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Verfassungsrechtliches Sommergespräch mit Prof. Dr. Friedhelm Hufen

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Ausweitung von Grundrechtsbindungen und deren Auswirkung auf Freiheit und Rechtsdogmatik

stud. jur. Theresa Rath und stud. jur. Matthias Runge-Rannow

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An einem schönen Frühsommertag sind wir bei dem Verfassungsrechtler und Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Johannes-Gutenberg Universität Mainz, Prof. Dr. Friedhelm Hufen, in seinem Schwarzwälder Ferienhaus zu einem Interview eingeladen. Professor Hufen war als Verfahrensbevollmächtigter der Fraport AG am Verfahren des Bundesverfassungsgerichts über die Versammlungsfreiheit im Frankfurter Flughafen (1 BvR 699/06) beteiligt.

Bevor wir Herrn Hufens mit einer kompletten Zweitbibliothek und einem Klavier ausgestattetes Arbeitszimmer betreten, werden wir von einem riesigen, aber freundlichen Hirtenhund begrüßt und ein gleichfarbiger Kater streift uns um die Beine. Amüsiert über diese sympathische Ader eines der momentan bekanntesten deutschen Vertreter des öffentlichen Rechts begeben wir uns ins Interview:

Freilaw: Würden Sie noch mal kurz den Fraport-Fall aus Ihrer Sicht zusammenfassen?

Es geht um eine Beschwerdeführerin, die sich sehr gegen Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber engagiert und im Rahmen ihres Engagements Demonstrationen in den Terminals des Frankfurter Flughafens veranstaltet hat. Dort hat sie sich an Passagiere und Flugcrews gewandt und versucht, den Abflug von Maschinen mit Abschiebungskandidaten zu verhindern. Sie bat Passagiere, u. a. ihr Handy anzulassen bzw. ihre Koffer wieder herauszuverlangen. Außerdem hat sie Flugblätter verteilt, die über die Abschiebepraxis aus ihrer Sicht aufklären sollten.

Daraufhin hat ihr die Fraport AG ein Hausverbot erteilt, das von den insofern zuständigen Zivilgerichten bis hinauf zum BGH bestätigt wurde. Dagegen richtete sich ihre Verfassungsbeschwerde, die zu einem der grundrechtsdogmatisch interessantesten „Schulfälle“ der vergangenen Jahre geführt hat. Ich habe schon in der mündlichen Verhandlung gesagt, dass wir je nach Ausgang des Verfahrens unsere Grundrechte-Lehrbücher umschreiben müssen.

Verfassungsrechtlich galt es, drei Probleme zu klären:

1. Ist eine private AG, an der die öffentliche Hand zu mehr als 50% beteiligt ist, unmittelbar an die Grundrechte gebunden?

2. Gelten die Grundrechte auch in Bereichen, die überhaupt in privater Hand liegen, aber auf denen öffentlicher Verkehr stattfindet – sozusagen ein neuer „örtlicher Schutzbereich“?

3. Wenn 1. oder 2. bejaht wird, welches Schrankenregime gilt?

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 22. Februar 2011 die unmittelbare Grundrechtsgeltung von gemischtwirtschaftlichen Unternehmen bejaht, welche privatrechtlich organisiert sind und von der öffentlichen Hand beherrscht werden.

Offen blieb dagegen die Eröffnung des Schutzbereichs von Grundrechten, wenn es sich zwar um einen öffentlich begehbaren Raum (z.B. ein privates Einkaufszentrum) handelt. Das Gericht ließ aber erkennen, dass die Öffnung für den kommerziellen oder kulturellen Gemeingebrauch auch hier zumindest mittelbare Bindungen an die Grundrechte schafft.

Schrankenrechtlich gilt im Hinblick auf die Versammlungsfreiheit im allgemein zugänglichen Bereich des Terminals das gleiche Regime wie unter freiem Himmel, allerdings betont das BVerfG die Möglichkeit weitergehender Einschränkung, welche sich durch die besondere Störanfälligkeit des Flughafens rechtfertigt. Rechtliche Grundlage ist hier nicht – wie man erwarten könnte – das Versammlungsgesetz, sondern das Hausrecht, das auch als „allgemeines Gesetz“ i. S. von Art. 5 Abs. 2 GG angesehen wird.

Freilaw: Wie ist Ihre Ansicht zu dem Urteil?

Grundsätzlich ist es natürlich zu begrüßen, dass das BVerfG den Schutzbereich der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit sehr weit interpretiert. Bedenken habe ich aber insofern, als das Gericht zum einen nicht an die privaten Anteilseigner und auch nicht daran gedacht hat, dass es sich bei der Fraport AG um ein zwar zu 51% im Eigentum des Landes Hessen und der Stadt Frankfurt befindliches, aber sonst als ganz normales privatwirtschaftlich agierendes und in hartem Wettbewerb stehendes Unternehmen handelt. Hauptzweck des Terminals sind eben nicht Kommunikation und Kommerz, sondern nach wie vor der reibungslose und sichere Flugverkehr. Auch habe ich den Eindruck, dass das BVerfG solche Grundrechte bevorzugt, die auf Politik ausgerichtet sind. Was ist aber mit der religiösen Gruppe, die im Terminal eine Andacht abhalten will, mit dem Straßenkünstler, der hier seine Kunstfreiheit ausüben will, nicht zuletzt aber auch mit dem Passagier, der ungestört seine Persönlichkeit auf Mallorca entfalten will und dessen Leben und körperliche Unversehrtheit tunlichst durch Störfälle und unkontrollierbare Menschenansammlungen im Flughafen nicht gefährdet werden sollte? Man kann zwar öffentliche Räume nicht von allen Grundrechten abschirmen, aber ein Flughafen-Terminal oder auch eine Bahnhofshalle oder öffentliche Sparkasse sind eben etwas ganz anderes als eine Straße im Innenstadtbereich – auch wenn er für Fluggäste und auch für „Shopper“ und andere Besucher frei zugänglich ist.

Auch der öffentlich zugängliche Terminal ist – wie zahlreiche Flughafen-Anschläge der Vergangenheit beweisen – besonders gefährdet und daher einem nationalen und europarechtlichen Sicherheitsregime unterworfen. Daher bin ich auch froh, dass das BVerfG der Fraport AG die Möglichkeit geschaffen hat, ziemlich genau die gleichen Schranken wieder einzuziehen wie zuvor.

Freilaw: Wir sind jetzt beim Begriff des öffentlichen Forums angekommen. Die Gegenseite hat ja eine sehr lange Liste vorgelesen, warum es sich bei dem Flughafen eben genau um ein öffentliches Forum handelt, etwa die Werbesprüche „City in the City“ oder „Wir freuen uns auf Ihren Besuch im neuen Marktplatz“. Sind Sie denn der Meinung, dass es sich nicht um ein öffentliches Forum handelt?

Da wird man unterscheiden müssen. Es gibt tatsächlich sehr kommerzielle Bereiche in dem Flughafen. Aber in allen anderen Bereichen ist die Primärfunktion doch die eines Flughafens. Es ist auch immer eine Frage des Zugangs. Und ehrlich gesagt setzt niemand sich ins Auto, um ein Hemd im Fraport zu kaufen. Da bleibt man in der Innenstadt. Trotzdem hat die lange Liste der Sonderveranstaltungen natürlich Eindruck gemacht.

 Freilaw: Würden Sie sagen, dass der Fraport sich den Statistiken zum Trotz selbst zu einem öffentlichen Forum macht, wodurch er auch die Konsequenzen in Kauf nehmen müsste?

 Sagen wir es mal so: Die Werbeabteilung der Fraport AG und die Betriebswirte sehen natürlich sehr gerne, dass da viel Rummel ist und viel eingekauft wird. Die machen auch gerne irgendeine Veranstaltung, also Public Viewing oder dergleichen. Aber diejenigen, die für die Sicherheit zuständig sind, sehen das nur sehr ungern. Ein öffentliches Forum ist immer schön und gut, aber es gibt keines, wo man sieben Bombenalarme durch stehen gebliebene „uniedentified objects“ am Tag hat. Das ist beim Fraport täglich so und dann läuft immer ein genau definiertes Sicherheits-Procedere ab. Da werden ganze Bereiche abgesperrt, Lautsprecherdurchsagen müssen zuverlässig verstanden werden, Ströme nervöser Menschen müssen gelenkt und umgelenkt werden. Die Ursache ist zwar Gott sei Dank meistens harmlos; es kann aber auch rasch tödlicher Ernst daraus werden

Freilaw: Es entsteht ansonsten so ein bisschen der Eindruck, dass man einfach eine unbeschwerte Konsumatmosphäre schaffen will, so nach dem Motto: Einkaufen ja, aber Meinungskundgabe nein.

Das kann ich wirklich verneinen. Es ging hier nicht um den Kommerzschutz. Die Wirtschaftsunternehmen, die dort sind, sind der Fraport AG zwar lieb und (buchstäblich) teuer, aber in Bezug auf die Abwehr von Meinungskundgaben standen eindeutig die Sicherheit und die Betriebsfähigkeit im Vordergrund.

Freilaw: Sicherheitssensibilität ist ja eines der zentralen Verhandlungswörter gewesen. Ist denn für Sie jetzt der Fraport unsicher, wenn ein paar vereinzelte Demonstranten gegen Abschiebung demonstrieren?

Nein, ich würde nicht sagen, dass es dort unsicher geworden ist. Zumal man, wenn man das Urteil genau liest, erkennt, dass den Sicherheitsdiensten durchaus Möglichkeiten verblieben sind, das zu steuern. Die Lage kann aber sehr schnell eskalieren, wenn es dort Demonstrationen mit Gegendemonstrationen gibt. Es ist in einem Flughafengebäude nicht so wie im Straßenraum, dass dort erst wirklich einiges passieren muss, bevor eine konkrete Gefahr entsteht. In einem Flughafen kann schon eine konkrete Gefahr entstehen, wenn man zum Beispiel Lautsprecherdurchsagen nicht mehr hören kann. Ein Flughafen ist außerdem ein Raum, in den Menschen trichterförmig hineinkommen. Der Strom verengt sich immer mehr. Es wird brisant ab der ersten Sicherheitskontrolle. Da stehen dann Schlangen von Menschen und die Nervosität steigert sich. Es handelt sich nicht um einen Marktplatz wie in einer Innenstadt. In der Innenstadt bummle ich. In einem Flughafen bummle ich nur dann, wenn mein Flieger nicht da ist. Es geht auch niemand zum Bummeln in den Flughafen.

Freilaw: Wenn man aus diesem Urteil eine Bilanz ziehen wollte, würden Sie sagen, dass die Freiheit des Einzelnen eher wächst oder eher schrumpft?

Das ist eine sehr schwierige Frage. Auf den ersten Blick sieht es danach aus, als ob sie wüchse. Als kämpfende Anti-Abschiebungs-Aktivistin mit guter rechtlicher Vertretung hat man dann einen Aktionsbereich mehr. Aber man hat auch andere Aktivisten, die die eigene Freiheit wieder einschränken. Und wie überall, wo zu viele Leute von Freiheiten Gebrauch machen, schränken sie selbst die Freiheiten wieder ein. Der an sich vorhandene Freiheitsraum wird ja nicht größer. Die Passagierzahlen steigen, das Sicherheitsbedürfnis steigt, Terroristen nehmen sich gerne Flughäfen vor. Flughäfen sind gerade wegen der unterschiedlichen Ansprüche besonders brisant. Im Endergebnis steigert sich der Freiheitsraum, fürchte ich, leider nicht.

Freilaw: Was wäre denn mit Flughäfen, die ausschließlich in privater Hand stehen?

Man eröffnet dort ebenfalls ein öffentliches Forum. Einkaufszentren dagegen sind rein privat. Ich sage voraus, dass die nächsten Fälle, die wir bekommen werden, sich in Einkaufszentren abspielen werden. Ich sage auch voraus, dass man auch hier sagen wird, dass ein öffentliches Forum eröffnet ist, dass die Rechtsform keine Rolle spielt und damit der Schutzbereich eröffnet ist. Die Linie wird sich nicht mehr verändern. Wir haben daher insgesamt – entschuldigen Sie das schreckliche Wort, aber alles andere ist missverständlich – eine „Veröffentlichrechtlichung“ des deutschen Rechts, die Grundrechtsdogmatiker werden mehr Arbeit bekommen, sehr zum Leidwesen der Privatrechtler.

Problematisch wird dabei auch die Unschärfe des Begriffs „öffentliches Forum“:

Ein Einkaufszentrum ist wohl eher ein öffentliches Forum, aber was ist z.B. mit medizinischen Versorgungseinrichtungen. Die Eingangshalle jeder Uniklinik gleicht heute schon einem Einkaufszentrum. Überall kann man Geschenke kaufen. Als Grundrechtsfan kann ich das nur begrüßen, aber wenn ich darüber nachdenke, dass da oben auch Kranke liegen, dann muss man schon über die Schranken nachdenken. Die Grenze von öffentlichem Recht und Privatrecht und das 200 Jahre alte öffentliche Sachenrecht mit den wohldurchdachten Begriffen – Anstaltsgebrauch, Gemeingebrauch, Verwaltungsgebrauch – löst sich unter der Strahlkraft dieser neuen Verfassungsrechtsprechung auf. Man bekommt eine ganz seltsame Gemengelage. Außerdem werden immer mehr gesellschaftliche und politische Konflikte letztlich auf die Verfassungsgerichtsbarkeit verlagert.

Freilaw: Wie beurteilen Sie es generell, wenn der Staat zu Lasten der Privatautonomie einen größeren Grundrechtsschutz schafft? Namentlich sind AGG und Frauenquote zu nennen.

Grundsätzlich finde ich es sehr gut, wenn der Staat die Sozialbindung auch gegenüber Privaten einsetzt. Ich bin nicht der Auffassung, dass es zum Selbstverständnis einer privat organisierten Gesellschaft gehört, dass diskriminiert werden darf. Aber auch da muss man wieder wissen, dass der gesamte Freiheitsspielraum sich nicht vermehrt. Eine Einschränkung der Privatautonomie bedeutet gleichzeitig immer Freiheitsverlust. Zum Beispiel der Hauseigentümer, der sein Haus nicht mehr vermieten kann, verliert an Freiheit. Oder auch im Bereich des Nachbarschaftsrechts: Artikel 14 GG und die Meinungsfreiheit sind prima, aber auch auf beiden Seiten gibt es Freiheitsrechte. Es entstehen so auch immer mehr Schranken. Und je weiter wir die Freiheitsspielräume in den privaten Bereich hinein eröffnen, desto mehr Anwendungsbereiche der Abwägung oder der Notwendigkeit zur „praktischen Konkordanz“ konfligierender Grundrechte werden wird haben.

Freilaw: Wir hätten eine Frage, die so direkt nichts mit dem Thema zu tun hat. Und zwar geht es um Fukushima. Glauben Sie, dass in diesem Bereich die Schutzpflicht des Staates so überragend ist, dass eine fortschreitende Beschneidung von Eigentumsrechten angemessen wäre?

Mir wäre lieber, man ließe das Extrembeispiel Fukushima beiseite. Aber auch ganz allgemein gibt es Probleme im Bereich von Zukunftstechnologien und Risikovorsorge. Auch da bedeutet die Konstruktion der staatlichen Schutzpflicht eine Verengung von Freiheitsspielräumen und neue Grundrechtsschranken. Das ist eine der grundsätzlichen Gefahren für die privaten Freiheitsspielräume, der Kunst, des Berufs. Die Berufsfreiheit halte ich an sich für ein sehr wichtiges Grundrecht, das jetzt sehr stark eingeschränkt wird. Die Idee der allgemeinen Handlungsfreiheit ist, dass man sich so bewegen kann, wie man will, es sei denn, man schadet damit jemand anderem. Heute hat man die Freiheit, sich zu bewegen, es sei denn, man kommt dabei in einen Bereich, der von irgendjemandem als risikoreich bewertet wird. Wenn irgendeine neue Technologie auf den Markt kommt, liegt die Beweislast nicht etwa beim Staat, der beweisen muss, dass es gefährlich ist, sondern im Gegenteil muss der Erfinder beweisen, dass es ungefährlich ist. Besonders kompliziert wird es bei ethisch umstrittenen Fragen, bei denen die Dammbruchmentalität längst Einzug in die Grundrechtsdogmatik gehalten hat. Die Gentechnik, die PID und die Stammzellforschung sind gute Beispiele dafür. Das BVerfG hat hier z. B. Regelungen passieren lassen, die die grüne Gentechnik aus Deutschland verbannen, ohne zu fragen, welche Chancen sie beinhaltet oder nach Arten der Anwendungsbereiche zu differenzieren. Salopp gesagt: Es ist etwas völlig anderes, ob man eine Kuh mit Sojamehl füttert, dessen Saatgut gentechnisch verändert worden ist, oder ob man eine gentechnisch veränderte Kuh hat. Danach wird gar nicht mehr gefragt, sondern es wird sofort gesagt, wenn jemand in die Lebensgrundlagen eingreift, muss der Staat die Schutzpflicht enger fassen. Insofern sind Schutzpflichten sehr wichtig, aber auch sehr gefährlich.

Freilaw: Sind auf dem Boden der mittelbaren Drittwirkung menschenunwürdige Arbeitsverhältnisse im Ausland zulässig? Endet die Menschenwürde an Deutschlands Grenzen?

Der Gesetzgeber kann natürlich deutsche Arbeitgeber daran hindern, menschenunwürdige Arbeitsbedingungen zu schaffen. Auch international ist die Menschenwürde natürlich uneinschränkbar. Das Problem ist aber, dass unter Menschenwürde weltweit nicht dasselbe verstanden wird. Wir können nur unseren deutschen Unternehmern vorschreiben wie sie sich verhalten müssen, aber das können wir nicht den Chinesen genauso vorschreiben. Eine weltweite Geltung unserer Vorstellung von Menschenwürde wäre natürlich wünschenswert, aber man muss auch sehen, dass auch die Menschenwürde von kulturellen Vorgaben abhängt. Wenn man über ein gewisses Minimum hinaus überall die Menschenwürde einfordert, dann kann es sein, dass man die Menschenwürde letztlich hier sehr gut durchhält, aber dass man darüber hinaus keinen Kontakt mehr zu den anderen Ländern hat. Besondere Bedingungen herrschen natürlich, wenn es z.B. um Kriegswaffen geht.

Freilaw: Herzlichen Dank für das Interview.

 

Zur Autorin / Zum Autor: Das Interview wurde geführt von Theresa Rath und Matthias Runge-Rannow. Beide studieren Rechtswissenschaft an der  Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.



 

 

 

 


Der Cyberterrorismus

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stud. jur. Marc Fabian Hafner

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Die Computerkriminalität gehört zu den jungen und ansteigenden Zweigen in den Kriminalstatistiken des BKA. Dabei ist die Zahl der Erscheinungsformen unübersichtlich, vielfältig und beflügelt teilweise die Phantasie, welche Rolle die Computerkriminalität über die nächsten Jahre annehmen und wann auch Staaten und Organisationen diese für sich entdecken werden – soweit nicht bereits geschehen.

I. Einleitung

In den Medien trifft man daher immer häufiger auf die Begriffe „Cyberkrieg“, oder „Cyberterrorismus“, von denen der erste juristisch gesehen schlicht falsch wäre 1 und der zweite in gleicher Bandbreite kritisiert werden könnte wie es der bis heute undefinierbare Terrorismus-Begriff für sich genommen schon verdient. 2 Gibt es also überhaupt so etwas wie „Cyberterrorismus“, und wenn ja, wie äußert er sich und wie soll er sich von den bereits bekannten terroristischen Aktivitäten unterscheiden?

II. Strafrechtliche Relevanz

Pragmatisch als Fortsetzung bereits bekannter krimineller Muster mit anderen Mitteln erkennt der Gesetzgeber die informationstechnische Entwicklung, wenn er Straftatbestände als z.B. Computerbetrug oder Computersabotage bezeichnet. Denn terroristische Aktivitäten existieren strafrechtlich nicht. Vielmehr werden mit dem Ziel der ein Exempel statuierenden und meist systemfeindlichen Botschaft andere Straftatbestände erfüllt. Bislang waren dies überwiegend Entführungsdelikte, Sachbeschädigung sowie Straftaten gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit. Zur Begehung dieser Delikte kann das Internet heute zwar koordinierende Hilfe leisten, dies verleiht der Tat jedoch keinen zusätzlichen Unrechtsgehalt.

III. Neue Problemfelder

Die kriminologische Neuerung des Internets liegt vielmehr in der Vereinfachung von Spionage und Sabotage, also in der verschleierten Ermittlung und Störung militärischer, politischer oder wirtschaftlicher Prozesse. Sehr anschaulich beschreibt das Sandro Gaycken, Sicherheitsforscher an der FU Berlin:

„So liegt die Fehlerquote kommerzieller Software zwischen 1,5 und 5 Prozent, was bei einem Code von einer Million Zeilen bis zu 50.000 Einbruchstellen ins Programm bedeutet.“ 3 Nutzt man diese durch ein neu erstelltes Programm, bieten auch Virenscanner als Gedächtniszelle des Computers keinen Schutz.

Informationsgewinnung und –manipulation werden damit erheblich leichter, zumal immer mehr Strukturen über das Internet verwaltet werden.

Besonders große Angst geht von der Vorstellung aus, über das Internet ABC-Anlagen zu sabotieren oder die Steuerungshoheit über Waffensysteme des Gegners zu erhalten. Dies ist fast nur durch Infektion des Intranets der jeweiligen Anlage möglich, was wiederum ein räumliches Eindringen verlangt. Weiter ist hierfür ein kaum vorstellbares Maß an Expertise, Simulationsmöglichkeiten und Geldmittel notwendig. Auch beim Paradebeispiel Stuxnet deutet alles auf eine staatliche Operation mit einem 7-stelligen Budget hin. 4 Wenn aber ganze Staaten ohne Kriegsszenario anonyme wie auch hocheffektive Industriesabotage mit vielleicht dramatischen Folgen umsetzten, wären die Begriffe „Krieg“ als auch „Terrorismus“ falsch gewählt und würden ein weiteres Mal die Frage aufwerfen, ob juristische Begrifflichkeiten der technischen Entwicklung nicht weit hinterherhinken.

Neben dem Stuxnet-Wurm können sich die Propheten neuer Zeitrechnungen vor allem an den Mitarbeitern von Wikileaks, die die Gefahren der Spionage durch die Veröffentlichungen regierungsinterner Daten, sowie an Sympathisanten von Wikileaks, die Gefahren der Sabotage durch das Blockieren der Netzauftritte überwiegend US-Amerikanischer Firmen und Politiker veranschaulicht haben, erfreuen.

IV. Reaktionen und Folgen

Dienstblockaden wie jene durch Wikileaks-Sympathisanten am 07. Dezember 2010 werden Denial of Service (DoS) – Attacken genannt und sind durch die Erweiterung des § 303b Abs. I StGB seit 2007 strafbar 5, während sie zuvor als nicht strafbewehrte Online-Demonstrationen galten 6.

Damit reagiert der Gesetzgeber – nicht unkritisiert – auf die zunehmende Dimension der mit dieser Methode erreichten Schäden, bei der weder Sachen noch Personen gefährdet sind. Die Gefahr liegt in rein wirtschaftlichen Schäden.

Weiter wurde im April 2011 aufgrund dieser Problematik das mit zehn Spezialisten leider schwach besetzte 7 Nationale Cyber-Abwehrzentrum in Bonn eingesetzt, dessen Erfolg abzuwarten bleibt. Auch wurde in den Vereinigten Staaten 2009 über eine eventuelle „Cybernotstandsregelung“ debattiert. 8

Durch die mögliche Anonymität im Netz ist eine Aufklärung des oder der Täter oftmals nur über die Frage möglich, wer von der Tat hätte profitieren können (Cui bono). 9 Gleichzeitig ist die Zahl der Profiteure von Wirtschaftssabotage und Wirtschaftsspionage weit höher als bei terroristischen Attentaten. Werden aber Angriffe über IP- Adressen aus Russland, China oder dem Iran gesteuert, glaubt man das Rätsel schnell gelöst. Von diesen Rückschlüssen können Hacker profitieren: Nach Angaben der Nachrichtenagentur Xinhua hatte man sich 2010 durch Trojanern über 100.000 chinesische IP Adressen vom Ausland aus zueigen gemacht. 10 Würden wir diese Schädigungsform also mit dem Vorwurf des Terrorismus begegnen, bestätigten sich strategisch bedingt binnen kurzer Zeit auch unsere in diesem Kontext geschaffenen Feindbilder.

V. Fazit

Die Entwicklungen in der Computerkriminalität können also schwerlich unter der Vorstellung von Terrorismus als solche, noch schwerer unter der von uns in den letzten zehn Jahren geprägten Vorstellung von diesem Begriff gefasst werden:

Anonyme Akteure von der Größenordnung des Einzeltäters bis hin zum Staatenverbund können vom Geldtransfer bis hin zur Lahmlegung ganzer Industriezweige beliebige Ziele unter der Legung einer beliebigen Fährte für die Ermittler verfolgen. Der Glauben an die Identität von offiziellem und wahrem Täter würde dadurch weit erheblicher erschüttert, als es die eine oder andere Verschwörungstheorie zu leisten vermag und der Vorwurf des Terrorismus würde zur politischen Alltagswaffe im Sinne des Hexereivorwurfs. Zudem ist der Begriff des Terrorismus heute so eng mit bestimmten Nationen, Religionen und Motiven verbunden, dass er der Komplexität des Problems nicht gerecht werden könnte.

Sprechen die Medien also von „Cyberterrorismus“, bedienen sie sich ausnahmsweise (und vermutlich entgegen eigener Annahme) keines Asianismus, da erst die Zukunft aufweisen wird, ob ihr Wortgebrauch als herauf- oder herunterspielen des wahren Gefahrenpotentials gesehen werden konnte. In jedem Fall aber lässt sich von dem Begriff nur abraten.

Zum Autor: Marc Hafner war Student der Rechtswissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg und studiert jetzt an der Ludwigs-Maximilians-Universität in München.


Fußnoten:

  1. Interview mit Katharina Ziolkowski, http://www.sueddeutsche.de/politik/cyber-sicherheit-die-netzwerke-der-nato-werden-staendig-angegriffen-1.1061631
  2. Cilingir, Derya, Der Terrorist als Kronzeuge, Freilaw 01/2011: http://www.freilaw.de/journal/de/ausgabe_17/17_Cilingir_Kronzeugenregelung.html ; Dolfen, Jens, Die Vereinten Nationen und das Problem der Terrorismusdefinition, S.3 f.
  3. Gaycken, Sandro, Der Krieg im Netz, Agora42, Ausgabe 06/2010, S. 31.
  4. Gaycken, Sandro, Wer war’s? Und wozu?, Zeit Online am 26.11.2010: http://www.zeit.de/2010/48/Computerwurm-Stuxnet?page=all
  5. BT-Drs. 16/3656, S. 13.
  6. BT-Drs. 16/5449, S. 6; Beschluss des OLG Frankfurt a.M.: MMR 2006, S.547.
  7. Krempl, Stefan, Kritik am geplanten Cyber-Abwehrzentrum, heise-online am 24.02.2011: http://www.heise.de/newsticker/meldung/Kritik-am-geplanten-Cyber-Abwehrzentrum-1196787.html
  8. „Cyberemergency“, Senate of the United States, 111th Congress, 1st Session, Bill 773, Page 41 et seqq.
  9. Gaycken, Sandro, Der Krieg im Netz, Agora42, Ausgabe 06/2010, S. 32.
  10. http://news.xinhuanet.com/english2010/china/2010-11/30/c_13629220.htm

Immunität bei Staatsoberhäuptern

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stud. jur. Teresa Schad 

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Die Verhaftung des chilenischen Ex-Diktators Augusto Pinochet Ugarte im Oktober 1998 in London hat in aller Welt große Aufmerksamkeit erregt. Der Fall vor dem britischen House of Lords sorgte deshalb für Furore, weil in diesem Zusammenhang zum ersten Mal darüber entschieden wurde, ob ein ehemaliges Staatsoberhaupt sich vor einem nationalen Gericht eines anderen Staates strafrechtlich für Menschenrechtsverletzungen zu verantworten habe oder ob sich Pinochet auf diplomatische Immunität, auf Immunität als ehemaliges Staatsoberhaupt oder auf Staatenimmunität berufen könne, und sich somit seiner Verantwortlichkeit vor Gericht entziehen könnte.

I. Einleitung

Das Völkerrecht verbindet mit verschiedenen Amtshandlungen und mit der Person verschiedener Amtsträger die Immunität vor ausländischer Gerichtsbarkeit, insbesondere auch vor Strafgerichtsbarkeit. Das Immunität genießende Rechtssubjekt oder -objekt einer fremden Hoheitsmacht bleibt damit der nationalen Gerichtsbarkeit eines dritten Staates entzogen.
Dieser Immunitätsschutz ist für das Völkerstrafrecht wegen der bei Völkerverbrechen typischen Staatsbeteiligung von besonderer Bedeutung. 1

Anlässlich des erwähnten Verfahrens gegen Pinochet wurden einige im Völkerrecht wohl bekannte Fragen in Bezug auf die völkerrechtliche Immunität im Allgemeinen und ihre Grenzen im Besonderen neu diskutiert. Sie sollen auch Gegenstand dieser Arbeit sein.

Es wird näher zu beleuchten sein, inwieweit Immunität vertraglich geregelt ist bzw. welche Bedeutung das Fehlen konkreter Vertragsbestimmungen hat. Weiter wird darauf eingegangen werden, wie sich der Schutzumfang der Immunität von amtierenden und ehemaligen Staatsorganen darstellt.

Der Fokus der Arbeit liegt besonders auf den Grenzen der Staatenimmunität, wobei vor allem der Schutz von Staatsoberhäuptern detailliert beleuchtet werden soll. In diesem Zusammenhang wird auch näher darauf einzugehen sein, in welche Richtung sich die wissenschaftliche Diskussion diesbezüglich entwickelt. Besonders wichtig erscheint die Frage nach der Reichweite der persönlichen Immunität von ausländischen Amtsträgern bei schweren Menschenrechtsverletzungen.

Was den Forschungsstand anbelangt, so hat besonders in den letzten Jahren – vor allem seit dem Bekanntwerden des Pinochet-Falls – die Zahl der Publikationen, seien es Aufsätze, mehrbändige Werke oder Dissertationen zu diesem Thema, stark zugenommen, und das Angebot an einschlägiger Literatur ist nahezu unüberschaubar. Dies trifft in besonderem Maße auf den Fall Pinochet zu. So kann die vorliegende Arbeit nur eine grobe Umreißung des Themenkomplexes „Immunitätsexemtionen“ liefern und Konfliktpotentiale aufzeigen. 2

II. Der historische Ursprung des Immunitätsschutzes und seine Bedeutung heute

Die völkerrechtliche Bestimmung, dass Staaten und ihre Repräsentanten nicht der Gerichtsbarkeit anderer Staaten unterliegen, ist annähernd so alt wie der Grundsatz der souveränen Gleichheit 3 aller Staaten. Aus ihm ergibt sich, dass kein Staat über einen anderen Staat zu Gericht sitzen darf: „par in parem non habet imperium“. 4

Die Immunität dient also zunächst einmal der Verwirklichung der Souveränität der Staaten, das bedeutet deren gegenseitiger Gleichheit und Unabhängigkeit. Mit dieser Souveränität sind zwei Aspekte verbunden: der der funktionalen Souveränität und der der staatlichen Würde. Erstere wird durch die Immunität gewährt, indem sie verhindert, dass ausländische Behörden den Staat selbst, vor allem aber seine Organe, belangen. Somit können die Staatsfunktionen erfüllt werden, ohne dass es zu Behinderung vonseiten des Auslands kommt.

Die staatliche Würde wird dadurch geschützt, dass die Immunität ausländischen Stellen verbietet, über Staatsakte zu urteilen. Diese Würdefunktion der Immunität hat jedoch im Gegensatz zum Schutz der funktionalen Souveränität an Bedeutung eingebüßt und dient fast ausschließlich ideellen Zwecken. Sie ist eher ein historisches Überbleibsel aus einer Zeit, in der Staat und monarchisches Staatsoberhaupt ein und dasselbe darstellten. 5

Ein weiterer wichtiger Zweck ist der Schutz der politischen Beziehungen zwischen den Staaten. Die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des zwischenstaatlichen Verkehrs verlangt ein Mindestmaß an äußerer Handlungs- und Bewegungsfreiheit. Nicht zuletzt sollte an dieser Stelle auch das Ziel der Sicherung des Rechtsfriedens genannt werden. 6

Die Schwierigkeit bei sowohl der Durchsetzung als auch der Verweigerung der Immunität liegt darin, dass es kein einheitliches Rechtsinstitut gibt, das den Immunitätsschutz in seiner heutigen Form gewährt. 7 Zahlreiche Normen, Verträge und Urteile beschäftigen sich mit der Frage der Immunität und ihrer Grenzen, jedoch leider ohne zu einem abschließenden Ergebnis zu gelangen.

III. Die diplomatische und die konsularische Immunität

Wenn von Immunität die Rede ist, sollte unterschieden werden zwischen der Immunität ausländischer Staaten, auch Staatenimmunität genannt und der Immunität des diplomatischen Personals. Hinzu kommt noch die Immunität internationaler Organisationen 8, ihrer Bediensteten und Funktionäre, die im Zuge der Vernetzung der Weltgemeinschaft zunehmend an Bedeutung gewinnt. 9 Da es sich bei letzterer jedoch um sehr differenziert zu betrachtende Immunitätsstatus handelt, deren nähere Erläuterung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, werden sich die Erläuterungen an dieser Stelle auf die diplomatische und konsularische Immunität beschränken. 10

1. Diplomatische Immunität

Der Zweck der Immunität von Diplomaten und Konsuln ist nicht in erster Linie im Schutz des Entsendestaates zu suchen, sondern in der Sicherung der rechtlichen und politischen Beziehungen innerhalb der Staatengemeinschaft. Wie bereits im vorhergehenden Kapitel erwähnt, dient sie mithin auch der Friedenssicherung. Der Internationale Gerichtshof bezeichnet die diplomatische Immunität deshalb auch als „essential for the maintenance of relations between states“ und „accepted throughout the world by nations of all creeds, cultures and political complexions”. Die diplomatische Immunität ist rechtlich im Wiener Übereinkommen über die diplomatischen und konsularischen Beziehungen von 1961 bzw. 1963 kodifiziert. 11 Die Ratifizierung dieses Abkommens durch die Mehrzahl der Staaten deutet auf eine große Akzeptanz von wesentlichen Bestimmungen darin hin. Somit kann in Bezug auf das Übereinkommen von Völkergewohnheitsrecht gesprochen werden. 12

Wie in der Präambel des Wiener Übereinkommens niedergeschrieben, ist das Schutzgut der diplomatischen Immunität die „wirksame Wahrnehmung“ der diplomatischen Aufgaben.

a. Reichweite der Immunität während der Amtszeit

Die diplomatische Immunität gilt für alle dienstlichen Tätgkeiten („ratione materiae“) und für Privathandeln („ratione personae“). Die Immunität ratione personae wird damit begründet, dass auch durch eine Strafverfolgung wegen eines persönlichen Fehlverhaltens die Amtstätigkeit des Diplomaten behindert würde. Es besteht also ein Verfolgungshindernis auch für private Handlungen. Dazu gehören Falschparken, private Straftaten, private Schulden, private  Vertragsverletzungen, Erbstreitigkeiten und so weiter. Dieses Verfolgungshindernis ist aber sachlich beschränkt: Zum Teil sind Zivil- und Verwaltungsklagen gegen einen Diplomaten schon während seiner Amtszeit in Bezug auf dessen private Handlungen erlaubt. 13 Eine Einschränkung gilt für Vollstreckungshandlungen nach Art. 31 Abs. 3 des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen (WÜD). 14

Diplomaten genießen völlige Immunität von der Strafgerichtsbarkeit des Empfangsstaates. Grundlage für die diplomatische Immunität stellt der Schutz der diplomatischen Funktionen dar. Darüber hinaus spielt die Idee, dass der Diplomat, auch als Missionschef bezeichnet, als Repräsentant des Entsendestaats gesehen wird. Die Mitglieder des Verwaltungs- und technischen Personals der Mission genießen nur eingeschränkte Immunität. 15

Die Immunitäten eines Diplomaten entbinden ihn nicht von der Verpflichtung, die Gesetze des Empfangsstaates zu befolgen. 16 Dem Aufnahmestaat steht es frei, den diplomatischen Status eines Missionschefs oder eines anderen Mitglieds des diplomatischen Personals ohne Angabe von Gründen und zu jeder Zeit zu beenden. Dies geschieht, indem der Diplomat zur persona non grata erklärt wird. 17

b. Reichweite der Immunität nach Beendigung der Amtszeit

Die Immunität ratione materiae ist zeitlich unbegrenzt, so dass sie auch nach Beendigung der Amtszeit und nach Verlassen des Empfangsstaates in Bezug auf die (früheren) Amtshandlungen wirkt. 18 Die Fortwirkung des Schutzes durch die Immunität gilt aber nur im Empfangsstaat und muss nicht von anderen Staaten respektiert zu werden. 19 Es stellt sich hier allerdings die Frage, was genau eine Amtshandlung ist. Zählt hierzu beispielsweise auch ein Verkehrsunfall, der auf einer Dienstfahrt verursacht wurde? Nach herrschender Meinung ist dies keine Amtshandlung, weil sich der Unfall nicht im Auftrag des Entsendstaates ereignete. Ein anderes denkbares Kriterium wäre der „enge Zusammenhang“ mit der diplomatischen Funktion. 20

Die ratione personae ist zeitlich begrenzt. Sie gilt nur während der Amtszeit und endet mit der Ausreise des Diplomaten aus dem Empfangsstaat. 21 Das bedeutet, dass ab diesem Zeitpunkt sowohl Zivil- als auch Strafverfahren eingeleitet werden können. Dies gilt auch in Bezug auf früheres Privathandeln während der Amtszeit. 22

2. Konsularische Immunität

Ähnlich wie die Wiener Diplomatenrechtskonvention ist das Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen (WÜK) von 1963 23 größtenteils Ausdruck des Völkergewohnheitsrechts.

Die Immunität von Angehörigen konsularischer Vertretungen reicht nicht so weit, wie die diplomatische Immunität. Sie ist im Wesentlichen auf den dienstlichen Tätigkeitsbereich beschränkt. Konsularbeamte und Bedienstete des Verwaltungs- und technischen Personals genießen nur im Rahmen der Wahrnehmung ihrer konsularischen Aufgaben Immunität. 24

III. Staatenimmunität

Staaten genießen gegenüber anderen Staaten gewohnheitsrechtliche Immunität. Das bedeutet, dass ein Staat gegenüber einem fremden Staat grundsätzlich keine hoheitlichen Befugnisse hat, geschweige denn über dessen Handlungen zu Gericht sitzen kann. 25

Zum Staat gehören der Staat selbst als Rechtsperson sowie seine in amtlicher Eigenschaft handelnden Staatsorgane. Auch Staatsunternehmen können, wenn sie vom Staat für seine hoheitlichen Zwecke instrumentalisiert werden (etwa Zentralbankaufgaben), in diesem Sinne als staatliche Organe angesehen werden und somit Immunität genießen. 26

Art. 1 (b) des Entwurfs der International Law Commission von 1991 zählt dementsprechend zum „Staat“ die „various organs of government“, die „agencies or instrumentalities of the State and other entities to the extent that they are entitled to perform acts in the exercise of the sovereign authority of the State“ sowie „representatives of the State acting in that capacity“. 27

Dies gilt in gleichem Maße für die Zivil- und die Verwaltungsgerichtsbarkeit und für jede Strafverfolgung durch den Gerichtsstaat. Daraus ergibt sich, dass alleine die Einleitung eines Verfahrens oder gar die Zustellung einer Klageschrift oder Ähnliches unzulässig sind. 28

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war diese Immunität als absolut zu verstehen, das heißt sobald sich ein Angeklagter als Staat oder als Regierung eines Staats identifizierte, waren keine rechtlichen Schritte gegen ihn mehr möglich. 29

1. Absolute versus relative Immunität

Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die meisten Staaten von der Gewährung absoluter Immunität für fremde Staaten abgewandt. Nur die früheren „Ostblock“-Staaten hielten noch lange an der absoluten Staatenimmunität fest. Dies änderte sich jedoch mit dem Zusammenfall der Sowjetunion, so dass heute im Völkergewohnheitsrecht nur noch der Grundsatz der so genannten relativen, eingeschränkten oder auch qualifizierten Immunität gilt. Danach können Staaten Immunität nur bei hoheitlichem Handeln (acta iure imperii) in Anspruch nehmen. Bei sonstigen, nichtstaatlichen Akten eines Staates (acta iure gestionis) sind sie dagegen fremder Gerichtsbarkeit unterworfen.

Diese Entwicklung ist auf die zunehmende Bedeutung des Welthandels, der Globalisierung und der internationalen Kooperation zurückzuführen. 30 Im 20. Jahrhundert sind die Staaten vermehrt im privatrechtlichen und wirtschaftlichen Bereich aktiv geworden. Es wäre nicht vertretbar, wenn sie bezüglich ihrer Tätigkeiten dort als immun gelten würden, da privatrechtliches Handeln eines Staates stets gerichtlich überprüfbar sein sollte. Aufgrund dieser Staatenpraxis ist seit den 1970er Jahren der Grundsatz der nur relativen Immunität ein Satz des Völkergewohnheitsrechts. Die UN-Immunitätskonvention von 2004 normiert ebenfalls den Grundsatz der relativen Immunität. Nach Art. 10 kann die Staatenimmunität nicht für „privatwirtschaftliche Rechtsgeschäfte“ („commercial transactions“) beansprucht werden. 31

2. Die Unterscheidung von acta iure imperii und acta iure gestionis

Die Abgrenzung zwischen acta iure imperii und acta iure gestionis richtet sich danach, ob ein bestimmtes Handelsverhalten auch von einer Privatperson durchgeführt werden könnte.

Bei acta iure imperii handelt es sich um Hoheitsakte, also Akte, welche die öffentliche Gewalt betreffen. Beispiele hierfür sind militärische Tätigkeiten, Enteignungen, Beschlagnahme von Kunstgütern im öffentlichen Interesse usw. Die acta iure gestionis sind Akte, die nicht nur ein Staat, sondern auch ein Privatperson vornehmen kann, so zum Beispiel  Miet-, Werk-, oder Arbeitsverträge, die von einer diplomatischen Vertretung mit Arbeitnehmern geschlossen werden. 32

Nach Art. 2 Abs. 2 der UN-Immunitätskonvention muss die Abgrenzung in erster Linie auf die „Natur“ des Aktes abstellen. Die Konvention erlaubt es aber den Staaten, auch den „Zweck“ des Aktes zu berücksichtigen. 33 In vielen Fällen gibt es jedoch erhebliche Abgrenzungsprobleme, zum Beispiel wenn es um die Zuordnung eines Kaufes von Kriegswaffen geht. 34

Gäbe es diese Differenzierung nicht, würde eine erhebliche Benachteiligung der am Wirtschaftsleben beteiligten privaten Akteure gegenüber staatlichen Unternehmen entstehen, wenn letztere Immunität genössen und so nicht auf Erfüllung ihrer Pflichten verklagt werden könnten. Diese Konstellation könnte zur Folge haben, dass Privatpersonen keine Geschäfte mehr mit Staaten machen, was nicht zuletzt auch für die staatlichen Akteure von Nachteil wäre. Somit wird durch diese Einschränkung der Immunität in erster Linie eine Stärkung der Stellung des Individuums verfolgt. Aber auch wirtschaftliche Überlegungen spielen eine Rolle. 35

Als weiterer Beweggrund für die Abgrenzung von acta iure imperii und acta iure gestionis ist das Rechtsstaatsprinzip („rule of law“) zu nennen. Dieses könne es nicht zulassen, dass der einzelne ohne Klagemöglichkeit bliebe, wenn eigentlich vertragliche oder deliktische Haftung greifen würde. 36

3. Der Umfang der Immunität von Staatsbediensteten

Die Immunität vor fremden Gerichten gilt sowohl für den Staat als Rechtsperson als auch für seine in amtlicher Eigenschaft handelnden Staatsorgane. Die Staatenimmunität lässt sich also untergliedern in die originäre Staatenimmunität des Staates selbst als juristischer Person und die Immunität der Staatsorgane, oder genauer die Immunität von deren Amtsträgern. 37

Bezüglich der Immunitätswirkung ist die Unterscheidung nach ihrem Anwendungsbereich zu beachten, aber auch der sich verändernde Immunitätsschutz während der Amtszeit und nach Beendigung der Amtszeit. 38

Auch hier gibt es, wie bei den Angehörigen des Diplomatenstands die Immunität ratione materiae. Die in ihrem Rahmen ausgeführten Amtshandlungen werden dem Staat zugerechnet. Somit trägt auch dieser die alleinige Verantwortung und nicht der handelnde Amtsträger.

Dies bedeutet, dass wenn der Täter in amtlicher Eigenschaft, also als Minister, Polizist oder Soldat, handelt, verhindert die Immunität ratione materiae das Entstehen individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit.

Auch nach dem Ausscheiden aus dem Amt unterliegen Handlungen, die in amtlicher Eigenschaft während der Amtszeit vorgenommen wurden dieser Immunität. 39

Die Immunität ratione personae wird im Völkerrecht nur einem begrenzten Personenkreis von Staatsbediensteten eingeräumt. Sie stellt ein Verfahrenshindernis für Maßnahmen gegen diese während ihrer Amtszeit dar. Eine Person, der der Schutz der Immunität ratione personae gewährt wird, kann zwar das Recht in einem dritten Staat verletzen, unterliegt aber für das im Sinne der fremden Rechtsordnung begangene Unrecht nicht der Gerichtsbarkeit des fremden Staats. Dies hat zur Folge, dass Vorschriften der Rechtsordnung dieses Staats nicht mittels staatlicher Zwangsgewalt durchgesetzt werden können. Der von dieser Immunität erfasste Personenkreis genießt also während seiner Amtszeit nahezu absolute Immunität, das bedeutet den Schutz vor rechtlichen Maßnahmen eines fremden Staates für hoheitliches Handeln. Dieser Schutz gilt nicht nur bei offiziellen Staatsbesuchen, sondern darüber hinaus auch bei Privatreisen, da die so geschützten Personen stets als Repräsentanten ihres Heimatlandes begriffen werden.

Mit Ausscheiden aus dem Amt erlischt die persönliche Immunität, so dass der Amtsträger in Bezug auf Amtshandlungen dann nur noch durch die zeitlich unbegrenzt wirkende Immunität ratione materiae geschützt ist. Für solche Handlungen ist eine gerichtliche Überprüfung durch fremdstaatliche Gerichte nur dann möglich, wenn der betreffende Staat hinsichtlich seines ehemaligen Amtsträgers der Inanspruchnahme zustimmt beziehungsweise wenn das Völkerrechtssubjekt, welches diese Person repräsentiert hat, gänzlich verschwindet. 40

4. Immunität von Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern

Das Hauptproblem der Immunität ratione personae ist in der Bestimmung des Personenkreises, der sich auf sie berufen kann, zu sehen. Meist wird diese Immunität nur dem nach der Verfassung des jeweiligen Staats bestimmten Staatsoberhaupt zugesprochen. Es ist fraglich, ob sie auch auf bestimmte Ressortminister auszudehnen ist.

Um diese immer wieder sehr brisante und viel diskutierte Frage zu beantworten, ist zunächst nach Hinweisen in den dafür relevanten Texten des Völkervertragsrechts zu suchen, bevor eine genauere Analyse sich der Betrachtung der gängigen Staatenpraxis und Rechtsüberzeugung der Staaten widmet, also eine Antwort im Völkergewohnheitsrecht gesucht wird. 41

a. Völkervertragliche Normen

Die Immunität  von Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern wird in verschiedenen Abkommen und Entwürfen angesprochen. Auf sie soll im Folgenden eingegangen werden. 42

aa. Das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen von 1961

Dieses Abkommen 43 gewährt Diplomaten Immunität von der Straf- Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit des Empfangsstaates. 44 Als Begünstigte dieser Regelung werden Diplomaten, also Missionschefs und Mitglieder des diplomatischen Personals einer Mission genannt. 45 Somit kann die Wiener Diplomatenkonvention  nicht auf Staatsoberhäupter angewandt werden. 46

bb. Das Europäische Übereinkommen über Staatenimmunität von 1972

Dieses Übereinkommen 47, das auch als Baseler Konvention bezeichnet wird, regelt das Ausmaß der Immunität, die ein Staat vor den Gerichten eines anderen Staats genießt. Es ist nämlich bestimmt, dass ausländische Gerichte nicht über in Ausübung der Hoheitsgewalt vorgenommene Handlungen (acta iure imperii) eines vom Vertragsstaat verschiedenen Rechtsträgers entscheiden können. 48

In Art. 11 ist zudem eine Immunitätsausnahme für deliktisches Verhalten („torts“) auch für acta iure imperii, welche Körperverletzungen oder Beschädigungen von Sacheigentum verursacht haben, zu finden. Allerdings verlangt es, dass die Tat im Forumstaat, also dem Staat, dessen Gerichte den Fall bearbeiten, begangen wurde und der Täter sich zum Zeitpunkt der Tat in diesem aufhielt (doppelter Inlandsbezug). 49

Staatsoberhäupter werden als Begünstigte nicht ausdrücklich erwähnt, können jedoch in den Anwendungsbereich des Abkommens fallen. Diesem Abkommen kommt jedoch international keine große Bedeutung zu, da es nur von acht Staaten, unter anderem von Deutschland ratifiziert wurde. 50 In Deutschland genießt das Übereinkommen über das Grundgesetz 51 den Rang eines Bundesgesetzes. 52

 

cc. Das Übereinkommen über Sondermissionen von 1969

Diese Konvention 53 besagt, dass Mitglieder einer Sondermission 54 grundsätzlich Immunität bezüglich der Rechtsprechung des Empfangsstaates 55 genießen. Staatsoberhäupter werden als Begünstigte explizit genannt. 56 Sie fallen in den Anwendungsbereich des Übereinkommens, wenn sie eine Sondermission leiten, genießen Immunität aber nur in dem Umfang, wie es das Völkerrecht für offizielle Staatsbesuche von Staatsoberhäuptern vorsieht.

Somit ist wichtig festzuhalten, dass das Abkommen keine rechtliche Grundlage für die Immunität und Unverletzlichkeit bei privaten Auslandsreisen darstellt. 57

dd. United Nations Convention on Jurisdictional Immunities of States and their Property von 2004

Dieses Abkommen 58 geht auf einen Entwurf der International Law Commission 59 zurück. 60

Auf Grundlage dieser Draft Convention on Jurisdictional Immunities of States von 1991 61 hat ein Ad-hoc-Ausschuss im Rechtsausschuss der UN-Generalversammlung eine umfassende Kodifikation vorbereitet. 62

Der Entwurf wurde der UN-Generalversammlung 1991 vorgelegt, jedoch zunächst nicht beschlossen. Dies zeigt, wie umstritten die Frage nach dem persönlichen Schutzbereich der Immunität ratione personae war und ist. In den Kommentierungen zum Entwurf findet sich zum Beispiel der Hinweis, dass bewusst keine Bestimmung zur Immunität von Außenministern getroffen wurde, um der umstrittenen Frage einer völkerrechtlichen Grundlage und des Umfangs einer solchen Immunität aus dem Weg zu gehen. 63

Erst am 2. Dezember 2004 wurde der Entwurf von der Generalversammlung verabschiedet. Seitdem haben 28 Staaten das Abkommen unterzeichnet, in zehn Staaten wurde es bereits ratifiziert. Es ist somit noch nicht in Kraft getreten. 64

Die Konvention befasst sich ausdrücklich mit der Immunität von Staatsoberhäuptern. Art. 12 entspricht inhaltlich dem Art. 11 der Europäischen Konvention, enthält jedoch neben Körperverletzungen auch Tötungen aufgelistet. 65

ee. Contemporary Problems Concerning the Immunity of States in Relation to Questions of Jurisdiction and Enforcement von 1991

Bei dieser Resolution 66, die in Basel verabschiedet wurde, handelt es sich um einen Entwurf des “Institut de droit international”, der auf der Grundlage der Staatenpraxis erarbeitet wurde. Ihm ging bereits eine “Resolution on the immunities of foreign States” voraus, die im Jahr 1954 in Aix-en-Provence stattfand.

Er beschränkt sich, wie Art. I schon sagt, auf Kompetenzen der relevanten Organe des Forumstaats. Art. II (e) stellt auch für acta iure imperii eine Immunitätsausnahme für eine einem fremden Staat zurechenbare und innerhalb des Forumstaats begangene Körperverletzung, Tötungen und Beschädigungen von Sacheigentum vor. 67

In den vergangenen zwanzig Jahren folgten, auf diese Resolution aufbauen weitere Resolutionen des Institut de droit international“, so die Resolution von Vancouver im Jahr 2001 68 und die Resolution von Neapel von 2009. 69

Den beiden letzteren Resolutionen kommt besondere Bedeutung zu, was die Frage der Immunität von Staatsoberhäuptern anbelangt.

Art. 13 der Vancouver Resolution besagt zum Beispiel, dass frühere Staatsoberhäupter – und nach Art. 16 der Resolution gilt dies auch für frühere Regierungschefs – weder immun sind in Fällen von straf-, zivil- oder verwaltungsrechtlicher Gerichtsbarkeit, die nicht in den Bereich ihrer Amtsausübung fallen. Darüber hinaus können Staats- und Regierungschefs für Handlungen, die als internationale Verbrechen gelten, zur Rechenschaft gezogen werden.

Die Resolution von Neapel ist insofern sehr interessant, als sie in Art. I genau definiert, was unter dem Begriff „international crimes“ zu verstehen sei: „serious crimes under international law such as genocide, crimes against humanity, torture and war crimes, as reflected in relevant treaties and the statutes and jurisprudence of international courts and tribunals.“

Weder die Resolution von Basel, noch die von Vancouver und Neapel wurden bislang von einem Staat angenommen. Sie können also lediglich als Indiz für die Existenz der aufgegriffenen Staatenpraxis dienen. 70

ff. Zwischenfazit

Die Analyse der Abkommen und Entwürfe zeigt deutlich, dass auf die Frage nach dem persönlichen Schutzbereich der Immunität ratione materiae im Völkervertragsrecht keine klare Antwort gefunden werden kann und die Lösung des Problems deshalb zum jetzigen Zeitpunkt im Völkergewohnheitsrecht zu suchen ist. 71

b. Völkergewohnheitsrecht

In diesem Bereich ist zwischen der Immunität von Staatsoberhäuptern und der von Regierungsmitgliedern zu unterscheiden. 72

aa. Staatsoberhäupter

Zunächst ist zu klären, wer als Staatsoberhaupt anzusehen ist. Die genaue Bestimmung ist grundsätzlich in der jeweiligen nationalen Verfassung zu suchen. Es kann jedoch auch eine andere Person unter Verletzung des nationalen Verfassungsrechts de facto die Position eines Staatsoberhaupts einnehmen. Hierfür gab es in der Vergangenheit einige Beispiele: So tritt der libysche Revolutionsführer Muammar Ghaddafi wie ein Staatsoberhaupt auf. Gleiches gilt für die führenden Personen der Partei in sozialistischen oder kommunistischen Ein-Parteien-Staaten wie China und Nordkorea. 73

Im Völkergewohnheitsrecht ist unstreitig, dass amtierenden Staatsoberhäuptern grundsätzlich persönliche Immunität gewährt bekommen. Andernfalls wären sie nicht in der Lage, ihren offiziellen Aufgaben gerecht zu werden. Wenn Staatsoberhäupter bei Aufenthalten im Ausland rechtliche Untersuchungen egal welcher Art fürchten müssten, wären damit der freie Kontakt und die freie zwischenstaatliche Kommunikation in Gefahr. 74

Man kann also sagen, dass ein Staatsoberhaupt Immunität als Pendant zur Staatenimmunität genießt. Klassischerweise war diese Immunität absolut, das heißt, sie umfasste die Immunität für Amtshandlungen (ratione materiae) und die Immunität für private Handlungen (ratione personae).

Diese Regel findet im Völkergewohnheitsrecht allgemeine Anerkennung, was durch zahlreiche nationale Gerichtsentscheidungen nachzuweisen ist. So ging ein französisches Gericht zum Beispiel nicht auf eine Klage gegen den libyschen Staatschef Ghaddafi ein (2001); das belgische Kassationsgericht in Strafsachen trat nicht auf eine Klage gegen den Israelischen Premierminister Ariel Sharon ein (Entscheid vom 12. Februar 2003), eine zivilrechtliche Klage gegen das amtierende Staatsoberhaupt von Liechtenstein (Vaterschaftsklage) wurde ebenfalls abgewiesen. 75

Zwar können diese nationalen Entscheidungen nicht unmittelbar die Existenz von Völkergewohnheitsrecht beweisen, da es hierzu des Nachweises konstanter zwischenstaatlicher Anwendung bedarf. Sie können jedoch ein Hinweis auf ein bestimmtes Rechtsbewusstsein und damit ein Hilfsmittel zur Findung gewohnheitsrechtlicher Regeln sein. 76

Zusammenfassend gilt also: Von der jeweiligen Verfassung als Staatsoberhäupter definierte Personen und solche, die de facto als Staatsoberhäupter agieren, wird während ihrer Amtszeit grundsätzlich persönliche Immunität zugestanden. Diese umfasst sowohl amtliche als auch private Handlungen. 77

Doch in welchen Fällen erfährt die Immunität eines Staatsoberhauptes nur noch eingeschränkte Gültigkeit? Es wird diskutiert, ob nicht auch bei amtierenden Staatschefs die Immunität nur noch für Amtshandlungen anerkannt werden sollte. Eine absolute Immunität stößt in zunehmendem Maße auf Kritik. In dieser Immunitätsdebatte wird meist zwischen strafrechtlichen und sonstigen Gerichtsverfahren unterschieden. Die Forderung nach der Beschränkung der Immunität bezieht sich meist auf Strafanklagen gegen Staatschefs. Das Argument hierfür ist, dass die Immunität des Staatsoberhauptes nur eine Facette der Staatenimmunität sei. Weil aber selbst die Immunität des Staates nicht mehr absolut gilt, sondern beschränkt auf acta iure imperii ist, sollte – so die Argumentationsweise – auch die Immunität des Staatsoberhauptes entsprechend eingegrenzt werden. Die Einschränkung der absoluten Immunität von noch amtierenden Staatsoberhäuptern stößt jedoch bisher in der Staatenpraxis auf keinen Widerhall. 78

Was die Regelung nach Beendigung der Amtszeit des Staatsoberhauptes betrifft, so sieht die Lage etwas anders aus: Das ehemalige Staatsoberhaupt genießt nur noch Immunität ratione materiae bezüglich früherer Amtshandlungen. Es tut dies nicht in Bezug auf frühere Privathandlungen, die es während der Amtszeit begangen hat. Logischerweise erst recht nicht in Bezug auf aktuelle, zwangsläufig private Handlungen nach Beendigung der Amtszeit.

