisierungsverfahrens durch Patenthinterhalt und Lockvogeltaktik, Europäische Hochschulschriften, Reihe 2: Rechtswissenschaft Bd. 5560, Frankfurt/Main 2014 , 172; dagegen: Picht, 480.
  75. Die Unternehmen; der Pool selbst, sofern als juristische Person organisiert; Komm. Fn. 6, Rn. 244.
  76. Pitz, Patentverletzungsverfahren. Grundlagen – Praxis – Strategie, 2. Aufl., München 2010, Rn. 236.
  77. BGH v. 06.05.2009 – KZR 39/06, Rn. 26; zum damaligen Streitstand: Rn. 24 und 25.
  78. BGH GRUR 2004, 967 – Standard- Spundfass.
  79. Gastner, Schröter/Thinman/Mederer, Kommentar, 2. Auf., Baden-Baden, 2014, Art. 101 AEUV, Rn. 1021 (zit. NK-).
  80. LG Düsseldorf, GRUR Int. 2013, 552.
  81. Barthelmeß/Gaus, WuW 2010, 633.
  82. Heyer, GRUR Int. 2011, 214.
  83. Schnelle, GRUR- Prax. 2010, 170.
  84. Rambus: Komm., Pressemitteilung v. 9.12.2009, IP/09/1897; vgl.: Klees, EuZW 2010, 161.
  85. Dorsey, Col. Sc. & Tech. L. R. 2013, 129; Scott Miller, Ind. L. R. 2007, 366 f.
  86. Weiß, Callies/Ruffert, Art. 101 AEUV, Rn. 47.
  87. Lettl, Kartellrecht, 3. Aufl., München 2013, § 2 Rn. 22.
  88. Komm., Fn. 17, Rn. 25.
  89. Komm., Fn. 6, Rn. 246.
  90. EuGH, Rs. 5/69 – Völk, Rn. 7; Angleichung von Spürbarkeit und marktbeherrschender Stellung, Aicher/Schuhmacher u.a., Grabitz/Hilf, Art. 81 EGV, Rn. 514.
  91. Zimmer, Fn. 36, Art. 101 AEUV, Rn. 217.
  92. Durch Setzung von Leitlinien etwa, Freistellung selbst erfolgt nicht durch Einzelfallentscheidung, Chiao/Lerner/Tirole, Rand J. Ec. 2007, 907 ff.
  93. Picht, 127.
  94. Komm., Pressemitteilung v. 12.12.2005, IP/05/1565.
  95. Komm., Fn. 6, Rn. 247; Erwäg. 7, VO 316/2014.
  96. Komm., Fn. 6, Rn. 245 ff.; Pfaff/Osterrieth, Rn. 214.
  97. Farrell/Hayes/Shapiro/Sullivan, Anti. L. J. 2007, 614.
  98. Komm., Fn. 6, Rn. 57; Frenz, EuZW 2014, 534.
  99. Komm. EuZW 2014, 284; Besen/Slobodenjuk, GRUR 2014, 741; gefordert: Heyers, GRUR Int. 2011, 222.
  100. Komm., Fn. 6, Rn. 261 b.
  101. Komm,. Fn. 6, Rn. 252.
  102. Komm., Fn. 6, Rn. 262; weniger deutlich: Komm. Leitlinien zu Technologietransfer- Vereinbarungen, C(2013) 924 draft, Rn. 245: „nichtwesentliche“.