Ein gutes Beispiel für einen so gelagerten Fall stellt die Strafanklage durch ein spanisches Gericht im Jahr 1998 gegen den ehemaligen chilenischen Diktator Pinochet dar, auf die in den folgenden Kapiteln noch näher eingegangen wird. Pinochet war von 1974 bis 1990 Staatspräsident Chiles. 79

bb. Regierungsmitglieder

Die Immunitätsfrage für Mitglieder einer Regierung gestaltet sich schwieriger und muss sehr differenziert betrachtet werden.

Eine Sichtweise argumentiert, dass Regierungsmitglieder nicht durch persönliche Immunität geschützt seien, weil es bei ihnen nicht wie bei dem Oberhaupt eines Staates die Würde des Staates zu schützen gelte. Zwar besitzen Regierungschefs und Außenminister weitreichende Repräsentationsbefugnisse, jedoch personifizierten und repräsentierten sie nicht in jener Art und Weise den eigenen Staat, wie dies das Staatsoberhaupt als höchstes Organ des Staates tut.

Dem kann entgegengehalten werden, dass das Staatsoberhaupt auf dem Gebiet der auswärtigen Politik zwar formell als Träger der höchsten Zuständigkeit gilt, in der Praxis aber der Regierungschef und der Außenminister diejenigen sind, die in den internationalen Beziehungen eines Staates besonders exponiert sind und besonderer Bewegungsfreiheit und besonderem Schutz bedürfen, um ihren Aufgaben gerecht zu werden.

Nach dem Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge von 1969, auch Wiener Vertragsrechtskonvention genannt, benötigen Regierungschefs und Außenminister keine Vollmacht, wenn sie bei Vertragsverhandlungen oder bei Vertragsschluss für ihren Staat tätig werden, so dass sie zumindest insoweit den Staat in gleicher Weise wie ein Staatsoberhaupt repräsentieren und ihr Verhalten in dieser Beziehung immer dem Staat zugerechnet wird.

Diese Ansicht steht im Einklang mit der Stellungnahme des Internationalen Gerichtshofs im Urteil zu dem Fall der Demokratischen Republik Kongo mit Belgien. Dort heißt es:

a Minister of Foreign Affairs, responsible for the conduct of his or her State’s relation with all other States, occupies a position such that, like the Head of State or the Head of Government, he or she is recognized under international law as representative of the State solely by virtue of his or her office. 80

In diesem Statement des Internationalen Gerichtshofs kommt auch zum Ausdruck, dass abgesehen von dem Außenminister eines Staats, nicht auch einfache Ressortminister von der persönlichen Immunität geschützt werden sollen, da sie den Staat nicht in der Weise repräsentieren, wie dies bei Staatsoberhäuptern, Regierungschefs und Außenministern, den so genannten „Big three“ 81, der Fall ist. 82

Nach völkergewohnheitsrechtlichen Regeln werden also neben dem Staatsoberhaupt eines Staats auch bestimmte Regierungsmitglieder, namentlich der Regierungschef und der Außenminister, durch die persönliche Immunität geschützt. Während ihrer Amtszeit können sich die so geschützten Personen folglich sowohl in Bezug auf hoheitliches als auch auf privates Handeln auf die persönliche Immunität berufen. 83

5. Ausnahmen vom Immunitätsschutz bei völkerrechtlichen Verbrechen

Die Immunitätsausnahmen bei schweren Völkerrechtsverbrechen ist in den letzten Jahren wohl der am heftigsten polarisierende Themenkomplex, wenn die Frage nach der völkerrechtlichen Immunität von Amtsträgern diskutiert wird. Vor allem der medienwirksame Fall des bereits mehrfach erwähnten chilenischen Ex-Diktators Pinochet hat dieses Problem einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht, aber auch andere, von den Medien nicht in diesem Maße berücksichtigten Prozesse haben sich mit dieser zentralen Frage beschäftigt. So gab es in der Vergangenheit Ermittlungen vonseiten französischer Behörden gegen den libyschen Staatschef Ghaddafi. Ein weiterer Fall beschäftigte die belgische Justiz, die einen Haftbefehl gegen den damaligen kongolesischen Außenminister Abdulaye Yerodia Ndombasi ausstellte und später deshalb von der Republik Kongo vor dem Internationalen Gerichtshof angeklagt wurde. 84

Bei all diesen Fällen ist zwischen dem legitimen Anspruch des Nationalstaats auf möglichst ungestörte Ausübung seiner hoheitlichen Tätigkeit und dem gleichermaßen legitimen und rechtlich verbürgten Anspruch der Staatsbürger auf Schutz ihrer Menschenrechte abzuwägen.

Gegen eine strafrechtliche Verfolgung besonders im Hinblick auf amtierende Spitzenorgane, also Organe, die durch die persönliche Immunität geschützt werden, spricht, dass es dadurch zu einer Destabilisierung der Struktur und des ordnungsgemäßen Funktionierens des betreffenden Staats kommen könnte, da die höchsten Institutionen betroffen wären. Jedoch ist es auf der anderen Seite schwer zu rechtfertigen, eine Strafverfolgung beziehungsweise ein Verfahren gegen diejenigen nicht zu gestatten, die eine Verletzung der Menschenrechte begangen haben, und gleichzeitig die verantwortlichen Amtsträger eines Staates sind. Dies gilt umso mehr, als diese Art von Verbrechen typischerweise von „Handlangern“ ausgeführt werden, die, da sie keine Immunität genießen, zur Rechenschaft gezogen werden, während die hochrangigen Amtsträger nicht herangezogen werden können, obwohl viele Gräueltaten mit ihrer Kenntnis geplant werden, wenn nicht sogar von ihnen initiiert werden.

Zur Begründung der Immunitätsdurchbrechung im Fall von völkerstrafrechtlich relevanten Verbrechen haben sich deshalb verschiedene Ansätze herausgebildet. 85

a. Fehlende Amtlichkeit

Maßnahmen, die völkerstrafrechtliche Verbrechen darstellen, können nicht in den amtlichen Aufgabenbereich von Staatsorganen fallen. Sie seien von vornherein private und damit nach Beendigung der Amtszeit verfolgbare Handlungen.

Dem kann jedoch entgegengehalten werden, dass die praktisch wichtigste Verbrechenshandlung, die Folter, nach Art. 1 der Antifolterkonvention 86 per se als amtliche Handlung definiert zu sein scheint. Leugnet man den amtlichen Charakter des staatlichen Handelns, so entfällt der Vorwurf der Menschenrechtsverletzung, mithin der Grund für eine Immunitätsausnahme. Dasselbe gilt für Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression. Davon abgesehen spricht gegen dieses Modell, dass die Funktionen eines amtlich Handelnden sich nach dessen Aufgabenkreis im Verfassungsgefüge des Staates bestimmen und nicht nach der Rechtmäßigkeit seines Handelns oder dem Gutdünken anderer Staaten. 87

b. Ius cogens

Eine weiterer Ansatz geht davon aus, dass das Verbot völkerstrafrechtlicher Verbrechen zu den völkerrechtlichen Regeln gehört, von denen die Völkerrechtssubjekte wegen ihrer grundlegenden Bedeutung nicht abweichen dürfen, da sie zum festen unabdingbaren Kern der internationalen Rechtsordnung gehören 88. „Ius cogens-Normen“ sollen deshalb nicht von einer „einfachen“ Regel wie der der Staatenimmunität umgestürzt werden.

Diese Ansicht ist insofern umstritten, dass noch nicht geklärt ist, ob der zwingende Charakter einer völkerrechtlichen Verbotsregel auch das Gebot bedingt, Verstöße gegen das Verbot strafrechtlich zu ahnden. Der revidierte Entwurf der „International Law Commission“ von 2001 sieht als Rechtsfolge eines Verstoßes gegen eine „ius cogens-Norm“ nur eine Kooperationspflicht zur Beendigung des Rechtsverstoßes und eine Pflicht zur Nichtanerkennung der entstandenen Situation vor. 89

c. Widerspruchsfreiheit der Völkerrechtsordnung

Dieses Argument verfolgt eine logische Herangehensweise. Es prangert an, wenn es keine Immunitätsexemtion bei derartigen Verbrechen geben soll, dass das Völkerrecht dann Handlungen schützt, die es selbst als kriminell und als Attacke gegen die Interessen der gesamten internationalen Gemeinschaft verurteilt. Diese Argumentation verfolgt auch das Jugoslawientribunal:

[It] would be a travesty of law and a betrayal of the universal need for justice, should the concept of State sovereignty be allowed to be successfully raised against Human Rights. 90

Lord Nicholls formulierte in der ersten Pinochet-Entscheidung des House of Lords: 91

International law has made plain that certain types of conduct, including torture and hostage-taking, are not acceptable conduct on the part of anyone. This applies as much to heads of state, or even more so, as it does to everybody else; the contrary would make a mockery of international law. 92.

d. Konkrete Pflichtkollision

Nach diesem Ansatz kann ein Staat dem Amtsträger eines anderen Staates dann die Immunität entziehen, wenn die Gewährung der Immunität den Gerichtsstaat in Widerspruch zu einer anderen völkerrechtlichen Norm setzen würde, die ein Gerichtsverfahren gebietet. Dieser Ansatz liegt grundsätzlich der dritten Pinochet-Entscheidung des House of Lords zugrunde. Die Mehrheit der Richter bezieht sich in dieser Entscheidung auf die Art. 5 und 7 der Antifolterkonvention der Vereinten Nationen von 1984 93, die im Fall der Folter eine grundsätzliche Pflicht

zur Strafverfolgung festschreibt. Gleichzeitig bedeutet dies aber auch, dass eine Strafverfolgung erst dann erfolgen kann, wenn die sie gebietende Norm auch in Kraft getreten ist. Da die Antifolterkonvention im Vereinigten Königreich erst durch die Umsetzung im Criminal Justice Act 1988 verankert wurde, konnten im Fall Pinochet auch nur solche Verbrechen Berücksichtigung finden, die nach diesem Datum begangen wurden, und das, obwohl Pinochet sich schon im Jahr 1973 ins Amt geputscht hatte und dieses Amt anschließend unter anderem mit Mitteln der Folter verteidigte. Immunitätsexemtionen von der Existenz bestimmter Normen des Völkervertragsrechts abhängig zu machen und sie nicht als Regel des Völkergewohnheitsrechts anzuerkennen, senkt die Bedeutung und Reichweite des Pinochet-Urteils erheblich. 94

6. Die Immunität vor internationalen Gerichtshöfen

a. Die Immunität vor den Tribunalen von Nürnberg bis Ruanda

Die bisher genannten Schutzzwecke sind vor internationalen Gerichten nicht relevant. Hier sitzt kein anderer Staat über einen Staat oder dessen Organ zu Gericht. Das Gemeinschaftsinteresse an der Verfolgung der schweren Straftaten überwiegt. Also gibt es gegenüber der internationalen Strafgerichtsbarkeit keine Immunität. 95

Diese Tatsache wird auch deutlich, wenn man die Statute der verschiedenen internationalen Tribunale näher betrachtet: das Nürnberger Tribunal 96 ermöglicht ganz eindeutig eine Bestrafung von Staatsoberhäuptern 97:

[Immunity] which under certain circumstances, protects the representatives of a state, cannot be applied to acts which are condemned as criminal by international law. The authors of these acts cannot shelter themselves behind their official position in order to be freed from punishment in appropriate proceedings. (…) He who violates the laws of war cannot obtain immunity while acting in pursuance of the authority of the state if the state in authorizing action moves outside its competence under international law. 98

Gleiches gilt für das Statut des Jugoslawientribunals (ICTY) 99, das bestimmt, dass kein Amtsträger den Einwand der Immunität geltend machen kann. Amtsträger können wegen schweren Verstößen gegen die Genfer Konvention, Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schon dann zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie noch im Amt sind. So ist etwa dem früheren Präsidenten der Republik Jugoslawien, Slobodan Milosevic, in Den Haag der Prozess gemacht worden. Ähnlich lautet auch der 2. Art. des Ruandatribunals. 100

2. Der Internationale Strafgerichtshof

Das Statut für den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, das man auch als das Römische Statut von 1998 bezeichnet, legte fest, dass die offizielle Eigenschaft einer Person weder daran hindern soll, die Person für nach dem Statut strafbare Handlungen zur Verantwortung zu ziehen, noch per se als Grund für eine Strafmilderung gelten soll. 101 Das bedeutet, dass durch diese Norm eine Berufung auf Immunität ratione materiae ausgeschlossen ist, und zwar unabhängig davon, ob die Immunität nach nationalem oder nach internationalem Recht gewährt wurde. Auch die Immunität ratione personae kann nicht als Verfahrenshindernis vor dem Internationalen Strafgerichtshof angesehen werden. 102 Da die persönliche Immunität von Spitzenorganen nur vor Strafverfolgung durch ausländische Behörden schützen soll, kann vor dem Internationalen Strafgerichtshof wie auch vor den anderen internationalen Strafgerichtshöfen ein solcher Immunitätsschutz nicht geltend gemacht werden. 103

Fraglich an dieser Stelle bleibt jedoch die Vereinbarkeit der Immunitätsklausel mit der Vorschrift des Römischen Statuts. Die Immunitätsklausel legt nämlich fest, dass das Gericht von der Ausführung einer Anweisung zur Zusammenarbeit oder zur Auslieferung absehen muss, wenn durch die Ausführung dieser Anweisung der angewiesene Staat seine Verpflichtungen gegenüber einem dritten Staat im Hinblick auf den Immunitätsschutz verletzen würde, sofern nicht ein Verzicht des dritten Staates auf die Immunität vorliegt. 104

Diese Klausel könnte in vielen Fällen die Ausübung der Jurisdiktion über die fragliche Person verhindern, da das Römische Statut Verfahren in Abwesenheit verbietet. Jedoch ist der Begriff des Drittstaates in diesem Zusammenhang nicht als dritter Staat in Bezug auf den angewiesenen Staat, sondern vielmehr als dritter Staat in Bezug auf das Statut zu verstehen, also als Nichtvertragsstaat des Römischen Statuts.

Das Gericht ist also nur dann auf den ausdrücklichen Verzicht auf die Immunität angewiesen, wenn der Heimatstaat des Beschuldigten, das Römische Statut nicht ratifiziert hat. In den Fällen, in denen der Heimatstaat hingegen Vertragsstaat ist, kann das Gericht die Ausführung einer Anweisung auch dann verlangen, wenn durch sie der angewiesene Staat in Widerspruch zu Verpflichtungen mit dem Heimatstaat des Beschuldigten gerät. Die Interpretation der fraglichen Klausel ist auf das Prinzip der Effektivität zurückzuführen, da ansonsten die Immunitätsklausel des Römischen Statuts praktisch bedeutungslos wäre. 105

7. Die Immunität vor nationalen Gerichten und der Fall Pinochet

Die Frage der Immunitätsgeltung vor nationalen Gerichten ist sehr umstritten. Fraglich ist, ob es völkerrechtlich zulässig oder gar geboten ist, die Immunität vor nationalen Gerichten in gleichem Maße einzuschränken, wie das nach dem Internationalen Strafgerichtshof, also auf internationaler Ebene, der Fall ist. Wie schwierig sich die Situation bezüglich dieser Fragestellung darstellt, soll anhand des Pinochet-Falls kurz dargestellt werden. 106

Nach zwei gescheiterten Gerichtsverfahren, in denen der chilenische Ex-Diktator Augusto Pinochet Ugarte im Vereinigten Königreich nach seiner Verhaftung wegen Mordes, Folter angeklagt wurde, entschied sich das House of Lords am 24. März 1999 in einem abschließenden dritten Gerichtsverfahren 107 gegen die Immunität Pinochets. Das Votum mit sechs Richterstimmen gegen die Immunität und einer für ihre Gewährung war eindeutig. 108

Das Gericht befand, dass die Immunität eines ehemaligen Staatsoberhaupts hinter dem zwingenden Charakter des völkerrechtlichen Folterverbots zurücktreten müsse. Damit verweigerte man Pinochet die Freiheit vor strafrechtlicher Verfolgung und stimmte einem Auslieferungsverfahren zu. 109

Jedoch stellten sich die Begründungen für das jeweilige Votum der Richter als sehr verschieden, wenn nicht sogar widersprüchlich und wenig überzeugend heraus, da sie auf keine einheitliche Argumentation gestützt wurden. Somit ist eine Präzedenzwirkung der Entscheidung stark zu bezweifeln. Dies liegt unter anderem darin begründet, das der Immunitätsschutz auf die spezifischen Verpflichtungen der Antifolterkonvention zurückgeführt wird und gerade nicht auf Völkergewohnheitsrecht. Somit ist das Urteil praktisch bedeutungslos hinsichtlich völkerrechtlicher Verbrechen, für die keine ähnliche Konvention besteht. 110

Positiv zu bewerten ist, dass es durch das Urteil zu einer wachsende Sensibilisierung der internationalen Gemeinschaft hinsichtlich der Staatsbeteiligung an völkerstrafrechtlich relevanten Verbrechen kam und von der ausdrückliche Missbilligung dieser Taten durch die nationalen Gerichte zeugte. 111 Auch die Tatsache, dass es sich bei diesem Gerichtsprozess um das erste Verfahren überhaupt handelte, bei dem sich ein ehemaliger Staatschef vor einem Amtsgericht eines anderen Staates verantworten musste, spricht für sich. Dass es bei den Anklagepunkten um Foltervorkommnisse ging, die er noch während seiner Amtszeit begangen hatte, macht den Fall noch spektakulärer. 112

V. Fazit

Die Frage der völkerrechtlichen Grenzen von Immunität ist ein sehr weites Feld, das auch in Zukunft nicht an Komplexität verlieren wird. Innerhalb der Staatenimmunität wird die Immunitätsausnahme bei völkerstrafrechtlichen Verbrechen auch in Zukunft der am kontroversesten diskutierte Aspekt bleiben, besonders falls die durch den Pinochet-Fall eingeleiteten Tendenzen der Immunitätserosion sich ausweiten. Dies liegt zum einen daran, dass bei keinem anderen Thema zwei für Staat und ihre Bürger so wichtige Anliegen, nämlich auf der einen Seite die Sicherstellung von Souveränität und auf der anderen Seite der Anspruch auf effektiven Schutz von Menschenrechten, aufeinander prallen. Zum anderen birgt die Frage einer Verweigerung der Immunität vor nationalen Gerichten aufgrund seiner politischen Dimensionen ein immenses Konfliktpotential für die Zukunft in sich. Dem Entstehen von großen diplomatischen Spannungen könnte allerdings durch einen gut funktionierenden Internationalen Strafgerichtshof entgegengewirkt werden. Deshalb bleibt zu hoffen, dass es dem Gericht in nächster Zeit gelingen wird, die für die Effektivität notwendige Akzeptanz der Staatengemeinschaft zu erlangen. 113

Im Hinblick auf das Thema des Seminars – „Privatisierung“ des Völkerrechts – lässt sich festhalten, dass Private in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Objekt zum Subjekt des Völkerrechts geworden sind, dadurch dass sie, angefangen bei den Artikeln der UN-Charta, heute selbst Adressaten völkerrechtlicher Normen sind. Das Völkerrecht hat damit als Rechtsordnung seiner oft als „klassisch“ bezeichneten Periode den Rücken gekehrt, die Paul Heilborn im Jahr 1925 noch folgendermaßen umschrieb:

Die Normen des Völkerrechts wenden sich nicht an die Menschen, sondern an die Staaten, gebieten und verbieten den Menschen nichts, räumen ihnen keine Rechte ein. 114

Zur Autorin: Teresa Schad ist Studentin der Rechtswissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.


Fußnoten:

  1. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 175.
  2. Kreicker, Helmut, Völkerrechtliche Exemtionen. Grundlagen und Grenzen völkerrechtlicher Immunitäten und ihre Wirkungen im Strafrecht, Bd. 1, 2007, S. 3f..
  3. Art. 2 Nr.1 UN-Charta: „The Organization is based on the principle of the sovereign equality of all its Members. All Members, in order to ensure to all of them the rights and benefits resulting from.“, abrufbar unter: http://www.un.org/en/documents/charter/chapter1.shtml. Souveräne Gleichheit ist zunächst im Sinne einer formalen Gleichstellung aller Mitglieder der Staatenwelt zu verstehen. Sie schlägt sich nieder bei vielen internationalen Organisationen und bei Staatenkonferenzen im gleichen Stimmengewicht aller Staaten („one state, one vote“); siehe hierzu: Herdegen, Matthias, Völkerrecht, 9. Aufl., 2010, S. 243.
  4. Peters, Anne, Völkerrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Zürich, Basel, Genf 2008, S. 95; Dörr, Oliver, Staatliche Immunität auf dem Rückzug?, in: Archiv des Völkerrechts 41 (2003), S. 202; Wirth, Steffen, Staatenimmunität für internationale Verbrechen – das zweite Pinochet-Urteil des House of Lords, in: Jura 2 (2000), S. 71; Bosch, Julia, Immunität und internationale Verbrechen, 2004, S. 64-66.
  5. Dörr, Oliver, Staatliche Immunität auf dem Rückzug?, S. 202; Peters, Anne, Völker-recht, S. 95; Wirth, Steffen, Staatenimmunität für internationale Verbrechen, S. 71.
  6. Peters, Anne, Völkerrecht, S. 95; Wirth, Steffen, Staatenimmunität für internationale Verbrechen, S. 71.
  7. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 175.
  8. Mehr hierzu, siehe: Peters, Anne, Völkerrecht, S. 105; Herdegen, Matthias, Völker-recht, S. 108f.
  9. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 175f.
  10. Bantekas, Ilias / Nash, Susan, International Criminal Law, 3. Aufl. 2007, S. 108-110.
  11. http://untreaty.un.org/ilc/texts/instruments/english/conventions/9_1_1961.pdf, http://untreaty.un.org/ilc/texts/instruments/english/conventions/9_2_1963.pdf.
  12. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 176.
  13. Art. 31 Abs. 1 WÜD.
  14. Peters, Anne, Völkerrecht, S. 105.
  15. Art. 37 Abs. 2, 38 Abs. 2  WÜD.
  16. Art. 41 Abs. 1 WÜD.
  17. Art. 9 Abs. 1 WÜD, siehe hierzu: Herdegen, Matthias, Völkerrecht, S. 294; Peters, Anne, Völkerrecht, S. 105.
  18. Art. 39 Abs. 2 Satz 2 WÜD: „In Ausübung ihrer dienstlichen Tätigkeit als Mitglied der Mission vorgenommenen Handlungen“; siehe hierzu: Peters, Anne, Völkerrecht Allgemeiner Teil, S. 105.
  19. Herdegen, Matthias, Völkerrecht, S. 294.
  20. Peters, Anne, Völkerrecht, S. 105.
  21. Art. 39 Abs. 2 Satz 1 WÜD.
  22. Peters, Anne, Völkerrecht, S. 105; Dörr, Oliver, Staatliche Immunität auf dem Rückzug?, S. 205.
  23. BGBl. 1969 II, S. 1585.
  24. Art. 43 Abs. 1 WÜK, Herdegen, Matthias, Völkerrecht, S. 296; Bantekas, Ilias / Nash, Susan, International Criminal Law, S. 108-110.
  25. Wirth, Steffen, Staatenimmunität für internationale Verbrechen, S. 71.
  26. Herdegen, Matthias, Völkerrecht, S. 291; Dörr, Oliver, Staatliche Immunität auf dem Rückzug?, S. 205.
  27. Dörr, Oliver, Staatliche Immunität auf dem Rückzug?, S. 205.
  28. Ebd., S. 204.
  29. Bosch, Julia, Immunität und internationale Verbrechen, S. 67; Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 176; Cremer, Wolfram, Entschädigungs-klagen wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen und Staatenimmunität vor nationaler Zivilgerichtsbarkeit, in: Archiv des Völkerrechts 41 (2003), S. 140.
  30. Herdegen, Matthias, Völkerrecht, S. 282, 285; Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 176.
  31. Bosch, Julia, Immunität und internationale Verbrechen, S. 66-68; Peters, Anne, Völkerrecht Allgemeiner Teil, S. 97; Herdegen, Matthias, Völkerrecht, S. 285; Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 176, 184; Dörr, Oliver, Staatliche Immunität auf dem Rückzug?, S. 206f.
  32. Peters, Anne, Völkerrecht, S. 99; Wirth, Steffen, Staatenimmunität für internationale Verbrechen, S. 72.
  33. Peters, Anne, Völkerrecht, S. 99.
  34. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 176.
  35. Bosch, Julia, Immunität und internationale Verbrechen, S. 69; Wirth, Steffen, Staatenimmunität für internationale Verbrechen, S. 72.
  36. Bosch, Julia, Immunität und internationale Verbrechen, S. 69.
  37. Wirth, Steffen, Staatenimmunität für internationale Verbrechen, S. 72.
  38. Peters, Anne, Völkerrecht, S. 101; Wirth, Steffen, Staatenimmunität für internationale Verbrechen, S. 72.
  39. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 177; Wirth, Steffen, Staatenimmunität für internationale Verbrechen, S. 72.
  40. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 177f.; Wirth, Steffen, Staatenimmunität für internationale Verbrechen, S. 72.
  41. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 178; Dörr, Oliver, Staatliche Immunität auf dem Rückzug?, S. 205.
  42. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S.178.
  43. http://untreaty.un.org/ilc/texts/instruments/english/conventions/9_1_1961.pdf.
  44. Art. 31 WÜD.
  45. Art. 1 WÜD.
  46. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 178.
  47. http://conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Html/074.htm.
  48. Art. 27 Abs. 2 des Europäischen Übereinkommens über Staatenimmunität (EuSIÜ).
  49. Cremer, Wolfram, Entschädigungsklagen, S. 146.
  50. http://conventions.coe.int/treaty/Commun/ChercheSig.asp?NT=074&CM=0&DF=&CL=ENG.
  51. Art. 59 Abs. 2 GG.
  52. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 179, Dörr, Oliver, Staatliche Immunität auf dem Rückzug?, S. 203.
  53. http://untreaty.un.org/ilc/texts/instruments/english/conventions/9_3_1969.pdf.
  54. UN Res. 2530 Art. 1 (1969).
  55. Ebd. Art. 31 Abs. 1 und 2 (1969).
  56. Ebd. Art. 21 Abs. 1 (1969).
  57. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 179.
  58. http://untreaty.un.org/ilc/texts/instruments/english/conventions/4_1_2004.pdf.
  59. Draft Convention on Jurisdictional Immunities of States von 1991.
  60. Herdegen, Matthias, Völkerrecht, S. 283.
  61. Draft Articles on Jurisdictional Immunities of States and Their Property; abrufbar unter: http://untreaty.un.org/ilc/texts/instruments/english/conventions/4_1_2004_resolution.pdf, http://untreaty.un.org/ilc/texts/instruments/english/conventions/4_1_2004.pdf,

    http://untreaty.un.org/ilc/texts/instruments/english/draft%20articles/4_1_1991.pdf.

  62. Dörr, Oliver, Staatliche Immunität auf dem Rückzug?, S. 203: Vgl. den Bericht des Ad Hoc Committee on Jurisdictional Immunities of States and Their Property (4-15 February 2002), abrufbar unter: http://www.un.org/ga/57/docs/a5722e.pdf; und daran anschließend den des 6. Ausschusses der UN-Generalversammlung vom 7. Nov. 2002, abrufbar unter: http://www.undemocracy.com/A-57-561.pdf. Im Februar 2003 trat der Ad-hoc-Ausschuss zu seiner abschließenden Sitzung zusammen und konnte dabei die noch strittigen Sachfragen klären, vgl. UN Doc. A/AC.262/L.4 (28. Februar 2003)
  63. Roth, Herbert, Völkerstrafrecht zwischen Weltprinzip und Immunität, in: Juristenzeitung 57 (2002), S. 701f.; Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 179.
  64. http://treaties.un.org/pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=III-13&chapter=3&lang=en, Kreicker, Helmut, Völkerrechtliche Exemtionen, Bd.1, S. 55f..
  65. Cremer, Wolfram, Entschädigungsklagen, S. 146.
  66. http://www.idi-iil.org/idiE/resolutionsE/1991_bal_03_en.PDF.
  67. Cremer, Wolfram, Entschädigungsklagen, S. 147.
  68. Resolution on Immunities from Jurisdiction and Execution of Heads of State

    and of Government in International Law: http://www.idi-iil.org/idiE/resolutionsE/2001_van_02_en.PDF.

  69. Resolution on the Immunity from Jurisdiction of the State and of Persons Who Act on Behalf of the State in case of International Crimes: http://www.idi-iil.org/idiE/resolutionsE/2009_naples_01_en.pdf.
  70. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 179.
  71. Bosch, Julia, Immunität und internationale Verbrechen, S. 71.
  72. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 180.
  73. Kreicker, Helmut, Völkerrechtliche Exemtionen. Grundlagen und Grenzen völkerrechtlicher Immunitäten und ihre Wirkungen im Strafrecht, Bd. 2, 2007,

    S. 709f.; Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 180.

  74. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 180.
  75. Peters, Anne, Völkerrecht, S. 101; Herdegen, Matthias, Völkerrecht, S. 291.
  76. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 180.
  77. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 180f..
  78. Peters, Anne, Völkerrecht, S. 102.
  79. Ebd.
  80. Democratic Republic of the Congo v. Belgium (Arrest Warrant of April 11, 2000 Case), para. 53 (ICJ, Feb. 14, 2002).
  81. Peters, Anne, Völkerrecht, S. 103.
  82. Davon abgesehen hat das Aufgabenfeld anderer Ressortminister normalerweise keinen derartigen Auslandsbezug, so dass Probleme hinsichtlich der Immunität vor fremdstaatlichen Gerichten keine große Rolle spielen. Werden Regierungsmitglieder dennoch einmal amtlich im Ausland tätig, wird ihnen, wenn sie einen bestimmten Auftrag erfüllen, die Stellung des Mitgliedes einer Sondermission zugebilligt, so dass sie als Diplomaten über das vorgenannte Übereinkommen geschützt werden. Siehe hierzu: Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 181.
  83. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 181.
  84. Dörr, Oliver, Staatliche Immunität auf dem Rückzug?, S. 212f..
  85. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 182; Peters, Anne, Völkerrecht, S. 106.
  86. http://www2.ohchr.org/english/law/cat.htm.
  87. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 182f.; Dörr, Oliver, Staatliche Immunität auf dem Rückzug?, S. 214; Peters, Anne, Völkerrecht, S. 107.
  88. Vgl. hierzu die Wienervertragsrechtskonvention Art. 53, 64.
  89. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 183; Peters, Anne, Völkerrecht, S. 124ff.; Herdegen, Matthias, Völkerrecht, S. 157; Dörr, Oliver, Staatliche Immunität auf dem Rückzug?, S. 214; Cremer, Wolfram, Entschädigungsklagen,

    S. 158-163.

  90. Procecutor v. Tadic, para. 58 (ICTY, Oct.02, 1995).
  91. Dörr, Oliver, Staatliche Immunität auf dem Rückzug?, S. 215f.; Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 183f.
  92. R.v.Bow Street Metropolitan Stipendiary Magistrate, ex parte Pinochet Ugarte, (1998) 4 All E.R. 897.
  93. http://www2.ohchr.org/english/law/cat.htm.
  94. Kreicker, Helmut, Völkerrechtliche Exemtionen, Bd.1, S. 165-173; Dörr, Oliver, Staatliche Immunität auf dem Rückzug?, S. 214.
  95. Art. 7 Abs. 2 Statut Jugoslawientribunal; Art. 6 Abs. 2 Statut Ruandatribunal, Art. 27 ICC-Statut, siehe hierzu: Peters, Anne, Völkerrecht, S. 96.
  96. Mehr hierzu, siehe: Bantekas, Ilias / Nash, Susan, International Criminal Law, Kapitel 19.
  97. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 184.
  98. Art. 6 des Statuts des Internationalen Militärtribunals.
  99. Mehr hierzu, siehe: Bantekas, Ilias / Nash, Susan, International Criminal Law, Kapitel 20.
  100. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 185f.; Werle, Gerhard, Völkerstrafrecht, 2. Aufl., 2007, S. 262-275.
  101. ICC St., Art. 27 Abs. 1.
  102. ICC St., Art. 27 Abs. 2.
  103. Werle, Gerhard, Völkerstrafrecht, S. 250.
  104. ICC St. Art. 98 Abs. 1.
  105. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 186f..
  106. Ambos, Kai, Der Fall Pinochet und das anwendbare Recht, in: Juristenzeitung 54 (1999), S. 20.
  107. R.v. Bow Street Metropolitan Stipendiary Magistrate, ex parte Pinochet Ugarte (No.3, Amnesty International and other intervening), 1999 2 WLR 827.
  108. Wirth, Steffen, Staatenimmunität für internationale Verbrechen, S. 70; Ambos, Kai, Der Fall Pinochet und das anwendbare Recht, S. 16; Byers, Michael, The Law and Politics of the Pinochet Case, in: Duke Journal of Comparative and International Law 10 (2000), S. 415.
  109. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 187.
  110. Bank, Roland, Der Fall Pinochet: Aufbruch zu neuen Ufern bei der Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen? Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 59 (1999), S. 703.
  111. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 191.
  112. Bianchi, Andrea, Immunity versus Human Rights: The Pinochet Case, in: European Journal of International Law 10 (1999), S. 237, 255f..
  113. Gebhard, Julia, Die strafrechtliche Immunität von Amtsträgern, S. 195.
  114. P. Heilbronn, Subjekte des Völkerrechts, in: Strupp (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, Bd. 2 (1925), S. 684 (685), zit. n. Dörr, Oliver, „Privatisierung“ des Völkerrechts, in: Juristenzeitung 60 (2005), S. 905.

Google Street View

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Notwendigkeit einer Grenzziehung?

ref. jur. Marion Weber

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„Das Ziel von Google besteht darin, die auf der Welt vorhandenen Informationen zu organisieren und allgemein zugänglich und nutzbar zu machen.“ 1 So stellt sich das Unternehmen Google Inc. selbst in seinem Unternehmensprofil dar. Doch nicht jeder möchte seine personenbezogenen Daten organisiert wissen und der gesamten Welt zur Verfügung stellen. Dieses Spannungsfeld zwischen vereinfachter Informationsfindung einerseits und  Gefahr der Bündelung von Wissen bei einem marktbeherrschenden Unternehmen andererseits besteht auch bei einem neuen Dienst des Unternehmens: Google Street View. Aufgrund der in der Gesellschaft wachsenden Sorge über dieses neue Projekt hat sich mittlerweile auch die Politik eingeschaltet. So hat der Bundesrat sich im Juli darauf geeinigt, einen Gesetzentwurf in den Bundestag einzubringen, der bestimmte Grenzen für den Betrieb von Google Street View vorsieht.

I. Untersuchungsgegenstand

Der Online-Dienst Google Street View ist eine Erweiterung des schon seit 2005 existierenden, im Internet kostenlos abrufbaren Dienstes Google Maps. Mit Google Street View soll nun über die bisherige zweidimensionale geographische Darstellung von Karten und Satellitenfotographien hinaus auch eine 360-Grad-Panorama-Abbildung der Straßen ermöglicht werden. So soll Google Street View als letzte Zoom-Ebene einer Straßenkarte verstanden werden, wodurch man Abbildungen von Gebäudeansichten, Straßenszenen und des Straßenverkehrs sehen kann. 2 Die Aufnahme dieser Bilder erfolgt mit speziellen Kameras für die 360-Grad-Ansicht, welche auf dem Dach herkömmlicher Pkws befestigt sind. Zunächst werden die Aufnahmen im Pkw gespeichert. Anschließend findet eine Auswahl und Bearbeitung der Bilder statt, im Rahmen derer auch eine Unkenntlichmachung von Gesichtern und Autokennzeichen erfolgen soll.  In Deutschland wurden bereits umfassend Aufnahmen getätigt. Da Google Inc. jedoch mit dem Hamburgischen Datenschutzbeauftragten eine Sondervereinbarung 3 getroffen hat, müssen vor der Veröffentlichung der deutschen Bilder noch einige Maßnahmen getroffen werden. Geplant ist aber ein Starttermin noch im Jahr 2010. 4

II. Datenschutzrechtliche Zulässigkeit

1. Anwendungsbereich des BDSG

Die Anwendbarkeit des BDSG richtet sich, da es sich bei Google Inc. um eine nicht-öffentliche Stelle nach § 2 Abs.4 S.1 BDSG handelt, nach § 1 Abs.2 Nr.3 BDSG. Danach müsste eine automatisierte oder dateigebundene Datenverarbeitung vorliegen. Dies ist dann der Fall, wenn eine Auswertung der Daten möglich ist. 5 Ziel von Google Street View ist es, dem Nutzer nach Eingabe bestimmter Informationen, etwa einer Adresse, Daten über diese Örtlichkeit in automatisierter Weise zur Verfügung zu stellen. Somit liegt eine automatisierte Auswertung vor. Zweifel an der Anwendbarkeit des BDSG könnten sich noch aus dem vorhandenen Auslandsbezug ergeben. So knüpft das BDSG grundsätzlich an den Sitz der verantwortlichen Stelle an. Dieser liegt bei Google Inc. in den USA. Ausgenommen von diesem Prinzip werden jedoch gemäß § 2 Abs.5 S.2 BDSG Unternehmen, die wie Google Inc. außerhalb des EU-Raums ihren Sitz haben. Für diese kommt das Territorialprinzip zum Tragen. 6 Ausreichend ist, dass die Daten im Inland erhoben werden. Da die Aufnahmen der Google Street View -Fahrzeuge innerhalb der Bundesrepublik getätigt und gespeichert werden, ist das BDSG anwendbar.

2. Personenbezogene Daten

Da nach § 1 Abs.1 BDSG der Zweck des Gesetzes im Schutz personenbezogener Daten liegt, ist es erforderlich, dass die im Rahmen des Projektes erhobenen Daten einen Personenbezug aufweisen. Gemäß § 3 Abs.1 BDSG sind personenbezogene Daten Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person. Das Merkmal der persönlichen oder sachlichen Verhältnisse bedeutet, dass die Daten Informationen über den Betroffenen selbst oder einen auf ihn beziehbaren Sachverhalt enthalten müssen. 7 Bestimmbarkeit einer Person liegt dann vor, wenn die betroffene Person – zumindest mit Hilfe von Zusatzwissen – identifiziert werden kann. 8 Umstritten ist hierbei, von welchem Zusatzwissen auszugehen ist.

Zum Teil wird vertreten, es komme auf das Zusatzwissen der verarbeitenden Stelle an. Vorliegend wäre also entscheidend, ob Google Inc. ohne unverhältnismäßigen Aufwand die betroffene Person bestimmen könnte. 9 Diese Ansicht widerspricht jedoch dem weiten Verständnis des Bundesverfassungsgerichts, nach welchem es kein belangloses Datum gibt. 10 Auch eine Betrachtung der Nutzungsmöglichkeiten von Google Street View spricht gegen diese Ansicht. So wird der Dienst häufig durch Familienmitglieder, Freunde, Nachbarn oder Bekannte genutzt werden. Gerade auf diese potenziellen Nutzer ist daher auch bei der Frage nach der Bestimmbarkeit abzustellen. 11 Ausschlaggebend ist daher eine weite Auslegung des Begriffs der Bestimmbarkeit. Die Möglichkeit der Identifizierung durch zusätzliches Wissen eines Dritten ist somit einzubeziehen. 12 Nach dieser Ansicht ist der Personenbezug jedenfalls bei der Abbildung von Personen zu bejahen. Ein potenzieller Internet-Nutzer mit persönlichen Kontakten zu den Abgebildeten kann diesen identifizieren. Dasselbe gilt für Kfz-Kennzeichen, da diese durch Einsicht in entsprechende Verzeichnisse ohne unverhältnismäßigen Aufwand einer Person zugeordnet werden können. 13 Problematischer ist der Personenbezug bei Gebäuden und Straßenansichten. Eine Herleitung des Personenbezugs allein über das Eigentum an der Sache kann nicht ausreichen, da sonst bei praktisch jeder Sache ein Personenbezug vorläge. 14 Heranzuziehen ist wiederum die Sicht einer Person, die als potenzieller Nutzer von Google Street View den betroffenen Hausbewohner kennt. Sie kann aufgrund des Wohnumfeldes, vor allem des Zustandes des Hauses und der Straße Rückschlüsse auf die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der dort lebenden Personen schließen. 15 Ein Personenbezug ist daher auch diesbezüglich zu bejahen. 16 Der Personenbezug entfällt bei Google Street View auch nicht durch Anonymisierung nach § 3 Abs.6 BDSG. Zwar wurde von Google zugesagt, Gesichter und Kfz-Kennzeichen verzerrt darzustellen. 17 Dies erfolgt jedoch erst in einem zweiten Schritt nach Erhebung der Daten. 18 Zudem genügt bei Personen oft auch nicht die Verzerrung des Gesichtes, da der Personenbezug auch durch andere Merkmale, z.B. eine auffällige Kleidung oder Frisur hergestellt werden kann. 19

 

3. Anordnung der Zulässigkeit

Gemäß § 4 Abs.1 BDSG ist die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten nur zulässig, soweit dies erlaubt ist oder der Betroffene eingewilligt hat. Eine Einwilligung kommt aufgrund der großen Anzahl der Betroffenen faktisch nicht in Betracht.

a. Einschlägige Rechtfertigungsnorm

Einschlägig als Erlaubnisnorm könnte § 28 Abs.1 Nr.3 BDSG oder § 29 Abs.1 Nr.2 BDSG sein. Die Unterscheidung erfolgt hierbei danach, ob es sich um eine Datenverarbeitung für eigene Zwecke (dann § 28 BDSG) oder für geschäftsmäßige Übermittlungszwecke (dann § 29 BDSG) handelt. Eine Verwendung für eigene Zwecke liegt dann vor, wenn personenbezogene Daten nur ein Hilfsmittel für die eigentliche Geschäftstätigkeit sind. 20 Bei Google Street View liegt der gesamte Geschäftszweck jedoch in der Übermittlung personenbezogener Daten. Es ist daher eine geschäftsmäßige Datenerhebung nach § 29 BDSG anzunehmen. 21

b. Allgemein zugängliche Quelle, § 29 Abs.1 S.1 Nr.2 BDSG

Um zur Rechtfertigung nach § 29 Abs.1 Nr.2 BDSG zu kommen, müssten die von Google Street View erhobenen Daten zunächst allgemein zugänglich sein. Dies ist dann der Fall, wenn die Daten geeignet und bestimmt sind, der Allgemeinheit, also einem individuell nicht bestimmbaren Personenkreis, Informationen zu verschaffen. 22 Ausgangspunkt ist hierbei, dass jeder sich zu der betroffenen Straße begeben kann und sich diese ansehen kann. Straßenansichten stellen also grundsätzlich allgemein zugängliche Quellen dar. Fraglich ist jedoch, ob dies auch für die Aufnahmen gilt, die Google aus ca. 3 m oberhalb des Straßenniveaus aufnimmt. 23 Einerseits könnte man damit argumentieren, dass die faktische Zugänglichkeit auch hier gegeben ist. So sind etwa auch Luftaufnahmen dach deutschem Recht gestattet. Ein Einblick, der über das Einsehen des Straßenbildes beim regulären Spaziergang durch eine Stadt hinausgeht, ist tatsächlich also jedem möglich. 24 Allerdings ist ein solcher Blick aus der Luft oder aus einer Höhe über 2 m im Alltag sehr unwahrscheinlich, sodass die Betroffenen mit einem solchen Einblick nicht rechnen müssen. Öffentlich zugänglich ist also nur der Raum, der aus einer Höhe von höchstens 2 m eingesehen werden kann. 25 Nur in Bezug auf diese Maximalhöhe ist § 29 Abs.1 Nr.2 BDSG also weiter zu prüfen. Bei Aufnahmen, die aus einer darüber liegenden Höhe angefertigt werden, kommt eine Rechtfertigung mangels allgemeiner Zugänglichkeit nicht in Betracht. Diese sind daher unzulässig.

c. Interessenabwägung

Für Aufnahmen bis zu einer Maximalhöhe von 2 m muss nunmehr im Rahmen einer Interessenabwägung geprüft werden, ob eine Rechtfertigung nach § 29 Abs.1 Nr.2 BDSG erfolgen kann. Dazu dürfte das schutzwürdige Interesse der Betroffenen an dem Ausschluss der Datenerhebung bzw. -speicherung nicht offensichtlich überwiegen. Zunächst sind die Interessen von Google Inc. in den Blick zu nehmen. Google möchte mit Google Street View die Bevölkerung über Geodaten informieren. Geschützt wird dieses Geschäftsmodell einerseits über Art.12 Abs.1 GG. Neben dem Recht auf unternehmerische Freiheit kann sich Google aber auch auf die Informationsfreiheit aus Art. 5 Abs.1 S.1 GG berufen. So sind viele Einsatzmöglichkeiten denkbar, im Rahmen derer die Gesellschaft einen Nutzen aus der umfassenden Information durch Google ziehen kann. Etwa Reisen, Ausflüge oder auch geschäftliche Termine sind besser planbar. Man kann sich schon im Vorhinein über die Örtlichkeiten, über Parkmöglichkeiten und etwaige Unterkünfte informieren. Zudem kann die Anwendung von Google Street View zu einem verbesserten Verständnis der Umwelt führen. Es ist möglich, entfernte Orte ohne großen zeitlichen und finanziellen Aufwand zu erkunden. 26 Zudem ist auch ein allgemeines Informationsbedürfnis der Menschen nicht außer Acht zu lassen. Zwar wird gerade diese Möglichkeit, Google Street View allein zur Befriedigung der eigenen Neugierde zu nutzen – etwa um sich zu informieren, wie Freunde, Bekannte oder Nachbarn leben – immer wieder kritisiert. Doch die grundrechtlich geschützte Informationsfreiheit unterscheidet nicht nach dem Zweck des Informationsgesuchs. Geschützt ist damit also auch dieses oftmals allein auf Neugierde basierende allgemeine Informationsbedürfnis. Weiterhin ist zugunsten von Google in die Interessenabwägung einzubringen, dass keine Echtzeit-Darstellung erfolgt und dass zudem keine sensiblen Daten erhoben werden. 27 Allerdings hat die fehlende Erhebung von sensiblen Daten nicht automatisch die Herabsetzung des Schutzniveaus zur Folge. So gibt es kein belangloses Datum. 28 Schon die erhebliche öffentliche Diskussion, die über Google Street View stattfindet, zeigt, dass die von Google erhobenen Daten keinesfalls belanglos sind. Zudem ist auch der erhebliche Umfang der bei Google Street View erhobenen Daten zu betrachten. Durch diese riesige Datenmenge können Rückschlüsse auf die Lebensweise, auf die Weltanschauung und auf die finanziellen Verhältnisse der Bewohner gezogen werden. Denkbar ist sogar die Nutzung von Google Street View zur Prüfung der Kreditwürdigkeit der betroffenen Person. 29 Es besteht die Gefahr der Entstehung von umfassenden Persönlichkeitsbildern. Diese Gefahr wird noch verstärkt durch die Möglichkeit, Google Street View mit anderen Diensten zu verknüpfen. So verweist Lindner 30 etwa auf den Dienst „rottenneigbor.com“, der es ermögliche, unter Verwendung der Karten auf Google Maps die eigenen Nachbarn unter Nennung von Namen und Adressen im Internet zu denunzieren.

Weiter einzubeziehen ist die stigmatisierende Wirkung, die Google Street View nach sich ziehen kann. Beispielsweise wurde von Fällen berichtet, in denen deutlich das Bild eines Mannes im Kontakt mit einer Prostituierten erkennbar war. 31

Auch zu berücksichtigen ist die fehlende Beherrschbarkeit der verwendeten Daten. So fehlt einerseits schon jeder von den Betroffenen gegebene Anlass zur Datenveröffentlichung, da sie keinerlei Näheverhältnis zu Google haben. 32 Weiterhin werden die Daten trotzdem in die unbeherrschbare Welt des World Wide Web gegeben, von wo aus sie nicht mehr rückholbar sind. 33 Diese fehlende Beherrschbarkeit wird noch verstärkt durch eine große Unwissenheit. So ist der Kreis der potentiellen Verwender von Google Street View unbestimmt und auch die Zwecke, zu denen diese die personenbezogenen Daten verwenden, können von den Betroffenen nicht ermittelt werden. Oft werden dies Zwecke sein, die von den Betroffenen nicht erwünscht sind. So besteht ein Hauptanwendungszweck von Google Street View in der bloßen Befriedigung der eigenen Neugierde, etwa um herauszufinden, wie Freunde, Verwandte oder auch nur flüchtig bekannte Personen leben.

Schließlich muss eine weitere oft befürchtete Nutzungsmöglichkeit beachtet werden: die Nutzung zu kriminellen Zwecken. Denkbar ist etwa die Vereinfachung von Stalking und die Vorbereitung von Eigentums- und Vermögensdelikten durch das Einsehen der Wohnverhältnisse der potentiellen Opfer und das Erkennen etwaiger Sicherheitslücken. 34 Aufgrund dieser erheblichen Nachteile und sogar Gefahren der Nutzung von Google Street View muss die Interessenabwägung zunächst negativ für Google ausfallen. So überwiegen die Interessen der von der Datenerhebung betroffenen Anwohner vor allem aufgrund der Gefahren durch die Erstellung eines umfassenden Gesamtbildes erheblich. Nicht außer Acht lassen darf man aber die von Google eingeräumten Verfahrensrechte. So ist zunächst anzuerkennen, dass die Aufnahmen nicht mehr heimlich getätigt werden. Google beschreibt auf der eigenen Homepage den jeweils aktuellen Stand der Aufnahmen und informiert über die Örtlichkeiten – gegliedert in Land, kreisfreie Städte und Landkreise- , in denen in nächster Zeit Aufnahmen geplant sind. 35 Weiterhin hat sich Google verpflichtet, Gesichter und Autokennzeichen unkenntlich zu machen. 36 Und auch in Bezug auf die Abbildung von Häusern und Grundstücken wurde ein Verfahrensrecht eingeräumt. Es besteht die Möglichkeit des Widerrufs, wenn man sein Haus nicht abgebildet sehen möchte. Durch diese Verfahrensrechte werden viele der oben genannten Gefahren beseitigt oder zumindest abgeschwächt. Von einem offensichtlichen Überwiegen der Betroffeneninteressen kann daher nicht mehr gesprochen werden. Sollte sich im Laufe des Projekts ergeben, dass Google Inc. sich nicht an die getätigten Zusagen hält, kann die Abwägungsentscheidung natürlich auch wieder gegenteilig ausfallen. 37 Hält man sich jedoch an die Vorgaben, so fällt die Abwägung zu Gunsten von Google Inc. aus. Die Datenerhebung ist damit gem. § 29 Abs.1 Nr.2 BDSG gerechtfertigt, also zulässig.

III. Fazit

Nach aktueller datenschutzrechtlicher Rechtslage ist das Projekt Google Street View also größtenteils als rechtmäßig zu erachten. Diese Beurteilung ist jedoch keineswegs unumstritten. 38 Vor allem die generalklauselartigen Bestimmungen des BDSG, z.B. das personenbezogene Datum und die Abwägungsentscheidung, bereiten bei einem solch speziellen und neuartigen Projekt wie Google Street View erhebliche Schwierigkeiten. Die von Google Inc. freiwillig übernommenen Schutzmaßnahmen sind zwar zu begrüßen, führen aber nicht zur notwendigen Rechtssicherheit. Zudem sind von diesem Schutz die Personen ausgenommen, die nicht über einen Internetzugang verfügen. Diese können sich nur schwer über die Möglichkeit des Widerrufs und über die Orte neuer Aufnahmen informieren. Die breit geführte Diskussion sowohl in der Wissenschaft als auch in der Öffentlichkeit hat gezeigt, dass eine bereichsspezifische gesetzliche Regelung notwendig ist. Die momentanen Bemühungen zur Schaffung einer gesetzlichen Regelung sind somit zu begrüßen und es ist auf eine anwendungsfreundliche, die vorgebrachten Bedenken berücksichtigende Normierung zu hoffen.

Zur Autorin: Marion Weber war Studentin der Rechtswissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.


Fußnoten:

  1. vgl. http://maps.google.de/intl/de/help/maps/streetview/using-street-view.html (Stand: 24.07.2010)
  2. vgl. http://maps.google.de/intl/de/help/maps/streetview/using-street-view.html (Stand: 24.07.2010)
  3. vgl. http://www.hamburg.de/datenschutz/aktuelles/1569338/google-street-view-zusage.html (Stand: 24.07.2010)
  4. http://maps.google.de/intl/de/help/maps/streetview/where-is-street-view.html (Stand: 24.07.2010)
  5. Gola/Schomerus, BDSG, 9. Aufl. 2007, § 3 Rn 15a
  6. vgl. Gola/Schomerus, BDSG, 9. Aufl. 2007, § 1 Rn 29
  7. Gola/Schomerus, BDSG, 9. Aufl. 2007, § 3 Rn 5
  8. Dammann in Simitis, BDSG, 6. Aufl. 2006, § 3 Rn 22
  9. so Gola/Schomerus, BDSG, 9. Aufl. 2007, § 3 Rn 10
  10. BVerfGE 65, 1, 45
  11. Caspar, DÖV 2009, 965, 967
  12. so auch Lindner, ZUM 2010, 292, 296; Jahn/Striezel, K&R 2009, 753, 755; Spiecker gen. Döhmann, CR 2010, 311, 313
  13. so auch Jahn/Striezel, K&R 2009, 753, 755
  14. vgl. Caspar, DÖV 2009, 965, 967
  15. so auch Caspar, DÖV 2009, 965, 969f.
  16. ähnlich auch Spiecker gen. Döhmann, CR 2010, 311, 315, die aber zwischen größeren Mehrfamilienhäusern mit typischem Erscheinungsbild für das jeweilige Stadtviertel und Ein- und kleineren Mehrfamilienhäusern bzw. Gebäuden im ländlichen Raum differenziert; kritisch dagegen LG Waldshut-Tiengen, MMR 2000, 172, 175
  17. http://maps.google.de/intl/de/help/maps/streetview/privacy.html (Stand: 24.07.2010)
  18. Spiecker gen. Döhmann, CR 2010, 311, 315
  19. Lindner, ZUM 2010, 292, 297
  20. Wohlgemuth/Gerloff, Datenschutzrecht, 3. Aufl. 2005, S.86
  21. so auch Caspar, DÖV 2009, 965, 971; Spiecker gen. Döhmann, CR 2010, 311, 315 lässt diese Frage dagegen aufgrund des weitgehend identischen Wortlauts der beiden Normen offen
  22. Simitis in Simitis, BDSG, 6. Aufl. 2006, § 28 Rn 189; Ehmann in Simitis, BDSG, § 29 Rn 196
  23. vgl. http://www.heise.de/newsticker/meldung/Google-Wir-sind-der-festen-Ueberzeugung-dass-Street-View-rechtmaessig-ist-944308.html (Stand: 24.07.2010)
  24. vgl. Lindner, ZUM 2010, 292, 298
  25. so auch Spiecker gen. Döhmann, CR 2010, 311, 315
  26. für weitere Nutzungsmöglichkeiten von GSV: vgl. http://maps.google.de/intl/de/help/maps/streetview/using-street-view.html (Stand: 24.07.2010)
  27. so auch Spiecker gen. Döhmann, CR 2010, 311, 316
  28. BVerfGE 65, 1, 45
  29. so auch Lindner, ZUM 2010, 292, 298
  30. Lindner, ZUM 2010, 292, 300
  31. vgl. http://www.20min.ch/digital/dossier/google/story/mit-street-view-auf-dem-strich-10192104 (Stand: 24.07.2010)
  32. so auch Jahn/Striezel, K&R 2009, 753, 756
  33. so auch Spiecker gen. Döhmann, CR 2010, 311, 317
  34. so auch Spiecker gen. Döhmann, CR 2010, 311, 316f.
  35. http://maps.google.de/intl/de/help/maps/streetview/where-is-street-view.html (Stand: 24.07.2010)
  36. vgl. http://www.hamburg.de/datenschutz/aktuelles/1569338/google-street-view-zusage.html und http://maps.google.de/intl/de/help/maps/streetview/privacy.html (Stand: 24.07.2010)
  37. so auch Caspar, DÖV 2009, 965, 973 mit Verweis auf die Möglichkeit des Einschreitens der Aufsichtsbehörde
  38. a.A. bzgl. der Abwägungsentscheidung z.B. Spiecker gen. Döhmann, CR 2010, 311, 317

Die Datei „Gewalttäter Sport“

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Wiss. Ass. Klaus Krebs

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„Das Bundeskriminalamt darf weiterhin die Daten von Hooligans speichern. Adriano wechselt mit 20 Kilogramm Übergewicht zum AS Rom“, stenographierte Spiegel Online am 9.6.2010. Hier soll es um Ersteres gehen.

 

An besagtem 9.6.2010 entschied das BVerwG einen lang andauernden Streit um die Rechtmäßigkeit der 1994 geschaffenen Datei „Gewalttäter Sport“. In dieser als sog. Verbunddatei geführten Datensammlung werden Personen erfasst, die bei Sportveranstaltungen bestimmte Straftaten begehen oder dieser auch nur verdächtigt werden. Eine Einstellung des Ermittlungsverfahrens steht der Datenerfassung nicht entgegen. Ausreichend ist, dass bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die Person bei künftigen Sportereignissen gewalttätig wird. Zielsetzung ist, Gewalttäter präventiv von in- und ausländischen Sportveranstaltungen fernzuhalten. Das kann etwa durch Meldeauflagen und Ausreiseverbote erreicht werden. Diese tief in Grundrechte eingreifenden Maßnahmen geben einen Eindruck davon, welch weitreichende Folgen eine Eintragung in die „Hooligan-Datei“ haben kann, in der im Juni 2009 insgesamt 11 245 Personen registriert waren.

 

Was war nun der Auslöser der juristischen Auseinandersetzung, die kürzlich beim BVerwG ihr vorläufiges Ende fand? Es war nicht die Speicherung der Daten an sich, sondern die Frage, welche Arten von Daten aufgenommen werden dürfen. Das maßgebliche Bundeskriminalamtgesetz 1 (BKAG) bleibt in dieser Frage unscharf: § 8 Abs. 1 BKAG erwähnt zwar etwa die Speicherfähigkeit von Tatzeit, Tatort und Tatvorwurf; im Übrigen ist in den §§ 8 und 9 BKAG aber überwiegend nur von „personenbezogenen Daten“ die Rede. Auch die Generalklausel des § 7 Abs. 1 BKAG, wonach die Speicherung, Nutzung und Veränderung personenbezogener Daten durch das Bundeskriminalamt zulässig ist, „soweit dies zur Erfüllung seiner jeweiligen Aufgabe als Zentralstelle erforderlich ist“, sorgt nicht für Klarheit 2. Und so scheint es, als habe der Gesetzgeber die Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes (wieder einmal) übersehen. Hat er aber nicht! Dies zeigt ein Blick auf § 7 Abs. 6 BKAG:

 

„Das Bundesministerium des Innern bestimmt mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung das Nähere über die Art der Daten, die nach den §§ 8 und 9 BKAG gespeichert werden dürfen.“

 

Um diese Norm drehte sich der Auslegungskrieg unter den Juristen. Einige Gerichte 3 und Autoren 4 nahmen den Standpunkt ein, dass es sich um eine Vorschrift mit nur deklaratorischem Charakter handele, der Erlass einer konkretisierenden Rechtsverordnung also nicht zwingend sei. Die verfassungsrechtlichen Bedenken versuchte das VG Schleswig durch Verweis auf eine mit Zustimmung der Innenminister der Länder nach § 34 BKAG erlassene Errichtungsanordnung 5 auszuräumen, die nähere Vorgaben für die Art der zu speichernden Daten enthält 6. Diese Argumentation verfängt jedoch nicht, denn der mit der Datenspeicherung verbundene Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bedarf der Rechtfertigung durch ein materielles Gesetz, das auch den Umfang der Datenerhebung regeln muss 7. Unabhängig vom Streit um die Rechtsnatur 8 von  Errichtungsanordnungen, die zumindest Ähnlichkeit zu Verwaltungsvorschriften aufweisen 9, handelt es sich jedenfalls mangels Außenwirkung nicht um materielle Gesetze.

 

Die überwiegende Ansicht in Rechtsprechung 10 und Lehre 11 geht daher heute zu Recht davon aus, dass § 7 Abs. 6 konstitutive Bedeutung zukommt. Dafür sprechen auch die Gesetzgebungsmaterialien 12 und vor allem der Wortlaut der Norm („Das Bundesministerium des Innern bestimmt“). Ferner belegt dies § 13 Abs. 1 Satz 1 BKAG, wonach die Landeskriminalämter dem Bundeskriminalamt „nach Maßgabe der Rechtsverordnung zu § 7 Abs. 6“ die entsprechenden Informationen übermitteln, und dessen Gesetzesbegründung: „Satz 1 verweist hinsichtlich der Übermittlungsvoraussetzungen auf die zu § 7 Abs. 6 zu erlassende Rechtsverordnung“ 13.

 

So zahlreich die Argumente für diese Auslegung aber auch sein mögen, die Bundesregierungen blieben über ein Jahrzehnt eine Rechtsverordnung schuldig, obwohl der Bundesbeauftragte für den Datenschutz schon am 4.5.1999 unmissverständlich in seinem Tätigkeitsbericht ausführte: „Für die Umsetzung des [BKA–]Gesetzes besteht jedoch weiterer Handlungsbedarf, woran ich das BMI frühzeitig erinnert habe. Dazu zählt in erster Linie der Erlass einer Rechtsverordnung nach § 7 Abs. 6 BKAG […] Bisher ist das BMI seiner Verpflichtung nach § 7 Abs. 6 BKAG leider nicht nachgekommen. Dies ist mir unverständlich“ 14.

 

Bestätigt wurde dieser Missstand durch das VG Gießen bereits im April 2002 15. Die Politik kümmerte es wenig. Sie blieb – getreu dem Motto „rechtswidrig ja, aber es funktioniert doch“ – weiter untätig.

 

Erst Anfang 2009 stellte die FDP den Antrag, die „Datei ‚Gewalttäter Sport‛ auf  [eine] verfassungsmäßige Grundlage [zu] stellen“ 16. Es verstrich noch ein weiteres Jahr, in dem munter Daten in die rechtswidrige Datei eingespeichert wurden, ehe das BVerwG im Juni 2010 endlich die Gelegenheit bekommen sollte, dem Treiben ein Ende zu bereiten. Aber was geschah? Zack, da war sie. Das Bundesministerium des Innern zog am 28.5.2010 aus dem Zylinder das Kaninchen mit dem Namen „Verordnung über die Art der Daten, die nach den §§ 8 und 9 des Bundeskriminalamtgesetzes gespeichert werden dürfen“ 17. Sie ist seit 9.6.2010 geltendes Recht und erlaubt in § 1 Abs. 2 Nr. 2 f) sogar die Erfassung der Schuhgröße 18. Die Richter des BVerwG konnten in ihrem – am 14.6.2010 noch unveröffentlichten – Urteil wohl nur noch zähneknirschend applaudieren 19. Die Datei „Gewalttäter Sport“ ist rechtmäßig (geworden).

 

Ein skandalöses Vorgehen der Bundesregierung? Wohl allenfalls ein Skandälchen, wenn man es mit dem Transfer des brasilianischen Moppelchens Adriano Leite Ribeiro, kurz Adriano,  von Flamengo Rio de Janeiro zum AS Rom vergleicht. Der ehemalige Wunderstürmer machte in jüngster Zeit zunächst Schlagzeilen mit Trainingsschwänzen und Drogen. Letzteres bestritt zwar der Vizepräsident seines bisherigen Vereins, Herr Marcos Braz: „Es ist absurd zu sagen, Adriano habe Drogenprobleme“. Andererseits konstatierte derselbe unter Einräumung, dass auch Alkohol eine Droge sei: „Adriano hat ein Problem mit dem Trinken. Wenn er einmal anfängt, kann er nicht mehr aufhören“. Beim Ansammeln von Daten scheint es der Bundesrepublik ähnlich zu gehen.

Damit aber nicht genug: Während eines Gelages in Rio stritt sich 102-Kilo-Adriano, den die Medien seines Heimatlands lange als „O Imperador“ (der Herrscher) feierten, mit seiner Verlobten. Er ließ sie daraufhin kurzerhand an einen Baum binden, wo „sie unter Tränen bis sieben Uhr morgens unter dem Gelächter ihres Verlobten und dessen Freunde“ ausharren musste 20. Wäre das in einem deutschen Fußballstadion passiert – wir hätten seine Daten erfasst!

So aber bleibt in Unkenntnis seiner genauen Schuhgröße nur der neidische Blick auf Dickerchens Fünf-Millionen-Jahresgehalt beim AS Rom – der Euphemismus „Hüftgold“ gewinnt an Wahrheit.

 

Zum Autor: Klaus Krebs ist wissenschaftlicher Assistent an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

 


Fußnoten:

  1. Gesetz über das Bundeskriminalamt und die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in kriminalpolizeilichen Angelegenheiten v. 7.7.1997 (BGBl. 1997 I S. 1650).
  2. So Petri, in: Lisken/Denninger (Fn. 2), S. 975.
  3. VG Mainz, DuD 2009, 195; VGH Kassel, NJW 2005, 2727; VG Schleswig, Urt. v. 23.4.2004 – 1 A 219/02 (Juris).
  4. Insbesondere der bisher wohl einzige Kommentator dieser Vorschrift, auf den sich die Gerichtsentscheidungen unter Fn. 8 beziehen, der jedoch selbst keine Begründung für seine Auffassung liefert: Ahlf, in: Ahlf/Daub/Lersch/Störzer, Taschenkommentar zum Bundeskriminalamtgesetz, 1. Aufl. 2000, § 7 Rn. 24.     
  5. Zur Begriffsbestimmung Petri, in: Lisken/Denninger (Fn. 2), S. 944 f.
  6. VG Schleswig (Fn. 7), Rn. 30.
  7. Arzt/Eier, DVBl. 2010, 816, 821 m.w.N.
  8. Nachweise bei Arzt/Eier, DVBl. 2010, 816, 821.
  9. Vgl. Petri, in: Lisken/Denninger (Fn. 2), S. 944.
  10. OVG Lüneburg, NdsVBl. 2009, 135; VG Gießen, NVwZ 2002, 1531; VG Karlsruhe, Urt. v. 14.4.2010 – 3 K 1988/09, BeckRS 2010, 48 499.
  11. Arzt/Eier, DVBl. 2010, 816; May, NdsVBl. 2002, 41 jeweils mit Hinweisen auf weitere befürwortende Autoren.
  12. BT-Drucks. 13/1550, S. 25.
  13. BT-Drucks. 13/1550, S. 30 (Hervorhebungen durch Verf.).
  14. 17. Tätigkeitsbericht 1997 und 1998 des Bundesbeauftragten für den Datenschutz, BT-Drucks. 14/850, S. 106.
  15. VG Gießen, NVwZ 2002, 1531.
  16. BT-Drucks. 16/11752.
  17. BGBl. 2010 I S. 716.
  18. Eine Pflicht zur Benachrichtigung des Betroffenen gibt es dagegen weiterhin nicht, obwohl sie sowohl rechtspolitisch als auch verfassungsrechtlich angezeigt wäre. Vgl. zu Letzterem Arzt/Eier, DVBl. 2010, 816, 824 m.w.N.
  19. Die Pressemitteilung Nr. 47/2010 BVerwG 6 C 5.09 v. 9.6.2010 ist abrufbar unter: http://www.bundesverwaltungsgericht.de/enid/40c538c8f8544be20c8dfdc4b12e4572,2499e37365617263685f646973706c6179436f6e7461696e6572092d093133303830093a095f7472636964092d0931393535/Pressemitteilungen/Pressemitteilungen_9d.html (Abruf v. 14.7.2010)
  20. Zitiert nach Basler Zeitung v. 9.3.2010, abrufbar unter: http://bazonline.ch/sport/fussball/Brasiliens-Star-Adriano-fesselt-Verlobte-an-einen-Baum/story/10940754 (Abruf v. 14.7.2010).

Einführung in das schwedische Kartellrecht mit Vertiefungshinweisen

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univ. adj., int. am., ref. jur. Johannes Lerm

 

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Mit diesem Artikel soll ein erster, allgemeiner Überblick über das schwedische Kartellrecht vermittelt und dem Leser Vertiefungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Die kursiv in Klammern geschriebenen Worte geben jeweils die schwedischen Fachausdrücke wieder. Bezüglich der Verwendung einiger Fachausdrücke ist folgendes zu bemerken: Das Kartellrecht wird in Schweden als „Wettbewerbsrecht“ (konkurrensrätt), der weiterführende Begriff Wettbewerbsrecht (der u.a. auch Regelungen zum unlauteren Wettbewerb, irreführender Werbung, usw. enthält) als „Marktrecht“ (marknadsrätt) bezeichnet. Das Kartellrecht ist hauptsächlich im Wettbewerbsgesetz (konkurrenslag) geregelt.

 

 I. Entwicklung

Das schwedische Kartellrecht ist heute weitestgehend mit dem EU-Kartellrecht übereinstimmend, traditionell wurde jedoch eine völlig andere Linie verfolgt. In den verschiedenen schwedischen Wettbewerbsgesetzen von vor 1993 ist der Gesetzgeber von den sog. Missbrauchs- und Verhandlungsprinzipien ausgegangen, d.h. dass zunächst ein Missbrauch von Seiten der Unternehmen gefordert wurde, bevor die Wettbewerbsgesetze überhaupt eingreifen konnten. Danach wurde versucht diesem Missbrauch durch Verhandlungen mit den betreffenden Unternehmen Abhilfe zu verschaffen. Strafsanktionen waren eher die Ausnahme und zunächst überhaupt nur bei Bruttopreisabsprachen und bei Kartellen im Zusammenhang mit Ausschreibungen möglich. Ein öffentliches Kartellregister informierte Geschäftspartner und Konsumenten über wettbewerbsverzerrende Absprachen zwischen Unternehmen. 1

Durch das Wettbewerbsgesetz von 1993 (konkurrenslagen, SFS 2 1993:20) ist der Gesetzgeber zum Verbotsprinzip (bestimmte wettbewerbsbeschränkende Verhalten sind gesetzlich verboten) übergegangen, was durch eine weitgehende Anpassung an das EU-Kartellrecht erreicht wurde. Eine Erklärung hierfür ist das sich schwedischen Unternehmen auch auf dem einheimischen Markt nach EU-Kartellrecht orientieren können sollten – Schweden ist 1994 dem EWR (Europäischer Wirtschaftsraum) und 1995 der EU beigetreten. Dieser Bruch mit der früheren Rechtstradition bedeutet auch, dass auf wenig Rechtspraxis und Doktrin zur Auslegung der neuen Regeln zurückgegriffen werden kann. Das berücksichtigt der Gesetzgeber wiederum, indem er bei der Auslegung der neuen Vorschriften auf vergleichbare Praxis des Europäischen Gerichtshofes (bzw. Gerichtes erster Instanz) verweist. 3

Die letzte größere Reform im schwedischen Kartellrecht ist 2009 geschehen (konkurrenslagen, SFS 2008:579). Dadurch hat man eine weitere Anpassung an das EU-Kartellrecht vorgenommen, die Struktur des Gesetzes grundlegend geändert und Verfahrensregeln angepasst, u.a. hat man die Möglichkeit ein Gewerbeverbot (näringsförbud) zu verhängen eingeführt.

Das schwedische Wettbewerbsgesetz (konkurrenslagen, SFS 2008:579 4), im weiteren Wettbewerbsgesetz genannt, enthält neben den Verbotsvorschriften über die Kartellbildung und den Missbrauch einer markbeherrschenden Stellung auch Regeln zur Fusionskontrolle. Im nun Folgenden werden diese zentralen Vorschriften näher erläutert.

 

II. Kartellverbot

Die Vorschrift des §1, 2. Kapitel 5 Wettbewerbsgesetz ist dem Wortlaut des Art. 101 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union 6 (AEUV) nachempfunden und stellt ein Verbot jedweder Absprachen zwischen Unternehmen, welche eine „Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken“, dar. Gleich dem EU-Recht hat man die Exemplifizierung einiger typischer Wettbewerbsbegrenzungen, z.B. Preisabsprachen oder Marktaufteilung, übernommen. Das schwedische Gesetz spricht ausdrücklich von „merkbaren“ Wettbewerbsverzerrungen. Bei der Auslegung wird vom schwedischen Kartellamt (konkurrensverket 7) auf die Bekanntmachung der EU-Kommission über Vereinbarungen von geringer Bedeutung (de minimis) 8 verwiesen und diese entsprechend angewendet. Auch hieran zeigt sich die enge Verknüpfung zwischen schwedischem und EU-Kartellrecht.

Unter bestimmten Voraussetzungen ist gem. §2, 2. Kap. Wettbewerbsgesetz ein Wettbewerbsverstoß dennoch zulässig, wenn dadurch z.B. der technische oder wirtschaftliche Fortschritt gefördert wird. Außerdem muss dem Verbraucher ein Teil des Gewinnes zu Gute kommen, die Wettbewerbsbegrenzung verhältnismäßig sein sowie der Wettbewerb in diesem Bereich nicht völlig ausgeschlossen werden.

Gruppen solcher dennoch zulässigen Absprachen sind in sog. Gruppenfreistellungsgesetzen 9 geregelt, die den Gruppenfreistellungsverordnungen auf EU-Ebene entsprechen. Zurzeit gibt es solche Gesetze für Vereinbarungen im Bereich Forschung- und Entwicklung, Spezialisierung, Technologietransfer, Vertrieb, KFZ, Versicherung sowie Taxi-Betrieb. Das letztgenannte Gesetz behandelt die Zusammenarbeit von Taxiunternehmen in gemeinsamen Bestellzentralen. Hier gibt es keine vergleichbare EU-Verordnung.

 

III. Missbrauchsverbot

Die andere zentrale Verbotsvorschrift im Wettbewerbsgesetz untersagt den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung und ist in §7, 2. Kap. 10  Wettbewerbsgesetz geregelt. Bezüglich der Abgrenzung des relevanten Marktes, zentraler Punkt bei der Ermittlung einer eventuell markbeherrschenden Stellung, enthält das schwedische Reicht keine weiterführende Regelung, weshalb bei der Auslegung auf das EU-Kartellrecht zurückzugreifen ist. 11 Genau wie Art. 102 AEUV enthält §7, 2. Kap. Wettbewerbsgesetz vier typische Missbrauchsbeispiele, z.B. die Erzwingung von unangemessenen Verkaufspreisen. Auch hier ist wieder zu erwähnen, dass die Aufzählung nicht abschließend ist. Eine vergleichbare Ausnahmeregelung wie in §2, 2.Kap Wettbewerbsgesetz gibt es nicht.

 

IV. Fusionskontrolle

Um die Bildung neuer marktbeherrschender Unternehmen möglichst zu verhindern, da diese einen potentiell negativen Effekt auf den „effektiven Wettbewerb“ (§1, 3. Kap. Wettbewerbsgesetz) haben, enthält das Wettbewerbsgesetz im 3. Kapitel Vorschriften zur Fusionskontrolle. Eine Unternehmensfusion wird im §2 des 1. Kapitels des Wettbewerbsgesetzes u.a. als Zusammengehen von zwei oder mehreren zuvor selbständigen Unternehmen definiert.

Die Regelungen zur Fusionskontrolle sind wieder dem EU-Recht 12 nachempfunden und haben bestimmte Schwellenwerte, wonach eine Fusion im Voraus anzumelden ist und erst bei Genehmigung durch die schwedische Wettbewerbsbehörde (konkurrensverket) durchgeführt werden darf. Die Schwellenwerte beziehen sich auf den Umsatz der beteiligten Unternehmen (§3, 4.Kap. Wettbewerbsgesetz).

Eine Fusion soll verboten werden, wenn dadurch das „Vorkommen oder die Entwicklung eines effektiven Wettbewerbs“ behindert wird (§1, 4.Kap. Wettbewerbsgesetz). Dabei soll insbesondere beachtet werden, ob die Fusion zur Schaffung eines markbeherrschenden Unternehmens führt bzw. eine marktbeherrschende Stellung verstärkt. Das Gesetz sieht aber auch die Möglichkeit vor, dass Unternehmen bestimmte wettbewerbsfördernde Maßnahmen vornehmen bzw. Unternehmensteile veräußern, wenn dies die wettbewerbsschädlichen Effekte ausräumt (§2, 4.Kap. Wettbewerbsgesetz). Ziel dieser Regeln ist es also nicht Unternehmensfusionen zu verhindern, sondern diese möglichst wettbewerbsneutral zu gestalten.

 

V. Rechtsfolgen und Verfahren

Rechtsfolge einer „merkbaren“ Wettbewerbsverzerrung ist gem. §6 des 2. Kapitels zivilrechtliche Ungültigkeit der Vereinbarung. Dies gilt mit Ausnahmen auch bei einer widerrechtlichen Fusion (§3, 4.Kap. Wettbewerbsgesetz). Der schwedische Gesetzgeber hat von einer vergleichbaren Regelung bezüglich des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung abgesehen. Hier wird auf ein allgemeines vertragsrechtliches Prinzip zurückgegriffen, was im §36 des schwedischen Vertragsgesetzes (avtalslagen) geregelt ist und besagt, dass unbillige (oskäliga) Vertragsbestandteile angepasst werden müssen. Daraus wird wiederum die zivilrechtliche Ungültigkeit der Vereinbarung abgeleitet, wenn der Inhalt als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung i.S.d. §7, 2.Kap Wettbewerbsgesetz zu bewerten ist. 13

Die Zuwiderhandlung wird im schwedischen Recht, genau wie im EU-Recht, mit Bußgeldern, im schwedischen „Wettbewerbsschadensgebühr“ (konkurrensskadeavgift) genannt, geahndet. Dieses Bußgeld ist von den Unternehmen zu entrichten, fällt dem Staat zu und darf bis zu 10% des letzten Unternehmensumsatzes ausmachen (§6, 3.Kap. Wettbewerbsgesetz). Im Gegensatz zur EU-Kommission kann das schwedische Kartellamt nicht selber Bußgelder bei Zuwiderhandlungen verhängen, sondern muss dies bei Gericht beantragen.

Kartellrechtliche Untersuchungen werden vom schwedischen Kartellamt (konkurrensverket 14) durchgeführt. Die weitreichenden Befugnisse hierbei sind im 5. Kapitel Wettbewerbsgesetz geregelt. Im gleichen Kapitel finden sich auch Vorschriften über die Zusammenarbeit mit der EU-Kommission sowie anderen Wettbewerbsbehörden innerhalb bzw. außerhalb der EU.

Für Kartellrechtliche Verfahren ist ein besonderer Rechtsweg vorgesehen 15: erste Instanz ist eine Kammer des Amtsgerichtes Stockholm (Stockholms tingsrätt) 16, zweite und letzte Instanz ist das „Marktgericht“ (Marknadsdomstolen) 17, ebenfals in Stockholm. Bestimmte Verfahren gehen direkt zum Marknadsdomstolen. Einzelheiten sind im 7. Kapitel des schwedischen Wettbewerbsgesetzes geregelt. Besondere Verfahrensregeln finden sich im 8. Kapitel.

Abschließend soll noch auf eine weitere mögliche Konsequenz bei Zuwiderhandlungen hingewiesen werden: Seit der letzten Reform 2009 gibt es die Möglichkeit ein „Gewerbeverbot“ (näringsförbud) zu verhängen (§24, 3.Kap. Wettbewerbsgesetz). Dies gilt für leitende Persönlichkeiten, die maßgebend bei der Kartellbildung i.S.v. §1, 2.Kap. Wettbewerbsgesetz (siehe oben „Kartellverbot“) mitgewirkt haben.

 

 

VI. Einige Beispielsfälle 18

2001 leitete das schwedische Kartellamt die Untersuchungen im sog. „Asfaltskartell“ (asfaltskartellen) mit der Durchsuchung von Geschäftsräumen bei mehreren großen schwedischen Straßenbauunternehmen ein. 2003 wurde die Untersuchung abgeschlossen und das Kartellamt beantragte insgesamt 11 Unternehmen wegen Kartellbildung zu einer Rekordbuße von insgesamt 1,6 Milliarden schwedischen Kronen (ca. 160 Millionen Euro) zu verurteilen. Die beteiligten Unternehmen hatten über viele Jahre hinweg in weiten Teilen Mittelschwedens die lukrativen Straßenbelagsarbeiten unter sich aufgeteilt. Aufsehenerregend im Zusammenhang war auch die Kartellbeteiligung des staatlichen Straßenbauamtes (Vägverket). 2007 wurden insgesamt 8 Unternehmen vom Stockholms tingsrätt (Entscheidung T 5467-03) bzw. 2009 letztinstanzlich vom Marknadsdomstolen (Entscheidung MD 2009:11) zur Zahlung von insgesamt ca. 500 Millionen schwedischen Kronen (ca. 50 Millionen Euro) verurteilt.

Ein anderer Fall ereignete sich bereits 1999. Geschäftsräume von 5 Mineralölkonzernen wurden durchsucht und Beweismaterial sichergestellt. Verbraucher hatten sich beim schwedischen Kartellamt darüber beschwert, dass sich Benzinpreise und Rabatte geändert hatten. Untersuchungen ergaben, dass es verbotene Preis- und Rabattabsprachen zwischen den Unternehmen gab. 2005 wurden die beteiligten Konzerne letztinstanzlich zu einem Bußgeld von insgesamt 112 Millionen schwedischen Kronen verurteilt (Entscheidung MD 2005:7).

Aktuell ist gerade ein Fall bei Stockholms tingsrätt anhängig gegen den Telefonbetreiber TeliaSonera. Während des Verfahrens ist auch eine Vorabentscheidung vom EuGH eingeholt worden. Das schwedische Kartellamt wirft TeliaSonera vor seine marktbeherrschende Stellung missbraucht zu haben. 19 Das Unternehmen ist Eigentümer des drahtgebundenen Telefonnetzes in Schweden und steht in Verdacht übrige Anbieter von ADSL-Diensten zu benachteiligen.

 

VII. Verhältnis zum EU-Kartellrecht

Das EU-Kartellrecht ist anwendbar, wenn der „Handel zwischen den Mitgliedsstaaten“ beeinträchtigt wird (Art. 101, 102 AEUV) bzw. eine Fusion „gemeinschaftsweite Bedeutung“ aufweist (Art. 1 VO (EG) Nr. 139/2004). Parallel dazu findet auch das schwedische Kartellrecht Anwendung. 20 Wenn es um Fragen geht, die das EU-Recht nicht berühren, findet ausschließlich schwedisches Recht Anwendung, wobei das es nach dem Willen des Gesetzgebers „vor dem Hintergrund der Rechtspraxis“ des EuGH bzw. Gericht erster Instanz ausgelegt werden soll. 21

 

VIII. Vertiefungshinweise

Wie im Artikel deutlich geworden ist das schwedische Kartellrecht in weiten Teilen mit dem EU-Kartellrecht identisch und bei der Auslegung soll auf eben jenes EU-Recht zurückgegriffen werden. Diese Verwandtschaft macht es dem EU-rechtsvertrauten Leser leicht sich dem schwedischen Kartellrecht zu nähern.

Für die weitere Informationssuche ist die ausgezeichnete Homepage des schwedischen Kartellamtes http://www.kkv.se – teilweise auch auf Englisch – zu empfehlen. Einen Überblick über die jeweils aktuell gültigen Gesetze, Verordnungen und Richtlinien erlangt man – wenn auch nur auf Schwedisch – unter „lagar och förordningar“ 22.

Dem Schwedisch gewachsene Leser empfiehlt sich ein Blick in eines der folgenden Lehrbücher zum schwedischen Kartellrecht:

 

  • Leif Gustafsson/Jacob Westin, Svensk konkurrensrätt, 3. Auflage 2010, Norstedts Juridik,
  • Ulf Bernitz, Svensk och europeisk marknadsrätt 1 – Konkurrensrätten och marknadsekonomins rättsliga grundvalar, 2. Auflage 2009, Norstedts Juridik.

Eines der umfassendsten Nachschlagewerke zum schwedischen Kartellrecht ist:

 

  • Carl Wetter, Johan Karlsson, Marie Östman, Konkurrensrätt – en kommentar, 4. Auflage 2009, Thomson Reuters.

Die Vorarbeiten zum aktuellen schwedischen Wettbewerbsgesetz sind auf der Homepage des schwedischen Reichstages veröffentlicht und finden sich unter:

 

Zum Autor: Johannes Lerm ist Jurist, Lehrer im Kartellrecht und Leiter der wirtschaftsrechtlichen Studiengänge an der Universität Linköping (Schweden).


Fußnoten:

  1. Näher zur Entwicklung des schwedischen Kartellrechtes siehe z.B. Ulf Bernitz, Den svenska konkurrenslagen (1996), S. 19ff.
  2. SFS steht für „Svensk författningssamling“, die offizielle schwedische Gesetzessammlung, online über die Seite des schwedischen Reichstages zu erreichen (http://www.riksdagen.se/Webbnav/index.aspx?nid=3910).
  3. Siehe Vorarbeiten zum schwedischen Wettbewerbsgesetz: PROP 2007/08:135, S. 70, http://www.riksdagen.se/Webbnav/index.aspx?nid=37&dok_id=GV03135.
  4. http://www.riksdagen.se/Webbnav/index.aspx?nid=3911&bet=2008:579.
  5. http://www.riksdagen.se/Webbnav/index.aspx?nid=3911&bet=2008:579#K2.
  6. Die konsolidierte Fassung des AEUV findet sich im Amtsblatt der EU, zu erreichen über http://eur-lex.europa.eu/de/treaties/index.htm.
  7. http://www.kkv.se.
  8. Amtsblatt der Europäischen Union, C 368 vom 22.12.2001, S. 13–15, http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2001:368:0013:0015:DE:PDF.
  9. Zur Zeit gültige Gruppenfreistellungsgesetze: http://www.kkv.se/t/Page____298.aspx, unter „gruppundantag“.
  10. http://www.riksdagen.se/Webbnav/index.aspx?nid=3911&bet=2008:579#K2
  11. Vorarbeiten zum schwedischen Wettbewerbsgesetz (s.o. Fußnote 4).
  12. Verordnung (EG) Nr. 139/2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen.
  13. Gustavsson/Westin, Svensk konkurrensrätt, 3. Aufl. (2010), S. 295 mit weiteren Nachweisen.
  14. http://www.kkv.se.
  15. Siehe Grafik http://www.kkv.se/t/Page____295.aspx.
  16. http://www.stockholmstingsratt.se.
  17. http://www.marknadsdomstolen.se.
  18. Ein Übersicht findet sich auf der Homepage des schwedischen Kartellamtes http://www.kkv.se/t/Page____296.aspx.
  19. KKV, Dnr. 1135/2004 (Diarium des schwedischen Kartellamtes), http://www.kkv.se/upload/Filer/Press/Bakgrund/ADSL/Stamning_ADSL.pdf
  20. ausführlicher dazu Bernitz, Svensk och europeisk marknadsrätt 1, 2. Aufl. (2009), S. 70ff.
  21. Vorarbeiten zum schwedischen Wettbewerbsgesetz (s.o. Fußnote 4).
  22. http://www.kkv.se/t/Page____298.aspx.

Kauf von Steuerdaten

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Wird der Staat zum Hehler?

stud. jur. Matthias Noll

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In jüngster Zeit hat in der Öffentlichkeit eine heftige – mittlerweile aber wieder abgeflaute – Diskussion darüber stattgefunden, ob der Staat von Privatpersonen illegal erlangte Daten ankaufen darf (vielleicht sogar muss?), um diese dann als Beweismittel in einem Strafverfahren bzw. einem Steuerverfahren zu verwenden. In diesem Zusammenhang ist immer wieder gefragt worden, ob sich der Staat bei einem solchen Vorgehen nicht zum Hehler mache? Dies soll zum Anlass genommen werden, einen Überblick über die strafrechtlichen Probleme zu geben, die mit einem derartigen Ankauf verbunden sind.

I. Einführung

Bereits ein flüchtiger Blick auf § 259 StGB genügt, um festzustellen, dass der Tatbestand der Hehlerei – bei lebensnaher Auslegung – nicht verwirklicht ist. Als Tatobjekt der Hehlerei kommt nämlich nur einer Sache, also ein körperlicher Gegenstand (§ 90 BGB) in Betracht. Bezüglich der Daten scheidet eine Hehlerei daher aus. 1 Anders sieht es grundsätzlich mit dem Datenträger – also der CD – aus. Eine solche CD-Rom lässt sich ohne weiteres unter das Tatbestandsmerkmal der Sache subsumieren. Als weitere Voraussetzung müsste der Verkäufer die CD aber auch durch eine in § 259 näher bestimmte Vortat erlangt haben. Geht man aber lebensnah davon aus, dass der Datenverkäufer den CD-Rohling legal erworben hat, ist der Tatbestand der Hehlerei auch unter diesem Aspekt nicht erfüllt. Damit ist jedoch keinesfalls gesagt, dass der Ankauf in strafrechtlicher Hinsicht unbedenklich wäre. Bevor mit einer detaillierten Prüfung begonnen wird, soll noch auf ein weiteres missverständliches Schlagwort in der öffentlichen Diskussion hingewiesen werden: Es war oft die Frage zu lesen, ob sich der Staat bei einem solchen Ankauf strafbar mache. Es ist zwar eine interessante Grundsatzfrage, ob sich auch juristische Personen (des öffentlichen Rechts) strafbar machen können, allerdings kommt nach geltendem Recht lediglich die Strafbarkeit einer natürlichen Person, also etwa die eines Beamten des Finanzministeriums, in Betracht 2 Bezüglich eines solchen Datenankaufes kann man zwei Themenkomplexe zu unterscheiden: Man kann sich einerseits fragen, ob sich der zuständige Beamte durch den Kauf der CD strafbar gemacht hat. Davon zu trennen ist das Problem, ob die auf diesem Wege erlangten Daten in einem Strafverfahren verwendet werden dürfen. Dieser Artikel möchte sich in erster Linie mit einer möglichen Strafbarkeit der tätig gewordenen Beamten auseinandersetzen. Zur Frage der Beweisverwertung werden im Anschluss daran lediglich einige wenige Bemerkungen erfolgen.

II. Strafbarkeit des Datenankaufs

1. Sachverhalt

Um eine abstrakt gehaltene Prüfung zu vermeiden, soll zunächst ein Sachverhalt vorangestellt werden. 3

S (ein Schweizer Staatsbürger) ist Angestellter bei der C-Bank, die ihren Sitz in der Schweiz hat. Im Rahmen seiner Arbeitstätigkeit hat er u.a. Zugriff auf elektronisch gespeicherte Kontodaten deutscher Kunden. In einem günstigen Moment kopiert er die Daten unbemerkt auf eine CD-ROM und bietet diese dem deutschen Bundesland N zum Kauf an. B, der zuständige Beamte des Finanzministeriums, wickelt den Kauf schließlich ab.

Haben S und B sich strafbar gemacht?

Bei einer strafrechtlichen Prüfung muss man zunächst berücksichtigen, dass das Verhalten von B erst dann umfassend gewürdigt werden kann, wenn vorher eine etwaige Strafbarkeit des S geklärt wurde. Bezüglich B kommt nämlich insbesondere die Strafbarkeit wegen eines Anschlussdeliktes bzw. einer Beteiligung an der Straftat des S in Betracht.

Aus diesem Grunde wird zunächst das Verhalten des S untersucht.

 

2. Strafbarkeit des S

Fraglich ist zunächst, ob überhaupt deutsches Strafrecht Anwendung findet. So ist S nämlich Schweizer Staatsbürger und hat die Daten zudem in der Schweiz auf die CD-ROM kopiert. Diese Vorfrage kann an dieser Stelle aber noch nicht eindeutig geklärt werden, da man diese Frage nicht abstrakt beantworten kann. Die Anwendbarkeit hängt vielmehr auch von den einschlägigen Straftatbeständen ab. 4 Zunächst 5 soll geklärt werden, welche Straftatbestände überhaupt in Betracht kommen. Dabei wird allein auf Delikte des deutschen StGB eingegangen, 6 da nur diese eine taugliche Vortat i. S. d. Anschlussdelikte darstellen. 7 Auf das Problem der Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts wird dann im Zusammenhang mit den entsprechenden Tatbeständen eingegangen.

a. § 242.

Die Strafbarkeit wegen Diebstahls scheidet aus, da man Daten nicht unter den Begriff der Sache i. S. d. § 242 subsumieren kann (vgl. o. zur Hehlerei).

b. § 202a

S könnte sich aber gem. § 202a strafbar gemacht haben. Dafür müsste er sich unbefugt den Zugang zu Daten, die nicht für ihn bestimmt und die gegen unberechtigten Zugang besonders gesichert sind, unter Überwindung einer Zugangssicherung verschafft haben. Bei den elektronisch gespeicherten Kundendaten handelt es sich um Daten i. S. d. Vorschrift. Fraglich ist, ob diese Daten auch für S bestimmt sind. Dies hängt davon ab, ob die Daten nach dem Willen desjenigen, der zum Zeitpunkt der Tat die Verfügungsmacht über die Daten inne hat, dem Täter zur Verfügung stehen sollen. 8 Hat der Verfügungsberechtigte einem Dritten Zugang zu den Daten eingeräumt, so sind diese auch dann für ihn bestimmt, wenn er sie zweckwidrig gebraucht. 9 Geht man davon aus, dass S als Angestellter im Rahmen seines Arbeitsverhältnisses auf diese Daten zugreifen durfte, scheidet eine Strafbarkeit nach § 202a StGB aus. Nach dem gerade Gesagten ändert auch der zweckwidrige Gebrauch (Abspeichern auf einem externen Datenträger) nichts an dieser Bewertung.

c. § 44 I i. V. m. § 43 II Nr. 1 BDSG

aa. Tatbestandsmäßigkeit

In Betracht kommt weiterhin eine Strafbarkeit gem. § 44 I i. V. m. § 43 II Nr. 1 BDSG. Gem. § 44 I BDSG macht sich der derjenige strafbar, der gegen Entgelt oder in der Absicht, sich oder einen anderen zu bereichern oder einen anderen zu schädigen vorsätzlich eine Ordnungswidrigkeit nach § 43 II BDSG begeht. § 43 II Nr. 1 BDSG beschreibt den Fall, dass jemand unbefugt personenbezogene Daten, die nicht allgemein zugänglich sind, erhebt oder verarbeitet. Nach der Legaldefinition des § 3 IV BDSG umfasst das Verarbeiten unter Anderem auch das Speichern und Übermitteln personenbezogener Daten. Ein Übermitteln liegt beispielsweise dann vor, wenn personenbezogene Daten an einen Dritten weitergegeben werden (§ 3 IV Nr. 3a BDSG). Bei den Kontodaten (etwa: Bezeichnung des Kontoinhabers, der Kontonummer, Höhe des Guthabens) handelt es sich um Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten natürlichen Person und somit um personenbezogene Daten i. S. v. § 3 I BDSG. S übergibt B unbefugt die CD mit den Kontoinformationen und übermittelt somit personenbezogene Daten. Da diese Daten auch nicht allgemein zugänglich sind, erfüllt S somit die Voraussetzungen des § 43 II Nr. 1 BDSG. Eine Strafbarkeit nach § 44 I i. V. m. § 43 II Nr. 1 BDSG setzt weiterhin voraus, dass dies gegen Entgelt (oder in der Absicht sich oder einen anderen zu bereichern) erfolgt ist. Ein Entgelt ist jede in einem Vermögensvorteil bestehende Gegenleistung (§ 11 I Nr. 9 StGB). S erhält für die Übermittlung der Daten den (im Sachverhalt nicht bezifferten) Kaufpreis, also ein Entgelt in diesem Sinne. Des Weiteren handelt S vorsätzlich. Da weder Rechtfertigungs- noch Entschuldigungsgründe ersichtlich sind, verwirklicht S den Tatbestand des § 44 I i. V. m. § 43 II Nr. 1 BDSG.

bb. Anwendbarkeit des Tatbestands

Eine Strafbarkeit des S setzt allerdings voraus, dass der Tatbestand überhaupt auf ihn anwendbar ist.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich bei S um einen Schweizer Staatsbürger handelt. Außerdem spielt es möglicherweise eine Rolle, wo die CD übergeben worden ist (wo also die Daten übermittelt wurden), in Deutschland oder in einem anderen Land (etwa in der Schweiz selbst).

(1) Nimmt man an, dass die Übergabe auf deutschem Territorium erfolgt ist, ist das deutsche Strafrecht ohne Weiteres anwendbar (vgl. § 3 i. V. m. § 9 StGB).

(2) Geht man davon aus, dass die Übergabe im Ausland erfolgt ist, so soll nach Ignor/Jahn § 44 BDSG ausscheiden,  da „die Vorschrift für Auslandstaten nur unter den […] Voraussetzungen des § 1 V BDSG anwendbar“ sei. 10 Diese Schlussfolgerung erscheint allerdings problematisch: Zunächst regelt § 1 V BDSG nur den Fall, dass ausländische Stellen im Inland (also auf deutschem Gebiet) Daten erheben, verarbeiten oder nutzen. Die Vorschrift erfasst also nicht den Fall, dass Daten (möglicherweise unzulässig) im Ausland erhoben werden. Des Weiteren richtet sich § 1 V BDSG nach dem Wortlaut nur an „verantwortliche Stellen“; als Täter i. S. d. § 44 BDSG kommt aber grundsätzlich jedermann (also nicht nur Stellen i. S. d. § 1 II BDSG) in Betracht, der eine der tatbestandlichen Handlungen verwirklicht. 11 Vorzugswürdig scheint daher, das Problem der Anwendbarkeit nicht über § 1 V BDSG, sondern über das Strafanwendungsrecht (§§ 3 ff. StGB) zu lösen. Die §§ 3 ff. StGB gelten insbesondere nicht nur für die Tatbestände des Besonderen Teils des StGB, sondern auch für außerhalb des StGB geregelte Straftatbestände. 12 Da die C-Bank ihren Sitz in der Schweiz hat, ergibt sich die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts nicht schon aus § 5 Nr. 7 StGB. In Betracht kommt aber § 7 I StGB. Dieser setzt u. a. voraus, dass die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist. Mit dem Begriff der Tat ist der konkrete historische Vorgang i. S. d. prozessualen Tatbegriffs gemeint. 13 Die Voraussetzungen des § 7 I StGB sind nach ganz h. M. bereits dann erfüllt, wenn dieser historische Vorgang unter irgendeinem Aspekt am Tatort strafbar ist; der einschlägige ausländische Straftatbestand muss sich also weder mit dem inländischen decken noch denselben Schutzzweck verfolgen. 14 Erforderlich ist aber, dass das Verhalten nach der ausländischen Rechtsordnung mit einer Kriminalstrafe oder einer vergleichbaren Sanktion geahndet wird. 15 Zur Frage, inwiefern das Verhalten nach dem Schweizerischen StGB strafbar ist, soll auf die Ausführungen von Ostendorf 16 verwiesen werden. An dieser Stelle genügt der Hinweis, dass sich S auch nach Schweizerischem Recht strafbar gemacht hat. Als weitere Voraussetzung des § 7 I StGB bleibt noch zu prüfen, ob die Straftat gegen einen Deutschen begangen wurde. Dies ist der Fall, wenn der deutsche Staatsangehörige gemäß § 77 I StGB verletzt ist, wenn also durch die Tat ein Rechtsgut beeinträchtigt worden ist, dessen Inhaber Deutscher ist. 17 § 44 BDSG dient dem Schutz von personenbezogenen Daten, die nicht allgemein zugänglich sind. 18 Vorliegend geht es gerade um die unbefugte Speicherung und Weitergabe personenbezogener Daten von deutschen Staatsangehörigen, auch diese Voraussetzung ist also erfüllt.

Folglich sind die Tatbestandsmerkmale von § 7 I StGB erfüllt. Das deutsche Strafrecht kommt also auch dann zur Anwendung, wenn die Übergabe der CD in der Schweiz erfolgt sein sollte. S hat sich also in jedem Fall gem. § 44 I i. V. m. § 43 II Nr. 1 BDSG strafbar gemacht.

 

d. § 17 I UWG

aa. Tatbestandsmäßigkeit

(1) Da S laut Sachverhalt noch bei der C-Bank beschäftigt ist, kommt zunächst eine Strafbarkeit gem. § 17 I UWG in Betracht. Dafür müsste S ein Geschäfts- oder Betriebsgeheimnis, das ihm im Rahmen eines Dienstverhältnisses anvertraut oder zugänglich gemacht worden ist, während der Geltungsdauer des Dienstverhältnisses unbefugt an jemand zu Zwecken des Wettbewerbs, aus Eigennutz, zugunsten eines Dritten oder in der Absicht, dem Inhaber des Unternehmens Schaden zuzufügen, mitgeteilt haben.

(2) Fraglich ist, ob es sich bei den Kundendaten um ein Geschäftsgeheimnis in diesem Sinne handelt. Darunter ist jede im Zusammenhang mit einem Geschäftsbetrieb stehende Tatsache zu verstehen, die nicht offenkundig ist, sondern nur einem begrenzten Personenkreis bekannt ist, an deren Geheimhaltung der Betriebsinhaber ein berechtigtes Interesse hat und die nach seinem erkennbaren Willen auch geheim bleiben soll. 19 Bankdaten (also etwa Informationen darüber, welche Personen wie viel Geld bei einer Bank angelegt haben) weisen einen hinreichenden Bezug zum Geschäftsbetrieb der C-Bank auf. Des Weiteren sind solche Kundendaten nur einem begrenzten Personenkreis bekannt und nicht allgemein zugänglich. Weiterhin ist auch davon auszugehen, dass die C-Bank die Bankdaten geheim halten möchte. Ein solcher Wille wird jedenfalls für alle nicht offenkundigen Geschäftsinterna vermutet. 20 Problematisch ist, ob ein berechtigtes Geheimhaltungsinteresse vorliegt. Die h. M. geht davon aus, dass Kundendaten grundsätzlich vom Schutzbereich des § 17 UWG erfasst werden. 21 Nichts anderes kann dann für Bankdaten gelten: Die Geschäftsbeziehungen der Bank zu den verschiedenen Kunden basiert maßgeblich darauf, dass die Bankkunden auf den Schutz ihrer Daten vertrauen. 22 Gibt die Bank Kundendaten unkontrolliert weiter, macht sie sich ggf. sogar regresspflichtig. 23 Aus diesen Gründen ist ein berechtigtes Geheimhaltungsinteresse der C‑Bank anzunehmen. Bankdaten stellen somit ein Geschäftsgeheimnis i. S. v. § 17 UWG dar.

(3) Dieses Geheimnis ist einem Beschäftigten zugänglich geworden, wenn er auf irgendeine Weise während seines Dienstverhältnisses davon Kenntnis erlangt. 24 S ist durch seine Möglichkeiten als Beschäftigter der C-Bank (z. B. Nutzung der internen EDV) an die Kundendaten gelangt. Diese Tatbestandsvoraussetzung ist also erfüllt.

(4) S hat die Kundendaten dem B während der Dauer des Dienstverhältnisses mitgeteilt. Eine Mitteilung i. d. S. muss nicht mündlich erfolgen, sondern kann auch in anderer Form (etwa durch Veröffentlichung in der Presse, oder – wie hier – durch Übergabe einer CD) bewirkt werden. 25 Somit sind die objektiven Tatbestandsvoraus-setzungen von § 17 I UWG erfüllt.

(5) S hat vorsätzlich gehandelt (dolus directus 1. Grades). Des Weiteren war das Verhalten des S maßgeblich durch Eigennutz i. S. v. § 17 I UWG geprägt. Ein eigennütziges Handeln liegt nämlich vor, wenn es dem Täter – möglicherweise neben sonstigen Erwägungen – darum geht, einen materiellen oder immateriellen persönlichen Vorteil zu erlangen. 26 S erstrebte im Gegenzug für die Übergabe der CD eine Geldzahlung des entsprechenden Bundeslandes.

bb. Rechtswidrigkeit

S müsste auch rechtswidrig gehandelt haben. § 17 I UWG spricht davon, dass die Mitteilung unbefugt sein muss. Hierbei handelt es sich nicht um ein Tatbestandsmerkmal, sondern um einen (eigentlich nicht erforderlichen) Verweis auf die allgemeine Rechtswidrigkeit. 27

(1) Ein Rechtfertigungsgrund könnte sich aus einer gesetzlichen Offenbarungspflicht gem. § 138 StGB ergeben. 28  Allerdings fällt eine Steuerhinterziehung i. S. v. § 370 AO nicht unter die anzeigepflichtigen Delikte des § 138 StGB.

(2) Es ist zweifelhaft, ob sich S über die Fälle einer Anzeigepflicht hinaus, allgemein auf ein „Recht zur Anzeige“ 29 stützen kann. Einen solchen Rechtfertigungsgrund befürwortet etwa Ostendorf. 30 Er argumentiert, dass jeder Bürger befugt ist, eine Straftat anzuzeigen, bzw. Informationen für die Durchführung von Strafverfahren den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung zu stellen. Der Informant sei in den Grenzen des § 55 StPO sogar verpflichtet, im Falle eines Strafverfahrens seine Kenntnisse mitzuteilen. 31 Allerdings kann eine solche Argumentation nicht überzeugen: Unabhängig von dem Problem, ob man ein Angebot zur Übergabe einer Daten-CD gegen Entgelt überhaupt als Strafanzeige i.S.v. § 158 StPO bezeichnen kann, 32 bestehen auch grundsätzliche Bedenken: Zunächst ist § 158 StPO sprachlich nicht als Rechtfertigungsgrund ausgestaltet. Aus der Tatsache, dass jedermann eine Straftat anzeigen darf, kann man noch nicht folgern, dass eine rechtswidrige Informationsbeschaffung gerechtfertigt wird. Schließlich kann man sich auch an den Kommentierungen zu § 203 StGB orientieren, 33 bei dem es ebenfalls um die Offenbarung von Geheimnissen geht: Hier nimmt die ganz herrschende Meinung an, dass das  Strafverfolgungsinteresse grundsätzlich nicht die Verletzung der Schweigepflicht rechtfertigt. 34 Eine Ausnahme wird nach e. A. nur für besonders schwere Straftaten gemacht (etwa bei terroristischen Gewaltakten) 35, wozu man die Steuerhinterziehung allerdings nicht zählen kann. Eine Rechtfertigung durch ein „Recht zur Strafanzeige“ scheidet demnach aus.

(3) Möglicherweise kommt aber eine Rechtfertigung nach § 34 StGB in Betracht. Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr 36 für das staatliche Interesse an der Steuererhebung besteht, ist fraglich, ob die gem. § 34 StGB erforderliche  Interessenabwägung eine Rechtfertigung gestattet: Auf der einen Seite steht das Interesse einer Bank, brisante Kundendaten geheimzuhalten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dieses Geheimhaltungsinteresse durch die Übermittlung der Daten vollständig ignoriert werden würde. 37 Auf der anderen Seite besteht das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an einer ordnungsgemäßen Steuererhebung. Hier ist zu beachten, dass dieses Interesse nur zu einem geringen Teil beeinträchtigt wird, da die Steuererhebung (bezogen auf die Gesamtheit aller Steuerpflichtigen) auch ohne die Kenntnis dieser Daten weitgehend ordnungsgemäß erfolgt. 38 Auf Grund dieser Umstände kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Erhaltungsgut das Eingriffsgut wesentlich überwiegt. Eine Rechtfertigung nach § 34 StGB scheidet daher aus.

cc. Strafzumessung

S wusste bei der Mitteilung, dass das Geheimnis im Ausland verwertet werden soll. Er verwirklicht somit das Regelbeispiel gem. § 17 IV Nr. 2 UWG.

dd. Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts

Die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts ergibt sich vorliegend nicht schon aus § 5 Nr. 7 StGB, da die C-Bank laut Sachverhalt ihren Sitz in der Schweiz hat. Man kann aber ebenfalls auf § 7 I StGB abstellen (vgl. oben bei § 44 BDSG).

ee. Ergebnis

S hat sich somit wegen Geheimnisverrat in einem besonders schweren Fall strafbar gemacht, § 17 I, IV UWG.

e. § 17 II Nr. 1 UWG

Des Weiteren kommt eine Strafbarkeit gem. § 17 II Nr. 1 UWG (Betriebsspionage) in Betracht. S hat die Kundendaten (also ein Geschäftsgeheimnis) auf eine CD-Rom kopiert und somit gesichert. Dazu benutzte er EDV-Hard- und Software (etwa einen Computer), also ein technisches Mittel i. S. v. § 17 II Nr. 1 lit. a UWG. 39 Gleichzeitig ist auch § 17 II Nr. 1 lit. b erfüllt, da es sich bei der Daten-CD um eine „verkörperte Wiedergabe“ des Geschäftsgeheimnisses im Sinne der Vorschrift handelt. 40 S handelte sowohl vorsätzlich als auch aus Eigennutz (vgl. oben). S hat sich somit auch gem. § 17 II Nr. 1 UWG strafbar gemacht.

3. Strafbarkeit des B

a. § 44 i. V. m. 43 II Nr. 1 BDSG

Eine Strafbarkeit gem. § 44 i. V. m. 43 II Nr. 1 BDSG setzt voraus, dass B gegen Entgelt bzw. mit Bereicherungs- oder Schädigungsabsicht unbefugt personenbezogene Daten, die nicht allgemein zugänglich sind, erhoben oder verarbeitet hat. Gem. § 3 BDSG meint „Erheben“ das Beschaffen von Daten über den Betroffenen. Durch den Ankauf der Daten-CD hat sich B personenbezogene Daten über die betroffenen Bankkunden beschafft. Eine Schädigungsabsicht kommt vorliegend nicht in Betracht, sodass fraglich ist, ob dies gegen Entgelt oder mit Bereicherungsabsicht erfolgte. Als mögliches Entgelt kommt das Gehalt des B in Betracht. Aber selbst wenn es sich bei ihm um einen Beamten aus dem Bereich der Steuerfahndung halten sollte (der Sachverhalt ist in so weit offen), erhält er sein Gehalt nicht für eine ganz bestimmte Datenerhebung. 41  Möglicherweise liegt aber eine Bereicherungsabsicht vor. Gemäß § 44 I BDSG genügt die Absicht, einen Dritten zu bereichern. Man könnte daran denken, dass die Erlangung der Steuerdaten zu beachtlichen Steuernachzahlungen führen wird. Allerdings ist zu beachten, dass die beabsichtigte Bereicherung rechtswidrig sein muss. 42 Da sich etwaige Steuernachzahlungen aber aus den steuerrechtlichen Regelungen ergeben, ist dies nicht der Fall.

B hat sich also nicht gem. § 44 i. V. m. 43 II Nr. 1 BDSG strafbar gemacht.

b. § 257 StGB

B könnte sich einer Begünstigung schuldig gemacht haben. Dies setzt zunächst voraus, dass eine rechtswidrige Vortat verwirklicht wurde, § 257 I StGB. Es wurde bereits dargestellt, dass sich S gem. § 44 I i. V. m. § 43 II Nr. 1 BDSG, § 17 I UWG, sowie § 17 II Nr. 1 UWG strafbar gemacht hat.

§ 257 setzt nicht voraus, dass die Vortat gegen fremdes Vermögen gerichtet war. 43 Die Tat muss aber das Stadium der Vollendung erreicht haben, da sonst ausschließlich eine Beteiligungsstrafbarkeit in Betracht kommt. 44 Berücksichtigt man dies, so müssen § 44 I i. V. m. § 43 II Nr. 1 BDSG, sowie § 17 I UWG als taugliche Vortaten ausscheiden: Bezüglich der Strafbarkeit aus § 44 I i. V. m. § 43 II Nr. 1 BDSG wurde oben dargestellt, dass ein Verarbeiten von Daten etwa dann vorliegt, wenn sie an Dritte übergeben werden. Sieht man den Anknüpfungspunkt für eine mögliche Strafbarkeit des B aber gerade darin, dass er die Daten an sich genommen, bzw. angekauft hat, so stellt dieses Verhalten die Kehrseite des Handelns von S dar. Das Übergeben einer CD setzt voraus, dass jemand sie annimmt. Aus diesem Grunde ist § 44 I i. V. m. § 43 II Nr. 1 BDSG erst nach der Übergabe der CD vollendet. Gleiches gilt für die „Mitteilung“ des Geschäftsgeheimnisses i. S. v. § 17 I UWG. 45 Anders sieht es allerdings bei § 17 II Nr. 1 UWG aus („Sicherung“ der Daten auf der CD): Hier war die Tat bereits vollendet, bevor S die CD dem B übergeben hat.

Somit stellt allein § 17 II Nr. 1 UWG eine taugliche Vortat dar.

Fraglich ist, ob auch die Tathandlung verwirklicht wurde. § 257 StGB setzt voraus, dass der Täter dem Vortäter bei der Vorteilssicherung Hilfe leistet. Als Tatvorteil kommen grundsätzlich Vorteile jeglicher Art in Betracht, es muss sich also nicht um einen Vermögensvorteil handeln. 46 Vorliegend kommen sowohl der Besitz der Daten, als auch der von der Behörde gezahlte Kaufpreis als Vorteile in Betracht.

Sieht man den Vorteil in dem gezahlten Kaufpreis, so scheidet eine Strafbarkeit wegen Begünstigung allerdings aus. Durch die Bezahlung wird dem S der Vorteil nämlich überhaupt erst verschafft. Man kann also nicht sagen, dass B dem S bei der Sicherung des Vorteils aus der Vortat Hilfe leistet.

Anders sieht es möglicherweise mit dem Besitz der Daten aus. Ein Hilfeleisten liegt nach h. M. vor, wenn die Handlung objektiv zur Vorteilssicherung geeignet ist und subjektiv mit dieser Tendenz vorgenommen wird. 47 B möchte nicht, dass die Daten im Besitz des S verbleiben. Er erwirbt sie gerade, um selbst (für das Finanzamt) in den Besitz der Informationen zu gelangen. Der Ankauf ist also weder objektiv geeignet, dem S den Vorteil zu sichern, noch wurde er subjektiv in dieser Tendenz vorgenommen. Anders sehen dies (in einer vergleichbaren Sachverhaltskonstellation) Trüg/Habetha: Sie bejahen das Vorliegen der tatbestandlichen Handlung mit der folgenden Argumentation: Nach Ansicht des BGH ist der Tatbestand des § 257 StGB – unter Umständen – bereits dann erfüllt, wenn der Täter dem Vortäter beim Verkauf des Vorteilsgegenstandes hilft (Absatzhilfe). 48 Der Ankauf des Gegenstandes ginge sogar noch darüber hinaus und müsse erst Recht ein „Hilfeleisten“ darstellen. 49 Diese Argumentation trägt allerdings nicht den Besonderheiten des vorliegenden Falles Rechnung: Man muss bedenken, dass eine Absatzhilfe nur dann eine Begünstigung darstellt – vorausgesetzt, dass auch die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind –, wenn sie den Täter vor einer drohenden Wiederentziehung des Vorteils schützen soll. 50 Vorliegend wird man wohl sagen können, dass – bis zu dem Zeitpunkt indem sich S an B gewandt hat – außer S niemand wusste, dass die Daten-CD überhaupt erstellt wurde. Von daher kann man bereits stark bezweifeln, dass sich die Situation des S durch den Verkauf der CD objektiv verbessert hat. Zumindest fehlt bei B aber die subjektive Tendenz, den S vor einer Wiederentziehung schützen zu wollen.

B hat sich demnach nicht gem. § 257 StGB strafbar gemacht.

c. § 17 I UWG, § 26 StGB

B könnte sich einer Anstiftung zum Geheimnisverrat schuldig gemacht haben. Eine strafbare Haupttat liegt vor (siehe oben).

§ 26 setzt voraus, dass der Anstifter den Haupttäter zur Tat bestimmt hat. Das Merkmal des Bestimmens ist nach h. M. verwirklicht, wenn der Teilnehmer beim Täter den Tatentschluss im Wege einer kommunikativen Beeinflussung hervorgerufen hat. 51 Jemand kann allerdings nur dann zur Tat bestimmt werden, wenn er noch nicht fest zur Tatbegehung entschlossen ist. 52 In einem vergleichbaren Fall geht insbesondere Schünemann 53 davon aus, dass es sich bei dem Haupttäter nicht um einen „omnimodo facturus“ handelt; eine Strafbarkeit wegen Anstiftung zum Geheimnisverrat wäre also nicht ausgeschlossen. Begründet wird dies damit, dass der Haupttäter die Verwirklichung von § 17 UWG von der Bedingung abhängig gemacht hat, dass ihm ein entsprechender Geldbetrag dafür gezahlt wird. 54

Eine solche Betrachtung ist allerdings Zweifeln ausgesetzt. Nach überwiegender Ansicht kann jemand zwar auch dann noch angestiftet werden, wenn er bereits schwankt, ob der die Tat begehen soll. 55 Die Grenze der Anstiftbarkeit ist aber dann erreicht, wenn die „zum Delikt hindrängenden Motive ein deutliches Übergewicht in der Psyche des Täters erlangt haben“. 56 Ab diesem Punkt kann man annehmen, dass der Täter zur Tat bereits fest entschlossen ist. Im vorliegenden Fall ist S psychisch bereits auf eine Deliktsverwirklichung eingestellt. Es geht ihm lediglich noch darum, einen aus seiner Sicht angemessenen Preis auszuhandeln. Dafür spricht – bei lebensnaher Auslegung – zunächst, dass sich S an B bzw. die entsprechende Behörde gewandt hat und nicht umgekehrt. Schließlich ist noch zu bedenken, dass sich S bereits durch das Anfertigen der Daten-CD – also in einem Zeitpunkt, in dem B noch keine Kenntnis von dem Geschehen hatte – nach deutschem sowie schweizerischen Recht strafbar gemacht hat (s. o.). Auch dies spricht dafür, dass S innerlich nicht mehr schwankte, ob er die Tat begehen soll, sondern dass es ihm nur noch um die Aushandlung einer entsprechenden Gegenleistung ging. Da es sich bei S folglich um einen „omnimodo facturus“ handelt, scheidet eine Strafbarkeit wegen Anstiftung zum Geheimnisverrat aus.

d. § 17 I UWG, § 27 StGB

B könnte sich wegen Beihilfe zum Geheimnisverrat strafbar gemacht haben.

aa. Tatbestandsmäßigkeit

(1) S hat § 17 I UWG verwirklicht, eine vorsätzliche rechtswidrige Haupttat liegt also vor. Die Tatbestandsverwirklichung hat B auch gefördert, denn es ist davon auszugehen, dass S die Daten nur im Hinblick auf die Gegenleistung mitgeteilt hat. Selbst wenn man mit der strengeren Ansicht fordert, dass das Hilfeleisten für die Haupttat ursächlich geworden sein muss, lässt sich dies auf Grund der geschilderten Umstände vorliegend bejahen.