  103. Komm., Fn. 6, Rn. 261.
  104. Dorn, 107 ff.
  105. Safe Harbour, auch bei Lizenzen, Müller/Henke, GRUR 2014, 663 f.
  106. Fröhlich, GRUR 2008, 216.
  107. Kriegel, Wash. U. L. R. 2006, 223.
  108. Komm., Fn. 6, Rn. 265, 258.
  109. Einfluss notwendig: Stadheim, Alb. L. J. Sc. & Tech. 2009, 485.
  110. Etwa ECMA, Übersicht: Brakhahn, 112.
  111. Maaßen, 705.
  112. Staniszewski, JIPLP 2007, 670; Blind/Pohlmann, GRUR 2014, 715.
  113. Tsilas, Hav. J. L. & Tech. 2004, 500.
  114. Früh, 236.
  115. Hirsbrunner/Rating, NK- Art. 3 FKVO, Rn. 8.
  116. Umsatzschwellen i.S.v. Art. 1 II FKVO dürften erreicht sein, damit ist FKVO vor §§ 37 ff. GWB anwendbar.
  117. Unterschiede wegen Abweichungen in Mitgliedsstaaten, vgl. Hirsbrunner/Rating, NK- Art. 3 FKVO, Rn. 1.
  118. Jaglarz, Die fusionskontrollrechtliche Behandlung von Immaterialgüterrechtsakquisitionen im US-amerikanischen, europäischen und deutschen Recht, Osnabrücker Schriften zum Wirtschafts- und Unternehmensrecht Bd. 16, Frankfurt 2012, 209.
  119. Quark, Vermögenserwerb als Zusammenschlusstatbestand in der Fusionskontrollverordnung des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 21. Dezember 1989, in: Loewenheim/Raiser (Hg.), Festschrift für Fritz Traub, Frankfurt 1994, 321-330, 323.
  120. Art. 3 RL 90/435/EWG.
  121. http://www.heise.de/mac-and-i/meldung/Apple-erwirbt-ueber-1000-Patente-von-Rockstar-Patentgemeinschaft-1751292.html (abgerufen: 24.11.2014).
  122. Komm., Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen, 2009/C 43/09, Rn. 31.
  123. Henschen, NK- Art. 3 FKVO, Rn. 963 f.
  124. Erwerb des Vollrechts nach Art. 3 II a) 1. Alt. FKVO.
  125. Art. 3 II lit. a 2. Alt. FKVO, als Exklusivlizenzen: Strohmayr, GRUR 2010, 584.
  126. Komm., Bekanntmachung zum Zusammenschlussbegriff, 98/C 66/02, Rn. 11; Komm. nur bezüglich „Marken oder Lizenzen“, nicht abschließende Aufzählung, Komm., Fn. 123, Rn. 24.
  127. Hirsbrunner/Rating, NK- Art. 3 FKVO, Rn. 16.
  128. Henschen, Schulte, Fusionskontrolle, 2. Auflage 2009, Rn. 1045.
  129. Komm., EuZW 2014, 85; damit FKVO wegen Nichtexklusivlizenzen nicht auf Pools anwendbar, vgl. zur Freistellung: Komm., Fn. 6, Rn. 261 d).
  130. Komm., Fn. 123, Rn. 24.
  131. Henschen, Rn. 1046.
  132. Henschen, Rn. 1046.
  133. Sec. 7 Clayton Act; Jaglarz, 291.
  134. Jaglarz, 211 f.; damit wesentlicher Teil; Streit vgl.: Immenga/Körber, Fn. 36, Art. 3 FKVO, Rn. 51 m.w.N.; nicht: Heinemann, 523.
  135. Hacker, NK-Art. 2 FKVO, Rn. 8 f.
  136. Komm., Definition des relevanten Marktes, 97/C 372/03, Rn. 12.
  137. Keine Definition in FKVO: Rösler, NZG 2000, 762.
  138. Zwischen horizontalen, vertikalen und konglomeraten Zusammenschlüssen zu trennen; meist verbunden und gleiche Zielrichtung der Beurteilung post-merger, Ritter/Dreher/Kulka, 1414 ff.
  139. Komm., Fn. 13, Rn. 53.
  140. Komm., Fn. 13, Rn. 73.
  141. 26. Erwäg. FKVO; Montag/Kacholt, Dauses, Handbuch des EU- Wirtschaftsrechts. Band 1, München 2014, § 4 Rn. 73.