(2) Ein Problem könnte aber darin zu sehen sein, dass die Verwirklichung von § 17 I UWG durch S im vorliegenden Fall voraussetzt, dass B die Daten-CD entgegen nimmt. Man könnte daher argumentieren, dass die Ansichnahme der CD einen Fall von notwendiger Teilnahme darstellt und deswegen straffrei ist. Eine solche Straffreiheit wird aber grundsätzlich nur dann anerkannt, wenn die Mitwirkung des notwendig Beteiligten das zur Erfüllung des Tatbestandes erforderliche Mindestmaß nicht übersteigt. 57 Vorliegend nimmt B allerdings nicht nur die CD entgegen (was zur Tatbestandsverwirklichung ausreichen würde), sondern zahlt darüber hinaus einen bestimmten Geldbetrag. 58 Es liegt daher kein Fall von strafloser notwendiger Teilnahme vor. Des Weiteren ist der doppelte Gehilfenvorsatz zu bejahen.

bb. Rechtswidrigkeit

Möglicherweise kommt eine Rechtfertigung durch § 34 StGB in Betracht. Die Vorschrift ist nach h. M. auch auf das Handeln von Amtsträgern anwendbar. 59 Inhaltlich kann weitgehend nach oben verwiesen werden. Man könnte bereits das Vorliegen der Notstandslage verneinen, zumindest aber überwiegt das Interesse an einer ordnungsgemäßen Steuererhebung nicht das Geheimhaltungsinteresse der C-Bank.

cc. Schuld

Fraglich ist, ob B auch schuldhaft handelte. Er könnte sich in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum gem. § 17 S. 1 StGB befunden haben. Dazu muss man berücksichtigen, dass – soweit ersichtlich – bezüglich der Strafbarkeit eines solchen Datenankaufs durch einen Amtsträger derzeit noch keine (höchstrichterliche) Entscheidung vorliegt. Des Weiteren kommt auch die strafrechtliche Literatur zu keinem eindeutigen Ergebnis: Auch wenn viele gewichtige Stimmen eine Strafbarkeit des Vorgehens bejahen, 60 ist dies nicht unumstritten. So gelangt etwa Ostendorf zu der Einschätzung, dass das Verhalten des Beamten straffrei ist (ohne dabei auf § 17 StGB abzustellen). 61 Geht man – lebensnah – davon aus, dass B zuvor eine rechtliche Würdigung vorgenommen hat und dabei zu dem Ergebnis der Rechtmäßigkeit des Ankaufs gelangt ist, ist unter den derzeitigen Umständen das Vorliegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums zu bejahen.

e. § 27 StGB, §§ 44 I, 43 II Nr. 1 BDSG

Im Unterschied zur oben geprüften Beihilfe zum Geheimnisverrat handelt es sich hier um einen Fall von strafloser notwendiger Teilnahme. Der Unterschied rührt daher, dass eine Strafbarkeit nach § 44 I BDSG gerade voraussetzt, dass die in § 43 II BDSG beschriebene Handlung gegen Entgelt oder mit Bereicherungsabsicht vorgenommen wird. Die Zahlung eines Geldbetrages durch B zählt hier also zu den erforderlichen Mindestvoraussetzungen einer Strafbarkeit.

f. Zusammenfassung

B hat sich also nicht strafbar gemacht. Bezüglich der tatbestandsmäßigen und rechtswidrigen Beihilfe zum Geheimnisverrat ist er unter den gegenwärtigen Umständen entschuldigt. Dies kann sich in zukünftigen Fällen allerdings ändern, sobald die Rechtsprechung einmal für Klarheit gesorgt hat. Insbesondere stellt dann auch die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts kein Problem dar. Sofern der Kauf im Inland abgewickelt sein sollte, ergibt sich die Anwendbarkeit unproblematisch aus §§ 3, 9 StGB. Sollte B die CD in der Schweiz an sich genommen haben, ist § 7 II Nr. 1 StGB einschlägig. 62

III. Verwertbarkeit der Daten in einem Strafverfahren

Wie bereits angekündigt, sollen zum Problem der Beweisverwertung nur einige wenige Bemerkungen erfolgen.

Zunächst ist zu beachten, dass die Frage der Strafbarkeit des handelnden Beamten keine zwingenden Schlüsse auf die Verwertbarkeit der Daten in einem Strafprozess zulässt. 63 Also selbst wenn B strafbar gehandelt hätte (oder gegen sonstige Vorschriften verstoßen haben sollte), folgt daraus nicht ohne Weiteres ein Beweisverwertungsverbot. Ob ein Verwertungsverbot besteht, ist nach Ansicht der Rechtsprechung durch eine Abwägung zu ermitteln, wobei das staatliche Strafverfolgungs-interesse gegen das Interesse des Bürgers auf Wahrung seiner Rechte abgewogen wird (sog. Abwägungslehre). 64

Eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Problem der Beweisverwertung ist in der Aufsatzliteratur zu finden. 65 Im Übrigen soll an dieser Stelle noch darauf aufmerksam gemacht werden, dass das LG Bochum in einer Entscheidung die Verwertbarkeit der Daten bejaht hat (wobei allerdings die Frage der Strafbarkeit offen gelassen wurde). 66 Erst kürzlich hat das BVerfG entschieden, dass die – nach einer vertretbaren Interessenabwägung vorgenommene – Verwendung von angekauften Daten zur Begründung eines strafprozessualen Anfangsverdachts verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. 67 Auch wenn die Entscheidung insoweit für Klarstellung sorgt ist allerdings zu beachten, dass sich das BVerfG nicht dazu geäußert hat, ob die Daten auch in einem Strafverfahren zu einem Schuldnachweis verwendet werden dürfen, oder ob eine solche unmittelbare Verwertung spezifisches Verfassungsrecht verletzen würde.

Zum Autor: Matthias Noll ist Student der Rechtswissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.


Fußnoten:

  1. Stree/Hecker, in: Schönke/Schröder, 28. Aufl. 2010, § 259 Rn 4.
  2. Joecks, in: Münchener Kommentar zum StGB, Band 1, 1. Aufl. 2003, Vorb. zu § 25 Rn 16 ff.; Heine, in: Schönke/Schröder (Fn. 3), Vorb. zu §§ 25 ff. Rn 119.
  3. Angelehnt an: Ignor/Jahn JuS 2010, 390.
  4. So muss der entsprechende Tatbestand dahingehend ausgelegt werden, ob er auch ausländische Rechtsgüter erfasst, Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht, 4. Auflage (2010), § 6 Rn 1.
  5. Üblicherweise wird allerdings davon ausgegangen, dass die Prüfung der §§ 3 ff. notwendigerweise den ersten Prüfungsschritt darstellt, da die §§ 3 ff. „darüber entscheiden, ob ein Straftatbestand überhaupt angewendet werden kann“ (Satzger, [Fn 6], § 5 Rn 7). Aus Gründen der Übersichtlichkeit und Einfachheit wird hier dennoch ein anderer Aufbau gewählt. Wenn nämlich die Tatbestandsvoraussetzungen einer Strafnorm nicht erfüllt sind, muss auf diese Weise nicht auf die teilweise sehr komplizierte Prüfung der §§ 3 ff. eingegangen werden.
  6. Zur möglichen Verwirklichung von Tatbeständen des schweizerischen StGB: Ostendorf, in: ZIS 2010, 302 f.
  7. Vgl. Ruß, in: Leipziger Kommentar, StGB, Band 6, 11. Auflage (1994), § 257 Rn 9, § 259 Rn 4; Stree/Hecker, in: Schönke/Schröder (Fn. 3), § 257 Rn 8.
  8. Weidemann, in: BeckOK StGB, Edition 11 (Stand: 01.03.2010) § 202a Rn 7 m. w. N.
  9. Graf, in: Münchener Kommentar zum StGB, Band 3, 1. Aufl. (2003), § 202a a. F. Rn 19; Weidemann, in: BeckOK StGB (o. Fußn. 7), § 202a Rn 9 m. w. N.
  10. Ignor/Jahn, JuS 2010, 391.
  11. Gola, in: Gola/Schomerus, Bundesdatenschutzgesetz, 9. Auflage (2007), § 44 Rn 3.
  12. Vgl. Ambos, in: Münchener Kommentar zum StGB, Band 1, 1. Auflage (2003), § 3 Rn 4 m.w.N.
  13. Ambos, in: MüKo (Fn. 13), § 7 Rn 6 m. w. N.
  14. Ambos, in: MüKo (Fn. 13), § 7 Rn 6; Eser, in: Schönke/Schröder (Fn. 3), § 7 Rn 8; Werle/Jeßberger, in: Leipziger Kommentar zum StGB, Band 1, 12. Auflage (2006), § 7 Rn 29 f. m. w. N.
  15. Ambos, in: MüKo (Fn. 13), § 7 Rn 5; Werle/Jeßberger, in: Leipziger Kommentar (Fn. 15), § 7 Rn 27.
  16. Ostendorf, in: ZIS 2010, 302 f.
  17. Eser, in: Schönke/Schröder (Fn. 3), § 7 Rn 6.
  18. Gola, in: Gola/Schomerus (Fn. 12), § 44 Rn 4.
  19. Köhler, in: Köhler/Piper, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, 3. Auflage 2002, § 17 Rn 4 m. w. N.
  20. Köhler, in: Köhler/Piper (Fn. 20), § 17 Rn 8.
  21. Köhler, in: Köhler/Bornkamm, UWG, 28. Auflage 2010, § 17 Rn 12; Diemer, in: Erbs/Kohlhaas, Band IV, 177. Auflage 2009, § 17 UWG Rn 16; Wittig, Wirtschatsstrafrecht, 1. Auflage 2010, § 33 Rn 45.
  22. Spernath, NStZ 2010, 308.
  23. Spernath a.a.O.
  24. Diemer, in: Erbs/Kohlhaas (Fn. 22), § 17 UWG Rn 20.
  25. Vgl. Diemer, in: Erbs/Kohlhaas (Fn. 22), § 17 UWG Rn 22.
  26. Harte-Bavendamm, in: Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, 2. Auflage 2009, § 17 Rn 15; Wittig (Fn. 22), § 33 Rn 51.
  27. Wittig (Fn. 20), § 33 Rn 52.
  28. Diemer, in: Erbs/Kohlhaas (Fn. 22), § 17 UWG Rn 24; Spernath, NStZ 2010, 308.
  29. Die Bezeichnung stammt von Sieber (NJW 2008, 884), der einen solchen Rechtfertigungsgrund ablehnt.
  30. Ostendorf, ZIS 2010, 304.
  31. Ostendorf, ZIS 2010, 304.
  32. Dazu: Ignor/Jahn, JuS 2010, 392.
  33. Vgl. Sieber, NJW 2008, 884.
  34. Lenckner/Eisele in: Schönke/Schröder (Fn. 3), § 203 Rn 32 m.w.N.;
  35. Lenckner/Eisele a.a.O.
  36. Spernath verneint bereits dieses Merkmal (NStZ 2010, 308).
  37. Spernath, NStZ 2010, 308.
  38. Vgl. Spernath a.a.O.
  39. Trüg/Habetha, NJW 2008, 888.
  40. Vgl. Köhler, in: Köhler/Piper (Fn. 20), § 17 Rn 28; Trüg/Habetha, NJW 2008, 888.
  41. Vgl. Ostendorf, ZIS 2010, 305; a.A.: Kelnhofer/Krug, StV 2008, 664.
  42. Ambs, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze Band I, 177. Aufl. 2009, § 44 BDSG Rn 2.
  43. Stree/Hecker, in: Schönke/Schröder (Fn. 3), § 257 Rn 4.
  44. Vgl. Stree/Hecker a.a.O.
  45. Vgl. Spernath, NStZ 2010, 309.
  46. Cramer, in: MüKo (Fn. 4), § 257 Rn 10.
  47. Rengier, Strafrecht Besonderer Teil I, 12. Auflage 2010, § 20 Rn 10; Stree/Hecker, in: Schönke/Schröder (Fn. 3), § 257 Rn 11; Ruß, in: Leipziger Kommentar (Fn. 8), § 257 Rn 13.
  48. BGH NJW 1952, 832 f.
  49. Trüg/Habetha, NJW 2008, 889.
  50. Rengier (Fn. 48), § 20 Rn 11; vgl. BGH NJW 1952, 832.
  51. Lackner/Kühl, 26. Auflage 2007, § 26 Rn 2; Joecks, in: MüKo (Fn. 4), § 26 Rn 15 m.w.N.
  52. Lackner/Kühl (Fn. 52), § 26 Rn 2a.
  53. NStZ 2008, 308.
  54. Schünemann, NStZ 2008, 308.
  55. Joecks, in: MüKo (Fn. 4), § 26 Rn 24 m.w.N.
  56. Schünemann, in: Leipziger Kommentar (Fn. 15), § 26 Rn 18.
  57. Joecks, in: MüKo (Fn. 4), Vor. §§ 26, 27 Rn 32.
  58. Vgl. Spernath, NStZ 2010, 309.
  59. Perron, in: Schönke/Schröder  (Fn. 3), § 34 Rn 7 m.w.N.
  60. Sieber, NJW 2008, 881 ff; Schünemann, NStZ 2008, 305 ff; Trüg/Habetha, NJW 2008, 887 ff; Ignor/Jahn, JuS 2010, 390 ff; Spernath, NStZ 2010, 307 ff.
  61. Ostendorf, ZIS 2010, 301 ff.
  62. Vgl. Ostendorf, ZIS 2010, 303.
  63. Vgl. Beulke, Strafprozessrecht, 11. Auflage 2010, Rn 457.
  64. BGH, NJW 2002, 977 f; vgl. Beulke (Fn 65) Rn 458 m. w. N.
  65. Etwa: Sieber, NJW 2008, 881, 886; Schünemann, NStZ 2008, 305, 309; Ignor/Jahn, JuS 2010 390, 394 f.
  66. LG Bochum, NStZ 2010, 351, 352.
  67. BVerfG, 2 BvR 2101/09 vom 9.11.2010.

Terrorismusgesetzgebung und die neuen Straftatbestände der §§ 89 a, 89 b und 91 StGB

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Probleme der Bestimmtheit und der Vorfeldkriminalisierung

stud. jur. Florian Rautenberg

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I. Einleitung

Am 04.08.2009 ist das Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten (GVVG) in Kraft getreten. 1 Durch dieses Gesetz wurden im Bereich des materiellen Terrorismusstrafrechts drei neue Straftatbestände geschaffen, §§ 89 a, 89 b und 91 StGB. Diese pönalisieren Handlungen, die weit im Vorfeld des eigentlichen terroristischen Anschlags liegen, ohne dies von der besonderen Gefährlichkeit gruppendynamischer Prozesse bei terroristischen Vereinigungen abhängig zu machen. 2 Ausweislich der Gesetzesmaterialien sollen gerade solche Fälle erfasst werden, in denen Vorbereitungshandlungen mangels Bestehens oder Nachweisbarkeit einer terroristischen Vereinigung nicht als Beteiligung oder Unterstützung einer solchen verfolgt werden können. 3 Durch die neuen Straftatbestände wird der staatsschutzrechtliche Grundsatz der Straflosigkeit von Vorbereitungshandlungen bei Einzeltätern aufgegeben. 4 Erklärtes Ziel dieses Gesetzes ist es, die fortbestehenden Bedrohungen des internationalen Terrorismus auch mit Hilfe des strafrechtlichen Sanktionensystems bereits weit im Vorfeld geplanter Anschläge effektiv „bekämpfen“ zu wollen. 5 Zudem bringen die mit § 89 a StGB einhergehenden erweiterten Ermittlungsbefugnisse als (gewollten) Nebeneffekt auch weitreichende prozessuale Eingriffe mit sich. 6
Zurückzuführen ist der Gesetzesentwurf auf europarechtliche Vorgaben 7, welche jedoch durch den deutschen Gesetzgeber überschießend umgesetzt wurden. Dabei wird auch die Frage aufgeworfen, inwieweit der nationale Gesetzgeber zur Umsetzung der europäischen Vorgaben hinsichtlich des nationalen Strafrechts verpflichtet ist. 8

So stellen die Straftatbestände die Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten, die Kontaktaufnahme zwecks Unterweisung in der Begehung von Gewalttaten sowie die Verbreitung oder Beschaffung einer entsprechenden Anleitung zu einer solchen Tat unter Strafe. Die Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten war nach dem früheren Recht außerhalb des von § 129 a StGB erfassten Bereichs der terroristischen Vereinigung sowie in den Fällen des § 30 StGB lediglich strafbar, wenn die geplante Tat wenigstens in das Versuchsstadium gelangte. Aufgrund der enormen Gefahren solcher Straftaten geht der Gesetzgeber nun davon aus, dass ein möglichst frühzeitiges Eingreifen des Strafrechts erforderlich ist. 9 Vorverlagerungen der Strafbarkeit sind dem StGB nicht fremd 10, doch durch diese neue extrem weite Vorverlagerung der Strafbarkeit, so ist auch die Vorbereitung der Vorbereitung strafbar 11, ergeben sich vielfältige verfassungsrechtliche und strafrechtsdogmatische Probleme. § 89 b StGB geht noch weiter und beschreibt sogar die Vorbereitung der Vorbereitung der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat 12, so dass die Kriminalisierung einer neutralen Handlung nahezu endlos ausgedehnt wird. Die Straftatbestände sind zum einen sehr unbestimmt gefasst, so dass der Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 II GG verletzt sein könnte. Zum anderen stellt sich die Frage, ob denn eine dermaßen weite Vorverlagerung der Strafbarkeit und die Kriminalisierung alltäglichen Handelns mit dem verfassungsrechtlich anerkannten Prinzip der Verhältnismäßigkeit vereinbar sind. 13

II. Der Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 II GG

Ein Strafgesetz kann aufgrund des verfassungsrechtlich verankerten Bestimmtheitsgebots nur dann maßgebliche Grundlage der Strafbarkeit sein, wenn es sowohl die in Frage stehende Tat wie auch deren Folgen mit hinreichender Bestimmtheit umschreibt. 14 Die Voraussetzungen der Strafbarkeit muss der Gesetzgeber dabei so konkret festlegen, dass sich Anwendungsbereich und Tragweite aus dem Wortlaut ergeben oder sich jedenfalls durch Auslegung der Norm ermitteln lassen. 15 Aufgrund dessen kommen gravierende Bedenken hinsichtlich der Unbestimmtheit, ja Grenzenlosigkeit zumindest eines Teils der zur Beschreibung der Tathandlungen verwendeten Begrifflichkeiten auf. 16 Problematisch ist bei den Straftatbeständen insbesondere die Verwendung einer Vielzahl vager Begriffe, die teilweise durch die Gesetzesbegründung noch unklarer werden, weil diese die Anwendung der Gesetze über den eigentlichen Gesetzeswortlaut hinaus erweitert. 17 Gerade diese Herangehensweise ist rechtsstaatlich äußerst kritisch zu bewerten, da der Bürger aus dem Gesetz selbst nicht mehr erkennen kann, welches Verhalten eine Strafe nach sich ziehen kann. Schon die gesetzliche Definition „schwerer Gewalttaten“ in § 89 a I 2 StGB wirft Probleme auf, da die Bestimmung und Eignung einer Handlung dazu, „den Bestand oder die Sicherheit eines Staates zu beeinträchtigen oder Verfassungsgrundsätze der Bundesrepublik Deutschland zu beseitigen, außer Geltung zu setzen oder zu untergraben“, oft nicht eindeutig festgestellt werden kann. Die Formulierung „nach den Umständen bestimmt und geeignet“ ist in hohem Maße unbestimmt, da durch das Gesetz keinerlei Maßstäbe zur Konkretisierung an die Hand gegeben werden. Auch der Blick auf die Strafbewehrung der Norm, insbesondere im Zusammenhang mit der Gesetzesbegründung, erhärtet begründete Zweifel an der Bestimmtheit des Straftatbestands. Sehr kritisch ist zu bewerten, dass § 89 a I StGB nicht voraussetzt, dass der Täter ein detailliertes Verbrechen plant. Vielmehr reichen vage Vorstellungen einer terroristischen Handlung bereits aus, so dass § 89 a StGB in dieser Hinsicht schärfer ist als § 30 StGB. 18

§ 91 StGB enthält ebenfalls sehr weitreichende Formulierungen, welche auch nicht durch die Gesetzesbegründung konkretisiert werden. Auch hier kommen die Begriffe „geeignet“ sowie unbestimmte Formulierungen wie „Umstände“ und „fördern“ im Zusammenhang mit der Bereitschaft zur Begehung einer Gewalttat zum Tragen. Zu kritisieren ist hieran, dass diese Begriffe bei allen möglichen Schriften in diesem Zusammenhang bejaht werden können, ohne dass eine diesbezügliche Absicht vorliegt. Aufgrund der Eignungsklauseln des Tatbestands ist die gesamte Tatbestandsalternative des Verbreitungsdelikts sehr weit. Die Unbestimmtheit der Norm ist nicht von der Hand zu weisen, auch weil sie zu einem „chilling effect“ für die Meinungsäußerungsfreiheit gem. Art. 5 GG, Art. 10 EMRK und damit zu einem Druckpotenzial gegen die Veröffentlichung von bestimmten Informationen führen kann. Das hat nicht nur zur Folge, dass die freie Kommunikation der Internetnutzer beeinträchtigt wird, sondern stellt auch die Internetprovider vor schwierige Einschätzungen, inwieweit sie aufgrund „beruflicher Pflichten“ einzugreifen haben. 19

III. Strafrecht als präventives Mittel

Die Straftatbestände führen das Strafrecht in den Grenzbereich des polizeilichen Gefahrenabwehrrechts 20 und werfen grundlegende Fragen bezüglich der verfassungsmäßigen Grenzen des neuen „Präventionsstrafrechts“ auf. 21 Die Straftatbestände kriminalisieren Handlungen, die extrem weit im Vorfeld einer abstrakten Rechtsgutsgefährdung liegen mit der Begründung, „Gefahren“ vorzubeugen. Dies ist aber zuallererst die Aufgabe des Gefahrenabwehrrechts und nicht des Strafrechts. Es ist zu fragen, wann ein menschliches Verhalten die Schwelle zur Sozialschädlichkeit und damit zur Strafbarkeit überschreitet, so dass eine Bestrafung als gerechtfertigt erscheint. Darf der demokratisch legitimierte Gesetzgeber neue Rechtsgüter „erfinden“ und dadurch jegliche von ihm als verwerflich angesehene Verhaltensweisen unter Strafe stellen, oder begrenzt das Grundgesetz den „Erfindungsreichtum“ des Gesetzgebers hinsichtlich neuer Rechtsgüter und Straftatbestände? 22

Auch wenn man die Ansicht vertritt, dass dem internationalen Terrorismus mit den herkömmlichen Mitteln des Polizei- und Nachrichtendienstrechts nicht gleichermaßen effektiv begegnet werden kann, so rechtfertigt die Ablehnung alternativer außerstrafrechtlicher Konzepte für präventive freiheitsentziehende Maßnahmen allein die durch das Gesetz vorgeschlagene Lösung nicht. 23

1. Kompetenzkonflikt

Problematisch bei dem Einsatz des Strafrechts als präventives Mittel ist, dass dadurch die im Grundgesetz festgelegte Gesetzgebungskompetenz durchbrochen wird. 24 Gem. Art. 70 I GG liegt die grundsätzliche Gesetzgebungskompetenz bei den Ländern, soweit das Grundgesetz nicht dem Bunde Gesetzgebungskompetenz verleiht. Gem. Art. 74 I Nr. 1 GG besitzt der Bund die Gesetzgebungskompetenz für das Strafrecht, jedoch nicht für das Gefahrenabwehrrecht. 25 Kennzeichnend für das Strafrecht sind die spezifischen Sanktionen, die das Gesetz an die Übertretung bestimmter rechtlicher Gebote und Verbote knüpft, mit denen das „ethische Minimum“ bezeichnet ist, ohne das die Gemeinschaft nicht bestehen kann. 26 Daraus folgt aber, dass der Gesetzgeber nicht Strafnormen beliebigen Inhalts aufstellen und durch Strafdrohung schützen kann, sondern nur solche, die eine gewisse allgemein anerkannte „Verwerflichkeit“ pönalisieren. Das Gefahrenabwehrrecht hingegen regelt die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit durch die Polizei, insbesondere das Tätigwerden der Polizei zur vorbeugenden Verhütung drohender Schäden, also zur Bewahrung eines vorhandenen Bestandes an Rechts- und Lebensgütern. 27 Diese Gesetzgebungszuständigkeiten können nicht durch eine strafrechtliche Einkleidung gefahrenabwehrrechtlicher Normen ausgehöhlt werden. Daraus lässt sich ableiten, dass ein Strafgesetz schon aufgrund der Kompetenzverteilung nicht alleine präventiven Zwecken dienen darf, sondern dass auf eine verwerfliche Handlung abzustellen ist. 28 In diesem Zusammenhang ist fraglich, ob nicht die präventive Zielsetzung der Straftatbestände zu weit geht, so dass eine Verletzung der Gesetzgebungskompetenzen und damit auch eine Verfassungswidrigkeit der Normen zu bejahen ist.

2. Strafgesetze ohne Rechtsgutsgefährdung

Diese Art Strafgesetze mit rechtsstaatlichen Problemen sowie die Kriminalisierung von immer weiter im Vorfeld liegenden Handlungen wurden in der Wissenschaft früher unter dem Begriff „Gefährdungsstrafrecht“ diskutiert. 29 Diese schon damals erkannten Schwierigkeiten des Strafrechts als Präventionsmittel setzen sich nun in den neuen Straftatbeständen fort. Insoweit ist festzuhalten, dass das Strafrecht zwar dem Schutz von Rechtsgütern dient und damit auch präventive Zwecke erfüllen kann. Jedoch ist das Strafrecht gerade nicht zu einem lückenlosen präventiven Schutz bestimmt, da ansonsten der fragmentarische Charakter und damit das Strafrecht als Ultima Ratio staatlichen Handelns ad absurdum geführt würden. Es darf nicht vergessen werden, dass das Strafrecht das schärfste Instrument des Staates darstellt und die Rechtssicherheit der Person durch Art. 103 II GG und besondere Gebote an den Gesetzgeber und die Rechtsprechung gestärkt wird. 30 Strafrechtliche Verbote müssen neben ihrem präventiven Gehalt notwendig erkennen lassen, dass die kriminalisierte Handlung von der gesamten Gesellschaft als derart verwerflich angesehen wird, dass ihre Begehung durch einen Straftatbestand gerechtfertigt ist. 31 Das im StGB verankerte Schuldprinzip bestimmt daher, dass in Deutschland Personen nicht aufgrund ihrer generellen Gefährlichkeit, sondern nur für konkrete, verwerfliche Handlungen bestraft werden dürfen. 32

Einige Tatalternativen der neuen Tatbestände weisen aber keinerlei Verwerflichkeit der beschriebenen Handlung auf, so etwa § 89 a II Nr. 3 und Nr. 4 und § 91 I Nr. 2 StGB. Diese Handlungen sind als neutrale Handlungen anzusehen, von denen weder ein konkreter Schaden noch eine (abstrakte) Gefährlichkeit ausgeht. Der vermeintliche Unrechtsgehalt des § 91 I Nr. 2 StGB liegt im Gegensatz zu anderen Verbreitungstatbeständen nicht im Inhalt der Schrift selbst 33, sondern er soll in der Vorbereitung einer staatsgefährdenden Gewalttat liegen. Dadurch wird aber konkret auf den Täter und nicht auf die Tathandlung, welche als neutral zu bewerten ist, abgestellt. Somit verlässt § 91 StGB den Boden des Tatstrafrechts und ist als Täterstrafrecht zu qualifizieren, was zwangsläufig einen Konflikt mit der Verfassung mit sich bringt. 34 Einzig moralisch könnte sich eine Gefährlichkeit durch die Absicht des Täters, womöglich einen terroristischen Anschlag zu begehen, ergeben. Dadurch entsteht die Gefahr, dass ein Rückfall des Strafrechts zur Tätertypenlehre erfolgt, wonach nicht mehr an eine rechtsgutsgefährdende Handlung des Täters, sondern nur noch an seine verwerfliche Gesinnung angeknüpft wird. Das würde, bei konsequenter Fortführung des Ansatzes, zu einer Strafbarkeit von bloßen Gedanken und damit zu einem verfassungswidrigen Gesinnungsstrafrecht führen. „Das Verbot eines Verhaltens, das sich auf ein Rechtsgut nicht berufen kann, wäre Staatsterror“. 35 Eine Strafbarkeit alleine aufgrund der Gedanken des Täters kann eine Strafbewehrung nicht rechtfertigen. Nach den Grundsätzen des Tatstrafrechts kann ein forum internum nicht alleiniger Anknüpfungspunkt staatlichen Strafens sein. 36 Erforderlich wäre eine konkrete verwerfliche Handlung des Täters, um damit Abstand vom Gesinnungsstrafrecht zu gewinnen und den Ansatzpunkt der Bestrafung auf die Handlung zu legen.

§ 91 StGB ist vorläufiger Abschluss einer Tendenz welche die Rechtsguts-Bedrohung durch „klassische“ Anstiftung (§ 26 StGB), versuchte Anstiftung (§ 30 StGB) und öffentlicher Aufforderung zu Straftaten (§ 111 StGB) immer unwichtiger werden lässt – also eine Abkehr von der Pönalisierung nur der vorsätzlichen Veranlassung von Straftaten. 37 Diese strafrechtsdogmatische Entwicklung ist bedenklich, da dadurch eine uferlose Vorfeldkriminalisierung u.U. sogar unabhängig von einem zu schützenden Rechtsgut möglich erscheint und der Ultima Ratio Gedanke des Strafrechts mehr und mehr aufgegeben wird.

3. Ansätze eines „Feindstrafrechts“

Die vorgenannten Probleme weisen starke Parallelen zu der Debatte um das „Feindstrafrecht“ auf, welches erstmals von Jakobs als Begriff in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt wurde. 38 Nach Ansicht Jakobs könne das Strafrecht anhand des von ihm zugrunde gelegten Täterbildes charakterisiert werden. Entweder definiere es den Täter als Bürger, also als jemanden, der über eine strafrechtsfreie interne Privatsphäre verfügt, in die das Recht erst eindringen kann, wenn sich der Täter extern störend verhält, oder es gehe von einem Bild des Täters als Feind aus, also als einer Gefahrenquelle für die zu schützenden Rechtsgüter, als jemanden der über keine Privatsphäre verfügt, sondern der sogar für seine innigsten Gedanken zur Verantwortung gezogen werden kann. 39 Durch die neuen Straftatbestände wird ein Täter aufgrund seiner inneren Einstellung, Gedanken und Absichten als gefährlich eingestuft und bestraft, obwohl die in Frage stehende Handlung keinerlei Verwerflichkeitsgehalt aufweist. Dadurch lassen sich die Straftatbestände in die Kategorie des sehr kontrovers und größtenteils ablehnend diskutierten „Feindstrafrechts“ 40 einreihen und stellen einen klassischen Fall des von Jakobs entwickelten Konzepts dar. Auch wenn die Ansicht Jakobs: „Zu einem Feindstrafrecht besteht keine heute ersichtliche Alternative“ 41 hinsichtlich der dogmatischen, philosophischen und soziologischen Berechtigung ausgiebig diskutiert werden muss, ist festzuhalten, dass „feindstrafrechtliche“ Normen aktuell im StGB existieren und dementsprechend auch in der Praxis zur Anwendung kommen. 42 Die Straftatbestände stufen eine Person aufgrund einer „Ausbildung“ in einem Terrorcamp generell als gefährlich ein, sozusagen als „Feind“ des Rechtsstaats und gerade nicht mehr als Bürger mit verfassungsrechtlich garantierten Rechten. Es kommt nicht mehr auf eine von dieser Person verursachte Gefahr an, sondern die Person wird selbst als Gefahrenquelle eingestuft, weshalb sich eine andere Behandlung, im Vergleich zu einem rechtstreuen Bürger, rechtfertige. Ein solches „Feindstrafrecht“, welches den Bürger als gefährlich einstuft, ist aber mit dem Rechtsstaatsprinzip nur schwer in Einklang zu bringen.

IV. Fazit

Die neuen Tatbestände des Staatsschutzstrafrechts stehen in vielerlei Hinsicht mit der Verfassung in Konflikt. Sie beinhalten weniger eine bloße „Feinjustierung unseres strafrechtlichen Instrumentariums“ als eine massive Abweichung vom bisher geltenden Grundsatz, dass bloße Vorbereitungshandlungen bei Einzeltätern straflos sind. 43 Ob der präventionsorientierte strafrechtliche Ansatz des neuen Staatsschutzstrafrechts wirklich die angemessene Erwiderung auf den internationalen Terrorismus darstellt 44, oder ob Alternativen wie z.B. ein kriegsrechtlich orientiertes Präventionsrecht, eine Lösung der Problematik allein anhand des Polizei- und Nachrichtendienstrechts oder ein selbständiges Terrorismusstrafrecht sinnvoller sind, muss durch eine weiterführende wissenschaftliche Diskussion unter Heranziehung praktischer Erfahrungen entschieden werden. Eine Evaluierung der neuen Straftatbestände ist für Ende des Jahres 2011 geplant. 45 Wie die §§ 89 a, 89 b und 91 StGB aber in der Praxis angewandt und von den Gerichten ausgelegt werden und ob sich das Bundesverfassungsgericht mit der möglichen Verfassungswidrigkeit der Normen auseinanderzusetzen hat, wird die Zukunft zeigen.

 

 

 

 


Fußnoten:

  1. Gesetz vom 30.07.2009, BGBl I, 2437 (Nr.49).
  2. Zöller, Terrorismusstrafrecht: ein Handbuch, 2009, S. 562.
  3. BT-Drs. 16/12428, 2.
  4. Gierhake in ZIS 2008, 397 (405).
  5. Vgl. hierzu die Gesetzesbegründung vom 25.03.2009, BT-Dr 16/12428 i.d.F. der Beschlussempfehlung des Berichts des Rechtsausschusses vom 26.05.2009, BT-Dr 16/13145.
  6. z.B. die Überwachung der Telekommunikation nach § 100 a StPO; die Wohnraumüberwachung nach § 100 c StPO; die Wohnungsdurchsuchung bei „anderen Personen“ nach § 103 StPO sowie die Einrichtung von Kontrollstellen nach § 111 StPO; darüber hinaus soll der dringende Tatverdacht der Begehung einer Straftat nach § 89 a StGB einen Haftgrund gem. § 112 a II Nr. 2 StPO darstellen und die Vermögensbeschlagnahme nach § 443 StPO möglich sein.
  7. Europäischer Rahmenbeschluss vom 28.11.2008 (2008/919/JI, ABl. Nr. L 330 vom 9.12.2008).
  8. Instruktiv zu dieser Thematik: Zimmermann in: ZIS 2009, 1 (6); Kaiafa-Gbandi in: Festschrift Hassemer, 2010, S. 1161, 1163 ff.
  9. Kauder in: ZRP 2009, 20 f.
  10. Vgl. §§ 30, 129 a, 129 b, 80, 83 und 87 StGB.
  11. Backes in: StV 2008, 654 (660).
  12. Paeffgen, NomosKommentar, Band 1, 2010, § 89 b, Rn. 2.
  13. Vgl. Radtke/Steinsiek in: JR 2010, 107 (108); Zöller in: GA 2010, 607 (619); Hassemer in: StV 2006, 321 (329).
  14. BVerfGE 109, 133, 172; 32, 346, 362; vgl. auch Stellungnahme des Sachverständigen Prof. Dr. Heintzen zur öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags am 22.04.2009, S. 3, unter www.bundestag.de, Rubriken Ausschüsse (16. Wahlperiode) – Recht – Öffentliche Anhörungen.
  15. BVerfGE 92, 1, 12 f.
  16. Radtke/Steinsiek, JR 10, 107, 108.
  17. Beck in: Festgabe Paulus 2009, Rechtsstaatlichkeit – Bauernopfer im Krieg gegen den Terror?, S. 15, 23.
  18. Beck in: Festgabe Paulus 2009, Rechtsstaatlichkeit – Bauernopfer im Krieg gegen den Terror?, S. 15, 24 f.
  19. Sieber in: NStZ 09, 353 (363).
  20. Vgl. Landau in ZStW 121 (2009), 965 (966 f.).
  21. Sieber in: NStZ 09, 353 (355).
  22. Vgl. zu dieser Problematik BVerfGE 92, 1, 13 f.
  23. Zur Legitimation eines präventionsorientierten Strafrechts siehe Sieber, NStZ 09, 353, 356 ff.
  24. Vgl. BVerfGE 12, 205, 247.
  25. Degenhart in: Sachs (Hrsg.), GG, 2003, Art. 74 Rn. 11.
  26. Rengeling in: HStR IV, 1990, § 100 Rn. 131.
  27. Denninger in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 2007, E. Polizeiaufgaben, Rn. 11 ff.
  28. Naucke in: KritV 90, 244 (254 f); Hassemer in: ZRP 92, 378 (379 f.).
  29. Stellvertretend: Hassemer in: NStZ 1989, 553 ff; Albrecht in: KritV 1993, 163 ff.
  30. Nolte in: v. Mangoldt u.a. (Hrsg.), GG Kommentar, Band 3, 2010, Art. 103 Abs.2, Rn. 101.
  31. Vgl. Roxin, Strafrecht AT, 2006, § 3 A Rn. 46 ff., 89 ff.
  32. Beck in: Festgabe Paulus 2009, Rechtsstaatlichkeit – Bauernopfer im Krieg gegen den Terror?, S. 15, 28.
  33. Wie z.B. bei § 185 StGB (Verbreitung pornographischer Schriften).
  34. Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling in: NStZ 2009, 593 (602).
  35. Hassemer in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 57 ff., 64.
  36. Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling in: NStZ 2009, 593 (601).
  37. Paeffgen, NomosKommentar, Band 1, 2010, § 91, Rn. 3.
  38. Jakobs in: ZStW 97 (1985), 751 ff.
  39. Jakobs in: ZStW 97 (1985), 751 (753 ff., 761).
  40. So z.B. Jung in: GA 2006, 724 (726); Schünemann in: GA 2001, 205 (212); Sacher in: ZStW 118 (2006), 574 (607); Paeffgen in: Festschrift Amelung, 2009, Bürgerstrafrecht, Vorbeugungsrecht, Feindstrafrecht?, S. 81 ff; Greco, Feindstrafrecht, 2010, 13 ff; 31 ff; Morguet, Feindstrafrecht – eine kritische Analyse, 2009, passim.
  41. Jakobs, in: Eser u.a. (Hrsg.): Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 48.
  42. Aktuell werden verschiedene Ermittlungsverfahren aufgrund der Normen geführt, jedoch gibt es noch keine Rechtsprechung zu der Thematik, mit Ausnahme einer Entscheidung des BGH zum Strafanwendungsrecht (BGH, Beschluss vom 15.12.2009 – StB 52/09).
  43. Gierhake in: ZIS 2008, 397 (405).
  44. So Sieber in: NStZ 2009, 353 (363.)
  45. Die Koalitionspartner CDU, CSU und FDP haben in ihrem Koalitionsvertrag zur 17. Legislaturperiode eine Evaluierung des Gesetzes zur Mitte der Legislaturperiode vereinbart.

Auf dem Dach der Welt

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Ein Praktikum an der deutschen Botschaft in Kathmandu

stud. jur. Carmen Appenzeller und Marlene Speth

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Vom 1. Juli bis zum 30. September durfte ich ein Praktikum an der Deutschen Botschaft in Kathmandu absolvieren. Mit dem Praktikumsbericht wurde mir vorab ein Erfahrungsbericht ehemaliger Praktikanten geschickt, sodass ich mich damit, mit einem Reiseführer und dem Internet schon vor Abflug auf das Land und die Arbeit in der Deutschen Botschaft vorbereiten konnte.

Im Praktikumsbericht war auch Information über die Unterbringung, sodass ich dann versuchte, mit einer Dame, die in der Deutschen Botschaft arbeitet und Wohnungen an Praktikanten vermietet Kontakt aufzunehmen.

In Kathmandu wurde ich von meinen Praktikanten-Vorgängern am Flughafen abgeholt. Hier erfuhr ich, dass es an der Deutschen Botschaft Kathmandu immer zwei Praktikanten gibt und meine Mitpraktikantin sogar mit der gleichen Maschine von Delhi nach Kathmandu flog. Es war sehr bedauerlich, dass man die Wartezeit in Delhi nicht gemeinsam verbringen konnte und die Anreise und Unterkunft in Kathmandu nicht zusammen organisieren konnte. Ich fand es schade, dass diese Information erst in Kathmandu ersichtlich war.

Am 1. Juli war dann der erste Arbeitstag. Am Tag zuvor hatten wir von unseren Vorgängern noch eine kurze Einführung in die Arbeit an der Botschaft erhalten. Dies erwies sich als sehr nützlich. In der Botschaft haben die Praktikanten ein eigenes Zimmer, sehr zentral in der ersten Etage gelegen. Mit meiner Mitpraktikantin verstand ich mich von Anfang sehr gut. Sie studiert Jura und wir konnten uns bei diversen Aufgaben sehr gut unterstützen und gegenseitig ergänzen. Zu verfassende Berichte wurden zum Beispiel vom anderen meist Korrektur gelesen. Auch haben wir diverse Events, zu denen die Botschaft eine Einladung erhalten hatte, nach Dienstschluss zusammen besucht.

Die Deutsche Botschaft in Kathmandu ist eine der kleineren Auslandsvertretungen. Es sind ca. acht deutsche Arbeitskräfte in Kathmandu stationiert, zusätzlich noch etwa die gleiche Anzahl an Ortskräften. Hinzukommen noch die Wächter, Gärtner und weitere Angestellte.

Außer der Botschafterin hat an der Deutschen Botschaft Kathmandu keiner ein abgeschlossenes Studium und demnach ist auch sie die Einzige im höheren Dienst.

In der Botschaft waren wir Praktikantinnen niemandem direkt zugeteilt und wurden nicht von einer Person betreut. Im August waren dann einige deutsche Botschaftsangestellte im Urlaub, sodass wir Praktikantinnen kaum beschäftigt waren. Da wir aber sehr gerne mehr Einblick in die Botschaftsarbeit gehabt hätten, haben wir bei den wöchentlichen Meetings immer darum gebeten, uns in diverse Aufgaben zu involvieren und uns mit mehr Tätigkeiten „zu versorgen“. Leider war dies nur manchmal der Fall.

Die täglichen Aufgaben waren meist nur weisungsgebundene Arbeiten mit wenig Eigenverantwortung. So durften wir zum Beispiel Informationen zu verschiedenen Themen „googeln“, bei der Touristenregistrierung mitarbeiten (d.h. die Touristendaten in eine Excel- Tabelle eintragen) und Anfragen an die Botschaft beantworten. Des weiteren durfte ich, da ich auch Anglistik studiere und das letzte Jahr an der Universität Oxford verbracht hatte, viele Protokolle, Vermerke und Merkblätter ins Englische übersetzen.

Verständigungsschwierigkeiten gab es am Arbeitsplatz und in der Freizeit keine. Die Atmosphäre in der Botschaft war interessant, so wurde man von Mitarbeitern über die jeweiligen Stärken und vor allem Schwächen der anderen informiert. In der Botschaft wurde meist Deutsch gesprochen, in der Freizeit sprachen wir mit anderen Expats und den Nepalesen meist Englisch.

Nach Dienstschluss verbrachten wir Praktikantinnen die Freizeit entweder zu zweit, trafen uns aber meist mit Expats und Mitarbeitern von anderen Botschaften. Der soziale Anschluss in Kathmandu war sehr gut, wir konnten sehr schnell Kontakte aufbauen und waren so nach Dienstschluss und an Wochenenden meist unterwegs. Meine Mitpraktikantin und ich hatten beide einen Rückflug über Delhi gebucht und kurzerhand beschlossen wir, einen Stop-over in Delhi einzulegen. Durch unsere sehr guten Kontakte zur Britischen Botschaft in Kathmandu war es dann sogar möglich, in Delhi Mitarbeiter der Britischen Botschaft zu treffen.

Summa summarum war der Sommer in Kathmandu durchaus als interessant zu bewerten. Ein Praktikum von drei Monaten an der Deutschen Botschaft ist aufgrund oben genannter Gründe aber zu lange. Es wäre sehr schön gewesen, wenn man während der Zeit an der Botschaft mehr Einblick in die Botschaftsarbeit bekommen hätte. Das Praktikum an der Deutschen Botschaft war aber dennoch eine Erfahrung wert. Die sehr guten sozialen Kontakte zu Expats anderer Botschaften und Organisationen ermöglichten ein sehr schnelles Einleben in Nepal und rege soziale Kontakte.

Abschließend möchte ich mich beim Deutschen Akademischen Austauschdienst nochmals sehr herzlich für das großzügige Stipendium bedanken. Besonders die unkomplizierte Abwicklung und sehr schnellen Antworten bei Nachfragen empfand ich als sehr positiv. Ohne die Unterstützung seitens des DAAD wäre ein Praktikum in Nepal nicht möglich gewesen, daher nochmals vielen Dank für diese einzigartige Möglichkeit!

Zu den Autorinnen: Carmen Appenzeller ist Studentin der Rechtswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin; Marlene Speth ist Studentin der Linguistik und Wirtschaft an der Universität Nürnberg-Erlangen.

“100 Legal Novels” und “half-brained laywers”:

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Warum und zu welchem Zweck sollten sich Juristen mit Literatur beschäftigen?

Kristina Odenweller, M.A.

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“For it is certain that the lawyer must, like other men, for his pastime and mental ease, abandon himself now and then to the thrall of fiction.”

Mit diesen Worten beantwortet John H. Wigmore 1908 die Frage, warum Juristen sich mit Literatur beschäftigen sollten. Im Anhang an seine Überlegungen folgt eine Liste mit 100 so genannten Legal Novels, die er als besonders empfehlenswert für eben diese Beschäftigung mit Literatur bezeichnet. Als Legal Novel bezeichnet er alle Literatur, in der Prinzipien der Rechtswissenschaft eine tragende Rolle spielen. Wigmore unterteilt die ausgewählten Bücher in vier Abteilungen: Werke in denen ein juristischer Prozess eine besondere Rolle spielt; in denen typische Verhaltensweisen von Juristen portraitiert werden; in denen juristische Methoden der Strafe behandelt werden und zuletzt solche, in denen generelle rechtliche Themen die Handlung in irgendeiner Form beeinflussen.

Warum nun soll der Jurist diese Bücher lesen? Wigmore beantwortet diese Frage doppelt: Zunächst sollte der Jurist aus seiner Pflicht als cultivated man 1 lesen. Als zweites Argument nennt er die Pflicht des Rechtswissenschaftlers, sich mit der Darstellung seiner Profession in der allgemeinen Vorstellung und der Kultur zu beschäftigen. Dazu nennt er die Wirkung, die Entwicklungen des Rechtssystems auf Juristen hatten. Nur zu deutlich wird in seinen Ausführungen die um die Jahrhundertwende noch weit verbreitete Vorstellung vom Rechtsgelehrten als universal ausgebildeten Gelehrten – für Wigmore ist ein Jurist ohne Kenntnis der literarischen Klassiker, von Charles Dickens bis Victor Hugo, undenkbar. Seine Liste beinhaltet dabei Bücher, die dem zeitgenössischen Leser völlig unbekannt sind, und andere, deren Bezug zur juristischen Profession mehr als fadenscheinig wirkt – als Beispiel sei dafür die 1820 publizierte Ritterromanze „Ivenhoe“ von Sir Walter Scott genannt, deren rechtlicher Bezug sich auch auf den zweiten Blick hartnäckig verbirgt. 2

Wigmores mittlerweile über 100 Jahre alte Liste ist ohne jeden Zweifel überholt. Nach wie vor aktuell ist aber die Frage, ob die Beschäftigung mit Literatur dem Jurist und Jurastudent – auch jenseits der Lektüre von unterhaltsamer „leichter Kost“ nach langen Bibliotheksstunden – hilfreich sein kann.

Positiv beantwortet ist diese Frage seit langem in den USA. Dort hat sich ausgehend von Wigmores Überlegungen und den Gedanken von Benjamin Cardozo 3 die so gennante Law and Literature Bewegung etabliert. Die Frage nach der sinnvollen Nutzung von Literatur in der Ausbildung von Juristen nimmt darin einen weiten Raum ein. 4 Hauptsächlich soll die Literatur dazu dienen, den Horizont des angehenden oder bereits ausgebildeten Juristen zu erweitern, seine Sicht für Problemfelder zu schärfen und Möglichkeiten menschlichen Handelns vor Augen zu führen.

Aber kann und muss Literatur das leisten? Dazu zeigt sich die Law and Literature Bewegung gespalten. Während die eine Seite eine deutliche Relevanz der Literatur zum täglichen Leben und der Arbeit des Juristen sieht, 5 wünscht die andere sich eine möglichst deutliche Trennung: Literatur als „schöne Kunst“, als Selbstzweck, aber ohne Realitätsbezug. 6 In amerikanischen Law Schools ist die Erweiterung des juristischen Horizonts mithilfe der Literatur bereits Standart geworden und einige anerkannte Universitäten verlegen Zeitschriften zum Thema. 7 In Deutschland hat sich dieser Zugang noch nicht durchgesetzt. Das ist erstaunlich, denn schon lange bevor Wigmore seine One hundred Legal Novels veröffentlichte entstanden Aufsätze zur Verwandtschaft von Recht und Dichtung, der bekannteste wohl der Aufsatz „Von der Poesie im Recht“ Jacob Grimms von 1816, und wurden Generationen von Juristen anhand der Fallgeschichten des „Pitaval“ ausgebildet, einer anschaulichen Fallsammlung mitsamt Täterportraits, psychologischer Analysen und Nebenerzählungen. Mit der Verwissenschaftlichung der Rechtswissenschaft im 20. Jahrhundert geriet der „Pitaval“ aus der Mode, ersetzt durch allseits bekannte Fallsammlung knapperer Natur und ohne literarische Ansprüche.

Die hinter der Diskussion um den Wert von Literatur im Rechtsunterricht stehende Frage geht jedoch viel tiefer. Kann Literatur im Menschen etwas bewegen? Wenn in den USA legal novels als Lehrmaterial im Unterricht eingesetzt werden, scheint diese Frage – zumindest für den dortigen Kulturkreis – als mit „ja“ beantwortet. Die Literatur als Sammelbecken möglicher Handlungsoptionen und Verständniswege? Entspricht dies dem Ziel der juristischen Ausbildung?

Nur: Was ist das Ziel der deutschen juristischen Ausbildung? Die Produktion von Juristen mit der Fähigkeit zur Anwendung des vorhandenen Rechts, zur Auslegung der Normen und zur Weiterentwicklung des Gesetzes. Im Gegensatz dazu steht die amerikanische Ausbildung, die neben dem fähigen Juristen einen allgemein kultivierten, gebildeten Menschen zu erschaffen sucht – eine Aufgabe, der sich hierzulande die Gymnasien bereits mit höchster Begeisterung widmen.

Ergibt es also Sinn, sich als Jurist mit Literatur zu beschäftigen? Allerdings. Denn genau wie jeder Geisteswissenschaftler bedient sich der Jurist der Sprache als Medium zur Kommunikation seiner Ziele. Recht ist, reduziert auf sein wesentliches, nur eine Ansammlung von Worten auf dem Papier. Damit kann die Beschäftigung mit Literatur, die ja nichts anderes ist als der Versuch, jene Wörter in einer möglichst angenehmen und bewegenden Form aufzureihen, dem Juristen nur gut tun, genauso wie übrigens jedem anderen Angehörigen einer mit Worten arbeitenden Profession auch. Recht und Dichtung teilen das Medium der Sprache zur Mitteilung ihrer Inhalte – und sind sich damit ähnlicher, als es vielleicht auf den ersten Blick erscheint. Nicht zuletzt offenbart sich diese Ähnlichkeit auch in der Menge der so genannten „Dichterjuristen“, darunter allgemein bekannte Namen jüngster und älterer Vergangenheit – genannt seien hier als Beispiel nur Johann Wolfgang von Goethe und Juli Zeh.

Sollen Juristen deswegen nun dichten? Nicht zwangsläufig. Auch wenn Richter des amerikanischen Obersten Gerichtshofs scheinbar gerne aus Gedichten zitieren 8, steht der in Deutschland gepflegte juristische Stil dem entschieden entgegen. Dennoch schadet die Schulung des eigenen Stils an literarischen Vorbildern keineswegs, und wer viel schreibt, sollte sich ohnehin ein Gespür für Worte antrainieren. Daneben bietet die Literatur dem Juristen eine Außenansicht seiner Profession und beantwortet die Frage, wie Recht wahrgenommen werden kann, und wie das System weitergedacht wird.

Literaturkurse nach amerikanischem Vorbild wird es an deutschen Universitäten wohl nicht allzu schnell geben. Dennoch kann der Konsum von Literatur wohl jedem nur empfohlen werden – und sei es nur zur Ausbildung eines eigenen Stils. Einen Kanon vorzuschlagen kann dabei nicht Ziel dieses Artikels sein. Am Ende soll vielmehr die Aufforderung stehen, einmal über den juristischen Tellerrand hinauszuschauen in die weite Welt der Literatur, der es ganz ohne Paragraphenzeichen gelingt, Wirklichkeit abzubilden, zu beeinflussen und zu verändern. Am Ende kann nur Gewinn stehen – und sei es auch nur für den Juristen, der sich nicht als „halfbrained lawyer“ 9 bezeichnen lassen muss.

Zur Autorin: Kristina Odenweller ist Doktorandin der Germanistik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg


Fußnoten:

  1. Wigmore, One hundred legal novels, S. 27.
  2. Vgl. Wigmore, S. 40.
  3. Cardozo publizierte 1925 seinen wegweisenden Aufsatz „Law and Literature“, aus dem die Bewegung auch ihren Namen gewann. Cardozo, Benjamin N: Law and Literature, in: The Yale Review (4) 1925, S. 699 – 718.
  4. Diese Fragestellung gehört dem sogannten „Law in Literature“-Zweig der Bewegung an. Dem steht die Beschäftigung mit „Law as Literature“ gegenüber, die sich hauptsächlich um die Anwendung von literarischen Methoden der Hermeneutik auf rechtliche Texte beschäftigt. Zur Einführung in die Thematik empfohlen sei der an dieser Stelle der Aufsatz „Law and Literature“ von Weisberg/Barricelli empfohlen: Weisberg, Richard/Barricelli, Jean-Pierre: Literature and Law, in: Interrelations of Literature. Hg. v. Jean-Pierre Barricelli und Joseph Gibaldi. New York 1982, S. 150 – 175.
  5. Dazu nimmt vor allem James Body White in seinem 1973 erschienen Werk „The Legal Imagination“ Stellung, das als Stein des Anstoßes für die Verbreiterung der Law and Literature-Bewegung gilt. Vgl. White, James Boyd: The Legal Imagination. Boston 1973.
  6. Bekanntester Vertreter dieser Richtung ist Richard Posner, Richter und Literaturprofessor, der 1988 mit „Law and Literature: A relation reargued“ ein Standartwerk der Law and Literature Bewegung vorlegte.
  7. Einschlägig ist hier vor allem die Yale Law Review und das Cardozo Journal of Literature and Law.
  8. Eine Auflistung der Urteile, in denen weltliche und geistliche Lyrik und Prosa nützliche Verwendung fand, ist bei Grossfeld, Bernhard: Poesie und Recht – Rechtsvergleichende Zeichenkunde. Paderborn 2005, S. 49f. uu finden.
  9. Als „halfbrained lawyers“ bezeichnet Großfeld jene Juristen, die ohne Kreativität nur an überkommenen Denkstrukturen festhalten und sich der Rechtserfahrung „mit allen Sinne, auch mit poetischen Kräften“ verschließen. Vgl. Großfeld, S. 23.

Kirchliches Arbeitsrecht vor dem EGMR

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von stud. jur. Benedikt Plesker

Zu bester Diskussionszeit, zwischen Tatort und Tagesthemen, gleich zwei Wochen hintereinander Thema der öffentlich-rechtlichen Gesprächsrunde im Berliner Gasometer zu sein, gleicht auf der Skala der öffentlichen Aufmerksamkeit mindestens 16 Punkten nach juristischer Notenvergabe. Die Redaktion der sonntäglichen ARD-Talkshow “Günther Jauch” wählte die Diskussion um die katholische Sexualmoral und die Pflichten kirchlicher Arbeitnehmer sowohl am 3. als auch am 10. Februar dieses Jahres als Thema der Sendung. 1

Mit Blick auf das nationale Verfassungsrecht verbirgt sich dahinter nicht viel Neues. Die grundlegende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Loyalitätspflichten kirchlicher Arbeitnehmer stammt aus dem Jahr 1985. 2 Zugrunde liegt dem Urteil zum einen der Fall eines aus der Kirche ausgetretenen kaufmännischen Mitarbeiters, zum anderen der Fall eines Arztes, der sich, obwohl in einem kirchlichen Krankenhaus beschäftigt, in der politischen Auseinandersetzung über die strafrechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs öffentlich gegen die dazu von der Kirche vertretene Position geäußert hatte. Seitdem haben die Arbeitsgerichte – bis hin zum Bundesarbeitsgericht – die damals aufgestellten Leitlinien mehrfach angewandt 3 und sind darin auch vom Verfassungsgericht bestätigt worden. 4

Deutlich jünger sind die bisherigen Urteile des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zum kirchlichen Arbeitsrecht in Deutschland. Betroffen sind dabei ähnliche Rechte und Freiheiten, wie diejenigen des Grundgesetzes (I.), wobei sich die Rechtfertigung möglicher Einschränkungen (II.) vor allem aufgrund staatlicher Einschätzungsspielräume anders auf die einzelnen Fallkonstellationen (III.) auswirken kann.

I. Betroffene Konventionsrechte

Mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) stehen den Arbeitnehmern kirchlicher Einrichtungen im Wesentlichen ähnliche Rechte und Freiheiten wie aus dem Grundgesetz zur Verfügung. Ein geringeres Schutzniveau als dasjenige nationaler Grundrechte, ist innerhalb der EMRK schon allein aufgrund der Regelung des Art. 53 ausgeschlossen. Darüber hinaus hat auch das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass jedenfalls das Schutzniveau des Grundgesetzes nicht unterschritten werden darf. 5

Kirchlichen Arbeitnehmern stehen innerhalb der Konvention insbesondere das Recht auf Schutz der Privatsphäre aus Art. 8, das Recht der Glaubens- und Gewissensfreiheit aus Art. 9 sowie die Meinungsfreiheit aus Art. 10 und die Vereinigungsfreiheit aus Art. 11 zur Seite. Welches Schutzniveau diese Rechte garantieren, wird allerdings vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht abstrakt bestimmt, sondern ist stets stark am zu entscheidenden Einzelfall orientiert. 6 Ob die Regelungen des kirchlichen Arbeitsrecht den Konventionsrechten standhalten, ist nunmehr einerseits von konkreten Einschränkungen der Rechte im Einzelfall abhängig, andererseits maßgeblich von den grundsätzlichen Rechtfertigungsmöglichkeiten für solche Einschränkungen geprägt.

 

II. Eingriff durch staatliches Handeln oder Verletzung einer Schutzpflicht

Sofern das Arbeitsrecht in Deutschland den Kirchen gestattet, von ihren Mitarbeitern zu verlangen, ein bestimmtes privates Verhalten zu unterlassen (beispielsweise die öffentliche Positionierung gegen die Aussagen der Kirche) oder erlaubt, ein bestimmtes Verhalten vorzuschreiben (beispielsweise die Mitgliedschaft in der entsprechenden Religionsgemeinschaft), liegt darin grundsätzlich ein Eingriff in die Religionsfreiheit oder die Privatsphäre des Einzelnen.

Als völkerrechtlicher Vertrag bindet die EMRK ausschließlich die Konventionsstaaten selbst. Daher gewährt Art. 1 EMRK auch lediglich Schutz vor Maßnahmen staatlicher Hoheitsgewalt, sodass sich hinsichtlich möglicher Einschränkungen durch kirchliche Arbeitgeber die Frage stellt, ob diese überhaupt staatliches Handeln betreffen. Zwar sind die Kirchen in Deutschland als Körperschaften des öffentlichen Rechts organisiert, werden verfassungsrechtlich aber nicht als Teil staatlicher Gewalt angesehen, sondern stehen dieser „wie jedermann gegenüber“ und können eigene Rechte geltend machen. 7 Im Rahmen der Privatautonomie steht den Kirchen daher das staatliche Arbeitsrecht zur Verfügung. Dies gestattet ihnen auch, Einrichtungen privater Rechtsform zu gründen, wenn sie nach kirchlichem Selbstverständnis ebenfalls einen kirchlichen, insbesondere karitativen Auftrag erfüllen. 8 Die Kirchen sind somit auch nicht grundsätzlich auf die Rechtsform der Körperschaft öffentlichen Rechts beschränkt.

Das kirchliche Selbstbestimmungsrechts aus Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 WRV gestattet ihnen ferner „im Interesse der eigenen Glaubwürdigkeit ihre Arbeitsverträge auf das Leitbild einer christlichen Dienstgemeinschaft“ zu stützen und „demnach von den ihr angehörenden Arbeitnehmern die Beachtung der tragenden Grundsätze der kirchlichen Glaubens- und Sittenlehre“ zu verlangen. 9 Sofern sich der kirchliche Arbeitgeber des staatlichen Arbeitsrechts bedient, stellt es auch kein staatliches Handeln dar, wenn die Durchsetzung einer Kündigung vor staatlichen Gerichten verfolgt wird. 10 Allerdings trifft den Konventionsstaat eine Pflicht aus den Art. 8, 9 und 10 EMRK, Betroffene vor Eingriffen in ihre eigene Religions- und Meinungsfreiheit oder dem Recht auf Achtung des Privatlebens zu schützen, wenn nach nationalem Recht den Kirchen die Möglichkeit offen steht, eigene Loyalitätsobliegenheiten in privatrechtliche Arbeitsverträge einzubeziehen. 11

III. Ausgestaltung staatlicher Schutzpflichten durch die EMRK

  • 1. Gestaltungsspielraum zur Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche

Zur Erfüllung der Schutzpflicht, ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen Allgemeininteresse und Einzelinteressen herzustellen, genießen die Staaten grundsätzlich einen weiten Gestaltungsspielraum, wenn zwischen ihnen kein Konsens über die Auflösung von Kollisionen privater und öffentlicher Rechte besteht. 12 Hinsichtlich der Regelung des Verhältnisses von Staat und Religion hat der Gerichtshof „berechtigte tiefgreifende Differenzen“ zwischen einzelnen Staaten festgestellt. 13 So finden sich unter den Konventionsstaaten streng laizistische Staaten wie Frankreich oder die Türkei, aber auch Staaten mit einer Staatskirche wie Dänemark, Großbritannien und Finnland sowie Staaten mit einem einvernehmlichen Kooperationsverhältnis, meist bei formaler Trennung von Staat und Kirche. 14 Daher lassen sich aus der EMRK keine eigenen grundsätzlichen Aussagen über die Reichweite der selbstbestimmten Existenz der Religionsgemeinschaften entnehmen. Die Konventionsstaaten haben sich über deren Ausgestaltung weder geeinigt, noch konnte der Gerichtshof einen Konsens aus ihrer jeweiligen Praxis ableiten. Die traditionelle und weltweite Existenz der Religionsgemeinschaften in selbstbestimmten Strukturen betrachtet der EGMR aber als unverzichtbar für den Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft. 15 Die Religionsgemeinschaften können sich somit auf die in Art. 11 EMRK gewährleistete kollektive Religionsfreiheit stützen und sind dadurch vor staatlichen Eingriffen bei der Ausgestaltung des Verhältnisses Staat-Religion geschützt.

Dies muss allerdings nicht bedeuten, dass sich für das staatliche Handeln, also der Erfüllung von Schutzpflichten gegenüber den Religionsgemeinschaften sowie der ihnen unterstellten Mitarbeiter, nicht doch wenigstens Mindeststandards ableiten lassen. Da der staatliche Einschätzungsspielraum zur Umsetzung der Schutzpflicht sich aus einem fehlenden Konsens bei der Auflösung einer Kollision verschiedener Rechte herleitet, verlangt dies eine gerechte Abwägung sich entgegenstehender Rechte unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. 16 Als absolute Schranke aller Einschränkungen sieht der Gerichtshof dabei den Grundgehalt der betroffenen Rechte an. 17

2. Abwägungsgrundsätze nach EGMR-Rechtsprechung

Verfassungsrechtlich findet das kirchliche Selbstbestimmungsrecht seine Grenze gemäß Art. 137 III WRV in den für alle geltenden Gesetzen. Dies begründet nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keinen absoluten Vorrang staatlicher Gesetze, sondern verlangt eine Güterabwägung, bei der dem Selbstverständnis der Kirchen besonderes Gewicht beizumessen ist. 18

Diese Gewichtung findet sich in der Konventionsrechtsprechung nicht: Dort findet das kirchliche Selbstbestimmungsrecht seine Schranke an den gemeinsamen Grundprinzipien der Rechtsordnungen der Konventionsstaaten, zu denen auch und vor allem die Rechte und Grundfreiheiten der Konvention zählen. 19 Wenn innerhalb von privatrechtlichen Arbeitsverträgen zwischen Einrichtungen von Religionsgemeinschaften und ihren Beschäftigten eine Verpflichtung zur Loyalität vereinbart wird, die eine Einschränkung der Privatsphäre mit sich bringt, ist das Recht auf Achtung der Privatsphäre aus Art. 8 EMRK einschlägig. Sofern die Loyalitätsverpflichtung freiwillig von beiden Seiten vereinbart wird, ist dies nach Ansicht des EGMR zulässig. Dabei können aber Kerngehalte des Rechts auf Achtung der Privatsphäre nicht angetastet werden. Da der Gerichtshof aber religiöse Ansichten nicht überprüfen kann, erkennt er darüber hinaus an, dass es Beschäftigte gibt, die aufgrund kirchlicher Regelungen besonderen Loyalitätspflichten unterworfen sind (beispielsweise Seelsorger, weil diese unmittelbar den Verkündigungsauftrag erfüllen), die auch Kerngehalte der Konventionsrechte betreffen können. 20 Innerhalb dieser Grenzen gewährt das Selbstbestimmungsrecht den Kirchen aber, die Loyalitätspflichten der Beschäftigten insoweit selbst zu bestimmen, als dass sie nicht „unbegründete Anforderungen“ verlangen. Damit sind solche Verpflichtungen ausgeschlossen, die mit der sonstigen kirchlichen Lehre nicht im Zusammenhang stehen. 21 Sofern dies aber gewährleistet ist, ist die staatliche Schutzpflicht erfüllt und sind für die Beschäftigten auch Eingriffe in ihre Konventionsrechte gerechtfertigt.

Kommt es aber zu einer Kündigung aufgrund einer Verfehlung gegen solche, aus dem Selbstbestimmungsrecht abgeleitete Loyalitätspflichten, so ist bei der gerichtlichen Überprüfung die vom Betroffenen bekleidete Stelle zu berücksichtigen und die jeweilige Loyalitätspflicht in Bezug auf diese berufliche Position auf „unbegründete Anforderungen“ zu prüfen. 22 Innerhalb der Abwägung konzentriert sich die Prüfung dabei auch auf die Fragen, ob der Betroffene sich öffentlich gegen die Standpunkte der Religionsgemeinschaft äußert oder nur „deren Achtung in der Praxis verletzt zu haben scheint“ und ob es sich dabei um Kerngehalte des Rechts auf Achtung des Privatlebens handelt und ob es außerhalb des kirchlichen Arbeitgebers weitere Beschäftigungsmöglichkeiten gibt. 23 Ebenso ist die Bedeutung der Angelegenheit für die religiösen Ansichten des kirchlichen Arbeitgebers zu berücksichtigen. 24

IV. Einzelne Fallkonstellationen

1. Partnerschaft und Trennung (Die Fälle „Schüth“ und „Obst“)

Das Urteil in der Rechtssache „Schüth/Deutschland“ vom 23. September 2010 25 ist weder das erste noch das bisher jüngste Urteil zum kirchlichen Arbeitsrecht aus Straßburg, es hat aber mit Abstand die größte Beachtung auch außerhalb der juristischen Literatur erfahren. 26 Das bis dahin 13 Jahre dauernde Verfahren beschäftigt deutsche Gerichte und den EGMR noch heute und wirft Fragen über das Verhältnis von EMRK und ZPO auf. 27

Der Beschwerdeführer wurde 1997 als Organist in einer katholischen Pfarrgemeinde im Bistum Essen gekündigt, als bekannt wurde, dass seine außereheliche Lebensgefährtin schwanger ist. Drei Jahre zuvor hatte er sich bereits von seiner Ehefrau getrennt und lebte seitdem mit der Lebensgefährtin zusammen. Der kirchliche Arbeitgeber berief sich in der Kündigung auf einen Verstoß gegen Art. 5 der Grundordnung der Katholischen Kirche, wonach als letzte Maßnahme eine Kündigung auszusprechen ist, wenn die Glaubens- und Sittenlehre der Katholischen Kirche missachtet wird. Dazu zähle nach Ansicht des Arbeitgebers insbesondere die Unauflöslichkeit der Ehe. Das Arbeitsgericht Essen hob die Kündigung zunächst mit Verweis auf die lange Beschäftigungsdauer des Organisten von 14 Jahren, die schlechten Berufsaussichten außerhalb des kirchlichen Bereichs und der Art der Beschäftigung als nicht pastoral oder katechetisch tätiger Mitarbeiter auf. 28 Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf wies die Berufung aber mit der Begründung zurück, dass die Kirchengemeinde nicht darlegen könne, dass der Dechant in einem von der Grundordnung der Kirche vorgeschriebenen „klärenden Gespräch“ versucht habe, auf ein Ende der außerehelichen Beziehung hinzuwirken. 29 Aufgrund der großen Bedeutung der Unauflöslichkeit der Ehe für die Katholische Kirche stellte allerdings das Bundesarbeitsgericht einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Loyalitätspflichten der Kirche fest und hob wiederum dieses Urteil auf. 30 Nach erneuter Vernehmung des kirchlichen Arbeitgebers gab das Landesarbeitsgericht daraufhin der Berufung statt und erkannte aufgrund der Aussage, dass die außereheliche Beziehung „endgültig“ sei, ebenfalls einen Verstoß gegen die Loyalitätspflichten an. Nach erfolgloser Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesarbeitsgericht und Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde durch das Bundesverfassungsgericht legte der Betroffene Beschwerde beim EGMR ein. Dieser stellte fest, dass von den nationalen Arbeitsgerichten nicht genügend berücksichtigt worden war, dass der Beschwerdeführer seine Loyalitätspflichten lediglich im privaten Bereich verletzt hatte und sich nicht öffentlich gegen die Ansichten der Kirche geäußert hatte. Ebenfalls sei zu berücksichtigen, dass er aufgrund des deutschen Lohnsteuerkartensystems keinerlei Möglichkeit habe, eine Änderung des Personenstandes seinem Arbeitgeber zu verschweigen, auch wenn er sich bewusst dafür entscheide, dies nicht öffentlich zu machen. Insofern betrifft das Verhalten des Beschwerdeführers ausschließlich das Privatleben und ist nicht Gegenstand einer öffentlichen Auseinandersetzung. Aufgrund der schlechten Berufsmöglichkeiten außerhalb des kirchlichen Bereichs für einen Organisten (der Beschwerdeführer arbeitete mittlerweile bei einer evangelischen Gemeinde), seien die Folgen der Kündigung, die auf einem lediglich privaten Verhalten beruht, nicht genügend berücksichtigt worden, sodass der EGMR einen Verstoß gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens feststellte.

In einer anderen Rechtssache zur gleichen Thematik hat der Gerichtshof am selben Tag keinen Verstoß festgestellt: Die Kündigung des Europadirektors der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit der Mormonenkirche wegen einer außerehelichen Beziehung sei konventionsgemäß, weil der Ehebruch nach Ansicht der Mormonen „die gräulichste aller Sünden“ sei und laut Arbeitsvertrag für Führungskräfte besondere Loyalitätspflichten bestehen. 31 Die Reaktion der Mormonenkirche war nach Ansicht des Gerichtshof dem Beschwerdeführer auch vorhersehbar, da dieser schon in der Religionsgemeinschaft aufgewachsen war. Dass sich der Verstoß allein auf das Privatleben beschränke, sei in diesem Falle aufgrund der vertraglich vereinbarten besonderen Pflichten („Einhaltung hoher moralischer Grundsätze“) nicht relevant. 32

Auf einen anderen Abwägungsgrundsatz, der im vorhin dargestellten Schüth-Urteil entwickelt worden war, ist der Gerichtshof gar nicht eingegangen: Die Art der Beschäftigung des Beschwerdeführers spielt hier nur eine Rolle, weil ihn als Führungskraft gesteigerte Loyalitätspflichten treffen. Dass er als PR-Manager außerhalb des religiösen Bereichs leichter eine Beschäftigung finden könnte, musste hier aus zwei Gründen nicht thematisiert werden. Erstens war dem Beschwerdeführer wegen seiner Vergangenheit und seiner Position jederzeit die strikte Ablehnung des Ehebruchs durch die Mormonen und dessen arbeitsrechtliche Konsequenzen bekannt. Zweitens würde eine Abwägung hinsichtlich der Art der Beschäftigung bei gesteigerten Loyalitätspflichten deren besonderer Eigenschaft nicht gerecht. Es ist Sache der Religionsgemeinschaft, zu bestimmen, wen besondere – und somit gesteigerte – Pflichten treffen und warum diese Pflichten gerade für diese Arbeitsstelle verlangt werden. Vom Gerichtshof kann dies lediglich insofern überprüft werden, dass  die besonderen Pflichten nicht „unbegründet“ gelten dürfen, also nicht im Widerspruch zur sonstigen religiösen Lehre stehen.

2. Streikverbot nach BAG-Urteil v. 20.11.2012 (1 AZR 179/11)

Zu einer weiteren Einschränkung für kirchliche Mitarbeiter wird sich der EGMR vorerst nicht äußern können: Das Bundesarbeitsgericht hat jüngst der Klage einiger Gewerkschaften gegen das Streikverbot innerhalb von kirchlichen Einrichtungen formal stattgegeben. 33 Im Grundsatz sind aber die Rechte der Kirchen gestärkt worden, sodass mit einer Urteilsverfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht und einer sich möglicherweise anschließenden Beschwerde beim EGMR von Seiten der Kirchen nicht zu rechnen ist. Die Gewerkschaft ver.di hat allerdings dennoch eine Verfassungsbeschwerde angekündigt, wobei trotz erfolgreicher Revision eine Verletzung ihrer Grundrechte durch das Urteil nachgewiesen werden müsste. 34

Das Bundesarbeitsgericht betrachtet das Streikverbot bei kirchlichen Einrichtungen für zulässig, wenn ein „am Leitbild der Dienstgemeinschaft ausgerichtete[s] Arbeitsrechtsregelungsverfahren“ mit paritätisch besetzen Kommissionen zur Regelung der Beschäftigungsbedingungen und der Möglichkeit eines neutralen Schlichtungsverfahrens zur Verfügung steht, sofern die Gewerkschaften in dieses Verfahren eingebunden sind und das Verhandlungsergebnis für den kirchlichen Arbeitgeber verbindlich ist. 35 Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 WRV umfasse auch die „Entscheidung, die Arbeitsbedingungen nicht durch Tarifverträge mit Gewerkschaften auszuhandeln, sondern entsprechend ihrem religiösen Bekenntnis einem eigenständigen, am Leitbild der Dienstgemeinschaft ausgerichteten Verfahren zu überantworten.“ Die Kollision mit der in Art. 9 III GG garantierten Koalitionsfreiheit einer Gewerkschaft sei im Sinne praktischer Konkordanz der beiden Grundrechte aufzulösen, so dass die Dienstgemeinschaft nicht durch Streikmaßnahmen zerstört werden dürfe, wenn die Gewerkschaften an einer verbindlichen konsensualen Festlegung der Arbeitsbedingungen beteiligt sind.

Dies ist mit der Konvention vereinbar, wenn nach den Abwägungsgrundsätzen des EGMR das Streikrecht von Gewerkschaften nicht Kerngehalt der Vereinigungsfreiheit des Art. 11 EMRK ist. Die in Art. 11 ausdrücklich genannten Gewerkschaften sind jedenfalls mit ihren typischen Tätigkeiten geschützt, was die Möglichkeit voraussetzt, sich für die Interessen ihrer Mitglieder wirksam einzusetzen. Der Abschluss von Tarifverträgen ist dafür aber lediglich eines von mehreren möglichen Mitteln. 36 Steht den Gewerkschaften mit der Beteiligung am sogenannten Dritten Weg, der konsensualen Festlegung der Arbeitsbedingungen in paritätisch besetzten Kommissionen mit verbindlichem Schlichtungsverfahren, ein anderes Mittel zur Verfügung, stellt dies somit noch keinen im Sinne von Art. 11 II EMRK ungerechtfertigten Verstoß dar. 37

Das Streikrecht stellt zwar nach EGMR-Ansicht eines der bedeutendsten Mittel der Gewerkschaften dar, innerstaatliche Regelungen mit der Folge einer Einschränkung des Streikrechts in bestimmten Fällen seien aber zulässig. 38 Für das Streikverbot innerhalb kirchlicher Einrichtungen stellt das Selbstbestimmungsrecht des Art. 140 GG iVm 137 WRV eine solche innerstaatliche Regelung. Da dieses von Art. 9 EMRK geschützt ist, muss sich die Lösung des Bundesarbeitsgericht an den oben genannten Abwägungskriterien, außer denen für das Recht auf Achtung des Privatlebens, messen lassen. Die Kirchen dürfen somit den Gewerkschaften keine „unbegründeten Anforderungen“ stellen. Nach ihrem religiösen Verständnis tragen alle Mitarbeiter dazu bei, „dass die Einrichtung ihren Teil am Sendungsauftrag der Kirche erfüllen kann (Dienstgemeinschaft)“, so Art. 1 der Grundordnung für den kirchlichen Dienst in den katholischen Bistümern Deutschlands. Maßnahmen des Arbeitskampfes würden zur Auflösung dieser Dienstgemeinschaft führen. 39 Das Verbot des Streiks als Mittel des Arbeitskampfes kann sich somit auf eine gerichtlich nicht näher zu prüfende religiöse Ansicht stützen und stellt insofern keine bloß „unbegründete Anforderung“ dar, sofern die Kollision von kollektiver Religionsfreiheit und Vereinigungsfreiheit verhältnismäßig zum Ausgleich gebracht würde. Das Bundesarbeitsgericht beruft sich dabei auf den Grundsatz praktischer Konkordanz und sieht in der gewerkschaftlichen Betätigung innerhalb des Dritten Weges die Grenze des kirchlichen Selbstbestimmungsrecht. 40 Die Gewerkschaften müssten daher an den Verhandlungen der Arbeitsbedingungen teilhaben können, wobei für die konkrete Umsetzung den Kirchen ein Gestaltungsspielraum eingeräumt wird. 41 Das gewerkschaftliche Streikrecht muss nur in den Fällen zurücktreten, in denen die Beteiligung gewährleistet ist. Die Kerngehalte beider Freiheiten sind somit gewährleistet und ein milderes, genauso effektives Mittel nicht ersichtlich. Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts kann somit auch den Grundsätzen der Konventionsrechtsprechung standhalten und ist mit der EMRK vereinbar.

V. Fazit

Die Europäische Menschenrechtskonvention erkennt grundsätzlich die Rechte der Religionsgemeinschaften an, setzt ihnen als Arbeitgeber aber deutliche Grenzen, wenn es ausschließlich um das Privatleben ihrer Mitarbeiter geht. Zwar sind auch dort Einschränkungen möglich, jedoch ist eine Kündigung wegen Verfehlungen in diesem Bereich nur bei einer strengen Prüfung der Verhältnismäßigkeit wirksam. Beide kollidierenden Rechte sind daher zu einem Ausgleich zu bringen, der die Kerngehalte ihrer Gewährleistungen nicht einschränkt. Bei dieser Abwägung ist insbesondere die Art der Arbeitsstelle in der kirchlichen Einrichtungen zu berücksichtigen.


Fußnoten:

  1. http://daserste.ndr.de/guentherjauch/rueckblick/rueckblick133_position-1.html (abgerufen am 28.3.2013).
  2. BVerfGE 70, 138.
  3. Vgl. BAG NZA 2001, 1136 mit weiteren Nachweisen.
  4. Vgl. Nichtannahmebeschluss zu BAG aaO (Fn 2): BVerfG NJW 2002, 2771.
  5. BVerfGE 111, 307 und schon für die Grundrechte auf Unionsebene: BVerfGE 37, 271; BVerfGE 73, 339.
  6. Meyer-Ladewig, EMRK, Einleitung Rn 45 f.
  7. BVerfGE 70, 138 Rn 47 (zitiert nach juris).
  8. BVerfGE 70, 138; zitiert in: EGMR „Schüth/Deutschland“, Nr. 1620/03 Rn 35.
  9. BVerfGE 70, 138; zitiert in: EGMR „Schüth/Deutschland“, Nr. 1620/03 Rn 35.
  10. EGMR „Schüth/Deutschland“, Nr. 1620/03 Rn 54.
  11. EGMR „Rommelfanger/Deutschland“, Nr. 12242/86; „Predota/Österreich“, Nr. 28962/95; „Hautaniemi/Schweden“, Nr. 24019/94; „Siebenhaar/Deutschland“, Nr. 18136/02; „Schüth/Deutschl.“, Nr. 1620/03 Rn 54.
  12. EGMR „Evans/UK“, Nr. 6339/05.
  13. EGMR „Siebenhaar/Deutschland“, Nr. 18136/02 Rn 41.
  14. Vgl. Robbers, Staat und Kirche in der Europäischen Union, 630f.
  15. EGMR „Siebenhaar/Deutschland“, Nr. 18136/02 Rn 41.
  16. EGMR „Schüth/Deutschland“, Nr. 1620/03 Rn 69.
  17. EGMR „Rommelfanger/Deutschland“, Nr. 12242/86; „Young, James, Webster“, Nr. 7601/76 u. 7806/77.
  18. BVerfGE 70, 138 Rn 61 (zitiert nach juris)
  19. EGMR „Schüth/Deutschland“, Nr. 1620/03 Rn 60.
  20. EGMR „Schüth/Deutschland“, Nr. 1620/03 Rn 71; Rommelfanger/Deutschland, Nr. 12242/86.
  21. EGMR „Rommelfanger/Deutschland“, Nr. 12242/86
  22. EGMR „Schüth/Deutschland“, Nr. 1620/03 Rn 69.
  23. EGMR „Schüth/Deutschland“, Nr. 1620/03 Rn 72.
  24. EGMR „Rommelfanger/Deutschland“, Nr. 12242/86.
  25. Sachverhaltsangaben aus EGMR „Schüth/Deutschland“, Nr. 1620/03.
  26. Vgl. u.a.: http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/urteil-kuendigung-wegen-ehebruchs-verstoesst-gegen-menschenrechte-a-719111.html sowie http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/katholische-kirche-richter-ruegen-entlassung-wegen-ehebruchs-11040111.html (jeweils abgerufen am 28.3.2013).
  27. BAG, Urteil vom 22.11.2012 (2 AZR 570/11), in: BAG, Pressemitteilung Nr. 83/12.
  28. Arbeitsgericht Essen v. 24.7.1997 (zitiert nach EGMR „Schüth/Deutschland“, Nr. 1620/03 Rn 16).
  29. LAG v. 13.8.1998 (zitiert nach EGMR „Schüth/Deutschland“, Nr. 1620/03 Rn 18)
  30. BAG v. 12.8.1999 (zitiert nach EGMR „Schüth/Deutschland“, Nr. 1620/03 Rn 22)
  31. EGMR „Obst/Deutschland“, Nr. 425/03.
  32. EGMR „Obst/Deutschland“, Nr. 425/03 Rn 50 f.
  33. BAG, Urteil vom 20.11.2012 (1 AZR 179/11), in: BAG, Pressemitteilung Nr. 81/12.
  34. http://www.verdi.de/presse/pressemitteilungen/++co++f0c848ce-a5a0-11e2-b487-52540059119e sowie http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/beschwerde-gegen-grundsatzurteil-verfassungsrichter-pruefen-streikrecht-in-kirchen-12148672.html (abgerufen am 23.04.2013).
  35. Leitsatz in BAG vom 20.11.2012 (1 AZR 179/11), in: http://juris.bundesarbeitsgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bag&Art=en&Datum=2012-11-20&nr=16559&pos=0&anz=2 (abgerufen am 28.03.2013)
  36. EGMR („Schwedischer Lokomotivführerverband/Schweden“), Nr. 5614/72 in: EGMR-E 1, 165 Rn 40.
  37. Vgl. auch EGMR „Sindicatul “Pastorul cel bun“/Rumänien“), Nr. 2330/09 Rn 79 ff.
  38. EGMR („Schmidt u. Dahlström/Schweden“), Nr. 5589/72 in: EGMR-E 1, 172 Rn 36.
  39. BAG, Urteil vom 20.11.2012 (1 AZR 179/11), in: BAG, Pressemitteilung Nr. 81/12.
  40. BAG, Urteil vom 20.11.2012 (1 AZR 179/11) Rn 116 in: http://juris.bundesarbeitsgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bag&Art=en&Datum=2012-11-20&nr=16559&pos=0&anz=2 (abgerufen am 28.03.2013).
  41. BAG aaO, Rn 118.

Rezension: „Huber/Bach: Examens-Repetitorium Besonderes Schuldrecht 1“

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von stud. jur. Tim Hagenbruch, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Gerade im Rahmen der Examensvorbereitung sind viele Studierende unsicher, welches Buch die optimale Vorbereitung bietet. Namhafte Verlage sind inzwischen dazu übergegangen, neben ihren „normalen“ Lehrbüchern besondere Lehr- und Repetitionsbücher für Examenskandidaten herauszubringen. Eines dieser Bücher ist das „Examens-Repetitorium Besonderes Schuldrecht 1“ von Peter Huber und Ivo Bach, das bereits in 3. Auflage erschienen ist.

Das Buch beschäftigt sich mit dem wichtigen Gebiet der vertraglichen Schuldverhältnisse, das es auf 259 Seiten umfassend behandelt. Ein Wermutstropfen sei gleich zu Anfang erwähnt: Wenn man sich mit den Büchern des C.F. Müller-Verlags (Reihe „Examens-Repetitorium“) auf das Examen vorbereiten möchte, muss man sich drei Bücher kaufen: Eines über das allgemeine Schuldrecht, daneben das vorliegende und ein Buch, das sich mit den gesetzlichen Schuldverhältnissen befasst. Dies wird jedoch dadurch gemildert, das alle drei Bücher lediglich um die 20 € kosten. Zu bedenken ist auch, dass beispielsweise für das „Beck’sche Examinatorium“ für den Bereich des Schuldrechts sogar vier Bücher geplant sind, von denen drei bereits erschienen sind. Dazu kann man sich durchaus die Frage stellen, ob die Aufteilung auf vier Bände tatsächlich sachlich gerechtfertigt ist oder aus finanziellen Interessen heraus geschah. Auch bei C.H. Beck zahlt man nämlich für einen Band der Reihe um die 20 €.

Für die wirklich moderaten 20,95 € erhält man allerdings ein Buch, das auch in der Examensvorbereitung keine Wünsche offen lässt. Das Buch soll – wie die ganze Reihe – lehrbuchartige Ausführungen bieten, die von Fällen veranschaulicht werden. Insofern werden die Ausführungen im Fließtext immer wieder von Fällen unterbrochen, die im Buch dann anhand der vorherigen theoretischen Ausführungen gelöst werden. Anhand dieser Fälle ermöglicht das Buch dann einerseits eine Kontrolle des Gelernten und veranschaulicht zugleich das Gelernte, insbesondere unterschiedliche Auffassungen und deren praktische Auswirkungen. Es ist auf jeden Fall zu empfehlen, sich selbst an den Fällen zu versuchen, bevor man weiterliest.

Hilfreich ist, dass das Buch am Anfang kurz das allgemeine Leistungsstörungsrecht wiederholt, damit wird man besonders für die anschließend besprochenen Bereiche des besonderen Schuldrechts sensibilisiert, in denen von den Regeln des allgemeinen Schuldrechts abgewichen wird.

Auf fast 100 Seiten wird dem Kaufrecht der erforderliche Raum geboten. Dabei lernt der Student hier auch Dinge, die in den klassischen Lehrbüchern zum Schuldrecht eher nur kurz angesprochen oder in die Fußnoten verbannt werden, wie ich beim Vergleich mit einem „klassischen Schuldrechtslehrbuch“ feststellen durfte. Allerdings wird dafür den schon bekannten Problemen weniger Raum geboten. Insofern ist das Buch für diejenigen, die den Bereich vertragliche Schuldverhältnisse erst erlernen wollen oder dort beträchtliche Wissenslücken im Laufe des Studiums aufgebaut haben, nur bedingt zu empfehlen, es ist eben auf Examensniveau. Allerdings kann man es aufgrund der eingängigen Formulierungen auch zum ersten Erlernen verwenden, sollte jedoch dann noch ein leichteres Buch zum Nachschlagen zur Hilfe nehmen. Hervorzuheben ist hinsichtlich der Ausführungen zum Kaufrecht noch, dass dem Studierenden die Bezüge des Kaufrechts zur EG-Verbrauchsgüterkaufrichtlinie sehr anschaulich verdeutlicht werden – ein Thema, dem zu Recht viel Raum geboten wird.

Hinsichtlich der übrigen Verträge fällt positiv auf, dass dem Finanzierungsleasing ein eigenes Kapitel (§ 20) gewidmet wurde. Hier werden leasingtypische Probleme besprochen, soweit sie für das Examen von Relevanz sind, also insbesondere die Probleme der Rückabwicklung „im Dreieck“.

Hervorzuheben ist noch, dass die schwierig zu durchschauenden Regelungen des Mietrechts sehr systematisch behandelt werden, so dass sich auch bei Fortgeschrittenen „Aha-Effekte“ einstellen dürften.

Insgesamt kann das Buch empfohlen werden. Es bietet das für die Examensvorbereitung nötige Wissen. Gerade diejenigen, die lieber Lehrbücher als Skripten oder Fallbücher lesen, werden mit diesem Buch auf ihre Kosten kommen, da es doch in weiten Teilen ein klassisches Lehrbuch ist, das allerdings viele Probleme anhand von Fällen verdeutlicht. Gerade für die Tage unmittelbar vor dem Examen, wenn man ohnehin keine Zeit mehr hat, viel zu lernen, ist auch die Problemübersicht im Anhang zu empfehlen: Hier werden in tabellarischer Form stichpunktartig die wichtigen Probleme der einzelnen Vertragstypen behandelt, wobei zur Vertiefung auf die jeweilige Fundstelle im Buch verwiesen wird, an der das Problem behandelt wird.

Erwähnenswert ist noch, dass das Buch sich sehr ausführlich mit den europäischen Bezügen bei den Vertragstypen, deren Regelung auf Europarecht beruht, beschäftigt. Dies wird umso examensrelevanter je mehr der EuGH in das deutsche Vertragsrecht „hineinregiert“, so dass eine Befassung hiermit wärmstens empfohlen werden kann.

Dem Glauben loyal !? – Religion als Konfliktursache im Arbeitsverhältnis

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von Andreas Schubert und Fritz Pieper*

Das Kopftuch im Klassenzimmer. Die außereheliche Liaison eines Kirchenchorleiters. Glaube und Religion können auch im Arbeitsverhältnis zu erheblichen Spannungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer führen und gegebenenfalls die Kündigung des Arbeitnehmers nach sich ziehen. Der Beitrag gibt einen Überblick über die allgemeinen Grundsätze zur Handhabung des Konfliktherdes Religion im Arbeitsverhältnis. Der erste Teil befasst sich mit dem „weltlichen“ Arbeitsverhältnis und dem diametralen Verhältnis zwischen Direktionsrecht des Arbeitgebers und der Arbeitsverweigerung des Arbeitnehmers aus Glaubensgründen. Geklärt wird hierbei die Frage, wann und unter welchen Voraussetzungen die innere religiöse Überzeugung des Arbeitnehmers schützenswert ist und wann diese hinter die Interessen des Arbeitgebers zurücktreten muss. Der zweite Teil stellt das Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverhältnis im „kirchlichen“ Arbeitsverhältnis dar und die aus den Loyalitätspflichten gegenüber der kirchlichen Überzeugung resultierenden Problemfelder. 1

Teil I – Das „weltliche“ Arbeitsverhältnis – Glaube und Arbeitsverweigerung

A. Einleitung

Verweigert ein Arbeitnehmer aufgrund von Gewissenskonflikten, die aus seiner religiösen Überzeugung erwachsen, eine ihm vom Arbeitgeber zugewiesene Tätigkeit, so kommt eine Kündigung aufgrund Arbeitsverweigerung in Betracht. Allerdings ist nach der Rechtsprechung des BAG hierbei zu berücksichtigen, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer im Wege des § 106 S.1 GewO keine Arbeit zuweisen darf, die diesen in vermeidbare Glaubens- oder Gewissenskonflikte bringt. 2 Hiernach kann der Arbeitgeber Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen(…). Dieser unbestimmte Rechtsbegriff ist jedoch unter Berücksichtigung der grundrechtlich geschützten Freiheiten des Arbeitnehmers auszulegen. 3 Bei religiösen oder Gewissensgründen im Rahmen einer Arbeitsverweigerung kommt im Wesentlichen Art.4 Abs.1 GG zum Tragen. Als Gewissensentscheidung i.S.d. Vorschrift ist jede ernstliche sittliche Entscheidung anzuerkennen, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt und gegen die er nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte. 4 Zu beachten ist jedoch, dass Art. 4 Abs.1 GG im Rahmen von Arbeitsverweigerungen stets mit der in Art. 12 Abs.1 GG normierten Unternehmerfreiheit des Arbeitgebers korreliert. 5 Nach dem Prinzip der Toleranz und praktischen Konkordanz 6 muss so ein gerechter Ausgleich der entgegenstehenden Interessen gefunden und die Frage beantwortet werden, ob der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die in Frage stehende Arbeit wirksam i.S.d. § 106 S.1 GewO zuweisen kann oder ob der Arbeitnehmer berechtigt ist, diese zu verweigern.

B. Historische Entwicklung

Entwickelt wurden die Grundsätze zur Klärung der Frage der Rechtmäßigkeit einer Arbeitsverweigerung -nach langer Zeit uneinheitlicher Rechtsprechung 7- im Rahmen eines Urteils des BAG aus dem Jahre 1984. In diesem hatte es über die Weigerung eines Druckers zu befinden, welcher sich als Kriegsdienstverweigerer und Mitglied der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ außerstande sah, am Druck kriegsverherrlichender Werbebroschüren mitzuwirken. 8 Die Vorinstanzen hatten hierbei eine Beschränkung des Weisungsrechts zugunsten des Arbeitnehmers durch Art.4 Abs.1 GG abgelehnt. 9 Nicht so das BAG: Vielmehr sah es das Gericht als erwiesen an, dass der Arbeitgeber bei der Ausübung seines Weisungsrechts nach § 315 BGB 10 dem Gewissenskonflikt des Arbeitnehmers nicht ausreichend Gewicht beigemessen hatte.
Das BAG entwickelte hierbei drei Kriterien, welche bei der Abwägung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen bei Vorliegen eines Glaubens- oder Gewissenskonflikts zu berücksichtigen sind:

1. Vorhersehbarkeit des Konflikts für den Arbeitnehmer
2. Betriebliches Erfordernis – Bestehen anderer Beschäftigungsmöglichkeiten
3. Negativprognose hinsichtlich weiterer Konflikte in der Zukunft

Zunächst einmal muss die Frage beantwortet werden, ob der Arbeitnehmer bei Vertragsschluss mit einer ihn in einen Gewissenskonflikt bringenden Tätigkeit rechnen musste. Ferner muss sodann im Rahmen des betrieblichen Erfordernisses geklärt werden, ob nicht eine Beschäftigungsmöglichkeit an einem anderen Arbeitsplatz besteht oder ob der Arbeitnehmer aufgrund besonderer betrieblicher Umstände die Arbeit dennoch –wenn auch nur kurzfristig- ausführen muss. Auf der dritten Stufe der Abwägung gilt es zu klären, ob es sich bei der in Frage stehenden Situation um einen einmaligen oder wiederkehrenden und somit besonders starken Glaubens- bzw. Gewissenskonflikt handelt. 11

C. Rechtsfolgen einer Arbeitsverweigerung

Rechtsfolge einer derartigen Verweigerung ist zunächsteinmal der Verlust des Lohnanspruches. Eine Verpflichtung des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer für den Zeitraum der Arbeitsniederlegung zu vergüten, besteht nicht, vgl. § 326 Abs.1 BGB. Auch ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach § 616 BGB scheidet mangels objektiv vorliegender Verhinderung aus. 12 Gründlich erörtern muss jedoch der Arbeitgeber die Frage, ob er den Arbeitnehmer während des fraglichen Zeitraumes nicht an einem anderen Arbeitsplatz beschäftigen kann. Anderenfalls besteht die Möglichkeit, dass der Arbeitgeber in Annahmeverzug gerät. 13
Auf Seiten des Arbeitnehmers kommen bei einem Vertretenmüssen Schadensersatzansprüche gegen diesen gem. § 280 Abs.1, 3, 283 oder gem. § 311a BGB in Betracht. Dies wird dann der Fall sein, wenn dem Arbeitnehmer bereits bei oder kurz nach Vertragsschluss bewusst gewesen ist, dass es zu derartigen Glaubenskonflikten kommen kann. 14 Denn dann bleibt es dem Arbeitnehmer aufgrund § 242 BGB verwehrt, sich hinsichtlich der Arbeitsverweigerung auf seinen Glauben zu berufen. 15 Auch kommt, je nachdem ob sich der Arbeitnehmer zu Recht oder zu Unrecht auf seinen Glauben als Grundlage zur Arbeitsverweigerung beruft, eine personen- oder eine verhaltensbedingte Kündigung in Betracht. 16 Ob der Arbeitgeber allerdings die Arbeitsverweigerung des Arbeitnehmers hinnehmen muss oder ob er dessen Arbeitsleistung einfordern bzw. diesen bei beharrlicher Verweigerung kündigen darf, ist letzten Endes immer eine Frage des Einzelfalles.

D. Fälle aus der Rechtsprechung

Das LAG Hamm hatte über einen Fall zu urteilen, in welchem ein Baptist sich darauf berief, dass der Sonntag dem Herrn gehöre und es ihm deshalb zustünde, feiertägliche Schichtarbeit zu verweigern. Das Gericht entschied, dass es dem ultima ratio Prinzip zuwider liefe, wenn der Arbeitgeber -trotz vorheriger Ankündigung der Arbeitsverweigerung seitens des Arbeitnehmers- nicht in Betracht zöge, die Arbeitspläne umzustellen, um so etwaige Störungen im Betriebsablauf zu verhindern. 17
Unzulässig war hingegen die Verweigerung einer Zeugin Jehova, sich im Rahmen des Kundenkontaktes der von ihr organisierten Betriebsführungen, nach den Führungen beiwohnenden Geburtstagskindern zu erkundigen. Sie sollte diese Namen auf einem Zettel festhalten und an die jeweilige Führungsperson zum Zwecke der offiziellen Gratulation im Rahmen der Führung weiterleiten. Die Arbeitnehmerin sah sich jedoch aufgrund der Tatsache, dass ihr Glaube Geburtstagsfeiern als Aberglaube qualifiziere, außerstande, der Weisung ihres Arbeitgebers nachzukommen. 18 Hierauf erhielt sie eine außerordentliche Kündigung. Das LAG München bewertete die Kündigung als wirksam, da „die Klägerin schon bei Übernahme der neuen Tätigkeit damit rechnen musste, in der nun verweigerten Weise mit Kindergeburtstagen zu tun zu haben“. Zudem sei sie durch den bloßen Akt der Gratulation noch nicht selbst verpflichtet, Geburtstage zu feiern, so dass schon deshalb eine Beeinträchtigung von Art.4 Abs.1 GG nicht festzustellen sei. Darüber hinaus würden durch die Weigerung der Klägerin nicht nur die Einsatzmöglichkeiten der Arbeitgeberin eingeschränkt, sondern auch deren Freiheit, die Geburtstagsfeiern von Kindern zu verschönern. Außerdem sei „mittelbar auch die Freiheit von Eltern und Kindern betroffen, Geburtstage nach ihren Vorstellungen zu feiern, da nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden könne, dass sich diese Personen freuen, wenn ein Geburtstagskind bei einer Führung Glückwünsche und ein kleines Geschenk erhält“. Der Fall zeigt, dass sich ein Arbeitnehmer, wenn er bei Vertragsschluss den Zweifel hegt, dass die Arbeit zu Gewissenskonflikten führen kann, es gut überlegen sollte, welches Risiko er damit eingeht.
Interessant und beachtenswert in diesem Zusammenhang ist auch die Entscheidung des BAG aus dem Jahr 2011 19, in welchem die Richter eine Arbeitsanweisung als dem billigem Ermessen i.S.d. § 106 S.1 GewO widersprechend ansahen, weil der Arbeitgeber seinem Arbeitnehmer muslimischen Glaubens das Einräumen von Alkoholika in die Verkaufsregale auftrug. Obwohl der Arbeitnehmer schon bei Vertragsunterzeichnung wusste, dass er sich zu Arbeiten verpflichtete, die den bestimmten Glaubensinhalten seiner Religion widersprechen, wurde die Entscheidung des Arbeitgebers in diesem Fall als ermessensfehlerhaft erachtet. Denn dem Angestellten gelang es im Prozess glaubhaft vorzutragen, dass er persönlich diese Glaubensinhalte bei Vertragsschluss noch nicht als für sich verbindlich angesehen hatte. Das BAG sah diesen (erst im Laufe des Arbeitsverhältnisses) entstandenen Glaubenskonflikt als nicht weniger bedeutsam i.S.v. Art.4 Abs.1 GG an und verwies den Fall zur Klärung der Frage, ob eine den Glaubenskonflikt vermeidende Beschäftigungsalternative bestand, an das LAG Schleswig-Holstein zurück.
Scholl erkennt richtigerweise, dass in der Entscheidung eine erhebliche Beschränkung des Weisungsrechts des Arbeitgebers zu sehen ist. 20 Denn es ist nicht unwahrscheinlich, dass in derartigen Fällen der Kläger infolge des Urteils nun seinen Wunscharbeitsplatz erhält, während seine Kollegen keine Wahl hinsichtlich des Tätigkeitsfeldes haben. Zudem besteht auch die Möglichkeit, dass allein die prozesstaktische Erwägung des anwaltlichen Vertreters des Arbeitnehmers zu einer Mehrung derartiger Fälle führen kann.
Größere mediale Aufmerksamkeit erhielt auch eine Entscheidung des LAG Hamm aus dem Jahr 2011 21. Der Kläger hatte sich geweigert, die dem Standardskript des Unternehmens entsprechende Grußformel „Ich danke Ihnen für Ihre Bestellung bei Q1! Auf Wiederhören“ anzuwenden. Vielmehr sah er sich aufgrund seines Glaubens verpflichtet, den Kunden die Botschaft des Herrn zu vermitteln, indem er die Grußformel um den Zusatz „Jesus hat Sie lieb!“ ergänzte. Trotz mehrmaliger Untersagung und Kündigungsandrohung seitens des Arbeitgebers, fühlte sich der Kläger seinem Glauben stärker als der Weisung des Arbeitgebers verpflichtet, worauf dieser die außerordentliche Kündigung aussprach. Aufgrund der beharrlichen Arbeitsverweigerung des Arbeitnehmers und der mangelnden Möglichkeit, diesen auf einem anderen Arbeitsplatz ohne Kundenkontakt einzusetzen, sah es das Gericht als erwiesen an, dass die Weisung vom billigen Ermessen des Arbeitgebers getragen und die Kündigung somit rechtmäßig war.

Aber nicht nur im Bezug auf das aktive Handeln von Arbeitnehmern kommt es zu erheblichen Spannungen zwischen den arbeitgeber- und arbeitnehmerseitigen Interessen. Auch die Frage der religiös bedingten Kleidungswahl am Arbeitsplatz führt immer wieder zu Kündigungsschutzprozessen. Zwar steht es dem Arbeitgeber grundsätzlich frei, nach billigem Ermessen eine im Betrieb geltende Kleiderordnung vorzuschreiben. 22 Allerdings muss auch im Rahmen derartiger unternehmerischer Entscheidungen stets die Glaubensfreiheit des Arbeitnehmers Berücksichtigung finden. 23
Das LAG Hessen hat diesbezüglich die Frage verneint, „ob der Träger eines Kaufhauses, in dem in sehr ländlicher Umgebung Modeartikel, Schmuck, Kosmetika, sog. Accessoires und Spielsachen angeboten werden, als Arbeitgeber verpflichtet ist, eine Verkäuferin zu beschäftigen, die darauf besteht, bei ihrer Tätigkeit aus religiösen Gründen ein Kopftuch zu tragen, obwohl sie mehrere Jahre zuvor ihrer Tätigkeit in westlicher Kleidung nachgegangen ist und daher die von ihrem Arbeitgeber an das äußere Erscheinungsbild des Verkaufspersonals gestellten Anforderungen erfüllt hat“. 24 Vor allen Dingen könne es dem Arbeitgeber nicht zugemutet werden, der Arbeitnehmerin probeweise das Tragen des Kopftuches zu gewähren, um so Kundenreaktionen testen zu können, da hierdurch sowohl die geschützte Erwerbstätigkeit des Beklagten als auch sein Eigentum beeinträchtigt würde. Denn personelle Konflikte und Störungen des Betriebsablaufs sowie durch eine schädliche Entfremdung des Kundenkreises bedingte wirtschaftliche Einbußen, könnten nicht ausgeschlossen werden.
Auf der anderen Seite hatte das Arbeitsgericht Dortmund einen Verstoß gegen das Neutralitätsgebot des Staates und mithin die Wirksamkeit einer darauf basierenden Kündigung in einem Fall verneint, in welchem sich eine muslimische Kindergärtnerin weigerte, auf ihre Kopfbedeckung zu verzichten. 25 Nachdem ihr seitens ihres Arbeitgebers das Tragen eines Kopftuches unter Androhung einer Kündigung untersagt worden war, erschien die Klägerin daraufhin mit Hut zur Arbeit. Das Gericht sah hierin entgegen dem Vorbringen der Beklagten, keine Verhinderung des Kindergartens, seinem Erziehungs- und Bildungsauftrag im Elementarbereich des Bildungssystems gerecht zu werden und die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes zu fördern. Denn das Tragen eines Kopftuches sei allein nicht geeignet, Kindergartenkinder zu beeinflussen und diese dazu zu verleiten, das Verhalten und den Glauben der Erzieherin zum Vorbild zu nehmen. Auch sei eine Beeinträchtigung der Glaubensfreiheit der Kinder und ihrer Eltern –im Gegensatz wiederum zum oben erläuterten Fall der Zeugin Jehova- nicht gegeben, da es den Eltern mangels Kindergartenpflicht frei stünde, unter mehreren vorhandenen Kindergärten einen solchen auszuwählen, in welchem sich keine die Glaubensfreiheit beeinträchtigenden Umstände vorfinden.
Im Gegensatz hierzu hat das BAG vor zwei Jahren aus fast denselben Gründen, jedoch in konträrer Argumentation zum AG Dortmund, eine Abmahnung gegenüber einer kopftuchtragenden Fachkraft einer Kindertagesstätte als rechtmäßig erachtet, da das baden-württembergische Kindertagesbetreuungsgesetz in § 7 Abs.4 ausdrücklich religiöse Bekundungen verbiete, die geeignet sind, den religiösen oder weltanschaulichen Frieden in den Einrichtungen zu gefährden oder zu stören. 26

E. Zwischenfazit

Ein Überblick über die arbeitsrechtlichen Grundsätze und einige Fälle der Rechtsprechung der letzten Jahre zeigen, dass Kündigungsprozesse aufgrund Arbeitsverweigerung aus Glaubensgründen keinesfalls „Massenstreitigkeiten“ 27 sind. Deshalb obliegt es den Parteien, die Umstände des Einzelfalles umso genauer zu untersuchen und eine umfangreiche Abwägung der beiderseitigen Interessen nach den vom BAG entwickelten Grundsätzen 28 vorzunehmen. Nur dann, wenn kein Weg an der Arbeitsverweigerung vorbei führt, kann sich ein Arbeitnehmer auf Art.4 Abs.1 GG berufen und die Ausführung der ihm übertragenen Arbeiten verweigern. Dies gilt jedoch nicht, wenn der Arbeitnehmer bereits bei Vertragsschluss positiv wusste, dass es zu derartigen Konflikten kommen wird. Der Arbeitgeber hingegen kann nur dann, wenn er keinerlei Möglichkeit hat, dem Arbeitnehmer durch Zuweisung eines anderen Arbeitsplatzes entgegenzukommen und eine Negativprognose zu Lasten des Arbeitnehmers ausfällt, von der Möglichkeit der Kündigung des Arbeitsverhältnisses Gebrauch machen.

Teil II – Das „kirchliche“ Arbeitsverhältnis – Glaube und Loyalitätspflicht

A. Einleitung

Kommt es im Rahmen des „weltlichen Arbeitsverhältnis“ zu Problemen hinsichtlich des Themas „Glaube“, haben diese ihren Ursprung fast ausnahmslos in der Person des Arbeitnehmers. Indem der Arbeitnehmer z.B. gewisse Arbeiten verweigert, bestimmte Arbeitszeiten mit seinem Glauben für nicht vereinbar hält, religiöse Symbole trägt oder im Betrieb beten möchte und seinen Glauben auf diese Weise während der Arbeitszeit auslebt, werden Glaubensfragen zu Fragen des Arbeitsverhältnisses. Der Arbeitgeber wird mit dem Thema „Glaube“ konfrontiert und reagiert hierauf mit den ihm zur Verfügung stehenden Werkzeugen, seinem Weisungsrecht (§ 106 I GewO), der Abmahnung, der Versetzung oder als ultima ratio der Kündigung. 29

Um es in einem Satz zu umschreiben: Der Arbeitnehmer setzt das Thema „Glaube“ zwar initiativ auf die betriebliche Tagesordnung, der Arbeitgeber hat aber grundsätzlich die Mehrheit an Mitteln um eine Abstimmung über das Thema für sich zu entscheiden.

Im „kirchlichen Arbeitsverhältnis“ ist eine andere Situation anzutreffen. Hier ist es der Arbeitgeber, die Kirche, welcher das Thema „Glaube“ zu Bestandteil des Arbeitsverhältnis macht und somit der kirchlichen Sittenordnung eine ganz entscheidende Rolle zukommen lässt. Der „richtige Glaube“ ist in den häufigsten Fällen bereits Grundvoraussetzung, dass überhaupt ein Arbeitsverhältnis begründet wird, in dessen Verlauf der kirchliche Arbeitgeber dann besondere Anforderungen an Arbeitsausführung und Lebensführung in Form von Loyalität zu diesem „richtigen Glauben“ stellen kann, bis er schlussendlich bei Zuwiderhandeln wiederum von seinem härtestesten Werkzeug, der Kündigung, Gebrauch machen kann.

Es wird deutlich, dass es im „kirchlichen Arbeitsverhältnis“ der Arbeitgeber ist, welcher das Thema „Glaube“ zum fundamentalen Bestandteil der Tagesordnung macht und es stellt sich die Frage, welche Auswirkungen und Besonderheiten sich hieraus aus arbeitsrechtlicher Sicht ergeben.

B. Historische Entwicklung

Das Arbeitsrecht versucht, wie jedes Rechtsgebiet, einen Interessenausgleich zwischen sich widerstreitenden Interessen herzustellen, mit der Besonderheit des starken Ungleichgewichts der Machtverteilung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. 30 Im Bereich des „kirchlichen Arbeitsverhältnisses“ kommt nun als Besonderheit noch das von der Verfassung garantierte Selbstverwaltungsrecht der Religionsgesellschaften hinzu (hierzu das grundlegende Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 4.6.1985 31). Das Selbstverwaltungsrecht resultiert aus Art. 137 III WRV, in dem es heißt: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde.32 Mit dieser Garantie des Selbstbestimmungsrecht „erkennt der Staat die Kirchen als Institution mit dem Recht der Selbstbestimmung an, die ihrem Wesen nach unabhängig vom Staat sind und ihre Gewalt nicht von ihm herleiten.“ 33 Durch diese Anerkennung nach Art. 137 III WRV und durch die gem. Art. 137 V WRV eingeräumte Stellung als Körperschaft des öffentlichen Rechts besteht für das „kirchliche Arbeitsverhältnis“ die Möglichkeit ein eigenes kirchliches Dienstrecht zur Grundlage zu machen. 34 So verabschiedete die Deutsche Bischofskonferenz der katholischen Kirche im Jahre 1993 die „Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse“. 35 Eine vergleichbare Regelung gibt es für die evangelische Kirche zwar nicht, aber auch der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat im Jahre 2005 eine „Richtlinie über die Anforderungen der privatrechtlichen beruflichen Mitarbeit in der EKD und des Diakonischen Werkes der EKD“ erlassen. 36 „Im Streitfall haben die weltlichen Arbeitsgerichte die dort vorgegebenen kirchlichen Maßstäbe in ihren Entscheidungen also zu Grunde zu legen, 37 wobei die Maßstäbe selbst nicht gerichtlich überprüfbar, sondern lediglich deren Anwendung einer Plausibiltätskontrolle unterzogen werden kann. Dies bedeutet für die rund 1,4 Millionen Arbeitsverhältnisse der Mitarbeiter der Kirchen und ihrer Einrichtungen (zweitgrößter Arbeitgeber Deutschlands), 38 dass auf sie zwar grundsätzlich das staatliche Arbeitsrecht Anwendung findet, den Kirchen aber ein im Vergleich zu den „weltlichen Arbeitgebern“ gehörig größerer Spielraum bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses zukommt.

C. Erläuterung der Loyalitätspflicht und/oder Loyalitätsobliegenheit

Der Casus-Knaxus liegt bei den Loyalitätspflichten. Muss ein normaler Arbeitgeber schon bei der Stellenausschreibung und der Begründung des Arbeitsverhältnisses das Benachteiligungsverbot des AGG beachten, ist eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung gem. § 9 AGG (mit Blick auf das Selbstbestimmungsrecht) zulässig, wenn sie aus den beruflichen Anforderungen, also den Loyalitätsanforderungen, einer Religionsgemeinschaft erfolgt. Zwar haben „weltliche Arbeitgeber“ auch einen nur der Plausibiltätskonrolle unterliegenden unternehmerischen Entscheidungsspielraum; dieser gilt im Rahmen des besonderen Kündigungsschutzes aber lediglich hinsichtlich der betriebsbedingten Kündigung. 39 Wollen sie einem Arbeitnehmer wegen Verletzung der Loyalitätspflicht, eine Nebenpflicht im Arbeitsverhältnis i.S.v. § 241 II BGB, kündigen, ist dies nur bei einer konkreten Beeinträchtigung der Leistungserbringung oder der betrieblichen Verbundenheit möglich. 40 Politische Betätigungen im Betrieb etwa stellen nur dann einen Kündigungsgrund dar, wenn sie zu schweren Folgen z.B. bzgl. des Kunden- oder Kollegenkontaktes führen. 41 Die Feststellung des Kündigungsgrundes im Einzelfall bleibt also den weltlichen Gerichten überlassen. Die Kirchen hingegen können durch ihr eigenes Dienstrecht selbst festlegen, welches Verhalten ihrer Mitglieder sie als so sehr im Widerspruch zu ihrer Lehre empfinden, dass eine sofortige Auflösung des Arbeitsverhältnisses zur Wahrung der eigenen Glaubwürdigkeit erforderlich ist. 42 Das heißt, sie können zusätzlich zu den arbeitsvertraglichen Loyalitätspflichten, als (Neben-)Pflichten, noch Loyalitätsobliegenheiten festlegen, deren Nichteinhaltung dann einen Kündigungsgrund darstellen kann. 43 Daraus resultierend kann die Kirche eben auch außerdienstliches Verhalten reglementieren, wohingegen die private Lebensführung für Loyalitätsanforderungen i.R.d. „weltlichen Arbeitsrecht“ grds. nicht mehr zu den Nebenpflichten zählen kann und somit für den Arbeitgeber ein Tabubereich ist.