  142. 32. Erwäg. FKVO.
  143. Komm., Fn. 13, Rn. 110.
  144. S. B.II.1.c)aa).
  145. Zeise, Schulte, Fusionskontrolle, 2. Auflage 2009, Rn. 1348.
  146. Komm., Fn. 13, Rn. 111.
  147. Komm., EuZW 2012, 165.
  148. Montag/ v. Boning, Hirsch/Montag/Säcker (Hg.), Münchner Kommentar zum Europäischen und Deutschen Wettbewerbsrecht (Kartellrecht). Band 1: Europäisches Wettbewerbsrecht, München 2007, Art. 2 FKVO, Rn. 290 (zit. MüKo).
  149. Hacker, NK-Art. 2 FKVO, Rn. 201.
  150. Montag/ v. Boning, MüKo, Art. 2 FKVO, Rn. 296.
  151. Besonders: WiFi, LTE, UMTS, Komm., Fn. 13, Rn. 7, 62.
  152. S. C.II.2.b)aa).
  153. Etwa: Komm., Fn. 157, Rn. 261.
  154. Zeise, Rn. 1467.
  155. Komm., Fn. 157, Rn. 224 f.; 244 (Durchsetzung von SEPs nach der Fusion), 250 (möglicher Anstieg der Gebühren), 258, 261.
  156. Komm., Case No COMP/M.7047 – Microsoft/Nokia, Rn. 3 f.; d.h. kein Kontrollmittel; C.I.1.c).
  157. Komm., Fn. 157, Rn. 263.
  158. Zeise, Rn. 1468.
  159. http://www.justice.gov/opa/pr/statement-department-justice-s-antitrust-division-its-decision-close-its-investigations (abgerufen: 25.10.2014).
  160. Komm., Leitlinien horizontale Zusammenschlüsse, 2004/C 31/03, Rn. 89 ff.; trotz Lockerungen bestehend: Zeise, Rn. 1476.
  161. Komm., Mitteilung über zulässige Abhilfemaßnahmen, 2008/C 267/01, Rn. 15.
  162. EuG, Slg. 1999, II-753 – Gencor/Kommission, Rn. 319.
  163. Komm., Fn. 13, Rn. 9.
  164. Komm., Fn. 157, Rn. 244 ff.
  165. Camesasca/Langus/Neven/Treacy, J. Com. L. & Ec. 2013, 286.
  166. Komm., Fn. 13, Rn. 111.
  167. Werden, Consumer welfare and competition policy, in: Drexl/Kerber/Podszun (Hg.), Competition Policy and the Economic Approach, Cheltenham/Northampton 2011, 11-43, 17; international: „total welfare“, Evans, The consumer and competition policy: welfare, interest and engagement, in: Ezrachi (Hg.), Research Handbook on International Competition Law, Cheltenham/Northampton 2012, 545-564, 547 ff.
  168. Buss, The Impact of Technological Acquisitions to Innovation Quality, in: Audretsch/Lehman/Link (Hg.), Technology Transfer in a global Economy, Boston 2012, 143-184, 144; zurückhaltende Genehmigung bei Effizienzgewinn, Kokkoris, Merger control: substantive issues, in: Lianos/Geradin (Hg.), Handbook on European Competition Law, Cheltenham/Northampton 2013, 516-560, 559.
  169. Mackenrodt, IIC 2005, 116 f.
  170. Jarass, Kommentar, 2. Aufl., München 2013, Art. 16 GRCh, Rn. 1; vgl. Art. 2 I GG.
  171. Lamping, Innovationsförderung nach TRIPS, in: Hilty/Jeager/Lamping (Hg.), Herausforderung Innovation, MPI Studies on Intellectual Property and Competition Law Bd. 17, Heidelberg 2012, 119-143, 143.
Viewing all 178 articles
Browse latest View live