D. Fälle aus der Rechtsprechung

Das Arbeitsrecht mit seinen unbestimmten Rechtsbegriffen ist ein sehr von Kasuistik geprägtes Rechtsgebiet. Man müsste meinen, dass dies im kirchlichen Arbeitsrecht anders sei, wo hier doch die Spielregeln ohnehin vom Arbeitgeber „Kirche“ festsetzt werden und sie es somit selber in der Hand hat, Unbestimmtheiten, welche durch Rechtsprechung auszugestalten wären, zu vermeiden. Spätestens aber seit der Caritassekretärin-Entscheidung 44 vom 14.10.1980, in der das BAG anfängt funktionsbezogene Differenzierungen der Loyalitätsanforderungen hinsichtlich des Grades oder der Abstufung der spezifisch kirchlichen Aufgaben vorzunehmen (Abstufungslehre), gibt es jede Menge Interpretationsbedarf, vor allem auch bzgl. des europäischen Rechts und der europäischen Rechtsprechung, welche eine immer gewichtigere Rolle einnehmen. Einige aktuelle Entscheidungen und deren Auswirkung und Entwicklung sollen hier aufgezeigt werden:

So unterscheidet das ArbG Hamburg (2007) 45 bei der religionsbedingten Benachteiligung während der Bewerbung hinsichtlich der Frage, wer denn bestimme, welche Anforderungen an Mitarbeiter im kirchlichen Bereich zu stellen seien, zwischen „verkündigungsnahem und –fernen Bereich“. 46 In dem Fall ging es um eine muslimische Bewerberin und deren Bewerbung auf eine Stelle als „Integrationslotse/in“ bei der Diakonie. Das ArbG entschied, dass die Ausnahmevorschrift des § 9 AGG europarechtskonform (im Lichte der RL 2000/78/EG) nur so verstanden werden könne, dass das Selbstverständnis der Kirche nur begrenzt auf den sog. „verkündigungsnahen Bereich“ entscheidend sei. Im sog. „verkündigungsfernen Bereich“ bestehe kein schützenswertes Interesse in Bezug auf das Selbstverständnis der Kirche, eine Stelle auf BewerberInnen einer bestimmten Religionsrichtung zu beschränken. Mit diesem Urteil bahnte sich im Jahr 2007 ein Konflikt zwischen Verfassungs- und Europarecht an, 47 der bis heute nicht durch ein höherrangiges Gericht entschieden ist. In Berufungsverfahren wird diese Frage der kirchlichen Loyalitätsanforderungen im Bereich der Begründung eines Arbeitsverhältnisses bisher noch immer galant offen gelassen. 48 Einen neuerlichen Startschuss für eine letztinstanzliche Entscheidung hat nun gerade ganz aktuell das ArbG Aachen gegeben, 49 indem es die Ablehnung eines Intensivpflegers für den Dienst in einem katholischen Krankenhaus allein wegen seiner fehlenden Religionszugehörigkeit für eine Diskriminierung i.S.d. des AGG hielt und ihm eine entsprechene Entschädigung gem. § 15 II AGG zusprach. Das ArbG führt aus, dass selbst nach den eigenen Vorgaben der katholischen Kirche, in § 3 der Grundordnung des kirchlichen Dienstes, nur bei der Besetzung von Stellen im pastoralen, katechetischen sowie in der Regel im erzieherischen Bereich und bei leitenden Aufgaben die Mitgliedschaft in der katholischen Kirche zu verlangen sei. Bei allen übrigen Stellen reiche es aus, dass der Bewerber sicher stellt, den besonderen Auftrag glaubwürdig zu erfüllen. Ob dieses Mal eine höherinstanzliche Entscheidung zu der Einteilung „verkündigungsnaher und –ferner Bereich“ ergeht, bleibt mit Spannung abzuwarten.
Bedient sich die Kirche der jedermann offenstehenden Privatautonomie, um ein Arbeitsverhältnis (i.S.d. § 611 BGB, welches vom Mitgliedschaftsverhältnis z.B. bei Mönchen in Orden zu unterscheiden ist 50) zu begründen, steht ihr, wenn den, von ihr als Arbeitgeberin ins Arbeitverhältnis eingebrachten fundamentalen Wertvortstellungen, den Loyalitätsanforderungen, seitens des Arbeitnehmers nicht entsprochen wird, die Kündigung als ultimatives Werkzeug zur Verfügung. Inwieweit hierbei die kirchliche Wertung diesbezüglicher Verstöße, gerade auch im Bereich der privaten Lebensführung vor den „weltlichen Arbeitsgerichten“ als Kündigungsgrund akzeptiert wird, ist wiederum sehr einzelfallabhängig und eine klare Linie nicht unbedingt zu erkennen.
Einen der häufigsten Kündigungsgründe stellt wohl der Verstoß gegen das kirchliche Eherecht dar. Hier gilt sowohl in der katholischen als auch in der evangelischen Kirche die Lehre nach Matthäus (19 und 6) und Markus (10 und 9): „Was nun Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.“ 51 Wie stark einzelfallabhängig die letztendlichen Entscheidungen sind, ob ein Kündigungsgrund besteht oder nicht, wird deutlich, wenn man sich zwei deutsche Fälle vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Jahr 2010 anschaut. 52 Zuvor hatten sich jegliche deutsche Arbeitsgerichte und das Bundesverfassungsgericht auf sein Grundsatzurteil von 1985 53 berufen und dementsprechend, auf das Selbstverwaltungsrecht verweisend, festgestellt, dass die Pflicht zur ehelichen Treue nicht der Rechtsordnung widerspreche. Der angerufene EGMR führte nun eine Abwägung zwischen dem Recht der Beschwerdeführer auf Achtung ihrer Privat- und Familienleben nach Art. 8 EUV (beide Beschwerdeführer hatten neben ihrer Ehe eine Liason mit einer anderen Frau) und der Eigenständigkeit der Religionsgemeinschaften nach Art. 9 GG (Religionsfreiheit) in Verbindung mit Art. 11 GG (Vereinigungsfreiheit) durch. Im Fall Obst gegen Deutschland, kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Kündigung wegen seiner hervorgehobenen Position eine notwendige Maßnahme sei, um die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Lehre zu wahren. Im Fall Schüth, einem Chorleiter, stellte der EGMR hingegen fest, dass die Unterzeichnung des kirchlichen Arbeitsvertrages für ihn nicht als eindeutiges Versprechen hin zu einem bzgl. außerehelicher Beziehungen enthaltsamen Lebensweise verstanden werden könne. Die Tatsache allein, dass eine Analyse der Entscheidungen im Einzelfall, den Rahmen hier vorliegend weit sprengen würde, verdeutlicht eindrucksvoll die „Krux“ dieser beiden EGMR-Entscheidungen: Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die Begründung eines Kündigungsgrundes durch deutsche Gerichte mit dem bloßen Verweis auf das Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichtes und das von den Kirchen selbst festgelegte Dienstrecht mit der Konvention nicht vereinbar sei, was zwar im Ergebnis nicht zu der Folge führt, dass Loyalitätsobliegenheitverletzungen gar keinen Kündigungsgrund mehr darstellen könnten, aber nunmehr eine Interessenabwägung durch die „weltlichen Gerichte“ in jedem Einzelfall stattzufinden hat. Kurz gesagt ist dies eine Rückkehr zu der vom BAG im Jahr 1980 54 entwickelten (und durch das BVerfG Urteil im Jahr 1985 55 für verfassungswidrig erklärten) Abstufungslehre, nach welcher die „weltlichen Gerichte“ schon damals die Abwägung im Einzelfall vornahmen, ob die Glaubwürdigkeit der Religionsgemeinschaft durch das bestimmte Verhalten eines Arbeitnehmers in Gefahr war oder nicht. Ob durch diese vom EGMR vorgegebene Rückkehr nunmehr eine größere Gerechtigkeit im Einzelfall herrschen wird, mag sein; zu mehr Rechtssicherheit auf Arbeitnehmerseite führen Einzelfallentscheidungen in jedem Fall nicht. So wird nun z.B. der ein odere andere Arzt deutscher Krankenhäuser in kirchlicher Trägerschaft um seinen Arbeitsplatz zittern, nachdem das BAG in einer jüngeren Entscheidung aus dem Jahr 2011 56 im Fall eines nochmalig verheirateten Chefarztes nach einer Einzelfallabwägung i.S.d. Abstufungslehre zu dem Ergebnis kam, dass eine Wiederheirat ob seiner Position einen ernsten Verstoß gegen die Loyalitätsanforderungen darstelle und dementsprechend eine Kündigung rechtfertige.
Bei der Überprüfung von Kündigungen aufgrund freier, nicht mit der Linie kirchlicher Vorstellungen zu vereinbarenden, Meinungsäußerungen stellt sich die Situation nicht anders dar. Auch hier ist nun immer im Einzelfall an den vagen Kriterien, des „Was, Wer, Wie, Wo, Wann“, zu prüfen, ob die Meinungsäußerung den Grundsätzen der Glaubens- und Sittenlehre kirchlicher Arbeitgeber entgegensteht und dies dann einen Kündigungsgrund darstellt. In einer aktuellen Entscheidung des BAG 57 und in der Folge dann auch des EGMR 58 überzeugt hingegen die Einzelfallabwägung. Behandelt wurde der Sachverhalt, dass eine Kindergärtnerin eines evangelischen Kindergartens von der evangelischen Kirche abweichende Lehren verbreitete und sogar noch aktiv für die „Konkurrenz“, die „Universalen Kirchen/Bruderschaft der Menschheit“, warb, deren Mitgliedschaft sie bei der Bewerbung nicht erwähnt hatte. Beide Gerichte sahen einen außerordentlichen Kündigungsgrund als gegeben an, was aus dem Grunde nachvollziehbar ist, dass auch eine umfassende Interessenabwägung im „weltlichen“ Arbeitsrecht hinsichtlich der doch erheblichen Nebenpflichtenpflichtverletzung bzgl. Konkurrenztätigkeiten und des Betriebsfriedens wohl zu dieser Entscheidung hätte kommen müssen. 59 So besteht zumindest nach diesem Urteil kein über das durch unbestimmte Rechtsbegriffe im Arbeitsrecht bestehende Maß an Rechtsunsicherheit für vergleichbare kirchliche Arbeitnehmer, die vor allem im privaten Bereich ihr Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 I GG) wahrnehmen möchten. Es ist zu wünschen, dass sich aus kommenden Entscheidungen viel häufiger diese Parallele ziehen lässt.

Einen besonders schwerwiegenden Loyalitätsverstoß stellt aus Sicht der Kirche ein Austritt aus derselbigen dar. 60 Besonders hinsichtlich der Abstufungslehre kann natürlich im Einzelfall wiederum hinterfragt werden, ob ein Austritt für jegliche Arbeitsverhältnisse, etwa eines Assistenzarztes 61 oder einer Gymnastik- und Textilgestaltungslehrerin 62 in katholischen Einrichtungen, unter kirchlicher Trägerschaft einen Kündigungsgrund darstellt. 63 Andererseits unterscheidet sich diese Frage von den Loyalitätsanforderungen an das Privatleben darin, dass es hierbei um die Mindestübereinstimmung zwischen Kirche und Arbeitnehmer geht. Eine solche Anforderung an die Identifizierung mit seinem Arbeitgeber ist keine rein kirchliche „Erfindung“, sondern auch im „weltlichen Arbeitsrecht“ in Form des Tendenzbetriebs (siehe § 118 II BetrVG) anerkannt. Hinsichtlich des Loyalitätsveroßes „Kirchenaustritt“ musste sich der EGMR noch nicht beschäftigen. In einer sehr aktuellen Entscheidung des LAG Baden-Württemberg 64 wird jedenfalls bestätigt, dass der Kirchenaustritt eines teilzeitbeschäftigten Sozialpädagogen beim Caritasverband eine außerordentliche Kündigung rechtfertigt. Wie das BAG demnächst hierzu entscheiden wird, bleibt abzuwarten. 65

E. Zwischenfazit

Verweigert ein Arbeitnehmer im „weltlichen Arbeitsverhältnis“ seine Arbeitsleistung aus Glaubensgründen, verletzt er eine vertragliche Hauptpflicht. Automatisch wird der Arbeitgeber gem § 326 Abs.1 BGB von der Zahlung des Arbeitsentgeltes entbunden und ihm steht darüber hinaus eine Kündigungsmöglichkeit zur Verfügung. Er ist folglich durch das deutsche Arbeitsrecht ausreichend geschützt. Dem Arbeitnehmer im „kirchlichen Arbeitsverhältnis“ kann hingegen auf Grund von Verstößen gegen die von der Kirche aufoktroyierten Loyalitätsobliegenheiten gekündigt werden, obwohl er pflichtgemäße Arbeit leistet, immer pünktlich war und sich auch sonst nie etwas zu Schulden kommen hat lassen. Hier gegen kann nun eingewandt werden, der Arbeitnehmer lasse sich arbeitsvertraglich, privatautonom auf diese Bedingungen ein; er wisse doch, dass er bei der Kirche angestellt ist und dürfe sich deshalb auch nicht beschweren, wenn diese dann vollumfängliche Gehorsamkeit hinsichtlich ihrer Werte- und Sittenordnung fordert. Ein solcher Einwand kann jedoch aus folgenden Gründen nicht überzeugen:

Besonders in Deutschland wird versucht die ungleiche Machtverteilung zwischen Arbeitgebern und –nehmern auszugleichen. So wird es dem Arbeitgeber durch das Kündigungsschutzrecht aufgebürdet, einen Kündigungsgrund vor Gericht zu beweisen und Rechtsunklarheiten, welche aus unbestimmten Rechtsbegriffen wie z.B. „sozial ungerechtfertigt“ (§ 1 KSchG) resultieren, gehen zunächst zu seinen Lasten. Dieses System wird durch das Davorschalten des eigenen kirchlichen Dienstrechts völlig unterwandert, weil nun der Arbeitgeber im Grunde genommen selber feststellt, was „sozial ungerechtfertigt“ ist und nicht mehr die Gerichte. Immerhin vermittelt das kirchliche Dienstrecht aber eine gewisse Rechtsklarheit, an die sich ein Arbeitnehmer bisher klammern konnte. Seitdem die Arbeitsgerichte aber nun im Einzellfall ermitteln, welche Anforderungen an den einzelnen Arbeitnehmer i.S.d. kirchlichen Dienstrecht zu stellen sind, besteht auch hierauf kein Verlass mehr. Dies alles hat zur Folge, dass nun selbst hundertprozent-kirchenloyale Arbeitnehmer, die sich den Arbeitsplatz bei der Kirche sogar explizit ausgesucht haben, in der Klemme stecken, weil sie de facto nicht wissen können, was für sie persönlich im Arbeitsleben, sowie, was noch einschneidender ist, im Privatleben eigentlich gestattet ist oder nicht. Ist es das was ein Arbeitgeber möchte, verunsicherte Arbeitnehmer?

F. Zusammenfassende Gesamtwürdigung und Ausblick

Das deutsche Arbeitsrecht gibt auf die aus der Religion erwachsenden Konflikte im Arbeitsverhältnis keine klaren Antworten. Das Potential der Rechtsunsicherheit in diesem Bereich scheint groß. Macht man sich jedoch mit den Grundstrukturen und den Rahmenbedingungen vertraut, so erschließen sich einem verständigen Arbeitgeber sowie Arbeitnehmer vor allem im „weltlichen“ Arbeitsverhältnis die Grenzen des Möglichen. Unüberwindbare widerstreitige Interessen bleiben weiterhin in den Händen der Gerichte.
Das eine Art „Paralleljustiz“ im Rahmen des „kirchlichen“ Arbeitsverhältnis besteht, ist in einem wenn auch auf christlichen Werten fußenden, so doch säkularen Staat durchaus fragwürdig. Zumal durch die Gegenüberstellung der beiden „Arten“ von Arbeitsverhältnissen deutlich wird, dass im „kirchlichen“ Arbeitsverhältnis das Konfliktpotential gerade nicht –wie rechtlich nachvollziehbar und in der Regel üblich- aus der Verletzung einer Hauptpflicht resultiert, sondern wie festgestellt, nur aus der Missachtung einer Obliegenheit. Dass dieser Umstand jedoch mittlerweile in der Öffentlichkeit vermehrt zur Diskussion steht, lässt hoffen, dass auch in diesem Bereich Rechtsklarheit geschaffen wird und dem Arbeitnehmer nicht aufgrund der Lebensweise eines mündigen Bürgers oder Privatproblemen aus der Intimspähre (auch noch zusätzlich) „arbeitsrechtliche Konsequenzen drohen“. 66

* Wissenschaftliche Mitarbeiter der Forschungsstelle für Hochschularbeitsrecht der Universität Freiburg, Prof. Dr. Dr. h.c. Manfred Löwisch.


Fußnoten:

  1. Vergleiche allgemein zum kirchlichen Arbeitsrecht: Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, 6. Auflage 2012; Thüsing, Kirchliches Arbeitsrecht, 2006.
  2. Vgl. nur: BAG vom 24.2.2011 – 2 AZR 636/09, NZA 2011, 1087; BAG vom 24.5.1989 – 2 AZR 285/88, NJW 1990, 203; BAG vom 20.12.1984 – 2 AZR 436/83 – NZA 1986, 21; Die Literatur hingegen kritisiert die dogmatische Begründung des Leistungsverweigerungsrechts des BAG. Seit der Schuldrechtsreform und der Existenz des § 275 Abs.3 BGB wird überwiegend vertreten, dass das Leistungsverweigerungsrecht über diese Vorschrift herzuleiten sei. Vgl. Löwisch/Caspers, in: Staudinger, BGB, 2009, § 275, Rn. 105; Henssler. AcP 190 (1990), 358, 545 ff; Grabau BB 1991, 1257, 1261; Kohte, NZA 1989, 161, 164 ff.; Preis, in: Oetker/Preis/Rieble (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre BAG, 143, 145 f.; Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Reichold, § 39 Rn. 19; Kittner/Däubler/Zwanziger/Zwanziger/Däubler, Kündigungsschutzrecht, § 626 BGB, Rn. 70; Gotthardt, Arbeitsrecht nach der Schuldrechtsreform, 2. Auflage 2003, Rn.115; Medicus/Lorenz, Schuldrecht I, 19. Auflage 2010, Rn. 426; diff.: Dornbusch/Fischermeier/Löwisch/Kamanabrou,Fachanwaltskommentar Arbeitsrecht, 5. Auflage 2012, § 611, Rn. 408; Zur Übersicht über den Meinungsstand m.w.N.: Scholl, BB 2012, 53 ff.; siehe allgemein zu Glaubens- und Gewissenskonflikten: Hansen, Die rechtliche Behandlung von Glaubens- und Gewissenskonflikten im Arbeitsverhältnis, 2000.
  3. Löwisch/Caspers/Klumpp, Arbeitsrecht, 9. Auflage 2012, Rn. 150.
  4. BVerfGE vom 20.12.1960, 1 BvL 21/60; LAG Hamm vom 20.4.2011 – 4 Sa 2230/10, NZA-RR 2011, 640; Dornbusch/Fischermeier/Löwisch/Groeger/Hofmann, Art.4 GG, Rn. 9.
  5. Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Reichold, § 36 Rn. 26 f.; BAG vom 10.10.2002 – 2 AZR 472/01 – NZA 03 483, 486.
  6. BAG aaO; Raif, ArbRAktuell, 2011, 321, 322.
  7. Vgl. zur Übersicht über die ältere Rechtsprechung der Arbeitsgerichte im Bezug auf Gewissenskonflikte am Arbeitsplatz: Kohte, NZA 1989, 161 ff sowie Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 1990, 3ff.
  8. BAG vom 20.12.1984 – 2 AZR 436/83 – NZA 1986, 21.
  9. Vgl. LAG Schleswig-Holstein Urteil vom 06.01.1983 2 (3) Sa 353/82.
  10. § 106 GewO trat erst am 01.01.2003 in Kraft und konkretisiert seither die Leistungspflicht des Arbeitnehmers im Vertragsverhältnis. Zur Entstehungsgeschichte des § 106 GewO vgl. Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching/Tillmanns, Beck’scher Online-Kommentar Arbeitsrecht, 2012, §106 GewO Rn.1.
  11. Zum Gesamten instruktiv und beispielhaft in der Falllösung vgl. Junker, Grundkurs Arbeitsrecht, 12. Auflage 2013, Rn.63ff.
  12. Vgl. Oetker, in: Staudinger, BGB, 2011, § 616, Rn. 69; Scholl, BB 2012, 53, 58; Henssler, RdA, 2002, 129, 131f.; a.A.: Greiner, Ideelle Unzumutbarkeit, 2004, S. 150 ff.
  13. Erfurter Kommentar/Preis, 13. Auflage 2013, § 611, Rn. 688.
  14. Ebenso: Erfurter Kommentar/Preis, aaO; vgl. auch: LAG München vom 13.11.2008, 2 Sa 699/08, BeckRS 2009, 50411; Nicht jedoch so, wenn der Arbeitnehmer zwar bei Vertragsschluss erkennt, dass er sich zu Arbeiten verpflichtet, die den bestimmten Glaubensinhalten derjenigen Religion, welcher er angehört, widersprechen, er jedoch persönlich diese Glaubensinhalte bei Vertragsschluss noch nicht als für sich verbindlich angesehen hatte, vgl.: BAG vom 24.2.2011 – 2 AZR 636/09, NZA 2011, 1087.
  15. Vgl. BAG vom 24.2.2011 aaO.
  16. Vgl. zur verhaltensbedingten Kündigung: BAG vom 29.11.1983 AP BGB § 626 Nr.78; zur personenbedingten Kündigung: BAG vom 24.5.1989 AP BGB § 611 Gewissensfreiheit Nr.3.
  17. LAG Hamm vom 8.11.2007, 15 Sa 271/07, LAGE Art 4 GG Nr.5.
  18. LAG München vom 13.11.2008, 2 Sa 699/08, BeckRS 2009, 50411; vgl. auch den ähnlich gelagerten Fall des AG Freiburg, in welchem sich eine Zeugin Jehova vergeblich gegen eine Abmahnung wehrte, welche ihr von ihrem Arbeitgeber aufgrund der Verweigerung der Mitwirkung an der Organisation sowie der Dekoration einer betrieblichen Fastnachtsfeier ausgesprochen wurde: AG Freiburg vom 14.1.2010 – 13 Ca 331/09, BeckRS 2010, 68789; sowie hierzu: Münchener Kommentar zum BGB/Henssler, 5. Auflage 2009, § 626 BGB, Rn. 141.
  19. BAG vom 24.2.2011 – 2 AZR 636/09, NZA 2011, 1087; vgl. auch die Besprechung hierzu von Scholl, BB 2012, 53ff sowie den Kommentar von Huke, BB 2011, 3004.
  20. Scholl, aaO.
  21. LAG Hamm vom 20.4.2011 – 4 Sa 2230/10, NZA-RR 2011, 640; vgl. etwa: http://www.spiegel.de/wirtschaft/service/jesus-hat-sie-lieb-missionierender-telefonist-verliert-seinen-job-a-758244.html; http://www.welt.de/vermischtes/article13228978/Jesus-hat-Sie-lieb-ist-ein-Kuendigungsgrund.html.
  22. Dornbusch/Fischermeier/Löwisch/Rieble, § 75 BetrVG, Rn. 16.
  23. Münchener Anwaltshandbuch/Gragert, 3. Auflage 2012, § 15, Rn.5; Raif, ArbRAktuell, 2011, 321; 322; Dornbusch/Fischermeier/Löwisch/Rieble, aaO.
  24. LAG Hessen vom 21.6.2001 – 3 Sa 1448/00, NJW 2001, 3650.
  25. AG Dortmund vom 16.1.2003 – 6 Ca 5736/02, BeckRS 2003, 30902813.
  26. BAG vom 12. 8. 2010 – 2 AZR 593/09, NZA-RR 2011, 162; vgl. zur Kopftuchproblematik auch die folgenden Urteile: Kein Tragen eines Kopftuches im Unterricht: BAG vom 10.12.2009 – 2 AZR 55/09, NZA-RR 2010, 383-387; Kündigung einer Verkäuferin wegen Tragens eines – islamischen – Kopftuchs: BAG vom 10.10.2002 – 2 AZR 472/01, NJW 2003, 1685.
  27. So Gallner, Sprecherin des BAG, siehe: http://www.spiegel.de/wirtschaft/klage-gegen-kuendigung-muslim-wollte-keinen-alkohol-ins-regal-sortieren-a-746821.html.
  28. S.o.: Teil I, B, Historische Entwicklung.
  29. Vgl. oben Teil I, C. Rechtsfolgen einer Arbeitsverweigerung.
  30. Löwisch/Caspers/Klumpp, Arbeitsrecht, 9. Auflage 2012, Rn. 23 f.; Junker, Grundkurs Arbeitsrecht, 10. Auflage 201, Rn. 6.
  31. BVerfGE 70, 138.
  32. Art 137 der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 ist gem. Art. 140 GG Teil des Grundgesetzes, siehe hierzu BVerfGE 53, 366 (400); 66, 1 (22); 70, 138 (167).
  33. BVerfGE 18, 385 (386); 66, 1 (19); so auch in Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, 5. Auflage 2009, § 1Rn. 11.
  34. BVerfGE 70, 138.
  35. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg), Die deutschen Bischöfe 51; auch zu finden unter: www.dbk.de.
  36. Abgedruckt in: epd – Dokumentation 2005 Nr. 29; auch zu finden unter: www.ekd.de
  37. BVerfGE 70, 138.
  38. Löwisch/Caspers/Klumpp, Arbeitsrecht, 9. Auflage 2012. Rn. 111.
  39. Vgl. hierzu Löwisch/Caspers/Klumpp, Arbeitsrecht, 9. Auflage 2012. Rn. 713.
  40. Für Einzelfälle: Löwisch/Spinner KSchG § 1, Rn. 125ff.; Dornbusch/Fischermeier/Löwisch /Kaiser, KSchG, 5. Auflage 2012, § 1 Rn. 44.
  41. Löwisch/Caspers/Klumpp, Arbeitsrecht, 9. Auflage 2012. Rn. 689.
  42. Thüsing, Kirchliches Arbeitsrecht, 1. Auflage 2006, § 1, IV
  43. siehe zur Unterscheidung von Loyalitätspflicht und Loyalitätsobliegenheit noch Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, 5. Auflage 2009, § 6 Rn. 24f.
  44. BAGE 34, 195 (204).
  45. ArbG Hamburg 4.12.2007, 20 Ca 105/07.
  46. Siehe hierzu krit. Joussen, § 9 AGG und die europäischen Grenzen für das kirchliche Arbeitsrecht, in: NZA 2008, 675.
  47. Lelley in: BB 2008, 1348.
  48. LAG Hamburg vom 29.10.2008, 3 Sa 15/08 und LArbG Hessen vom 8.7.2011, 3 Sa 742/10.
  49. ArbG Aachen 14.12.2012, 2 CA 4226/11.
  50. Hierzu ausführlich: Löwisch/Caspers/Klumpp, Arbeitsrecht, 9. Auflage 2012. Rn. 16.
  51. Vgl. auch Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, 5. Auflage 2009, § 6 Rn. 37.
  52. Erste Entscheidung: Obst gegen Deutschland (Beschwerde-Nr. 425/03); zweite Entscheidung: Schüth gegen Deutschland (Beschwerde-Nr. 1620/03).
  53. BVerfGE 70, 138.
  54. BAGE 34, 195.
  55. BVerfGE 70, 138 (168).
  56. BAG vom 8.9.2011, 2 AZR 543/10; DB 2012, 690.
  57. BAG vom 21.2.2001, 2 AZR 139/00.
  58. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 03.02.2011, 18136/02; NZA 2012, 199.
  59. So z.B. in BAGE 2, 279; vgl. hierzu auch Reichhold, Arbeitsrecht, 3. Auflage 2008, § 9, Rn. 23; Erfurter Kommentar/Preis § 611 BGB, Rn. 887ff.
  60. BAG AP Nr 4 zu Art 140 GG; BB 1980, 1639; vgl hierzu auch Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, 5. Auflage 2009, § 6, Rn. 66f.
  61. Kündigungsgrund bejaht durch BAGE 47, 292.
  62. Kündigungsgrund bejaht durch BAG AP Nr 4 zu Art 140 GG; BB 1980, 1639.
  63. Diese Frage stellt auch Weiss in AuR 1979, Sonderheft: Kirche und Arbeitsrecht, S. 28 f.
  64. LAG Baden-Württemberg , 9.3.2012, 12 Sa 55/11.
  65. Revision eingelegt unter dem Aktenzeichen 2 AZR 579/12.
  66. S.o.: Fn. 62.

Die Rolle der inkorporierten Artikel der WRV im Rahmen der Verfassungsbeschwerde

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von stud. jur. Philipp Renninger (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) 1

 

I.) Einleitung

Die durch Art. 140 GG inkorporierten Artikel der Weimarer Reichsverfassung (WRV) stellen die Weichen des verfassungsrechtlichen Verhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaften 2 und bilden somit einen fundamentalen Teil dessen, was gemeinhin Staatskirchenrecht genannt wird 3. Wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) schon früh klargestellt hat, sind diese Normen, namentlich Art. 136 bis 139 sowie 141 WRV, „vollgültiges Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland“ 4. In dem Bewusstsein vieler Jurastudenten und auch in der universitären Ausbildung scheinen die inkorporierten WRV-Artikel jedoch – sofern überhaupt präsent – sehr wohl „gegenüber den anderen Artikeln des Grundgesetzes [...] auf einer Stufe minderen Ranges“ 5 zu stehen. Symptomatisch hierfür ist, dass die sog. Kirchenartikel in den allseits verwendeten Gesetzessammlungen der „Beck-Texte im dtv“ im Kleingedruckten stehen 6.

Dabei sind die inkorporierten Normen jedoch von essenzieller Bedeutung sowohl für die Kirchen und sonstigen Religionsgemeinschaften als auch für Einzelpersonen, die mit diesen in eine rechtliche Beziehung treten.Umso wichtiger erscheint daher die Frage, ob und inwiefern Art. 136 bis 139 und 141 WRV im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden können.

 

II.) Lösung des Bundesverfassungsgerichts

Gem. Art. 93 I Nr. 4a GG sowie gem. § 90 I BVerfGG muss der Beschwerdeführer geltend machen, „durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein“. Erst dann ist die sog. Beschwerdebefugnis gegeben.

1.) Grundprinzip: Unterschiedlicher Prüfungsmaßstab

Bereits früh entschied das BVerfG, dass die Inkorporationsnorm des Art. 140 GG „keine mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbaren Grundrechte“ 7 gewähre. Da diese Vorschrift auch nicht in der abschließenden Aufzählung der sonstigen rügefähigen Rechte gem. Art. 93 I Nr. 4a GG erwähnt sei, könne die Verfassungsbeschwerde „nicht unmittelbar [auf Art. 140 GG] gestützt werden“ 8. Das BVerfG geht also von einem institutionellen und objektiv-rechtlichen Verständnis des Staatskirchenrechts aus, wobei es dessen genaue dogmatische Einordnung zunächst offen ließ („ohne daß hier im einzelnen das Verhältnis von Art. 140 GG zu Art. 4 Abs. 2 GG dargestellt werden muß“ 9).

Im „Bremer-Mandats-Fall“ entwickelte der Zweite Senat des BVerfG schlieβlich sein verfahrensrechtliches Grundprinzip bezüglich staatskirchenrechtlicher Verfassungsbeschwerden. Die Besonderheit besteht darin, dass das BVerfG in der Zulässigkeitsprüfung einen anderen Prüfungsmaßstab anlegt als in der Begründetheitsprüfung. Im Rahmen der Zulässigkeit stellt das Gericht nur auf die mögliche Verletzung der in Art. 93 I Nr. 4a GG erwähnten Rechte ab. Prüfungsmaßstab sind somit nur einschlägige Grundrechte bzw. sonstige rügefähige Rechte, im vorliegenden Fall Art. 4 GG 10 (wie fast stets bei staatskirchenrechtlichen Verfassungsbeschwerden). Im Rahmen der Begründetheit beruft sich das BVerfG hingegen auf Art. 140 GG iVm Art. 137 III WRV 11. Der Grund dafür: „Nachdem die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, ist das Bundesverfassungsgericht bei der materiellrechtlichen Prüfung nicht mehr darauf beschränkt zu untersuchen, ob eine der gerügten Grundrechtsverletzungen vorliegt. Es kann die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit des angegriffenen Urteils vielmehr unter jedem in Betracht kommenden verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt prüfen.“ 12 Prüfungsmaßstab ist also das gesamte Grundgesetz und – da sie „vollgültiges Verfassungsrecht“ 13 darstellen – somit auch die inkorporierten Normen der WRV.

2. Wandel in der Rechtsprechung

Dieser Rechtsprechung folgt der Zweite Senat des BVerfG im Grundsatz seit 1976, hat die Trennung der Prüfungsmaßstäbe allerdings nicht immer streng gehandhabt. So stellte das Gericht zum Teil auch in der Begründetheitsprüfung alleine auf die Religionsfreiheit ab, da diese bestimmte Normen der WRV ganz umfasse 14. Andererseits bezog der Senat zum Teil bereits in der Zulässigkeit eine mögliche Verletzung von WRV-Artikeln mit ein 15.

Insgesamt zeichnet sich in der Haltung des Gerichts eine gewisse „Vergrundrechtlichung“ und Subjektivierung des Staatskirchenrechts ab 16. So führt das BVerfG aus, dass die inkorporierten WRV-Artikel „funktional auf die Inanspruchnahme und Verwirklichung des Grundrechts der Religionsfreiheit angelegt“ 17 seien und der „Konkretisierung und Stärkung des Grundrechtsschutzes“ 18 dienten.

Viele Stimmen in der Literatur leiten daraus ab, dass in der Rechtsprechung des Zweiten Senats die subjektiven Rechtspositionen aus den WRV-Artikeln im Endeffekt wie Grundrechte wirkten 19. Über Art. 4 GG erführen sie einen umfassenden verfassungsprozessualen Schutz 20 und seien damit in der Praxis bereits verfassungsbeschwerdefähig 21.

 

III.) Lösung der Literatur

In der Folge gehen diese Stimmen noch weiter als das BVerfG in seinen jüngeren Entscheidungen und sprechen den inkorporierten WRV-Artikeln eigenständige grundrechtliche Qualität zu. Sie fordern daher einen direkten Rückgriff auf diese Normen auch im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung. Ziel ist es, die „künstliche Trennung zwischen Zulässigkeits- und Begründetheitsmaßstab“ aufzuheben und Art. 4 GG zu „entlasten“ 22.

1.) Direkte Anwendung von Art. 93 I Nr. 4 GG

Die herrschende Meinung will Art. 93 I Nr. 4a GG direkt anwenden. Zum Teil wird argumentiert, dass mit dem Begriff „Grundrechte“ nicht rein formell der 1. Abschnitt des Grundgesetzes gemeint sei. Vielmehr seien darunter auch die inkorporierten Bestimmungen der WRV zu verstehen 23, die sich ja im Grundrechtsteil der Verfassung von 1919 befanden 24. Andere führen an, dass die Auflistung verfassungsbeschwerdefähiger Rechte in Art. 93 nicht exklusiv auszulegen sei. Ein direkter Rückgriff auf die WRV-Bestimmungen sei daher im Wege der Subsumtion unter „grundrechtsgleiche bzw. -ähnliche Rechte“ möglich 25.

2.) Analoge Anwendung von Art. 93 I Nr. 4 GG

Einer Mindermeinung nach kann Art. 93 I Nr. 4a GG aufgrund des abschließenden Wortlauts zwar nicht direkt angewendet werden. Allerdings hätten die Kirchenartikel einen so grundrechtsähnlichen Charakter, dass die Verfassungsbeschwerde analoge Anwendung finden müsse 26. Die Voraussetzungen einer Analogie seien gegeben, da die WRV-Artikel oft einen größeren Schutzbereich hätten als die Religionsfreiheit. Wenn man die Zulässigkeitsprüfung also auf Art. 4 GG beschränke, könne nicht jede Verletzung der inkorporierten Normen geltend gemacht werden. Es ergäben sich somit Lücken im Rechtsschutz 27. Den Nachweis, dass diese Regelungslücken auch planwidrig sind, bleiben die Vertreter diese Ansicht jedoch schuldig.

 

IV.) Bewertung der vorgestellten Lösungsansätze

Die Ansätze der Literatur überzeugen nicht; allerdings ist auch dem BVerfG in seiner Rechtsprechung nicht vollkommen zuzustimmen.

1.) Keine eigenständigen Grundrechte aus den WRV-Artikeln

Fraglich ist zunächst, ob die inkorporierten Normen der WRV überhaupt eigenständige Grundrechte begründen. Um diese Frage zu beantworten, bedarf es eines Rekurses auf die Diskussion um den Charakter des Staatskirchenrechts.

Dem Lösungsansatz der Literatur liegt ein grundrechtliches und damit subjektiv-rechtliches Verständnis der WRV-Artikel zugrunde. Laut dieser Ansicht basieren die WRV-Artikel auf der insitutionell-kollektiven Religionsfreiheit des Grundgesetzes und seien daher nur von Art. 4 GG her zu begreifen 28. Nur ein solches „modernisiertes“ Verständnis des Staatskirchenrechts trüge den gesellschaftlichen Veränderungen – insbesondere der Individualisierung, Säkularisierung und religiösen Pluralisierung – Rechnung 29. Auch fördere eine grundrechtliche Deutung Abwägungsprozesse und begünstige dadurch die Gleichbehandlung der verschiedenen Religionsgemeinschaften 30. Des Weiteren würde eine Reduktion des Staatskirchenrechts auf das weit verstandene Grundrecht der Religionsfreiheit das Verhältnis von Kirche und Staat im deutschen Recht international voll anschlussfähig machen und in einen gemeineuropäischen Standard einfügen 31. Teilweise wird daher auch eine international kompatiblere und politisch wertneutralere Umbenennung des Staatskirchenrechts in „Religionsverfassungsrecht“ gefordert 32.

Gegen eine unbedingte Internationalisierung und Europäisierung dieses Rechtsgebiets spricht jedoch, dass weder EU noch Europarat eine volle Angleichung des nationalen Rechts fordern. Eine gänzliche Neutralität des Staates und eine absolute Gleichbehandlung aller Religionsgemeinschaften sind also nicht zwingend erforderlich 33. Gehalt und Charakter des deutschen Staatskirchenrechts bestimmen sich somit zuvörderst nach dem Grundgesetz, wobei insbesondere auf das Verhältnis von Art. 4 und Art. 140 GG abzustellen ist.

Schon aus historischer Sicht haben die Regelungen der Beziehung zwischen Kirche und Staat in Art. 140 GG einen anderen, deutlich älteren Ursprung als die individuelle Religionsfreiheit des Art. 4 GG. Art. 140 GG steht in der Tradition spezifisch deutschen Religionsrechts, das bis auf den Augsburger Religionsfrieden von 1555 zurückreicht, während Art. 4 GG der universalistischen Denkweise der Aufklärung entspringt 34. Auch bezüglich ihres Telos sind die Normen unterschiedlich ausgerichtet: Art. 140 GG beruht auf der Einteilung in großen Religionsparteien und regelt deren Stellung gegenüber einer anderen überindividuellen Institution, nämlich dem Staat. Art. 4 GG hingegen ist individualistisch und menschenrechtlich geprägt und will die Freiheit des Einzelnen gegenüber solchen Institutionen sichern 35. Die Verschiedenheit der beiden Artikel wird auch in Hinblick auf die Systematik des Grundgesetzes deutlich: Art. 4 GG steht im 1. Abschnitt, der ausdrücklich mit „Grundrechten“ überschrieben ist. Art. 140 GG dagegen findet sich ganz am Ende des Grundgesetzes unter den „Übergangs- und Schlussbestimmungen“. Der Einwand, dass die durch ihn inkorporierten Normen einst im Grundrechtsteil der Verfassung von 1919 standen, überzeugt nicht. Dieser zweite Hauptteil der WRV umfasste nämlich nicht nur Individualrechte, sondern enthielt auch subjektiv-öffentliche Rechte, gesellschaftliche Leitlinien und rein objektives Recht. Er entsprach also in seiner Bedeutung und Funktion nicht unserem heutigen Grundrechtskatalog. 36

Aufgrund der fundamentalen Unterschiede kann nicht einfach eine „interpretatorische Wechselwirkung“ 37 zwischen Art. 140 und Art. 4 GG behauptet werden. Die inkorporierten WRV-Artikel sind nicht generell als Konkretisierungen 38bzw. Ergänzungen 39von Art. 4 GG einzuordnen. Auch geht es nicht an, sie in ihrer Gesamtheit als leges speciales 40 oder leges generales 41 gegenüber Art. 4 GG auszulegen. Vielmehr ist auf den genauen Gehalt der einzelnen inkorporierten WRV-Artikel abzustellen.

Bildlich gesprochen kann man sich Art. 4 GG und die einzelnen WRV-Artikel wie zwei Kreise vorstellen, die einen gewissen Überschneidungsbereich haben, aber jeweils auch Rechtspositionen enthalten, die der anderen Bestimmung nicht immanent sind. Hilfreich bei der Bestimmung dieser Kreise ist eine dogmatisch saubere Handhabung des Art. 4 GG, insbesondere durch Trennung und genaue Bestimmung dessen jeweiliger Schutzbereiche 42.

Im Ergebnis ist festzuhalten: Die WRV-Artikel stellen keine eigenständigen Grundrechte dar, sondern sind als Teil des Staatskirchenrechts zuvörderst institutionell gedachtes Recht. Sie können schon deshalb nicht im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung herangezogen werde.

2.) Abschließendes Verständnis des Art. 93 I Nr. 4a GG

Abgesehen von der nichtgrundrechtlichen Qualität stehen einem direkten Rückgriff auf die Kirchenartikel auch verfahrensrechtliche Gründe der Verfassungsbeschwerde entgegen.

Zunächst sind mit „Grundrechten“ im Sinne des Art. 93 I Nr. 4a GG ausschließlich der so überschriebenen 1. Abschnitt des Grundgesetzes 43 und innerhalb dessen auch nur diejenigen Bestimmungen gemeint, die dem Einzelnen subjektive Rechte gegenüber der Staatsgewalt gewähren 44. Dies ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte des Art. 93 GG; der Regierungsentwurf bezog sich explizit auf die „Verletzung eines der in Art. 1 – 19 GG genannten Grundrechte“ 45. Selbst wenn man der Literatur folgt und den Kirchenartikeln grundrechtliche Qualität zubilligt, so stellen sie doch keine verfassungsbeschwerdetauglichen Grundrechte dar.

Auch sind die WRV-Artikel keine „grundrechtsgleichen Rechte“ im Sinne des Art. 93 GG. Zunächst ist anzumerken, dass ein solcher Terminus in Art. 93 I Nr. 4a überhaupt nicht vorkommt, sodass unter ihn auch nicht subsumiert werden kann. Die Aufzählung der rügefähigen Rechte ist nach ganz h.M. vielmehr abschließend gemeint 46, sodass nur die ausdrücklich genannten Bestimmungen im Zuge einer Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden können 47. Schon aufgrund des Wortlauts von Art. 93 I Nr. 4a GG kann eine Verfassungsbeschwerde also nicht auf die inkorporierten WRV-Artikel gestützt werden.

Ebenso wenig kommt eine analoge Anwendung der Verfassungsbeschwerde in Betracht. Der Verfassunggeber von 1949 inkorporierte ganz bewusst die staatskirchenrechtlichen Normen im Wortlaut der Verfassung von 1919 und behielt damit den in Weimar gefundenen Kompromiss inklusive der institutionellen Ausgestaltung dieses Rechtsgebietes bei 48. Es sollten gerade keine neuen subjektiven Rechte geschaffen werden. Die Nichterstreckung der Verfassungsbeschwerde auf Art. 140 GG war somit nicht planwidrig. Aufgrund ihres institutionellen Charakters weisen die WRV-Artikel auch keine hinreichende Ähnlichkeit mit den in Art. 93 I Nr. 4a GG genannten Grundrechten und sonstigen rügefähigen Rechten auf. Sie sind also wertungsmäßig nicht gleich zu beurteilen wie diese 49.Abgesehen davon, dass eine analoge Anwendung der Verfassungsbeschwerde als methodisch reichlich sonderbares Konstrukt anmutet, liegen also schon die elementaren Voraussetzungen einer Analogie überhaupt nicht vor.

Im Ergebnis ist somit dem BVerfG zu folgen. In der Zulässigkeitsprüfung von staatskirchenrechtlichen Verfassungsbeschwerden ist alleine auf die in Art. 93 GG genannten Rechte abzustellen (zumeist Art. 4 GG). Die Beschwerdebefugnis besteht nur, sofern die Möglichkeit einer Verletzung dieser Rechte gegeben ist, also, sofern Rechtspositionen aus den WRV-Artikeln betroffen sind, die in den Schnittbereich mit einem der rügefähigen Grundrechte fallen.

3.) Differenzierung des Prüfungsmaßstabs

Problematisch erscheint jedoch der Ansatz des BVerfG, diese „selbst errichtete Sperre“ bezüglich der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde „zu umgehen“ 50, indem es die inkorporierten Normen der WRV einfach im Rahmen der Begründetheitsprüfung heranzieht. Kann der materiell-rechtliche Prüfungsmaßstab ganz losgelöst von dem prozessualen gewählt werden? Das Postulat, das BVerfG könne in der Begründetheit jeglichen verfassungsrechtlichen Aspekt überprüfen 51, bedarf einer genaueren Analyse.

Übersehen wird oft, dass diese Rechtsprechung nur vom Zweiten Senat des BVerfG vertreten wird, der Erste Senat dem jedoch nicht folgt 52.Für die Haltung des Zweiten Senats spricht zunächst der Wortlaut des § 95 I BVerfGG, der Bezug auf die Verletzung von „Vorschriften des Grundgesetzes“ nimmt. Außerdem führen Verfechter eines umfänglichen Prüfungsrechts an, dass die Verfassungsbeschwerde eine Doppelfunktion habe 53: Sie sei nicht allein subjektiv zu denken, sondern auch ein „spezifisches Rechtsschutzmittel des objektiven Verfassungsrechts“ 54. Einige Stimmen behaupten sogar eine Pflicht des BVerfG zur umfassenden Prüfung auf Vereinbarkeit mit sämtlichen Normen des Grundgesetzes 55. Gemäß dem Prinzip „iura novit curia“ (= das Gericht kennt das Recht) müsse das BVerfG nämlich auch Verfassungsverstöße feststellen, die der Beschwerdeführer als juristischer Laie gar nicht gerügt habe 56.

Dagegen spricht zunächst das Antragserfordernis in § 92 BVerfGG, das die Festlegung des Streitgegenstandes durch den Beschwerdeführer verlangt und damit die Zuständigkeit des BVerfG zugleich begründet und begrenzt 57. Des Weiteren führen Gegner einer verfassungsrechtlichen Vollprüfung ins Feld, dass Grundrechte zwar häufig „mittelbar“ durch den Verstoß der öffentlichen Gewalt gegen anderes Verfassungsrecht verletzt würden. Grundlage und Maßstab der Beschwerde müsse dabei aber stets das gerügte Individualrecht bleiben. Dies ergebe sich aus der primären Funktion der Verfassungsbeschwerde als Mittel des Individualrechtsschutzes und eben nicht als Popularklage 58. Begründet sei eine Verfassungsbeschwerde also nur, sofern ein Grundrecht tatsächlich verletzt ist. Ansonsten könne das BVerfG durch die Hintertür alle möglichen verfassungsrechtlichen Probleme behandeln, losgelöst von der Frage, ob eine Grundrechtsverletzung im konkreten Fall vorliegt 59.

Überzeugend erscheint im Ergebnis ein differenzierender Ansatz:

Erste Konstellation: Es geht um die Überprüfung von Gesetzen. Dies ist zum einen bei Verfassungsbeschwerden der Fall, die sich unmittelbar gegen Gesetze richten (sog. Rechtssatzverfassungsbeschwerden). Zum anderen geschieht dies auch innerhalb von sog. Urteilsverfassungsbeschwerden, wenn die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Eingriffsgrundlage geprüft wird (gleichsam eine „inzidente“ Rechtssatzverfassungsbeschwerde). Prüfungsgegenstand ist jeweils eine abstrakt-generelle Norm, die für die gesamte Bevölkerung Geltung beansprucht. Daher hat die Verfassungsbeschwerde hier zuvörderst eine objektive Funktion 60. Sie stellt im Endeffekt ein Normenkontrollverfahren dar, das insbesondere mit der konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 I GG große Gemeinsamkeiten aufweist 61.

Die objektive Funktion der Verfassungsbeschwerde – vom BVerfG auch als „generelle[r] Edukationseffekt“ 62 bezeichnet – ist insbesondere an ihrer Rechtsfolge und Wirkung ersichtlich. Eine negative Entscheidung des BVerfG führt nämlich gem. § 95 III BVerfGG zur Nichtigerklärung der Norm und zeitig somit Folgen für die gesamte deutsche Rechtsordnung 63. Auch hat dieses Urteil gem. § 31 II BVerfGG (wie bei den übrigen Normenkontrollarten) umfassende Bindungswirkung in Form von Gesetzeskraft 64. Aufgrund dieser umfassenden Urteilsfolgen erscheint bei Verfassungsbeschwerden auf der Gesetzesebene auch eine umfassende Überprüfung der Norm auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz geboten (ebenso wie bei der konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 I GG).

Zweite Konstellation: Es geht um die Überprüfung der gerügten Einzelmaßnahme an sich. Anders ausgedrückt wird die Verfassungsmäβigkeit der Auslegung und Anwendung der Eingriffsgrundlage im Rahmen einer sog. Urteilsverfassungsbeschwerde kontrolliert. Hier steht die subjektive Funktion der Verfassungsbeschwerde im Vordergrund 65. Der Beschwerdeführer richtet sich nämlich gegen einen bestimmten Hoheitsakt der Judikative oder Exekutive und somit gegen eine individuell-konkrete Norm, die zunächst alleine ihn selbst in seiner Rechtsposition beeinträchtigt. Die Beschränkung der Verfassungsbeschwerde auf den konkreten Fall zeigt sich zum einen an der Rechtsfolge, die auf die Aufhebung der Einzelentscheidung gem. § 95 II BVerfGG beschränkt ist 66. Zum anderen geht dies aus der Bindungswirkung des BVerfG-Urteils hervor, die gem. § 31 I BVerfGG nur für gleichgelagerte Fälle besteht 67. Es findet hier lediglich eine „funktionale Objektivierung“ 68 statt, die weitere Verfassungsbeschwerden zur gleichen Problematik erübrigen soll; im Grundsatz aber bleibt die subjektive Ausrichtung erhalten.

Die Verfassungsbeschwerde hat im Bezug auf Einzelmaβnahmen also zuvörderst einen „kasuistischen Kassationseffekt“ 69. Folglich erscheint auf der Auslegungs- und Anwendungsebene eine Beschränkung des Prüfungsmaßstabes auf die tatsächlich gerügten Grundrechte angemessen. Das BVerfG sollte den konkreten Fall nur in seiner konkreten Form und nur unter den Aspekten prüfen, die der Beschwerdeführer auch überprüfen lassen möchte 70.

Die Differenzierung überzeugt, vor allem da sie die funktionellen Unterschiede zwischen der Überprüfung von Gesetzen und der Überprüfung ihrer Anwendung und Auslegung im Einzelfall herausstellt. Dadurch wird auch die bereits angesprochene Doppelfunktion der Verfassungsbeschwerde 71 schlüssig verankert.

Des Weiteren führt diese Differenzierung zurück auf die dogmatischen Grundlagen der Überprüfung von Gesetzen im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde, die das BVerfG im Elfes-Urteil gelegt hat. Demnach kann „jedermann [...] im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen, ein seine Handlungsfreiheit beschränkendes Gesetz gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung, weil es (formell oder inhaltlich) gegen einzelne Verfassungsbestimmungen oder allgemeine Verfassungsgrundsätze verstoße; deshalb werde sein Grundrecht aus Art 2 I GG verletzt.“ 72 Die Erweiterung des Prüfungsmaβstabs auf die Kompetenz- und Verfahrensvorschriften des Grundgesetzes gilt hier explizit nur für Gesetze 73. Lediglich die Norm, die der Freiheitseinschränkung zugrunde liegt, nicht aber die freiheitseinschränkende Einzelmaβnahme an sich ist am objektiven Verfassungsrecht zu messen.

 

V.) Eigener Lösungsansatz

Zusammenfassend ergibt sich für staatskirchenrechtliche Verfassungsbeschwerden folgender neuer Lösungsansatz:

Als Prüfungsmaßstab der Zulässigkeit kommen alleine die in § 93 I Nr. 4a GG abschließend aufgeführten Grundrechte und sonstigen Rechte in Betracht. Die Beschwerdebefugnis richtet sich also nur danach, ob die Möglichkeit der Verletzung eines solchen Rechtes – zumeist Art. 4 GG – gegeben ist. Somit können nur diejenigen inkorporierten Rechtspositionen der WRV Berücksichtigung finden, die auch in einem Grundrecht enthalten sind. Ist zwar ein subjektives Recht aus den WRV-Artikeln verletzt ist, aber dessen Gehalt nicht von einem Grundrecht umfasst, steht dem Beschwerdeführer dagegen nur der Rechtsweg nach Art. 19 IV GG 74 offen.

Im Rahmen der Begründetheit ist je nach Art und Prüfungsgegenstand der Verfassungsbeschwerde zu differenzieren: Bei Rechtssatzverfassungsbeschwerden, die sich direkt gegen ein Gesetz wenden, kann das BVerfG eine Prüfung auf Vereinbarkeit mit jeglichem Verfassungsrecht vornehmen. Somit sind die inkorporierten WRV-Artikel in vollem Umfang tauglicher Prüfungsmaßstab.

Bei Urteilsverfassungsbeschwerden, die sich gegen Hoheitsakte der Judikative und Exekutive richten, kann das BVerfG die zugrunde liegende gesetzliche Eingriffsgrundlage auf Vereinbarkeit mit jeglichem Verfassungsrecht und somit auch mit den inkorporierten WRV-Normen überprüfen. Die Einzelmaßnahme an sich, d. h. die Auslegung und Anwendung der Einzelmaßnahme, ist hingegen nur an den tatsächlich gerügten Grundrechten zu messen. Der Prüfungsmaßstab ist also identisch mit der Zulässigkeitsebene; die WRV-Artikel finden nur insoweit Beachtung, als sie von den geltend gemachten Grundrechten umfasst sind.


Fußnoten:

  1. Der Autor bedankt sich bei Herrn Dr. Philipp Reimer (Akademischer Rat a. Z. an der Universität Freiburg, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtstheorie, Prof. Dr. Matthias Jestaedt) für die Unterstützung bei Themenwahl und Themenausgestaltung sowie bei Herrn David Freudenberg (Studentische Hilfskraft am selben Lehrstuhl) für die konstruktive Diskussion.
  2. von Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Auflage, München 2006, S. 40.
  3. Jeand’Heur/Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, Stuttgartu.a. 2000, Rn. 1.
  4. BVerfGE 19, 206 (219).
  5. ibidem.
  6. vgl. Basistexte Öffentliches Recht, 13. Auflage, München 2011, S. 64.
  7. BverfGE 19, 129 (135).
  8. ibidem.
  9. BVerfGE 46, 73 (85).
  10. BVerfGE 42, 312 (322 f.).
  11. BVerfGE 42, 312 (326).
  12. BVerfGE 42, 312 (325 f.).
  13. BVerfGE 19, 206 (219).
  14. BVerfGE 83, 341 (354).
  15. BVerfGE 125, 39 (73).
  16. Neureither, Die jüngere Rechtsprechung des BVerfG im Kontext von Recht und Religion, in: NVwZ 2011, S. 1492 (1495).
  17. BVerfGE 102, 370 (387).
  18. BVerfGE 125, 39 (74).
  19. Rüfner, Modernisierung des Staatskirchenrechts durch Vergrundrechtlichung?, in: Sachs/Siekmann (Hrsg.), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat – Festschrift für Klaus Stern zum 80. Geburtstag, Berlin 2012, S. 573 (578 f.).
  20. Rüfner(Fn. 19), S. 579.
  21. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland IV/2, München 2011, S. 1174.
  22. Neureither(Fn. 16), S. 1496.
  23. Ehlersin: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Auflage, München 2011,Art. 140 Rn. 3,.
  24. Stern (Fn. 21), S. 965.
  25. Rüfner (Fn. 19), S. 576.
  26. Neureither (Fn. 16), S. 1495.
  27. ibidem.
  28. Morlok,Die korporative Religionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht nach

    Art. 140 GG/Art. 137 Abs. 3 WRV einschließlich ihrer Schranken, in: Heinig/Walter (Hrsg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?, Tübingen 2007, S. 185 (190, 194).

  29. Unruh, Religionsverfassungsrecht, Baden-Baden 2009, Rn. 4.
  30. Rüfner(Fn. 19), S. 587.
  31. Rüfner(Fn. 19), S. 588 f.
  32. Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, Berlin Heidelberg 2008, Rn. 26 f.
  33. Rüfner(Fn. 19), S. 589 f.
  34. Korioth in: Maunz/Dürig(Hrsg.), Grundgesetz – Kommentar, 42. Lieferung, München 2003, Art. 140 Rn. 13.
  35. Korioth(Fn. 34), Rn. 14.
  36. ibidem.
  37. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, Tübingen 2006, S. 295.
  38. So aber: Stern (Fn. 21), S. 1174.
  39. So aber: Heckel, Zur Zukunftsfähigkeit des deutschen „Staatskirchenrechts“ oder „Religionsverfassungsrechts“, in: AöR 134 (2009), S. 309 (326).
  40. So aber: Rüfner (Fn. 19), S. 580.
  41. Neureither (Fn. 16), S. 1495 f.
  42. Eine verbreitete Forderung in der Literatur; vgl. Kästner, Hypertrophie des Grundrechts auf Religionsfreiheit? in: JZ 1998, S. 974 (977).
  43. Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Auflage, Heidelberg u.a. 2011, Rn. 126.
  44. Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 90 Rn. 78.
  45. Hillgruber/Goos (Fn. 43), Rn. 106.
  46. Ruppert in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 2. Auflage, Heidelberg 2005, § 90 Rn. 62.
  47. Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 3. Auflage, München 1991, § 12 Rn. 28.
  48. von Campenhausen/de Wall (Fn. 1), S. 41.
  49. vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Auflage, Berlin u.a. 1995, S. 202.
  50. Neureither (Fn. 16), S. 1492.
  51. BVerfGE 42, 312 (325 f.).
  52. Görisch/Hartmann, Grundrechtsrüge und Prüfungsumfang bei der Verfassungsbeschwerde, in: NVwZ 2007, S. 1007 (1008 f.)
  53. Pieroth/Schlink, Grundrechte/Staatsrecht II, 28. Auflage, Heidelberg u.a. 2012, Rn. 1276.
  54. BVerfGE 33, 247 (258 f.).
  55. Borowski (Fn. 37), S. 337 f.
  56. Pieroth/Silberkuhl, Die Verfassungsbeschwerde, Münster 2008, § 90 Rn. 284.
  57. Hillgruber/Goos (Fn. 43), Rn. 91, 256 .
  58. Pestalozza (Fn. 47), § 12 Rn. 29.
  59. Rüfner (Fn. 19), S. 577.
  60. Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, 2. Auflage, Heidelberg 2001, Rn. 404.
  61. Benda/Klein (Fn. 60), Rn. 647.
  62. BVerfGE 33, 247 (259).
  63. Hömig in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 31. Lieferung, München 2009, § 95 Rn. 5.
  64. Benda/Klein (Fn. 60), Rn. 479.
  65. Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde, 3. Auflage, München 2006, Rn. 89.
  66. Hömig(Fn. 63), § 95 Rn. 5.
  67. Benda/Klein (Fn. 60), Rn. 647.
  68. Marsch, Die objektive Funktion der Verfassungsbeschwerde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: AöR 137 (2012), S. 592 (614).
  69. BVerfGE 33, 247 (259).
  70. Benda/Klein (Fn. 60), Rn. 647.
  71. BVerfGE 33, 247 (258 f.).
  72. BVerfGE 6, 32 (41).
  73. vgl. Marsch (Fn. 68),S. 614.
  74. vgl. Schmidt-Aßmann  in: Maunz/Dürig(Hrsg.), Grundgesetz – Kommentar, 42. Lieferung, München 2003,Art. 19 Abs. 4 Rn. 116.

Der baden-württembergische Religionsunterricht im Lichte des grundgesetzlichen Übereinstimmungsgebots

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von ref. jur. Elias Mößner 1

 

Als Ausfluss der Religionsfreiheit sowie des elterlichen (religiösen) Erziehungsrechts und systematisch im Grundrechtskatalog verortet, kommt dem Religionsunterricht eine erhebliche freiheitssichernde Bedeutung zu. In der staatlichen Institution Schule garantiert und eingerichtet, sichert er die sittlichen Grundlagen der Schülerschaft 2 und erhält hierdurch im Sinne Böckenfördes 3 sogar eine staatstragende Funktion. Als gemeinsame Angelegenheit von Staat und Kirchen kommt dem Religionsunterricht als rex mixta zudem eine Scharnierfunktion zwischen Staat und Religion zu, womit seine rechtliche Sonderstellung noch einmal unterstrichen wird. Deshalb bedarf dieses Rechtsinstitut aufgrund seiner Wichtigkeit auch eines klar strukturierten und ausdifferenzierten rechtlichen Rahmens, um effektiv eingerichtet und ausgeführt zu werden. Anhand der Art. 7 GG und Art. 18 LV haben Wissenschaft und Rechtsprechung ein System entwickelt, dessen Vorgaben den Unterricht auf einen soliden verfassungsgemäßen Grund stellen. Besonders prägend bei dieser Ausdifferenzierung war und ist das aus Art. 7 III 2 GG und Art. 18 S.2 LV resultierende Übereinstimmungsgebot. Nichtsdestotrotz bestehen in diesem staatskirchenrechtlichen Bereich manche Ungereimtheiten, die in Teilen der baden-württembergischen Praxis des Religionsunterrichts zu rechtlichen Problemen führen. Dem Übereinstimmungsprinzip folgend, sollen hier die damit verbundenen Fragestellungen ausgearbeitet werden.

Nach Art. 7 III 2 GG wird der Religionsunterricht „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt“. Auch gemäß Art. 18 S.2 LV wird der Unterricht „nach den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt“. Diese beiden Normen enthalten trotz der geringen Abweichung im Wortlaut die gleiche Aussage. Dies gebietet vor allem Art. 31 GG. Aus Art. 7 III 2 GG, 18 S.2 LV entspringt das Gebot, den Unterricht nach den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften zu erteilen. Aus dem Übereinstimmungsgebot ergeben sich grundlegende rechtliche Konsequenzen (A. – D.), welche für den Religionsunterricht zwingende Vorgaben entfalten.

A. Inhaltliche Verantwortung der Religionsgemeinschaften

Erste Konsequenz ist, dass die inhaltliche Verantwortung für den Religionsunterricht grundsätzlich den Religionsgemeinschaften obliegt. Die Grundsätze einer Religionsgemeinschaft können diese nämlich nur selbst festlegen. Deshalb ist der Staat in inhaltlicher Hinsicht auf die Vorgaben und die Zusammenarbeit mit den Religionsgemeinschaften angewiesen, da sich die zu transportierenden Unterrichtsinhalte an den Grundsätzen der Gemeinschaften auszurichten haben.

I. Einschränkungen der inhaltlichen Definitionshoheit der Religionsgemeinschaften

Es ist allerdings zu klären, ob die Definitionskompetenz der Religionsgemeinschaften hinsichtlich ihrer „Grundsätze“ nicht auch verfassungsrechtliche Grenzen erfährt. Diese können sich aus dem Konfessionalitätsprinzip (1.) und aus anderen entgegenstehenden Verfassungswerten ergeben (2.).

1. Konfessionelle Positivität und Gebundenheit

Mit den „Grundsätzen“ aus Art. 7 III 2 GG, 18 S.2 LV sind die zentralen Glaubenswahrheiten und Sittenlehren einer Religionsgemeinschaft gemeint. 4 Der Religionsunterricht soll darum in konfessioneller Positivität und Gebundenheit erteilt werden. 5 Nach dem BVerfG ist der Gegenstand des Religionsunterrichts „vielmehr der Bekenntnisinhalt, nämlich die Glaubenssätze der Religionsgemeinschaften. Diese als bestehende Wahrheiten zu vermitteln ist seine Aufgabe.“ 6 In Baden-Württemberg wurde das Konfessionsprinzip zusätzlich in § 96 II SchG gesetzlich festgeschrieben.

Nichtsdestotrotz wird fälschlicherweise mit Hinweis auf die Definitionshoheit der Religionsgemeinschaften über die „Grundsätze“ nach Art. 7 III 2 GG, 18 S.2 LV teilweise vertreten 7, dass der Religionsunterricht nicht in konfessioneller Gebundenheit erteilt werden muss. Vielmehr sollen auch Glaubensinhalte verkündet werden können, die nicht von den allgemeinen Lehren der Gemeinschaften gedeckt sind.

Hierbei muss jedoch beachtet werden, dass sich das Übereinstimmungsgebot nicht nur auf spezielle für den Religionsunterricht entwickelte Glaubenslehren, sondern auf die auch jenseits des Religionsunterrichts vertretenen Lehren der Glaubensgemeinschaften bezieht. 8 „Seine Ausrichtung an den Glaubenssätzen der jeweiligen Konfession ist der unveränderliche Rahmen, den die Verfassung vorgibt.“ 9 Es wäre inkonsequent, wenn man zum Zwecke des Religionsunterrichts zwei verschiedene Arten von „Grundsätzen“ einer Religionsgemeinschaft akzeptieren würde. Dies schließt jedoch auch nicht aus, dass die Religionsgemeinschaften aufgrund ihrer Definitionskompetenz ihre Grundsätze fortentwickeln können. 10 Auch beschränken sich die „Grundsätze“ nicht auf die eigenen Glaubenslehren. 11 Vor allem kann das Verlangen, der Unterricht müsse ein “dogmatischer” sein, zumindest heute nicht mehr so verstanden werden, dass er ausschließlich der Verkündigung und Glaubensunterweisung dienen soll. Er wird vielmehr auch als ein „auf Wissensvermittlung gerichtetes, an den höheren Schulen sogar wissenschaftliches Fach angesehen, das in die Lehre eines Bekenntnisses einführt, vergleichenden Hinweisen offenbleibt und zugleich Gelegenheit bietet, mit dem Schüler grundsätzliche Lebensfragen zu erörtern“ 12.

Ein Verzicht auf die Bekenntnisbindung würde aber den Verfassungsbegriff des Religionsunterrichts überschreiten. 13 Dies ist in Baden-Württemberg in mehrerlei Hinsicht problematisch.

a) Konfessionelle Kooperation von Katholischer und Evangelischer Kirche

In Baden-Württemberg wurde am 1. März 2005 die „Vereinbarung zwischen der Evangelischen Landeskirche in Baden, der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, der Erzdiözese Freiburg und der Diözese Rottenburg-Stuttgart zur konfessionellen Kooperation im Religionsunterricht an allgemein bildenden Schulen“ geschlossen. Hierdurch wurde die Grundlage zur Einführung des sog. konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts gelegt. Ob die in diesem Unterricht gelehrten Inhalte sich noch im Rahmen der Fortentwicklung der „Grundsätze“ bewegen, ist im Folgenden zu klären.

Festzustellen ist zuerst, dass nach Ziffer 2.2. Absatz 3 Satz 1 der Vereinbarung der Religionsunterricht jeweils im Wechsel von einer katholischen beziehungsweise evangelischen Lehrkraft gehalten werden soll. Weiter ist in Ziffer 2.2. Absatz 3 Satz 3 geregelt, das schulartspezifisch verbindliche Rahmen von den Kirchen erstellt werden sollen. Die von den Kirchen aufgestellten Rahmen 14 erklären jeweils für alle Schularten unter Ziffer 2.1. „für die evangelische Lehrkraft die Bildungsstandards des Bildungsplans Evangelische Religionslehre, für die katholische Lehrkraft die Bildungsstandards des Bildungsplans Katholische Religionslehre“ als „verbindlich.“ Daraus wird deutlich, dass die vermittelten Inhalte jeweils immer konkret einer Konfession zuzuordnen sind.

Nun wurde der Unterricht aber noch nicht einer Gesamtbetrachtung unterzogen. In seiner Gesamtheit ist der Unterricht jedoch in der Regel zur Hälfte katholisch und evangelisch gebunden. Hierbei ist nun schwerlich zu sagen, ob bei zwei nebeneinander bestehenden konfessionellen Bindungen in der Gesamtheit wirklich noch von einem konfessionell positiven und gebundenen Lehrfach die Rede sein kann. Wenn nämlich neben der eigenen Konfession eine andere gelehrt wird, dann kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die eigene Konfession noch positiv, also erkennbar im Unterrichtsinhalt wiedergefunden werden kann. Der Unterricht ist deshalb dann auch nicht mehr konfessionell gebunden. Der Schüler kann schwerlich zwei Herren dienen, ebenso wenig die Lehrkraft. Wenn beide Konfessionen gleichrangig behandelt werden, verliert der Unterricht seine spezifische Prägung. Der Unterricht muss somit vorwiegend von einer Religionsgemeinschaft inhaltlich bestimmt werden, ansonsten kann sie nicht mehr als dessen Auftraggeber bezeichnet werden.

Dass keine Konfession überwiegt, wird auch dadurch deutlich, dass im Zeugnis nicht allgemein die Note nur einer Konfession vermerkt wird. Stattdessen wird dem Schüler gemäß Ziffer 1.8. der aufgestellten Schulartsrahmen die Note im Zeugnis gemäß seiner Konfession mit dem Zusatz „der Unterricht wurde in konfessioneller Kooperation erteilt“ eingetragen.

Folglich ist diese Unterrichtsform nicht mehr konfessionell positiv und gebunden und damit verfassungswidrig. Wenn die beiden großen Konfessionen einen gemeinsamen Unterricht erteilen wollen, dann sollten sie zu einer einzelnen Religionsgemeinschaft fusionieren. Der Religionsunterricht ist laut Grundgesetz und Landesverfassung eine Veranstaltung einzelner Religionsgemeinschaften. Das Recht muss dabei keine Rücksicht auf die fehlende Klarheit in der Zusammenarbeit der beiden großen Konfessionen nehmen. Vielmehr sind diese gehalten, die rechtlichen Voraussetzungen zu schaffen, um die institutionelle Garantie der Art. 7 III 1 GG, 18 S.1 LV in Anspruch nehmen zu können. Darum kann es auch nicht ausreichen, wenn die beiden Konfessionen erklären, dass „es einen gemeinsamen Bestand an Glaubenslehren gibt, der im Religionsunterricht als verbindlich zugrunde gelegt werden kann“ 15.

b) Konfessionelle Kooperation der evangelischen Landeskirchen mit evangelischen Freikirchen

Soweit evangelischer Religionsunterricht von Mitgliedern evangelischer Freikirchen erteilt wird, ist die konfessionelle Gebundenheit und Positivität hingegen gewahrt, da diese Lehrkräfte den Unterricht nach dem Lehrplan und den Grundsätzen der Landeskirchen zu erteilen haben. 16 Zudem sind die Glaubensgrundsätze der beteiligten Kirchen in der Regel derart ähnlich, dass sie gleichermaßen mit dem Lehrplan vereinbar sind. 17 Beispiel hierfür ist eine Bekanntmachung des Kultusministeriums vom 10. Februar 1989 die auf eine mit Zustimmung der Landeskirchen erfolgte Erklärung der Evangelisch-methodistischen Kirche in Baden-Württemberg zurückgeht, welche genau diese Vereinbarkeit des evangelischen Lehrplans mit den Glaubensgrundsätzen der Freikirche bekräftigt. 18 Folglich wird auch durch diese Zusammenarbeit ein eindeutig konfessionell positiver und gebundener Unterricht der evangelischen Landeskirchen erteilt.

c) Islamische Religionslehre

Auf Initiative der Kultusministerin Schavan wurde 2001 eine Steuerungsgruppe mit Vertretern von vier sunnitischen und einer alevitischen Organisation sowie einem Vertreter des Ministeriums, einem Religionspädagogen und einem Erziehungswissenschaftler eingerichtet, die einen Lehrplan für das Fach „Islamische Religionslehre“ erarbeitet hat. 19 Da sich die Vertreter der alevitischen Strömung aus der Gruppe verabschiedet haben, kam es zu einer sunnitischen Prägung dieses Lehrfaches. Als Folge dieser Vorarbeiten wird in Baden-Württemberg seit Beginn des Schuljahres 2006/2007 an zwölf Grundschulen islamischer Religionsunterricht erteilt. 20 An zehn Standorten wird ein Islam sunnitischer Prägung vermittelt, an zwei wird alevitischer Islamunterricht abgehalten. 21 Der sunnitische Islamunterricht wurde 2010 an sechs der Grundschulen auch auf die dazugehörige Hauptschule für die Klassen 5 und 6 ausgeweitet sowie an fünf weiteren Grundschulen eingerichtet. 22

Problematisch ist aber, dass die Lehrpläne auf die vier übrig gebliebenen muslimischen Organisationen der Steuerungsgruppe zurückzuführen sind. Dies bedeutet, dass es unklar ist, ob alle vier Konfessionen in ihren Grundsätzen ausreichend im Unterrichtsinhalt repräsentiert sind. Vor allem bedarf die Schule eines Ansprechpartners, der bindend den Lehrplaninhalt festlegt und regelt. Die Steuerungsgruppe scheidet dabei als Ansprechpartner von vorneherein aus, da diese nur für die Einrichtung des Islamunterrichts geschaffen wurde und als staatliches Instrument nicht zugleich auch als religiöse Dachorganisation fungieren kann.

Während bei den freikirchlich-landeskirchlichen Kooperationen eindeutig die Landeskirchen den Inhalt des Unterrichts festlegen, müsste bei den islamischen Organisationen ebenso primär eine Konfession prägend und bindend den Lehrstoff festlegen, damit die konfessionelle Positivität und Gebundenheit gewährleistet ist.

aa) Islamische Glaubensgemeinschaft Baden-Württemberg e.V.

Mittlerweile haben sich drei der vertretenen Organisationen zur „Islamischen Glaubensgemeinschaft Baden-Württemberg e.V.“ (IGBW) zusammengeschlossen. Die IGBW sieht ihre Glaubenslehren aber nicht mehr durch die Lehrpläne der Steuerungsgruppe vermittelt. 23 Sie beklagt sogar, dass die Landesregierung massiv in die Religionsfreiheit der Muslime eingreife und den Muslimen gesetzlich zugesprochene Mitspracherechte einschränke, was für andere Konfessionen selbstverständlich nicht der Fall sei. 24 Es widerspreche dem staatskirchenrechtlichen Neutralitätsprinzip, wenn von staatlicher Seite aus Einfluss auf den Lehrplan genommen werde. 25 Diese Kritik ist berechtigt. Es fragt sich, weshalb der Staat sich um die Einrichtung eines überkonfessionellen Islamunterrichts kümmern sollte, wenn die Muslime doch die Freiheit haben, sich entsprechend zu organisieren, um dann den Religionsunterricht in der jeweiligen konfessionellen Prägung aus eigener Initiative heraus zu beantragen. Das staatskirchenrechtliche Neutralitätsgebot gilt auch gegenüber der muslimischen Bevölkerung, weshalb deren staatliche Bevormundung durch eine staatliche Steuerungsgruppe nicht hinzunehmen ist. Folglich ist der baden-württembergische Modellversuch schon in dieser Hinsicht als verfassungswidrig einzustufen. Nach alledem ist dann auch fraglich, ob mit der IGBW als Ansprechpartner noch eine überkonfessionelle Zusammenarbeit möglich ist.

bb) Religionsgemeinschaft des Islam – Landesverband Baden-Württemberg e.V.

Neben der IGBW befindet sich außerdem die „Religionsgemeinschaft des Islam – Landesverband Baden-Württemberg e.V.“ (RG Islam BW) in der Steuerungsgruppe. Trotz aller nachträglichen Ablehnung hat auch die IGBW die Lehrpläne miterarbeitet und bleibt darum auf Augenhöhe neben der RG Islam BW bestehen. Da zwischen IGBW und RG Islam BW inhaltlich tiefe Diskrepanzen bestehen, kann auch nicht davon auszugehen sein, dass die RG Islam BW als Ansprechpartner die Inhalte festlegt und somit Garant für die konfessionelle Gebundenheit des Islamunterrichts ist. Wie bei der konfessionellen Kooperation zwischen katholischer und evangelischer Kirche, ist im Lehrplan nicht mehr zu erkennen, ob dieser nun vorwiegend von der IGBW oder der RG Islam BW geprägt ist. Folglich ist auch aus diesem Grunde der Islamunterricht wegen mangelnder Konfessionalität verfassungswidrig.

d) Alevitische Religionslehre

Nach ihrem Austritt aus der Steuerungsgruppe haben die Aleviten daraufhin einen eigenen Lehrplan erstellt. Nach Angaben der „Alevitischen Gemeinde Deutschlands e.V.“ soll der alevitische Religionsunterricht mittlerweile an über zwölf Grundschulen in Baden-Württemberg eingerichtet worden sein. 26 Beim alevitischen Religionsunterricht ist der Konfessionsgrundsatz gewahrt, da mit der „Alevitischen Gemeinde Deutschlands e.V.“ ein (einziger) Ansprechpartner existiert, welcher für seine Mitglieder die Lehrinhalte verbindlich und repräsentativ festlegen kann.

2. Verfassungskonformität des Inhalts

Gemäß der verfassungsrechtlichen Schranken ist ein „Mindestmaß an Loyalität gegenüber den verfassungsrechtlichen Grundwerten“ 27 vom Religionsunterricht zu fordern. 28 Ein Maßstab dafür bietet Art. 79 III GG. 29 Insbesondere dürfen im staatlich veranstalteten Religionsunterricht keine Inhalte gelehrt werden, die im Zuge der praktischen Konkordanz mit Grundrechten Dritter und anderen mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtsgütern nicht mehr in einen möglichst schonenden Ausgleich zu bringen sind 30.

Beim islamischen Unterricht können Zweifel an der Vereinbarkeit einiger Lehren des Islam mit dem Grundgesetz vorgebracht werden. Als besonders problematische Inhalte sind anzuführen: die mangelnde Gleichberechtigung von Mann und Frau, das islamische Strafsystem, die Apostasie, die Intoleranz gegenüber fremder Religionen sowie die Forderung nach einer Einheit von Staat und Religion. 31

An den Lehrplänen lässt sich überprüfen, ob deren Inhalte im Widerspruch zum Grundgesetz stehende Lehren umfassen.

a) Islamische Religionslehre

Im Lehrplan für den islamischen Religionsunterricht werden keine eindeutigen Aussagen zugunsten der grundgesetzlichen Grundwerte getroffen. Jedoch wird sich in einigen Passagen eines Vokabulars bedient, das in Richtung verfassungsfreundlicher Ziele weist. So „wissen die Schülerinnen und Schüler, dass wir in einer vielfältigen Gesellschaft und Welt leben und die Menschen unterschiedlich denken und glauben“, „dass, jeder Mensch frei ist und dass zum Glauben die Freiheit gehört“ sowie „dass, je mehr wir über die eigene Religion wissen, desto mehr können wir andere schätzen“ 32. Ebenso gibt es eine „Grundbotschaft Mohammeds als fundamental universale Grundrechte“ 33. Ferner ist für Klasse 4 ein Themenfeld „Frauen der ersten Stunden und im Leben“ vorgesehen, in welchen „Bedeutende Frauen der Geschichte, die als Vorbilder im Islam Verehrung finden“ behandelt werden. 34 Da auch sonst keine im Gegensatz zum Grundgesetz stehenden Formulierungen in dem Papier zu finden sind, ist davon auszugehen, dass im islamischen Religionsunterricht keine verfassungswidrigen Inhalte gelehrt werden.

b) Alevitische Religionslehre

Die „Alevitische Gemeinde Deutschland e.V.“ hat für den Islamunterricht alevitischer Prägung einen eigenen Lehrplan erstellt. 35 Für diesen Unterricht wurde als Zielsetzung festgehalten, dass „im ARU die Menschenrechte im Grundgesetz vermittelt werden“ sollen. „Die Kinder werden“ zudem „angeleitet zu erkennen, dass die alevitischen Werte und Vorstellungen mit den grundgesetzlichen Werten konform sind (Wertevermittlung).“ 36 Ebenso heißt es: „Die Schülerinnen und Schüler sollen in diesem Unterricht die Gleichberechtigung der Mädchen und Jungen konkretisieren und verinnerlichen (Gleichberechtigung)“ und „Sie werden dazu befähigt, ihren Glauben, Traditionen und ihre Kultur gegenüber ihren Mitschülerinnen und Mitschülern zu vertreten und gleichzeitig deren Anderssein zu verstehen und zu akzeptieren. (Interreligiöser Dialog).“ 37 Diese Zielsetzungen bezeugen, dass im Falle des alevitischen Islamunterrichts inhaltliche Bedenken nicht angebracht sind.

II. Lehrplan und Schulbücher

Aus der inhaltlichen Verantwortung folgen auch maßgebliche Mitbestimmungsrechte der Religionsgemeinschaften bei der Erstellung der Lehrpläne und der Lehrmethoden sowie der Einführung von Lehrbüchern und anderen Lernmitteln. 38 Teilweise wird in diesen Fragen von einem Alleinbestimmungsecht des Staates ausgegangen. 39 Selbst wenn man dieser falschen Auffassung zustimmen würde, hätte der Staat in Baden-Württemberg aber auf sein Alleinbestimmungsrecht verzichtet. In § 98 SchG wird nämlich festgelegt, dass die Religionsgemeinschaft den Lehrplan aufstellt und die Religionsbücher bestimmt.

III. Die Beauftragung der Lehrkräfte

Auf Verfassungsebene ergibt sich die Notwendigkeit, den Religionslehrer zur Unterrichtserteilung durch die Religionsgemeinschaften bevollmächtigen zu lassen, aus dem Übereinstimmungsgebot. 40 Dieses Erfordernis wurde in der Literatur aber auch verneint. 41 Eine Begründung hierfür war, dass der Wortlaut des Art. 7 III 2 GG dies nicht erforderlich mache. Das Grundgesetz fordere lediglich eine inhaltliche Übereinstimmung mit den „Grundsätzen“ der Religionsgemeinschaften, nicht aber einen Konsens betreffend der Lehrkräfte. 42 In Art. 18 S.2 hat die Landesverfassung diese Meinungsverschiedenheit zugunsten der Erforderlichkeit einer Bevollmächtigung entschieden. Unter der Regelung des Art. 18 S.2 LV, der Religionsunterricht wird durch „Beauftragte“ der Religionsgemeinschaften „erteilt“, ist eine geistliche Beauftragung zu verstehen. 43 Diese Erweiterung der grundgesetzlichen Vorgaben durch das Landesverfassungsrecht ist zulässig, da sie die Ausgestaltung des Religionsunterrichts regelt und der Bundesverfassung im Sinne von Art. 31 GG nicht widerspricht.

Die Beauftragung der Lehrkräfte stellt einen Rechtsakt dar, der sich innerhalb der Religionsgemeinschaften abspielt. Die Erlangung der Beauftragung kann deshalb nicht über den staatlichen Rechtsweg verfolgt werden.

In Baden-Württemberg ist diese Beauftragung auf katholischer Seite die Missio canonica und auf evangelischer Seite die Vocatio.

1. Missio canonica

Die Missio canonica wird vom zuständigen Diözesanbischof (can. 805 CIC) beim Vorliegen folgender Voraussetzungen verliehen. Nach can. 804 § 2 CIC hat der Ortsordinarius darum bemüht zu sein, dass sich die bestellten Religionslehrer durch Rechtgläubigkeit, durch das Zeugnis christlichen Lebens und durch pädagogisches Geschick auszeichnen. Gemeindereferenten, Pastoralreferenten, Diakone und Priester besitzen die Missio canonica schon aufgrund ihres Dienstes. 44 Andere Personen müssen einen Antrag stellen. 45 Der Antrag ist mit dem Versprechen verbunden „den Religionsunterricht in Übereinstimmung mit der Lehre der Kirche glaubwürdig zu erteilen und in der Lebensführung die Grundsätze der Lehre der katholischen Kirche zu beachten“. 46 Ebenso muss der Lehrer nachweisen, dass seine Familienverhältnisse aus katholischer Sicht korrekt organisiert sind und dass er aktiv am Leben der Kirche teilnimmt. 47

2. Vocatio

Die Erteilung der Vocatio erfolgt grundsätzlich durch den Oberkirchenrat. 48 Sie erfordert die Mitgliedschaft einer evangelischen Landeskirche 49 oder ausnahmsweise einer Freikirche 50, eine dafür erforderliche Ausbildung 51 und dass der Lehrer bereit ist, den Religionsunterricht nach Bekenntnis und Ordnung der jeweiligen Landeskirche zu erteilen 52. Als geeignete Ausbildung gelten jedenfalls staatlich anerkannte Studiengänge mit konfessionellem Bezug. 53

IV. Aufsichtsrecht der Religionsgemeinschaften

Da den Religionsgemeinschaften im Grundsatz die inhaltliche Verantwortung für den Religionsunterricht zusteht, müssen sie auch die Aufsicht darüber führen dürfen, ob die Lehrinhalte beachtet werden. 54 § 99 I SchG besagt, dass diese Aufsicht durch religionspädagogisch erfahrene Beauftragte der Religionsgemeinschaften wahrgenommen werden soll. Dabei haben sie das allgemeine Aufsichtsrecht des Staates über die organisatorischen schulrechtlichen Angelegenheiten zu beachten. Nur so können die beiden in Art. 18 S.2. LV eingeräumten Aufsichtsrechte miteinander in Einklang gebracht werden. Die Ansicht 55 den Religionsgemeinschaften stehe kein Aufsichtsrecht zu, kann aufgrund des Wortlauts von Art. 18 S.2 LV somit nicht überzeugen. Ohne ein inhaltliches Aufsichtsrecht der Religionsgemeinschaften, könnte außerdem die Sicherung des Übereinstimmungsgebots nicht gewährleistet werden.

V. Teilnehmerkreis

Fraglich ist, inwieweit aus Art. 7 III 2 GG, Art. 18 S.2 LV ein Homogenitätsprinzip bezüglich der Zusammensetzung der Schülerschaft folgt. Zum Teil wird ein solches Homogenitätsprinzip direkt aus dem verfassungsrechtlichen Begriff des Religionsunterrichts hergeleitet. 56 Demnach darf die unterrichtliche Einwirkung nicht weiter reichen als die Konfessionszugehörigkeit der Schüler. 57 Dem könnte man entgegenhalten, dass die Zusammensetzung der Schülerschaft weder den Lehrplan ändert, noch die Lehrkraft daran hindert die Glaubensinhalte zu vermitteln. Dies wiederum ruft den Einwand hervor, dass die Zusammensetzung des Teilnehmerkreises „unabdingbare Rückwirkungen auf die inhaltliche Gestaltung und die Art und Weise der Darbietung der jeweiligen Glaubenslehre“ hat 58, da der Unterricht immer die Interaktion zwischen Lehrer und Schüler bedingt und konfessionsfremde Schüler mit höherer Wahrscheinlichkeit die Vermittlung der Glaubenslehre „bremsen“ können. Die Religionsgemeinschaften haben daher zu entscheiden wer (außer den Schülern der eigenen Konfession) am Religionsunterricht teilnehmen darf. Auch das BVerfG hat anerkannt, dass die Zulassung konfessionsfremder Schüler verfassungsrechtlich unbedenklich ist, solange der Unterricht dadurch nicht seine Prägung als konfessionell gebundene Veranstaltung verliert. 59 Dies wäre jedenfalls dann der Fall, wenn die Hälfte der Schüler nicht mehr der unterrichteten Konfession angehört. Innerhalb dieses Rahmens können die jeweiligen Religionsgemeinschaften über die Teilnahme konfessionsfremder Schüler entscheiden, da diese Entscheidung in den inhaltlichen Verantwortungsbereich des Religionsunterrichts fällt. Dem widerspricht auch Art. 16 I 2 LV nicht, welcher besagt, dass in christlichen Gemeinschaftsschulen der Unterricht mit Ausnahme des Religionsunterrichts gemeinsam erteilt wird. Art. 16 I 2 LV will für den Religionsunterricht kein Homogenitätsprinzip bestimmen, sondern in allen anderen Fächern den gemeinsamen Unterricht vorschreiben. Für den Religionsunterricht macht Art. 16 I 2 LV darum keine bindenden Vorgaben. Bei Teilnahme fremdkonfessioneller Schüler ist jedoch noch die Zustimmung der Religionsgemeinschaft des Schülers einzuholen. 60

Dem entspricht auch die kirchliche Praxis in Baden-Württemberg. So existieren einerseits Vereinbarungen der Landeskirchen mit den Diözesen, welche die Zulassungen von Schülern der anderen Konfession regeln. Jüngstes Beispiel ist die Vereinbarung über den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht. Unter Ziffer 1 der Vereinbarung wird sogar gesagt, dass der konfessionelle Unterricht für jeden konfessionsfremden Schüler offen ist und dass die evangelische beziehungsweise die katholische Kirche den Schülern der jeweils anderen Konfession die Teilnahme am eigenen Religionsunterricht anbietet, wenn der Unterricht der anderen Konfession nicht erteilt wird. Andererseits wurden von den Landeskirchen Vereinbarungen mit evangelischen Freikirchen geschlossen, in denen die Teilnahme freikirchlicher Schüler am Religionsunterricht erlaubt wurde. So wurden von Seiten der badischen Landeskirche mit der Evangelisch-methodistischen Kirche 61 und der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Baden 62 vereinbart, dass deren Schüler am evangelischen Religionsunterricht teilnehmen dürfen. Die Evangelische Landeskirche in Württemberg hat 1984 mit dem Bund Freier evangelischer Gemeinden, dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden und der Evangelisch-methodistischen Kirche eine Vereinbarung 63 geschlossen, die unter Ziffer II. die Teilnahme der Schüler der betroffenen Freikirchen am evangelischen Religionsunterricht gestattet.

VI. Konfessionelle „Trias“

Die Konfessionalität wird also zusammenfassend durch den gelehrten Unterrichtsstoff, die konfessionelle Gebundenheit der Lehrkraft und die Zusammensetzung der Schülerschaft gewährleistet, was gemeinhin als konfessionelle „Trias“ bezeichnet wird. 64

B. Religionsunterricht als gemeinsame Angelegenheit

Da der Staat den Religionsunterrichts veranstaltet und die inhaltliche Verantwortung grundsätzlich bei den Religionsgemeinschaften liegt, ergibt sich als zweite Konsequenz aus dem Übereinstimmungsgebot, dass der Religionsunterricht eine sog. gemeinsame Angelegenheit ist, also eine Aufgabe, die in die primäre Wahrnehmungskompetenz des Staates fällt, aber ebenso die Interessensphäre der Religionsgemeinschaften betrifft 65. Der Religionsunterricht wird daher als rex mixta bezeichnet, bei der beide Partner zu ihrem Teil Verantwortung tragen 66, was zur Folge hat, dass der Unterricht nur durch Kooperation und gegenseitige Rücksichtnahme der Beteiligten sachgerecht ausgestaltet werden kann. 67

C. Rechte aus dem Übereinstimmungsgrundsatz

Aus dem Übereinstimmungsgrundsatz werden zum Dritten auch subjektive Rechte hergeleitet. So steht den Religionsgemeinschaften ein Recht auf die inhaltliche Bestimmung des Religionsunterrichts nach deren Glaubensgrundsätzen zu, wenn er bereits eingerichtet wurde. 68 Weitergehend wird auch vertreten, dass ein subjektives Recht gegen den Staat auf inhaltliche Übereinstimmung auch den Schülern beziehungsweise deren Erziehungsberechtigten zusteht. 69 Dem ist in allen Fällen zuzustimmen. Vor allem kann ein subjektives Recht der Schüler beziehungsweise der Erziehungsberechtigten nicht mehr mit dem Hinweis auf die notwendige Mitarbeit der Religionsgemeinschaften abgelehnt werden, da bei einem bereits eingerichteten Unterricht die Grundsätze von den Religionsgemeinschaften schon definiert wurden.

D. Anforderungen an unterrichtsberechtigte Religionsgemeinschaften

Aufgrund ihrer inhaltlichen Definitionshoheit muss auch geklärt werden, welche Anforderungen an den Begriff der Religionsgemeinschaft nach Art. 7 III 2 GG, 18 S.2 LV zu stellen sind. Eine Religionsgemeinschaft wird allgemein definiert als ein Verband, der die Angehörigen ein und desselben Glaubensbekenntnisses oder mehrerer verwandter Glaubensbekenntnisse für ein Gebiet zur allseitigen Erfüllung der durch das gemeinsame Bekenntnis gestellten Aufgaben zusammenfasst. 70

I. Geltung auch für Weltanschauungsgemeinschaften

Grundsätzlich muss es jeder Religionsgemeinschaft möglich sein, Religionsunterricht zu erteilen, da die Art. 7 III 2 GG, 18 S.2 LV keine Gemeinschaft ausschließen. Nach Art. 140 GG, 137 VII WRV werden die Weltanschauungsgemeinschaften den Religionsgemeinschaften gleichgestellt. Diese Gleichstellung gilt ebenso für den Religionsunterricht. 71 Die für die Religionsgemeinschaften verbindlichen Anforderungen gelten somit entsprechend auch für Weltanschauungsgemeinschaften.

II. Gewähr der Dauer

Art. 140 GG, 137 V WRV fordern, dass die Religionsgemeinschaften durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten. Um den dauerhaften Bestand zu gewähren, müssen darum gewisse Mindestanforderungen von den Gemeinschaften erfüllt werden. Vor allem muss ein berechenbarer Partner gefunden werden 72, der mit Verbindlichkeit zu sprechen und zu handeln in der Lage wäre 73. Hierbei ist es nach allgemeiner Auffassung angemessen, die an eine Umwandlung in eine öffentlich-rechtliche Körperschaft gestellten Anforderungen nach Art. 140 GG, 137 V WRV auch an die nach Art. 7 III 2 GG, 18 S.2 LV berechtigten Gemeinschaften zu stellen. 74 Im Sinne einer konstruktiven Zusammenarbeit zwischen Staat und Religionsgemeinschaften, gebietet zudem der Vorbehalt des Möglichen, dass gewisse Mindestanforderungen hinsichtlich der Organisation der zum Unterricht berechtigten Religionsgemeinschaften verlangt werden.

1. Ansprechpartner

Um die Grundsätze nach Art. 7 III 2 GG, 18 S.2 LV zu definieren, bedeutet dies insbesondere, dass die Religionsgemeinschaft eine befugte Instanz besitzen muss, deren Legitimität durch eine institutionell hinreichend geordnete Struktur begründet wird, die ihrerseits die Vertretungsmacht regelt sowie die Kompetenz einschließt, für die Gemeinschaft rechtsverbindliche Erklärungen abzugeben und die sich aus Art. 7 III GG, 18 LV ergebenden Aufgaben wahrzunehmen. 75. Bei Religionsgemeinschaften, die als e.V. organisiert sind, ist dies relativ unproblematisch, da nach § 26 BGB der Vorstand sowohl nach außen als auch von innen – mittels seiner Wahl durch die Mitgliederversammlung – her legitimiert ist, für die Religionsgemeinschaft rechtsverbindlich zu sprechen.

2. Mitglieder

Die Mindestanzahl der Mitglieder muss so beschaffen sein, dass die Gemeinschaft eine gewisse Bedeutung für das öffentliche Leben in Baden-Württemberg hat, was gemeinhin bei einem Tausendstel der baden-württembergischen Bevölkerung angenommen wird. 76 Mit dem geforderten Mindestmitgliederbestand ist dann schon ein Mindestmaß an organisatorisch-institutioneller Verfasstheit indiziert. 77

Vor allem aber muss jederzeit verlässlich geklärt werden können, wer Mitglied der Religionsgemeinschaft ist, da die Art. 7 III 2 GG, 18 S.2 LV jeden konfessionsgebundenen Schüler dazu verpflichten, am Religionsunterricht seiner Gemeinschaft teilzunehmen. 78

3. Bestehenszeitraum

Die Gewähr der Dauer kann nur eine Gemeinschaft leisten, welche schon eine gewisse Zeit besteht. Sie muss ihre Kontinuität unter Beweis gestellt haben, da die einfache Erklärung, man wolle in Zukunft ewig bestehen, keinerlei Rechtssicherheit bietet. Der Staat benötigt bei der Einrichtung des Religionsunterrichts jedoch einen verlässlichen und vertrauenswürdigen Partner. Verlässlichkeit und Vertrauen sind aber Dinge, die „erarbeitet“ werden müssen. Dafür scheint ein Zeitraum von 30 Jahren angemessen, da dies in etwa einem Generationenwechsel entspricht. 79 Ein längerer Zeitraum würde neue Religionen unzulässig benachteiligen, während ein kürzerer Zeitraum die Gefahr birgt, dass vergängliche „Modereligionen“, die dem aktuellen Zeitgeist entspringen, berücksichtigt werden. Die Zeitgrenze sollte aber nicht als starres Kriterium verstanden werden, da dann auch die Entwicklung der religiösen Strömung vor deren Institutionalisierung berücksichtigt werden kann, wenn diese bis dahin schon als abgrenzbare, beständige Gruppierung existiert hat.

4. Hinreichende Finanzstärke

Die Dauerhaftigkeit der Religionsgemeinschaft muss auch in finanzieller Hinsicht gewährleistet sein. 80 Dies ergibt sich schon aus dem Erfordernis des Gläubigerschutzes aufgrund der Insolvenzunfähigkeit öffentlich-rechtlicher Körperschaften. 81 Die Gemeinschaft muss demnach über ein ausreichend hohes sowie schuldenfreies Grundvermögen verfügen und ihre Zahlungsfähigkeit durch laufende Einnahmen sichern. 82 Dabei muss die Finanzierung überwiegend auf die Mitglieder zurückzuführen sein, da im Falle einer vorherrschenden Fremdfinanzierung der Charakter als autarke, selbständige Religionsgemeinschaft in Frage gestellt würde 83.

III. Rechtsform der Religionsgemeinschaften

Weiter ist zu klären welche Rechtsform eine Religionsgemeinschaft im Sinne der Art. 7 III 2 GG, 18 S.2 LV benötigt. Die h.M. sieht richtigerweise vom Erfordernis der öffentlich-rechtlichen Körperschaft ab. 84 Eine Mindermeinung 85 hingegen betrachtet die Konstitution als Körperschaft des öffentlichen Rechts für notwendig im Sinne von Art. 7 III 2 GG. Der Körperschaftsstatus wird vor allem im Hinblick auf die enge Kooperationsbeziehung von Staat und Religionsgemeinschaft gefordert. 86 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass die h.M. ebenso die Anforderungen stellt, die für eine Verleihung des Status nach Art. 140. GG, 137 V WRV gelten. 87 Danach stellt das Erfordernis, sich als Körperschaft des öffentlichen Rechts zu organisieren, lediglich eine formaljuristische Spitzfindigkeit dar. Ob die Möglichkeit sich über Art. 140. GG, 137 V WRV öffentlich-rechtlich zu organisieren von einer Religionsgemeinschaft in Anspruch genommen wird, kann hier keine Rolle spielen, da dies dem Grundsatz der staatskirchenrechtlichen Parität zuwiderlaufen würde. Aus den Regelungen des Grundgesetzes ist nirgendwo zu entnehmen, dass die Eigenschaft als öffentlich-rechtliche Körperschaft eingerichtet zu sein, Bedingung für die Errichtung des Religionsunterrichts nach Art. 7 III 2 GG ist. Vielmehr kann der Verzicht auf die öffentlich-rechtliche Institutionalisierung auch Ausdruck der Religionsfreiheit der Gemeinschaften sein. Diese besser zu entfalten ist das Ziel der öffentlich-rechtlichen Körperschaft im Staatskirchenrecht, nicht deren Einschränkung.

Trotz alledem ist es aufgrund der notwendigen Kooperationsfähigkeit einer Religionsgemeinschaft nötig, dass diese sich überhaupt rechtlich organisiert, da sie sonst nicht am Rechtsverkehr teilnehmen kann. Hierfür ist die Rechtsfähigkeit nach Bürgerlichem Recht ausreichend 88, Art. 140 GG, 137 IV WRV.

IV. Vereinbarkeit mit den grundlegenden Verfassungswerten

Das BVerfG fordert für die Anerkennung einer Glaubensgemeinschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts die Rechtstreue ohne eine darüber hinausgehende Staatsloyalität. 89 Diese Rechtsprechung soll nach der Ansicht Frischs 90 auch auf die Bedingungen für die Einführung von Religionsunterricht anwendbar sein. Dies ist auch nur konsequent, wenn man an die Religionsgemeinschaften ohnehin die Anforderungen nach Art. 140 GG, 137 V WRV stellt. Demnach darf die Glaubensgemeinschaft vor allem die in Art. 79 III GG umschriebenen fundamentalen Verfassungsprinzipien, die dem staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des freiheitlichen Religions- und Staatskirchenrechts nicht gefährden. 91 Es wäre staatlicherseits schwer zu vertreten, wenn der Staat im Religionsunterricht „Grundsätze“ einer Religionsgemeinschaft vermittelt, die den Staat als dessen Veranstalter mitsamt seinen tragenden Prinzipien in Frage stellt. Freilich muss auch nicht gefordert werden, dass die Glaubensinhalte der Religionsgemeinschaften mit der weltlichen Verfassung inhaltlich übereinstimmen müssen. 92 Die Einhaltung der vom BVerfG aufgestellten Anforderungen, zumindest im staatlichen Bereich, ist jedoch eine aus dem Charakter des Religionsunterrichts als staatliche Veranstaltung folgende Voraussetzung für eine Religionsgemeinschaft im Sinne der Art. 7 III 2 GG, 18 S.2 LV. Dies entspricht auch der Ansicht Heckels 93, der lediglich die Anerkennung der grundlegenden Verfassungswerte voraussetzt.

V. Probleme bei islamischen Religionsgemeinschaften

Die soeben genannten Voraussetzungen stellen gerade im Hinblick auf den islamischen Religionsunterricht ein viel diskutiertes Problem dar. Aufgrund der konfessionellen und ethnischen Zersplitterung der Muslime in Deutschland und deren bisher nur wenig fortgeschrittenen Organisationsgrades fehlt dem Staat sowohl für den Islam als Ganzes, als auch auf konfessioneller Ebene, eine verbindliche kooperationsfähige Instanz. 94 Bestes Beispiel dafür ist die von einigen muslimischen Vertretern verlassene Steuerungsgruppe des Kultusministeriums, in welcher sich die beiden übrigen Organisationen ebenfalls nicht hinreichend vertreten wissen.

Ferner mag man auf verfassungsfeindliche Tendenzen unter muslimischen Gruppierungen verweisen. Die entworfenen Lehrpläne sprechen jedoch eine andere Sprache. Da das Gesetz dem Bürger Vertrauen entgegenbringt, indem es erst einmal davon ausgeht, dass die Bevölkerung rechtstreu auf dem Boden der Verfassung steht, muss angenommen werden, dass die islamischen und alevitischen Organisationen nicht die Beseitigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bezwecken. Für einen solchen Verdacht haben die Vereine durch ihre Äußerungen bisher keine tragfähigen Angriffspunkte geliefert, weshalb unbedenklich von deren Verfassungsreue ausgegangen werden kann. Trotzdem muss auf die organisatorischen Schwierigkeiten noch näher eingegangen werden.

1. Islamischer Religionsunterricht

Wie oben bereits dargelegt 95, ist die Frage des Ansprechpartners beim Islamunterricht sunnitischer Prägung nicht geklärt.

Ferner sind die RG Islam BW und die IGBW zwar beide als e.V. organisiert, geben aber keine öffentlichen Angaben über ihre Mitgliederzahl. Bei der IGBW kommt hinzu, dass sie in erster Linie als Dachverband für mehrere Einzelorganisationen fungiert. Zudem bestehen die meisten Moscheevereine, welche in den beiden Organisationen als Mitglied registriert sind, lediglich aus kaum mehr als den sieben Gründungsmitgliedern, welche nach § 56 BGB für eine Vereinsgründung notwendig sind. 96 Damit ist eine verlässliche Klärung der Mitgliedschaft muslimischer Schüler erheblich erschwert bis unmöglich, um den konfessionsgebundenen Schüler „seinem“ Religionsunterricht zuzuweisen. Folglich erfüllen diese beiden Mitgliedsvereinigungen der Steuerungsgruppe das gemäß Art. 140. GG, 137 V WRV nötige personelle Mindestmaß an Organisation nicht.

Des Weiteren können sich im Hinblick auf die Bestandszeit von 30 Jahren weder die IGBW noch die RG Islam BW nach Art 140 GG, 137 V WRV qualifizieren.

Folglich sind die beiden Organisationen hinter dem sunnitischen Religionsunterricht gemäß Art. 140. GG, 137 V WRV verfassungsrechtlich nicht hinreichend qualifiziert, um die inhaltliche Verantwortung für einen Religionsunterricht nach Art 7 III 2 GG, 18 S.2 LV zu übernehmen, da sie nicht die Gewähr der Dauer bieten.

2. Alevitischer Religionsunterricht

Die Aleviten als Träger eines eigenen Religionsunterrichts haben hingegen einen relativ hohen Organisationsgrad. 97 So kann die Alevitische Gemeinde Deutschlands e.V. ihre Anhänger auf mindestens 255.000 Personen beziffern. Zudem ist das „Kulturzentrum anatolischer Aleviten in Berlin“ im Jahre 2002 vom Berliner Senat als Religionsgemeinschaft anerkannt worden, weshalb auch damit zu rechnen ist, dass die Alevitische Gemeinde bald auch vom Land Baden-Württemberg anerkannt wird. Zudem ist die Alevitische Gemeinde Deutschlands schon 1986 gegründet worden, so dass man, wenn man die alevitische Entwicklung in Deutschland vor diesem Zeitpunkt berücksichtigt, davon ausgehen kann, dass sich diese Glaubensrichtung schon über eine Generation hinweg etabliert hat und darum die Gewähr der Dauer nach Art. 140. GG, 137 V WRV bietet. Selbst, wenn man starr auf die 30 Jahre abstellt, wären sie in Kürze – nämlich im Jahr 2016 – fähig, Körperschaft des öffentlichen Rechts zu werden.

E. Konklusion

Das verfassungsrechtlich garantierte Institut entwickelte in jüngster Zeit eine religiöse Pluralität, welche bei der Gründung des Landes wohl nicht absehbar war. 98 Dabei ist zu beachten, dass der sog. konfessionell-kooperative Unterricht zwischen Katholischer und Evangelischer Kirche sowie der multikonfessionelle Islamunterricht sunnitischer Prägung verfassungswidrig sind und damit im Rechtswege zu Fall gebracht werden können. Hierbei hätten Land und Kirchen sowie die islamischen Religionsgemeinschaften besonnener agieren müssen, da dieser verfassungsrechtliche Missstand erheblichen politischen und religiösen Zündstoff birgt. Die Vertreter aus Politik und Religion sind daher gut beraten, wenn sie diese Fehler korrigieren und den baden-württembergischen Religionsunterricht insgesamt auf verfassungsmäßigen Boden stellen.

Ansonsten bestehen im Hinblick auf das Übereinstimmungsprinzip lediglich rudimentäre Besonderheiten gegenüber den anderen Bundesländern, wie die geistliche Beauftragung durch die Religionsgemeinschaften nach Art. 18 S.2 LV, § 99 I SchG oder § 98 SchG. Auffällig ist aber, dass sich der Gesetzgeber in § 96 II SchG eindeutig für das Konfessionsprinzip entschieden hat, in der rechtlichen Praxis jedoch überkonfessionelle Kooperationen zulässt, welche diesem Prinzip widersprechen.


Fußnoten:

  1. Der Autor hat 2012 das 1. Juristische Staatsexamen in Freiburg i.B. abgelegt und promoviert gerade im strafrechtlich-kriminologischen Bereich an der Universität Potsdam.
  2. Mückl, Stefan: Staatskirchenrechtliche Regelungen zum Religionsunterricht, AöR 122 (1997), 513-556 (518).
  3. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt, 2. Auflage, Frankfurt a. M. 1992, S.112.
  4. Link, Christoph: Religionsunterricht, in: Listl, Josep / Pirson, Dietrich: Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschlands- Zweiter Band, 2. Auflage Berlin 1995 (im Folgenden: Link), 439-509, (489).
  5. Anschütz, Gerhard: Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Auflage, Berlin 1933 (im Folgenden: Anschütz), Art. 149 Anm.4 (S.691).
  6. BVerfGE 74, 244 (252).
  7. Pieroth, Bodo: Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Öffnung des Religionsunterrichts, ZevKR 38 (1993), 189-202 (194ff.).
  8. Frisch, Michael: Grundsätzliches und Aktuelles zur Garantie des Religionsunterrichts im Grundgesetz,

    ZevKR 49 (2004), 589-638 (625).

  9. BVerfGE 74, 244 (253).
  10. Link, S. 490.
  11. Frisch, ZevKR 49 (2004), 589 (625).
  12. BVerfGE 74, 244 (253).
  13. Hildebrandt, Uta: Das Grundrecht auf Religionsunterricht, Tübingen 2000, S. 234.
  14. Namentlich: 1. Verbindlicher Rahmen für den Konfessionell-Kooperativen Religionsunterricht an allgemein bildenden Gymnasien 2. Verbindlicher Rahmen für den Konfessionell-Kooperativen Religionsunterricht an Realschulen 3. Verbindlicher Rahmen für den Konfessionell-Kooperativen Religionsunterricht an Hauptschulen und Hauptschulen mit Werkrealschulen 4. Verbindlicher Rahmen für den Konfessionell-Kooperativen Religionsunterricht an Grundschulen
  15. So aber Winter, Jörg: Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Auflage, Köln 2008, S.138.
  16. Ziffer 3. Vocationsordnung EK Baden; Ziffer I. A Nr.4 Vereinbarung über die Erteilung des Unterrichtsfachs Evangelischen Religionslehre durch die Mitglieder einer Freikirche und über die Teilnahme von Schülern, die einer Freikirche angehören, am evangelischen Religionsunterricht (EKWü).
  17. Vgl. Frisch, ZevKR 49 (2004), 589 (626).
  18. Wortlaut der relevanten Passagen bei Frisch, ZevKR 49 (2004), 589 (626 Fn.226).
  19. PM des Kultusministeriums Baden-Württemberg vom 15.03.2005.
  20. PM des Kultusministeriums Baden-Württemberg vom 18.07.2007.
  21. Dto.
  22. PM des Kultusministeriums Baden-Württemberg vom 29.07.2010.
  23. PM IGBW vom 22.12.2005.
  24. Dto.
  25. Dto.
  26. http://alevi.com/de/religionsunterricht/aru-in-ba-wu/ (31.3.2013).
  27. Link, S. 502.
  28. Mückl, 513 (535).
  29. Vgl. BVerwG 123, 49 (73f.); Germann, Michael in: Epping, Volker / Hillgruber, Christian: Grundgesetz – Kommentar, München 2009, Art. 7 Rn. 62.
  30. Mückl, AöR 122 (1997), 513 (535).
  31. Füssel, Hans-Peter / Nagel, Tilman: Islamischer Religionsunterricht und Grundgesetz, EuGRZ 1985, 497-502 (498ff.).
  32. Bildungsstandards Islamische Religionslehre Grundschulen Klasse 2, 4; Ziffer II. Klasse 2 Dimensionen Nr.7.
  33. Dto., Ziffer II. Klasse 4 Dimensionen Nr.3.
  34. Dto., Ziffer II. Klasse 4 Themenfelder Nr.7.
  35. Bildungsstandards für alevitische Religionslehre (Islamische Religionslehre alevitischer Prägung) Grundschulen Klasse 2, 4, S. 7ff.
  36. Dto., S. 4.
  37. Dto.
  38. Mückl, AöR 122 (1997), 512 (529).
  39. von Drygalski, Reinart: Die Einwirkungen der Kirchen auf den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, Göttingen 1967 (im Folgenden: Drygalski), S. 71.
  40. Mückl, AöR 122 (1997), 512 (529f.).
  41. Drygalski, S. 88f.
  42. Dto.
  43. Rumpf, Bruno:                Ist Religionsunterricht an den Volksschulen in Baden-Württemberg eine kirchliche Veranstaltung?, DÖV 1968, 14-16 (15f.).
  44. Art.2 Missio-Ordnung Erzbistum Freiburg.
  45. Art.4 Missio-Ordnung Erzbistum Freiburg.
  46. Art.3 S.1 Missio-Ordnung Erzbistum Freiburg.
  47. Art.3 S.2, 3 Missio-Ordnung Erzbistum Freiburg.
  48. Ziffer 1. Vocationsordnung EK Baden, § 3 I Vokationsordnung EKWü.
  49. Ziffer 2.1. Vocationsordnung EK Baden, § 2 I Nr.1 Vokationsordnung EKWü.
  50. Ziffer 3. Vocationsordnung EK Baden, § 3 II Vokationsordnung EKWü.
  51. Ziffer 2.2. Vocationsordnung EK Baden, § 2 I Nr.2 Vokationsordnung EKWü.
  52. Ziffer 2.4. Vocationsordnung EK Baden, § 2 I Nr.3 Vokationsordnung EKWü.
  53. § 10 RUG EK Baden, Ziffer 4 Ausführungsbestimmungen zur Vokationsordnung EKWü.
  54. Bosse, Wolfgang / Reip, Stefan: Schulrecht Baden-Württemberg – Kommentar zum Schulgesetz, 13. Auflage, Stuttgart 2005, § 97 Rn. 6.
  55. Drygalski, S. 95ff.
  56. Maunz, Theodor in: Maunz, Theodor / Dürig, Günter: Grundgesetz, Art. 7 Rn. 52, Lfg. September 1980.
  57. Dto.
  58. BVerfGE 74, 244 (248).
  59. BVerfGE 74, 244 (253).
  60. Link, S. 494.
  61. Ziffer B. II. Vereinbarung der Evangelisch-Methodistischen Kirchen und der Evangelischen Landeskirche in Baden, April 1995.
  62. Vgl. Ziffer III. Gemeinsame Erklärung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Baden und der Evangelischen Landeskirche in Baden aus Anlaß des 175jährigen Unionsjubiläums, 8. Oktober 1996.
  63. Vereinbarung über die Erteilung des Unterrichtsfachs Evangelische Religionslehre durch die Mitglieder einer Freikirche und über die Teilnahme von Schülern, die einer Freikirche angehören, am evangelischen Religionsunterricht, 1984.
  64. Mückl, Stefan: Freiheit kirchlichen Wirkens, in: Isensee, Josef / Kirchhof, Paul: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland – Band VII – Freiheitsrechte, 3. Auflage, Heidelberg 2009, § 161 Rn. 29.
  65. Jeand’Heur, Bernd / Korioth, Stefan: Grundzüge des Staatskirchenrechts, Stuttgart, München, Hannover, Berlin, Weimar, Dresden 2000 Rn. 290; Freiherr von Campenhausen, Axel / de Wall, Heinrich: Staatskirchenrecht, 4. Auflage, München 2006, S. 196.
  66. Feuchte, Paul: Verfassung des Landes Baden-Württemberg – Kommentar, Stuttgart, Köln, Berlin, Mainz 1987, Art. 18 Rn 10.
  67. Link, S. 489.
  68. Gröschner, Rolf in: Dreier, Horst: Grundgesetz Kommentar – Band I – Artikel 1-19, 2. Auflage, Tübingen 2004, Art. 7 Rn. 90.
  69. Mückl, AöR 122 (1997), 513 (533).
  70. Anschütz, Art 137 Anm. 2 (S. 633); Hillgruber, Christian: Islamische Gemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts? – Voraussetzungen und (Rechts-)Folgen, KuR 2011, 225-247 (231).
  71. Robbers, Gerhard in: von Mangoldt, Hermann / Klein, Friedrich, Starck, Christian: Kommentar zum Grundgesetz – Band 1: Präambel, Artikel 1 bis 9, 6. Auflage, München 2010 (im Folgenden: MKS), Art. 7 Rn. 152.
  72. Korioth, Stefan: Islamischer Religionsunterricht und Art. 7 III GG, NVwZ 1997, 1041-1049 (1047).
  73. Frisch, Michael: Grundsätzliche und aktuelle Aspekte der grundgesetzlichen Garantie des Religionsunterrichts, DÖV 2004, 462-471 (470).
  74. Link, S. 500.
  75. Link, S. 501.
  76. Hillgruber, KuR 2011, 225-247 (235); Muckel, Stefan: Muslimische Gemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, DÖV 1995, 311-317 (515).
  77. Vgl. Hillgruber, KuR 2011, 225 (236).
  78. Hillgruber, KuR 2011, 225 (236).
  79. Vgl. Hennig, Wiebke: Muslimische Gemeinschaften im Religionsverfassungsrecht, Baden-Baden 2010 (im Folgenden: Hennig), S. 103; Hillgruber, KuR 2011, 225 (236f).
  80. Hillgruber, KuR 2011, 225 (237).
  81. Dto.
  82. Dto.
  83. Dies ist vor allem bei der Türkisch-Islamischen Union (DITIB) problematisch, da diese der türkischen Religionsbehörde, mithin dem türkischen Staat, unterstellt ist, vgl. Hillgruber, KuR 2011, 225 (229, 242).
  84. Robbers in: MKS, Rn. 151; Link, S. 500.
  85. Korioth, NVwZ 1997, 1041 (1046); Hillgruber, Christian: Staat und Religion, DVBl. 1999, 1155-1178 (1176).
  86. Korioth, NVwZ 1997, 1041 (1046ff.).
  87. Robbers in: MKS, Rn. 151; Link, S. 500.
  88. Dto.
  89. BVerfG 102, 370 (395ff.).
  90. Frisch, ZevKR49 (2004), 589 (636f.).
  91. Frisch, ZevKR49 (2004), 589, (636f.); BVerfGE 102, 370 (392).
  92. Heckel, Martin: Religionsunterricht für Muslime?, JZ 1999, 741-758 (748f.).
  93. Heckel, JZ 1999, 741 (749).
  94. Link, S. 501.
  95. Siehe oben: A. I. 1. c).
  96. Hennig, S. 33.
  97. Stössel, Hendrik: Staatskirchenrechtliche Aspekte des islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen im Licht der Empfehlungen des Wissenschaftsrates vom Januar 2010, KuR 2011, 113-125 (120).
  98. So wird auch jüdischer Religionsunterricht und ein Religionsunterricht der Syrisch-orthodoxen Kirche von Antiochien angeboten (LT Drs. 14/222). Ferner soll auch altkatholischer Religionsunterricht eingerichtet sein [Grümme, Bernhard / Pirner, Manfred L.: Religion unterrichten in Baden-Württemberg, Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 5 (2006), 199-210 (202)].

Am Anfang war der Mord – Betrachtungen zur Kain und Abel-Geschichte (Genesis 4, 1-22) aus strafrechtlich-kriminologischer Sicht

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von ref. jur. Linn Katharina Döring 1

 

I. Einleitung: Die „wohl bekannteste Geschichte der Welt“

Die Erde ist gerade erschaffen worden, da geschieht schon der erste Mord: Kain erschlägt seinen Bruder Abel.

Nicht nur am Anfang der Bibel findet sich das Brudermordmotiv. Der Thematik des Brudermords bzw. -totschlags begegnet man in der Geistes- und Kulturgeschichte aller Zivilisationen. So tötet Romulus seinen Bruder Remus im Romgründungsmythos, Seth ermordet seinen Bruder Osiris im altägyptischen Osirismythos, Franz und Karl in Schillers „Die Räuber“ buhlen beide auf sich gegenseitig zerstörende Weise um die Gunst ihres despotischen Vaters und in der mythischen Überlieferung der Osterinsel besiegt König Hotu Matua seinen Bruder Oroi. Das Kainsmotiv hat sogar Eingang in die Biologie gefunden. So bezeichnet der Kainismus das in der Vogelwelt vorkommende Phänomen, dass das erstgeborene Vogelbaby sein später schlüpfendes Geschwisterchen aus dem Nest wirft 2.

Die Beispiele können fortgeführt werden. Es handelt sich um ein archetypisches Geschehen 3, das in vielfältiger Weise rezipiert wurde und noch wird. In dem Steinbeckschen Epos „Jenseits von Eden“ wird die Kain und Abel-Erzählung als „wohl bekannteste Geschichte der Welt“ 4 bezeichnet.

Die Bedeutung des Brudermordmotivs kann aber nicht nur literarisch, religiös und kulturgeschichtlich erschlossen werden. Genesis 4 ist schließlich auch einer der ersten Versuche der Menschheit, Antworten zu finden auf die Fragen, wie Kriminalität entsteht und wie auf sie reagiert werden kann.

Kann uns Strafrechtswissenschaftlern und Kriminologen die Kain und Abel-Sage in Ergänzung zu unseren anerkannten Kriminalitätstheorien und Strafzweckerwägungen helfen, das Spannungsfeld zwischen Opfern, Tätern, Ursachen und Konsequenzen auszuloten?

Im Anschluss an den Genesistext folgen zehn Thesen, in denen versucht wird aufzuzeigen, was diese uralte Geschichte uns – unabhängig vom persönlichen Glauben oder Unglauben – heute noch strafrechtswissenschaftlich zu sagen hat.

 

II. Der Text Genesis 4, 1-22 in der Einheitsübersetzung:

Adam erkannte Eva, seine Frau; sie wurde schwanger und gebar Kain. Da sagte sie: Ich habe einen Mann vom Herrn erworben. 2 Sie gebar ein zweites Mal, nämlich Abel, seinen Bruder. Abel wurde Schafhirt und Kain Ackerbauer. 3 Nach einiger Zeit brachte Kain dem Herrn ein Opfer von den Früchten des Feldes dar; 4 auch Abel brachte eines dar von den Erstlingen seiner Herde und vorn ihrem Fett. Der Herr schaute auf sein Opfer, 5 aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht. Da überlief es Kain ganz heiß, und sein Blick senkte sich. 6 Der Herr sprach zu Kain: Warum überlauft es dich heiß, und warum senkt sich dein Blick?

7 Nicht wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblicken; wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über ihn! 8 Hierauf sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld! Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn. 9 Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er entgegnete: Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders? 10 Der Herr sprach: Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden. 11 So bist du verflucht, verbannt vom Ackerboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruders aufzunehmen. 12 Wenn du den Ackerboden bestellst, wird er dir keinen Ertrag mehr bringen. Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein. 13 Kain antwortete dem Herrn: Zu groß ist meine Schuld, als dass ich sie tragen könnte. 14 Du hast mich heute vom Ackerland verjagt und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen; rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein, und wer mich findet, wird mich erschlagen. 15 Der Herr aber sprach zu ihm: Darum soll jeder, der Kain erschlägt, siebenfacher Rache verfallen. Darauf machte der Herr dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde. 16 Dann ging Kain vom Herrn weg und ließ sich im Land Nod nieder, östlich von Eden.

17 Und Kain erkannte eine Frau; sie wurde schwanger und gebar Henoch. Kain wurde Gründer einer Stadt und benannte sie nach seinem Sohn Henoch. 18 Dem Henoch wurde Irad geboren; Irad zeugte Mehujaël, Mehujaël zeugte Metuschaël und Metuschaël zeugte Lamech. 19 Lamech nahm sich zwei Frauen; die eine hieß Ada, die andere Zilla. 20 Ada gebar Jabal; er wurde der Stammvater derer, die in Zelten und beim Vieh wohnen. 21 Sein Bruder hieß Jubal; er wurde der Stammvater aller Zither- und Flötenspieler. 22 Auch Zilla gebar, und zwar Tubal-Kajin, der die Geräte aller Erz- und Eisenhandwerker schmiedete. Die Schwester Tubal-Kajins war Naama.

 

III. Betrachtungen in zehn Thesen

1. These: Das Menschenbild in Genesis 4: Der freie Wille

Die Geschichte von Kain und Abel folgt kurz nach der Vertreibung Adam und Evas aus dem Paradies und ist zwingend in diesem Zusammenhang zu lesen. Erst nach der Vertreibung muss die Menschheit mit Tod, Arbeit und Misserfolg zurechtkommen. Der Mensch ist mit der harten Realität konfrontiert, die wir auch heute noch kennen.

Mit dem Essen vom Baum der Erkenntnis und der darauf folgenden Vertreibung aus dem Paradies sind die ersten Menschen auch frei und autonom geworden 5. Sie müssen sich selbst in der paradiesfremden Welt organisieren, Verantwortung für sich und die Umwelt übernehmen und sich dafür gegenseitig Regeln und Gesetze geben. Die Menschen wissen jetzt, was gut und böse ist. Sie besitzen den freien Willen und ein Gewissen. Und so ist exemplarisch auch Kains spätere Tat eine bewusste, geplante und eben keine Affekttat. Der Mensch in Genesis 4 ist von Anfang an kein reines Opfer seiner Umstände. Kain ist nicht schon durch seine Geburt schicksalhaft zum Totschläger bestimmt – wie es oftmals in der griechischen Mythologie (z. B. Ödipussage) der Fall ist. Diese der Geschichte zugrunde liegende Prämisse des verantwortungsfähigen, zu freiem Willen berufenen Menschen wird heutzutage nicht selten, u. a. durch die Hirnforschung und Genetik, in Frage gestellt. Sie ist aber unabdingbar für unser bisheriges Strafrechtssystem, das auf den Glauben an die Lern- und Besserungsfähigkeit, die sog. Resozialisierungsfähigkeit des Menschen, aufbaut. Das Menschenbild in Genesis 4 ist also mit dem Unsrigen insofern (noch) kongruent.

 

2. These: Am Anfang war der Totschläger – Von der Normalität und Abnormalität des Verbrechens

Als erster Mensch in der neuen paradiesfernen, aber freien Realität wird Kain geboren (vgl. Vers 1). Und dieser erste menschlich gezeugte Mensch wird zum Totschläger.

Man könnte auch provokant sagen: Am Anfang der Menschheit stand der Gewalttäter bzw. die Gewalt. Die menschliche Zivilisationsgeschichte in der Bibel begann mit dem Verbrechen am eigenen Bruder. Vermutlich setzten sich auch von den ersten Menschen zunächst einmal gerade solche durch, die sich durch genügende Aggressions- und Tötungsbereitschaft auszeichneten.

Der biblische Text stellt nun von Anfang an den Täter in den Mittelpunkt. Das kennen wir von der medialen Berichterstattung, die in ihren Schlagzeilen oftmals den brutalen Täter ins Rampenlicht rückt und das Opfer als austauschbare Nebensache behandelt. Das Opfer vergeht in der Öffentlichkeit, so wie Abel (hebräisch für: Hauch 6) verweht.

Dennoch ist Genesis 4, obwohl zunächst einmal eine Tätergeschichte, auffällig wertneutral.

Kain ist zunächst ein Mensch wie jeder andere. Seine, nicht die Geburt des Opfers Abels veranlasst seine Mutter sogar zu einem Jubelruf: „Ich habe einen Mann erschaffen“ (vgl. Vers 1). Der Theologe Ebach drückt es so aus: „Kain – das ist nicht der „andere“, der „Böse“, der, der die „unmenschliche Tat“ verübt hat. Er ist in gewissem Sinne der Mensch – Identifikationsfigur unserer Lektüre.“ 7

Kain ist erschreckend normal, sodass man auch provokativ sagen könnte, der Mörder ist normal. Das kommt Durkheims These von der „Normalität des Verbrechens“ 8 nahe. Kain und Abel sind nicht von ungefähr zwei blutsverwandte Brüder. Die Bruderschaft wird auch mit der Menschlichkeit und Nähe der Menschen zueinander schlechthin belegt. Die psychologische, zivilisationsgeschichtliche und soziologische Nähe zum Verbrecher und Verbrechen, der wir ohne es zu wollen unterliegen 9, wird durch die Kain und Abel-Geschichte exemplarisch. So stammen wir alle u. a. von Kain, der am Ende der Geschichte Nachkommen zeugt, ab.

Die Kain und Abel-Geschichte macht uns aber auch bewusst, dass die Zivilisation in unserer westlichen Hemisphäre heutzutage in der Regel nicht von Verbrechen und Gewalt dominiert wird.  Dies zeugt von einer Errungenschaft unserer Zivilisation, die wir nicht weniger betonen könnten als die Beispiele menschlicher Entgleisungen und Gewalt um uns herum.

 

3. These: Ein Kulturkonflikt?  – Nomadische Hirten gegen sesshafte Ackerbauern

Wie aber kommt es zur Gewalt?

Kain wird sesshafter Ackerbauer, Abel dagegen nomadischer Schafhirt (vgl. Vers 2). Damit verfolgen beide Brüder neben unterschiedlichen Berufen auch ganz unterschiedliche Lebenskonzepte. Es ist daher denkbar, dass diese kulturelle Andersartigkeit der Brüder zu Misstrauen oder Unverständnis geführt hat. In diese Kerbe schlagen Theorien, die die Geschichte von Kain und Abel kulturgeschichtlich als gewaltsamen Konflikt zwischen nomadischen Hirten und sesshaften Ackerbauern deuten 10. So wird der Name Kain mit den Kenitern im Zusammenhang gesehen, eine Volksgruppe, die sich durch ein tätowiertes Stammeszeichen – Ursprung des Kainsmals – gekennzeichnet haben soll. Der Konflikt unterschiedlicher Lebensweisen oder Kulturen von Menschen, der notfalls gewaltsam ausgetragen wird, ist aber auch ohne diese geschichtliche Deutung hinreichend ersichtlich. Das Anderssein des Anderen erzeugt Misstrauen und Vorurteile, die sich im Falle von eigenem beruflichem oder privatem Misserfolg zu blutigem Hass und Eifersucht auswachsen können.

Zwar ist Auslöser des Konflikts die von Gott versagte Anerkennung, eine tiefere Ursache könnte aber auch in der Unterschiedlichkeit und fehlenden Akzeptanz der Brüder bzw. Kulturen untereinander wurzeln.

Das ist indessen sehr spekulativ, bietet aber Raum zur Frage, ob die langfristig bewusste Annäherung und geübte Toleranz zum andersartigen Menschenbruder nicht u. U. den Konflikt entschärft hätte.

 

4. These: Mit der Ungerechtigkeit fängt es an: wirtschaftliche Ungleichheit, Misserfolg und emotionale Zurückweisung als (Mit-)Ursache für Kriminalität

Zwischen Abel und Kain spielt sich aber auch ein wirtschaftlicher Konflikt ab. Hier richtet sich der wirtschaftlich weniger erfolgreiche Kain gewaltsam gegen den erfolgreicheren Abel. Auslöser der Tat und entscheidendes Motiv des Totschlags ist schließlich die fehlende Annahme von Kains Opfer.

Interessanterweise gibt der Text keinerlei Gründe für die Bevorzugung Abels an 11. War Gott etwa Anti-Vegetarier, dass er das Tieropfer dem Pflanzenopfer vorzog?

Die Lücke im Text erscheint zutiefst unbefriedigend, sodass sich über den Text hinweg Auslegungen herausgebildet haben, die entweder die notwendige gläubige Einstellung Kains beim Opfern bestreiten oder darauf verweisen, dass Kain anderweitig (bspw. durch die Mutter) bevorzugt worden ist 12. Ist Kain das Mamakind, so ist Abel eben das vom (göttlichen) Vater geliebte Kind.

Das Suchen nach Gründen der unterschiedlichen Behandlung ist menschlich verständlich und schafft Entlastung. So rechtfertigen wir Juristen eine Ungleichbehandlung nach der sog. Willkürformel in Art. 3 GG nur, sofern sich ein sachlich einleuchtender Grund für die unterschiedliche Behandlung finden lässt 13. Der bloße Bibeltext indessen schweigt zum Grund von Kains Misserfolg. Juristisch wäre damit die Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt. Soweit die juristische Theorie. Unsere menschliche Realität sieht indessen anders aus. Wir haben noch immer keine befriedigende Antwort darauf, warum dem einen Erfolg und Glück wiederfährt und dem anderen eben nicht, obgleich der eine nach unserer Auffassung umso viel mehr den Erfolg verdient hätte. Der eine wird arm geboren, der andere reich; der eine leidet an einer vererbten Krankheit, der andere nicht. Damit beschreibt die Bibel den Grundkonflikt des Menschen in der Welt, der unter anderem auch die Rechtswissenschaft um- und antreibt: den der nicht zu erklärenden und (bisher) unlösbaren Ungerechtigkeit in der Welt. Die Kain und Abel-Geschichte versucht diese Ungerechtigkeit nicht zu erklären, sie stellt sie in den Raum – und die Menschheit muss mit ihr zurechtkommen. Kain kommt mit ihr nicht zurecht, er wird kriminell.

Die Ungerechtigkeit macht die Kriminalität verständlich – nicht entschuldbar – und womöglich wahrscheinlicher. So knüpfen gerade die sog. Anomietheorien 14 an die unterschiedlichen Zugangschancen zu Anerkennung und Erfolg an: Aus dem Druck und der Frustration, mit den gewählten Mitteln (Opfergabe von Feldfrüchten) das Ziel, Bestätigung und Anerkennung, nicht erreichen zu können, aus dem Auseinanderklaffen von Arbeit und Erfolg folgt das Mittel der Gewalt u. a. in der Hoffnung die gesteckten Ziele erreichen zu können. Ist der Konkurrent tot, wird mir als Übriggebliebenem vielleicht der Erfolg des Getöteten zuteil?

5. These: Die politische Dimension: Alternative Reaktionsmöglichkeiten auf Ungerechtigkeit -Rechtsschutz, Meinungs- und Versammlungsfreiheit und politische Mitbestimmung

Aber „nicht die Frage, warum einer Erfolg hat, der andere nicht, ist das Problem, für das Kains Tat steht, sondern die Frage, wie ein Mensch damit umgeht, dass der andere Erfolg hat“ 15.

Die Ungerechtigkeit in der Welt ist erst einmal gegeben, sie gibt uns immer wieder zu denken. Sie mag Kriminalität verständlich machen. Dennoch ist sie keine Entschuldigung für die selbst gewählte Straftat. So sagt Gott zu Kain in Genesis 4, 16: „Du kannst über die Sünde Herr werden.“ Im hebräischen Urtext verweist das Wort „timschal“ („du kannst“) auf die Wahlmöglichkeit des Menschen, auf die Ungerechtigkeit nicht mit Gewalt zu reagieren. Gott traut dem Menschen eine andere Reaktionsmöglichkeit zu. Der in drei Versen ausgeführte moralische Konflikt Kains ist daher Zentrum der Geschichte und betont die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen. Kain muss nicht zum Totschläger werden. Diese Wahlmöglichkeit stellt sich für jeden einzelnen Straftäter in spe. Schafft er es, seine Frustration nicht an den unschuldig Begünstigten, Schwachen oder Sündenböcken gewaltsam auszuleben, sondern sich mit den Gegebenheiten abzufinden oder sich produktiv gegen die Zustände zu richten? Das Aushalten von Ungerechtigkeit ist eine Herausforderung, wenn nicht eine Zumutung für den Einzelnen. Und es stellt sich die schwierige Frage, ob die Wahlmöglichkeiten für die weniger Begünstigten denn nicht doch eingeschränkter und verkürzter sind als für die Menschen auf der Sonnenseite des Lebens.

 Aber ganz so devot muss der Einzelne gerade heutzutage nicht sein. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Rechtsschutz und Demokratie bestehen. Jeder Bürger hat das Recht zu klagen, sich bemerkbar zu machen durch sein Wahlrecht, durch sein Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Kain hätte in unserer heutigen Gesellschaft gegen seine Benachteiligung protestieren können, Gott anklagen können. Und wir Bürger hätten das in Solidarität mit Kain auch tun können. Das ist eine Errungenschaft unserer Zivilisation, die die Ungerechtigkeit aber auch die Straftat zu einer öffentlichen Sache macht. Der Kain und Abel-Mythos kennt den „Gottesaufstand“ noch nicht. Die Betrachtung der Kain und Abel-Geschichte bietet aber Anlass, diese alternative Reaktionsmöglichkeit als politische Dimension zu reflektieren.

Freilich ist aber ein Aufstand gegen emotionale Benachteiligung schwer möglich. Kann Kain Gott vorwerfen, dass er Abel lieber hat? Insofern ist zwischen Ungerechtigkeit in menschlichen Beziehungen bzw. fehlender Liebe und Ungerechtigkeiten im rechtlichen und wirtschaftlichen Sinne zu unterscheiden. Die Kain und Abel-Geschichte trägt beiden Dimensionen Rechnung als Geschichte eines Eifersuchtsdramas, aber auch einer Geschichte eines wirtschaftlich-kulturellen Konkurrenzkampfes.

Auf der Beziehungsebene wäre zwar eine politisch-rechtliche Reaktion verfehlt, aber zumindest wäre eine Kommunikation mit dem göttlichen Vater möglich, wie dies Hiob in Kapitel 38 tut 16. Kain hätte Gott fragen können: „Warum hast du sein Opfer angenommen und nicht meines? Was kann ich tun, dass du auch mein Opfer annimmst?“ Das hätte vielleicht nicht zu einer Gleichbehandlung geführt, aber den Beziehungskonflikt eventuell entschärft.

 

6. These: Die Präventionsarbeit: Teilnahmsvolle Begleitung statt abschreckender Gefährderansprache

Gott jedenfalls tritt mit Kain vor der Tat in Kontakt. Er appelliert an Kain in Vers 7: „Du, werde Herr über ihn (den Dämon der Sünde in dir)“. Diese Warnung kommt im Kontext zunächst zwiespältig rüber. Es erinnert an die grundrechtseinschränkenden sog. Gefährderansprachen, bei denen als für die Begehung von Straftaten gefährdet eingestufte Jugendliche oder Hooligans speziell aufgesucht werden, um sie so von Straftaten abzuschrecken. Der Gott in der Geschichte fragt Kain aber wenigstens nach den Gründen für seine Frustration („Warum senkt sich dein Blick?“, vgl. Vers 6). Er ist durchaus gesprächsbereit und interessiert an Kain, wenn er auch nicht von sich aus Antworten auf die Ungleichbehandlung gibt. Kain antwortet nicht auf die Frage Gottes, vielleicht, weil es ihm schwerfällt, seine Enttäuschung und Scham über den Misserfolg einzugestehen, vielleicht auch, weil sein Vertrauen in den göttlichen Vater erschüttert ist oder zwischen beiden nie eine ernsthafte Beziehung bestand.

Die Kain und Abel-Geschichte könnte man auch als Familiengeschichte begreifen und fragen: Wo sind Adam und Eva? Kümmern sie sich um den frustrierten Kain? Delinquentes Verhalten wird nicht zufällig oft in Verbindung mit mangelnder Erziehung, Kontrolle (s. Kontrolltheorien 17) und Lernvorbildern gesehen, die im familiären Umfeld wurzeln. Hier erscheint für uns eine gesellschaftliche und familiäre Dimension, nämlich der Appell, die Beziehungsbereitschaft zum Einzelnen zu stärken, nach den Voraussetzungen, Gründen von Frustration und Gewaltbereitschaft zu fragen und weniger abschreckend als mitfühlend zu reagieren. Die Kain und Abel-Geschichte ist auch eine Geschichte von versuchter, wenn auch misslungener Präventionsarbeit.

Die permanente Überwachung des gefährdeten Kain ist indessen kein Thema von Genesis 4. So könnte man sich ja auch fragen, warum ein allwissender und allmächtiger Gott nicht einfach Mittel und Wege gefunden hat, Kain ruhigzustellen, so wie es die Tendenz unserer Gesellschaft ist, Straftäter und psychisch Kranke in Gefängnissen und psychiatrischen Kliniken auf Dauer wegzusperren.

Die Ursachen für Kains Niederlage gegen die Aggression lassen sich spekulativ weiter betrachten. Die Geschichte macht insgesamt deutlich, dass Kriminalität nicht vom Himmel fällt. Oft ringen die Täter lange mit sich, bis sie auf die „schiefe Bahn“ gelangen. Und in diesem Ringkampf inmitten ungünstiger Umstände, seien sie familiärer, beruflicher, kultureller oder auch psychischer Natur, gibt es Möglichkeiten – viel stärker als Gott es in der Geschichte tut -, auf den Täter einzuwirken, sodass sich ein potentieller Täter schließlich doch anderen Menschen öffnet und seiner Aggression Herr werden kann. „Unsere Aufgabe ist es, die Kains und Hiobs in unserer Nähe zu sehen und vor ihrem Elend nicht davonzulaufen.“ 18

 

7. These: Opferschutz: Die Solidarität mit dem Opfer hat Vorrang!

Was aber passiert, wenn jede Prävention nichts genutzt hat? Der Totschlag ist dennoch geschehen. Gott fragt zunächst einmal: „Wo ist dein Bruder Abel?“ (vgl. Vers 9). Gott leidet mit Abel 19. Solidarität und Sorge gelten zuallererst dem Opfer. Das ist nicht selbstverständlich. So hat es in unserer Gesellschaft einiger Anstrengungen strafrechtspolitischer Natur bedurft, den Opferschutz im Strafverfahren auszubauen. Das Opfer ist noch immer medial kaum präsent.  Oder kann man sich die Schlagzeile „Das Blut des Opfers schreit“ vorstellen? Wohl eher ist vom Blut des Täters die Rede.

Insofern ist auch die Kain- und Abel-Geschichte nicht nur eine Tätergeschichte, sie ist auch eine Geschichte von der Solidarität mit den Opfern. Das ergibt sich aus dem überraschend emotionalen Ruf in Vers 10: „Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden.“ Das Leid des Opfers ist zum Schreien, es lässt einen nicht kalt. Es ist auch therapeutisch für das einzelne Opfer bzw. seine Angehörigen ungemein wichtig, dass sich die Gesellschaft auf die Seite des Opfers stellt und ihm, soweit noch möglich, beisteht. Die Anteilnahme oder die Auseinandersetzung mit dem Täter ist demgegenüber eindeutig nachrangig. Das ist eine wichtige Erkenntnis aus Genesis 4, die exemplarisch für das Gottesverständnis des Christen- und Judentums ist. So ist dieser Jahwe ein Gott, der sich ganz besonders den Schwachen und Opfern verschreibt.

Ein opferbezogenes Strafrecht bedeutet aber auch, dass das Opfer bzw. seine Angehörigen nicht mit dem Strafverfahren, das sie eventuell nicht allein stemmen könnten, belastet werden. In Genesis 4 rächen nicht Adam und Eva ihren Sohn Abel. Gott als Instanz eines öffentlichen und objektiven Strafverfahrens nimmt sich der Aufarbeitung des Geschehens an. Die Straftat geht nicht nur die Familie von Abel persönlich an, sondern ebenso die Gesellschaft.

8. These: Die Konsequenzen der Straftat: Konfrontierende Aufklärung, Exklusion aus der Gesellschaft und Schuldaufarbeitung

Sobald das Opfer nicht mehr geschützt werden kann, beginnt die Aufarbeitung der Straftat.

Gott konfrontiert Kain zunächst einmal mit seiner Tat: „Wo ist dein Bruder Abel?“  (vgl. Vers 9). Die Tat ist schon aufgeklärt, Gott weiß, wo Abel ist. Aber er möchte, dass Kain selbst zu seiner Tat steht. Gottes Ausruf: „Was hast du getan!“ in Vers 10 macht deutlich, dass allein Kain für seine Tat verantwortlich ist. Nach der zynisch anmutenden Verdrängung und Leugnung der Tat („Bin ich etwa Hüter meines Bruders?“, vgl. Vers 9) hilft nur die weitere direkte Konfrontation, ehe der kriminelle Kain seine Schuld erkennt. Diese Konfrontation mit und die lückenlose Aufklärung der Tat ist Aufgabe eines Strafverfahrens und Grundstein jeder Resozialisierung. Dem Täter muss seine Schuld bewusst werden, damit er in Zukunft anders handelt. Und auch die Gesellschaft muss durch das Strafverfahren und die kriminologische Forschung aufarbeiten, warum der Einzelne kriminell geworden ist.

Bei der bloßen Erkenntnis des Unrechts bleibt es nicht. Es folgen Konsequenzen. Kain wird der Ackerboden, also seine Lebensgrundlage, entzogen. Das ist mehr eine Benennung der Tatfolgen als eine speziell vergeltende Strafe 20. Die Ethik des frühen Israel fragt nicht nach Schuld und Strafe, sondern nach der Tat und ihren Folgen. So meint der hebräische Begriff „awon“ sowohl Sünde und Schuld als auch Schicksal 21. Der Straftat immanent ist also schon die Strafe. Aber ist nicht auch bei Strafgefangenen weniger die Strafe, also der Entzug der Bewegungsfreiheit, als die daran anknüpfende Isolation das eigentliche Strafübel? Die Gefangenen werden aus ihrem privaten und beruflichen Umfeld gerissen und müssen sich nun in der Subkultur einer Vollzugsanstalt zurechtfinden. Häufig gewinnen sie auch nach ihrer Strafentlassung ihre berufliche und/oder private Lebensgrundlage nicht wieder, weil die Gesellschaft sie nicht toleriert oder sie selbst die gesellschaftlichen Herausforderungen nicht mehr meistern können. Die Ankündigung in Vers 12 „Wenn du den Ackerboden bestellst, wird er dir keinen Ertrag mehr bringen“ beschreibt also die auch in unserer Gesellschaft vorhandenen Konsequenzen von Straftaten. Der durch den Mord verursachten Gemeinschaftszerstörung folgt erst einmal der Gemeinschaftsverlust 22. Genesis 4 beschreibt damit unsere Realität, die weniger vergeltend straft, denn präventiv oder repressiv ausgrenzt. Von Strafzweckerwägungen – spezial- oder generalpräventiv – oder Moral ist der Kain und Abel Text interessanterweise frei. Die Tat und ihre Folgen stehen im Fokus, nicht der Täter als Unmensch. Dieses Ziel verfolgt – zumindest theoretisch – auch unser Tat- und Schuldstrafrecht.

Neben den Tatfolgen muss der schuldbewusste Täter auch mit der Schuld leben: „Rastlos und ruhelos wird er mitunter auf der Erde sein.“, vgl. Vers 12. Kain, der vormals Sesshafte wird zum psychischen Nomaden seiner Selbst. Mit der Tat hat er sich durch seine Schuld schon selbst bestraft, da bedarf es keines „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, keiner vergeltenden Strafe. Es ist fraglich, ob wir in unserer Gesellschaft angesichts unserer geringen Therapie- und Resozialisierungseinrichtungen in Gefängnissen, Psychiatrien und Anlaufstellen Entlassener dieser persönlichen Dimension der Schuldaufarbeitung angemessenen Raum schenken.

 

9. These: Das Kainsmal: Stigmatisierung oder sichtbare Markierung der Rechtsmacht und des Rechtsanspruchs des Täters?

Neben der schmerzlichen Schuldaufarbeitung und der Entziehung der Lebensgrundlage bekommt Kain auch noch das Kainsmal auf die Stirn geschrieben.

Es erscheint zunächst als Inbegriff einer grausamen Pädagogik vergangener Zeiten. Hier wird für alle sichtbar, was Kain getan hat und was für ein Mensch das ist.

Aber auch unsere Berichterstattung macht den Täter sichtbar. Wer die Gesellschaft geschädigt hat, muss mit ihrer Sensationsgier, mindestens ihrem Informationsbedürfnis rechnen.  Auf Verurteilungen folgen Eintragungen ins Bundeszentralregister, Lücken im Lebenslauf dokumentieren Gefängnisaufenthalte, dem Straftäter immer voraus eilt das Getuschel der Nachbarn und Bekannten. Die Tat lässt sich nur bedingt verstecken. Der Täter wird allein schon durch den öffentlichen Strafprozess gebrandmarkt. Er ist das moderne Kainsmal im Sinne einer Sichtbarmachung der Straftat und ihrer Folgen. Das Kainsmal könnte damit ein Stigmatisierungszeichen sein, das nach der sog. Labeling-Approach-Theorie 23 sogar zu weiteren Straftaten führt.

Dieses Verständnis einer negativen Prangerwirkung teilt Genesis 4 indessen nicht. Zum einen könnte das Kainsmal als Ausdruck des Sieges der Gerechtigkeit und Zeichen der Solidarität mit den Opfern verstanden werden. Das Recht triumphiert über das Unrecht und muss dies nach außen hin dokumentieren, um das Bewusstsein der Bevölkerung in die Verbindlichkeit des Rechts zu stärken. Insofern kann man hier von positiver Generalprävention sprechen.

Zum anderen ist das Kainsmal aber auch ein Schutz für den Täter. Gott in Genesis 4 macht sich mit der Zeichnung des Kainsmails die Mühe, Kain explizit unter seinen Rechtsschutz zu stellen. Der Straftäter Kain fällt nicht aus dem Bereich des Rechts 24, ja gerade an ihm wird das Recht exemplarisch als Rechtsschutz am Täter markiert. So gibt das Kainsmal bekannt, dass eine Ermordung des Täters Kains viel schlimmer geahndet wird als die gewöhnliche Ermordung eines unschuldigen Menschen: „Darum soll jeder, der Kain erschlägt, siebenfacher Rache verfallen.“, vgl. Vers 15. So wichtig ist Genesis 4 der Schutz des Täters, dass der Täter siebenfach gerächt wird. Interessanterweise fällt erst hier das emotionale Wort der Rache. Abel, das Opfer wird nicht gerächt, aber der Tod des Täters ruft Vergeltung hervor. Diese Dimension der Kain und Abel-Geschichte wird oft übersehen, haben wir doch oft ein Bild vom Rechtsverständnis des Alten Testaments im Sinne eines „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Hier heißt es jetzt plötzlich „Der Mörder bedarf siebenfachen Schutzes“, er darf besonders geschützt weiter leben. Damit ist Genesis 4 überraschend modern, vielleicht sogar moderner als unsere Strafverfahrenspraxis.

Das Kainsmal verkörpert exemplarisch Verhältnismäßigkeit, Rechtsschutz und Rechtsstaatlichkeit. Das sind Errungenschaften, die auch unserem Strafrechtssystem gedanklich zugrunde liegen. Der Täter ist nicht rechtlos, er hat Anspruch auf ein faires Strafverfahren, eine gute Verteidigung, rechtliches Gehör – wie auch Kain mit seiner Bitte um Schutz durch das Kainsmal Gehör bei Gott findet – und auf eine Verhältnismäßigkeit der Strafe. Das ist keine Selbstverständlichkeit, wie die nähere und entferntere Geschichte zeigt und wie auch die heutigen Debatten im Sinne eines „Wegsperren für immer“ deutlich machen. Genesis 4 kennt dieses rechtsstaatliche Gedankengut indessen schon und weiß offenbar um seine Bedeutung. Der Schutz des Täters wird im Sinne einer negativen Generalprävention durch die abschreckende siebenfache Rache gesichert. Dieses eben nicht selbstverständliche Recht muss der Gesellschaft eindrücklich in Form eines Kainsmals deutlich gemacht werden, damit sie nicht vergisst, dass auch ein Täter zur Gesellschaft gehört. Insofern ist das Kainsmal gerade für unsere Gesellschaft eine sichtbare Mahnung, die Rechte der Täter zu schützen und zu bewahren.

 

10. These: Das Potenzial des Täters nutzen: Kain als Stammhalter vieler zivilisatorischer Errungenschaften – ein ungeheurer Resozialisierungserfolg!?

Der jedenfalls äußere Schutz des Täters könnte indessen auch die dauerhafte Entfremdung und Isolierung von Täter und Gesellschaft bedeuten. Kain lebt aber zumindest nicht dauerhaft isoliert von der Menschheit. So wird in Vers 16 und 17 beschrieben, wie er sich im Land Nod niederlässt, eine Stadt gründet, heiratet und Nachkommen zeugt. Im Sinne der Alltagsweisheit „ein Mann sollte ein Kind zeugen, ein Haus bauen und einen Baum pflanzen“ hat der ehemalige Ackerbauer Kain als Stadtgründer, Familienvater und Stammvater vieler zivilisatorischer Errungenschaften (so für die Musik und die Metallverarbeitung, vgl. Vers 21 und 22) alles erreicht, was als sinnvolles Leben aufgefasst werden kann – ein ungeheurer Resozialisierungserfolg.

So könnte man den Text als Vorzeigebeispiel gelungener Täterintegration verstehen, das deutlich macht, wie viel Potenzial in jedem – auch vorbestraften – Menschen steckt. Wären die Kains für immer weggesperrt oder getötet worden, wäre unsere Gesellschaft vermutlich kulturell ärmer, vielleicht gäbe es dann die (Rap-)Musik nicht (vgl. Gen. 4, 21)? Sicherlich ist das auch eine einseitige Betrachtung, wo doch die Errungenschaft der Metallverarbeitung auf die Perfektionierung des Kriegshandwerks hindeutet, eine Errungenschaft mit sehr zweifelhaftem Wert 25. Da zeigt sich wiederum unsere Realität, in der die durchsetzungsstarken und aggressiven Kains unsere Entwicklung im Guten wie im Schlechten beeinflussen. Das Potenzial der Kains kann aber in die richtige Richtung gelenkt werden. Hier ist wiederum die Gesellschaft gefragt, die die Kraft und Mühe aufbringen muss, die Täter und ihre Potentiale so zu nutzen, dass sie der Gesellschaft dienen, und dabei auch die Abels geschützt werden.

 

IV. Fazit

Weder kriminologisch noch theologisch kann die Kain und Abel-Sage durch diese zehn Thesen, d. h. durch einen so kurzen Artikel, wissenschaftlich erschöpfend behandelt werden. Es sollte aber deutlich geworden sein, dass differenzierte und anregende Verbindungen zwischen diesem dreitausendjährigen alttestamentlichen Text und unserem modernen Strafrechtssystem bestehen.

Die Zeitlosigkeit bzw. Modernität der Gedanken von Genesis 4 mag verwundern. Andererseits ist unser Rechtssystem vor dem Hintergrund einer christlichen Gesellschaft entstanden, die durch das alttestamentliche und neutestamentliche Menschenbild jahrhundertelang geprägt wurde.

Gegenwartsbedeutung bekommt ein Rückgriff auf die Kain und Abel-Geschichte, wenn man bei der Reflexion und Weiterentwicklung des modernen Strafrechtssystems die zentralen humanen Prämissen nicht aus dem Blick verlieren will.

Da ist zum Beispiel die Frage nach dem freien Willen und der Verantwortung des Menschen – die Grundlage unseres Strafsystems. Steinbeck hat diesen Aspekt in seinem Kain und Abel-Roman „Jenseits von Eden“ sehr eindrücklich in der Interpretation des hebräischen „timschal“ („Du kannst über die Sünde Herr werden“) beschrieben 26.

Weiterhin konfrontiert uns die Geschichte mit den wichtigen Fragen nach den Ursachen und den Präventionsmöglichkeiten von Gewalt.

Vor allem aber sollte uns die Sage dafür sensibilisieren, wie wir mit Opfern und Tätern verantwortungsvoll und weitsichtig umgehen, zu ihrem und unserem Besten.  Ein Strafrechtssystem, das den Prinzipien von Rechtsschutz und Verhältnismäßigkeit möglichst umfassend Rechnung trägt, ist wünschenswert. Und diese Prinzipien veranschaulicht die Kain und Abel-Erzählung.


Fußnoten:

  1. Die Autorin hat im Januar 2013 ihr Erstes juristisches Examen in Freiburg i.Br. abgelegt und ist seit Dezember 2012 Chefredakteurin von „Freilaw“.
  2. siehe: http://www.zeit.de/2007/07/Schreiadler.
  3. Drewermann, in Tiefenpsychologie und Exegese Band 1, S. 346.
  4. S. 335.
  5. vgl. Ebach, in: Kain und Abel, S. 15, 18.
  6. Erzberger, in: Kain, Abel und Israel, S. 46; Berg, in: Ein Wort wie Feuer, S. 74.
  7. Ebach, in: Kain und Abel, S. 15, 20.
  8. vgl. Durkheim, in: Die Regeln der soziologischen Methode, S. 156; vgl. auch Haferkamp, in: Kriminalität ist normal.
  9. vgl. Zeit „Dossier“ vom 11.10.2012, Kröber.
  10. Ebach, in: Kain und Abel, 15, 19; Berg, in: Ein Wort wie Feuer S. 65ff.
  11. vgl. Erzberger, in: Kain, Abel und Israel, S. 46, 47; Ebach, in: Kain und Abel, S.15, 20.
  12. Ebach, in: Kain und Abel, 15, 21.
  13. BVerfG 1, 14, 52; 71, 255, 271; Zippelius/Würtenberger, in: Deutsches Staatsrecht, § 23, Rn 16.
  14. vgl. Schwind, in: Kriminologie, § 7, Rn 6ff., Meier, in: Kriminologie, § 3, Rn 58ff.
  15. Ebach, in: Kain und Abel, 15, 23; vgl. auch Berg, in: Ein Wort wie Feuer, S. 75; Stieber, in: Predigtstudien 2011/2012 IV, S. 180.
  16. vgl. Stieber, in: Predigtstudien 2011/2012 IV, S. 182.
  17. Schwind, in: Kriminologie, § 6, Rn 16ff.; Meier, in: Kriminologie, § 3, Rn 76ff.
  18. Gerhard Zinn in: Predigtstudien 2011/2012 IV, S.186.
  19. vgl. Berg, in: Ein Wort wie Feuer, S. 127.
  20. vgl. Stieber, in: Predigtstudien 2011/2012 IV, S. 181; Ebach, in: Kain und Abel, S. 15, 25.
  21. Berg, in: Ein Wort wie Feuer, S. 71.
  22. Ebach, in: Kain und Abel, 15, 25.
  23. vgl. Becker, in: Outsiders, S. 19ff.; Sack, in: König, Handbuch der empirischen Sozialforschung, S. 337f.
  24. vgl. Ebach, in: Kain und Abel, S. 15, 26.
  25. Ebach, in: Kain und Abel, S. 15, 28.
  26. S. 376.

Das Verhältnis von Religion und Staat auf Unionrechtsebene

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von stud. jur. Volker Herbolsheimer 1

 

Neben der dauerhaften Friedenssicherung schrieb sich die Europäische Gemeinschaft seit dem Zweiten Weltkrieg auch das Ziel, durch volkswirtschaftliche Verflechtung neuen Integrationsbedarf zu schaffen, auf die Fahnen, welcher Europa zu einer „Wertegemeinschaft“ heranreifen lassen sollte 2.  Will nun die EU auch die soziale und kulturelle Integration vorantreiben, kommt sie an den Religionsgemeinschaften in Europa nicht vorbei. Denn nichts hat die Kultur in Europa so sehr geprägt wie die „großen“ Religionsgemeinschaften Judentum, Islam und – insbesondere – das Christentum 3. Die durch die Religionsgemeinschaften entwickelten Moralvorstellungen und Werte entfalten eine besondere Ausstrahlungskraft auf das soziale Wesen, die nicht zu unterschätzen ist. Auch wenn sich die Europäische Union – in Anlehnung an die Vorstellung eines „modernen“ Staates – als säkularisiert betrachtet 4, bedeutet dies noch lange nicht, die Religionsgemeinschaften nicht berücksichtigen zu müssen. Ein säkularisierter Staat negiert nicht die Religion, nimmt sich aber auch keiner an. Es stellt sich daher die Frage, inwiefern Europa auch die Religionen in seinem Integrationsprozess beachtet. Gibt es ein Europäisches Religionsrecht? Hat die EU in dieser Materie überhaupt Kompetenzen?

In der Frage generell nach einer europarechtlichen Kompetenz muss man zunächst stets das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gem. Art. 5 II EUV beachten. Danach darf die Gemeinschaft nur in einem solchen Bereich Regelungen erlassen, in dem ihr ausdrücklich ein Kompetenztitel von den Mitgliedsstaaten übertragen worden ist. Im Bereich des Religionsrechts ist dies aber nicht der Fall: Weder im Zielsetzungskatalog (Art. 2 AEUV) noch in den Aufgaben- und Tätigkeitskatalogen (Art. 3 ff. AEUV) ist von einer Zuständigkeit der Gemeinschaft in religionsrechtlichen Fragen die Rede.

Die Realität sieht aber bei Weitem anders aus. Durch die Regelung von genuin nichtreligionserheblichen Bereichen durch die EU kann das Gemeinschaftsrecht z.B. „im Mantel einer Wirtschaftskompetenz“ 5 erheblichen Einfluss auf die Religionsgemeinschaften ausüben. Man spricht daher auch von einer mittelbaren Sachkompetenz 6. „Solche mittelbaren, d.h. nicht religions- oder kirchenspezifischen Folgewirkungen des EG-Rechts auf die Rechtstellung der Kirchen können praktisch auf jedem Aufgabengebiet der EG entstehen, soweit dieser auch die Kompetenz zur Setzung sekundären Europarechts zusteht oder das Primärrecht (…) betroffen ist“ 7. So werden Religionsgemeinschaften bspw. durch die Antidiskriminierungsrichtlinie (2000/78/EG) betroffen, ohne dass die Union explizit und primär diese treffen wollte. Auch die Richtlinie 93/119/EG, die zum nationalen Tierschutz von Tieren zum Zeitpunkt der Schlachtung oder Tötung beiträgt, und die Richtlinie 89/552/EWG, die eine Werbeunterbrechung von Gottesdienstübertragungen oder vergleichbaren Sendungen religiösen Inhalts von einer Dauer unter 30 Minuten verbietet, berühren die Religionsgemeinschaften. Besonders deutlich wird die mittelbare Sachkompetenz ohnehin bei Art. 19 AEUV. Danach darf die EU im Rahmen ihrer  Zuständigkeiten „geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen (…) der Religion oder der Weltanschauung (…) zu bekämpfen“. Es handelt sich insoweit um eine Annexkompetenz 8.

Dennoch ergeben sich für die Unionsorgane im Rahmen ihrer Regelungskompetenz einige Schranken. Nach Art. 17 AEUV muss die EU bei Erlass von Sekundärrecht stets darauf achten, den Status der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nicht zu beeinträchtigen. Die von den Mitgliedsstaaten zugunsten des Status dieser Gemeinschaften vorgesehenen Freiräume müssen geschützt bleiben 9. Will die Union sekundäres Recht setzen oder anwenden, so hat sie zudem die Grundrechte zu beachten: Mit dem Vertrag von Maastricht sind die Grundrechte der Europäischen Grundrechtscharta (GrCh) fester Bestandteil des Unionsrechts geworden, seit dem Vertrag von Lissabon ist die Union der Europäischen Menschenrechtskonvention beigetreten. So kann bspw. Art. 22 GrCh kompetenzlimitierenden Charakter haben, da dieser die Vereinheitlichung von Kultur, Religion und Sprache verbietet. Das aber wohl wichtigste Grundrecht ist die Religionsfreiheit (Art. 10 GrCh, Art. 9 EMRK). Dies kann insbesondere bei der Anwendung der kraft mittelbarer Sachkompetenz erlassenen Vorschrift für die Religionsgemeinschaft positive Beachtung finden.

Fraglich ist, ob Art. 4 Abs. 2 EUV – dem Gebot der Achtung der nationalen Identität – ebenfalls eine Kompetenzschranke darstellen kann. Als nationale Identität bezeichnet man dabei zumeist sämtliche Institutionen und Werte, die den Staat als solchen ausmachen bzw. die den Staat in seiner konkreten Gestalt prägen 10. Dazu gehört bspw. zweifelsfrei die Souveränität des Mitgliedsstaates. Einheit besteht ferner darin, dass zumindest die Grundprinzipien des nationalen Religionsrechts zur nationalen Identität iSv Art. 4 Abs. 2 EUV gehörten 11. So werden für die Bundesrepublik Deutschland das Verbot der Staatskirche, die Religionsfreiheit und das religionsgemeinschaftliche Selbstbestimmungsrecht angeführt 12. Umstritten ist dabei allerdings, ob Art. 4 Abs. 2 EUV eine Kompetenzschranke darstellt. Nach einer Ansicht ist dies zweifelsohne der Fall 13. Die Achtung der nationalen Identität käme einer dem Art. 79 Abs. 3 GG vergleichbaren Wesensgehaltsgarantie gleich, deren Verstoß zur sofortigen Nichtigkeit von Unionsrecht führe 14. Die überwiegende Ansicht verneint jedoch die Eigenschaft als Kompetenzregel 15. Zum einen sei eine strikte Kompetenzeingrenzung aufgrund des unbestimmten Rechtsbegriffs „nationale Identität“ kaum zu bewerkstelligen. Ferner bedeute „achten“ nicht die Unberührbarkeit des nationalen Religionsrechts, sondern die Berücksichtigung bei dem Herausbilden einer „supranationalen Identität“ 16. Schließlich weise die Erwähnung der „Mitgliedsstaaten“ daraufhin, dass nur auf die bereits integrierte, d.h. übertragene, „die die supranationale Identität umfassende nationale Identität“ 17 geachtet werden müsse. Daher sei Art. 4 Abs. 2 EUV vielmehr als eine auf Kooperation angelegte Staatszielbestimmung  zu werten.

Eine weitere Schranke könnte sich aus dem Subsidiaritätsprinzip der EU ergeben. Danach darf die Gemeinschaft erst dann tätig werden, wenn in einem Bereich, für den der EU keine ausdrückliche Kompetenz zugeschrieben wurde, die Maßnahmen in einem Mitgliedsstaat nicht ausreichend erreicht werden können und daher effizienter auf Unionsebene umgesetzt werden können. Überwiegend ist man der Ansicht, dass das Verhältnis zwischen Staat und Religion stets besser auf nationaler Ebene geregelt werden kann 18. Grund hierfür ist die bereits erwähnte historische und damit national-individuelle Eigenart eines jeden nationalen Staat-Religion-Verhältnisses. Dagegen wird aber oftmals angeführt, dass gerade in den heutigen Herausforderungen für die Religion, insb. die Frage um den Islam in Europa, eher eine einheitliche und damit gefestigte Antwort vonnöten ist. Dies könne aber nur auf EU-Ebene entstehen 19.

Zuletzt wird als Kompetenzschranke angeführt, dass nur das von der Kompetenz der Union umfasst werden kann, was die Mitgliedsstaaten selbst übertragen können 20, vgl. Art. 5 Abs. 1 EUV. Kraft Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften (Art. 140 GG iVm Art. 137 Abs. 3 WRV) ist der Bereich kirchlicher Angelegenheiten dem deutschen Staat entzogen. Diese nicht existierende Kompetenz kann er dann folgerichtig auch nicht auf die EU übertragen, so dass im Endergebnis, die Union ebenfalls auf diesem Gebiet keine Kompetenz haben kann. Gestützt wird die Argumentation auf Art. 24 Abs. 1a GG, der von „staatlichen Befugnissen“ spricht, die der Staat in kirchlichen Angelegenheiten gerade nicht habe. Dem wird dagegengehalten 21, Art. 137 Abs. 3 WRV sei nicht als „negative Kompetenznorm“, sondern als grundrechtlich garantierter Freiraum zu sehen. Es sei folglich keine „ultra-vires“-Frage, sondern eine Grundrechtsfrage, bei der es um die Schranke bei ihrer Ausübung geht. Ferner sei die Unionskompetenz nicht die Summe der von den Mitgliedsstaaten übertragenen Hoheitsrechte. Andernfalls müsste man bei jeder Kompetenz eine Analyse aller nationalen Verfassungen vornehmen, um der Frage nach der Zulässigkeit der Kompetenz  nachzugehen. Auch das BVerfG hat in seiner „Solange I“-Entscheidung 22 das Unionsrecht als eigenständige Ordnung mit „autonomer Rechtsquelle“ beschrieben. Bei der Frage der Kompetenz ist mithin auch nur diese „autonome Rechtsquelle“, also die Gründungsverträge zu beachten.

Insgesamt kann man bei der Frage nach der Existenz eines Europäischen Religionsrecht in zwei Lager teilen: Das eine bezeichnet das Religionsrecht der EU als nicht einheitlich, zersplittert oder pluralistisch, weil „spezielles Kulturverfassungsrecht“ 23. Die anderen wollen in den vorhandenen unionsrechtlichen Regelungen „wiederkehrende Muster“ sehen, die „über zufällige und sporadische Regelungen hinaus(gehen)“ 24 und sprechen von einem „neuen, eigenen Religionsrecht der Europäischen Union, unter Wahrung der Vielfalt der mitgliedsstaatlichen Rechte und Traditionen“ 25. Dies wird oftmals auch mit einem Zwei-Ebenen-Modell beschrieben 26: das gemeinsame Level, Niveau A, sei die Religionsfreiheit. Diese gelte in allen Mitgliedsstaaten im gleichen Umfang. Das Niveau B, das von der Mannigfaltigkeit der Ausprägung der Religionsfreiheit ausgeht, seien die unterschiedlichen Systeme in den Mitgliedsstaaten, wie z.B. Laizismus (z.B. Frankreich) oder Staatskirchentum (z.B. England).

Auch wenn es zunächst absurd erscheint, von einem Europäischen Religionsrecht trotz fehlender genuiner Kompetenzen zu sprechen, ist ein solches zu bejahen. Das europäische Religionsrecht gibt dabei wohl wie kein zweites Rechtsgebiet das Spannungsverhältnis zwischen nationalen Traditionen und Europäisierung wieder. Auf der einen Seite muss die Union die nationalen Regelungen in diesem Bereich mangels eigener Kompetenz beachten, auf der anderen Seite muss sie kraft mittelbarer Kompetenz eine Selbstpositionierung vornehmen. In beiden Fragen hat die Union mittlerweile Antworten geliefert. Sie versucht, das nationale Religionsrecht so weit wie möglich zu beachten. Zur Sicherheit, also im Falle eines „Übergriffs“ von Europarecht auf Religion, stehen den Betroffenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften Rechte zu, die ihnen helfen sollen, die gewährten Sicherheiten auch tatsächlich garantiert zu wissen.

 

 


Fußnoten:

  1. Der Autor ist Student an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.B. im 10. Semester.
  2. Söbbeke-Krajewski, Der religionsrechtliche Acquis Communautaire der Europäischen Union, S. 31.
  3. Winter in: FS Hollerbach (2001), 893 (893 f.).
  4. Waschinski, Gott in die Verfassung?, S. 24.
  5. Kirchhof in: v. Campenhausen (Hrsg.), Deutsches Staatskirchenrecht zwischen Grundgesetz und EU-Gemeinschaft, 147 (155).
  6. Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, S. 411.
  7. Häberle in: Häberle/Müller, Menschenrechte, S. 85 (96 ff.).
  8. Epiney in: Calliess/Ruffert, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, Art. 13 EGV, Rn. 6.
  9. Classen in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 17 AEUV, Rn. 3.
  10. Bleckmann, JZ 1997, 265 (266).
  11. Anders Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, Rn. 31.
  12. Walter, Religionsverfassungsrecht, S. 413.
  13. Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, S. 413 f.
  14. Bleckmann, JZ 1997, 265 (266).
  15. Walter, Religionsverfassungsrecht, 415.
  16. Heinig, ZEE 1999, 294 (305).
  17. Ebd.
  18. Krimphove, Kirche & Recht 2008, 89 (96).
  19. Ebd.
  20. Bleckmann, Religionsfreiheit, S. 7.
  21. Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 392 ff.
  22. BVerfGE 37, 271 ff.
  23. Häberle in: Häberle/Müller, Menschenrechte, 85 (96 ff.).
  24. Söbbeke-Trajewski, Der religionsrechtliche Acquis Communautaire der Europäischen Union, S. 62.
  25. Vgl. ebd.
  26. Triebel, Das europäische Religionsrecht, S. 198 ff.

1/2013 – Im Namen Gottes – Im Namen des Volkes

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Verhältnis von Recht und Religion in Deutschland und Europa

 

Recht und Religion – ein unauflöslicher Widerspruch? Die Frage als solche hätte insbesondere vor einigen hundert Jahren großes Befremden ausgelöst. Wie kann es schließlich einen Widerspruch geben, wenn doch die Kirche bzw. das kirchliche Recht unstreitig zum Recht als solches dazugehört? Noch heute studieren wir Jura (übersetzt: „die Rechte“) oder  „die Rechtswissenschaften“.  Gemeint ist damit einerseits das weltliche (im Wesentlichen römische), andererseits das „kanonische“, also das kirchliche, Recht. Recht und Religion sind demnach schon begrifflich eine Einheit.

Das kanonische Recht hat große Fußabdrücke in unserem heutigen Recht hinterlassen und ist daraus nicht mehr wegzudenken. So gründet sich der Satz „Pacta sunt servanda“  – Ausdruck unserer Vertragsfreiheit – auf das kanonische Recht. Unser Schuldbegriff im Strafrecht hat sich vor theologischem Hintergrund entwickelt. Und der oft verschriene, zur damaligen Zeit aber durchaus fortschrittliche, kirchliche Inquisitionsprozess von 1215 prägte Europa bis in das 19. Jahrhundert hinein. Bis zum Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs am 1.1.1900 war das Kirchenrecht gemeinsam mit dem römischen Recht als sog. Gemeines Recht in weiten Teilen Deutschlands (u.a. auch im Königreich Württemberg) das maßgebliche bürgerliche Recht.

Ohne die christlich motivierte Gottesfriedensbewegung, die mittels eines umfassenden Schwursystems die Privatfehde nach und nach verdrängte, wäre unser öffentliches, staatliches Strafrecht nicht entstanden. Wo ein allmächtiger Staat mit einem strafrechtlichen Gewaltmonopol noch nicht existierte, mussten geistliche Würdenträger den Rechtsfrieden herstellen. Dies gelang europaweit auf dem territorial zersplitterten Kontinent durch die alle Christen verbindende kirchliche Friedenslehre.

Recht und Religion  – ein unauflöslicher Widerspruch? Im Gegenteil: Das kirchliche Recht führte in der Vergangenheit nicht selten zur Verbindung und Vereinheitlichung des Rechts wie wir es heute kennen.

Aber ist das heute immer noch so?

Nicht zuletzt die Diskussion um die Knabenbescheidung zeigt, dass die Thematik Recht und Religion auch zu vielfältigen Kontroversen führt. Andere hitzige juristische Diskussionen entzündeten sich beispielsweise an Schlagwörtern wie Minarett, Kruzifix-Beschluss, Schächten, Burka-Verbot oder kirchliches Arbeitsrecht.

Ruft man sich die vergangenen Debatten ins Bewusstsein, so mag man schwerlich den Eindruck von Eintracht und Einheit zwischen Recht und Religion bekommen. Mal muss sich das vernunftgeleitete Recht gegen die rückschrittlichen religiösen Lehren behaupten, mal mischt sich die ignorante staatliche Rechtsmacht durch Verbote in die privaten, religiösen Angelegenheiten der Bürger ein – derartige Fronten verlaufen quer durch die Gesellschaft.

Recht und Religion – doch ein unauflöslicher Widerspruch?

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit will Freilaw mit der vorliegenden Ausgabe einzelne Aspekte des Verhältnisses von Recht und Religion näher beleuchten und dabei die Präsenz von Kirche und Religion in unserem Recht deutlich machen. Der Leser mag sich dann selbst ein Urteil bilden in dem Bewusstsein, dass Recht und Religion rechts- und kulturgeschichtlich untrennbar zusammengehören, sei es zum Guten oder zum Schlechten.

 

Viel Spaß beim Lesen wünscht euch euer Freilaw-Team!

Islamic Banking, nun bald auch bei uns in Deutschland!

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von Alireza Siadat, M.J.I. 1

 

A. Einleitung

Das Thema “Recht und Religion” bietet sich hervorragend an, um dem Leser Bankgeschäfte, die im Einklang mit den Vorgaben des islamischen Rechts stehen (Islamic Banking), näher zu erläutern.

Das islamische Finanzwesen kann nicht mehr als Nischenprodukt der modernen Wirtschaft beschrieben werden. Allein die Wachstumszahlen der letzten Jahre und die Entwicklung in Europa dürften dies belegen. Der globale Markt für islamkonforme Produkte betrug Ende 2010 US$ 1.130 Mrd. 2 Im Vergleich zum Jahr 2009 (US$ 933 Mrd.) liegt das Wachstum bei ganzen 21 %. Für das Jahr 2011 wurde gar ein Betrag von US$ 1.289 Mrd. berechnet. Noch im Jahr 2006 betrug die Zahl US$ 509 Mrd., womit in fünf Jahren ein Wachstum von 150 % verzeichnet werden kann.

Großbritannien stellt mit fünf islamischen Vollbanken und 17 Banken, die islamkonforme Produkte anbieten, das führende westliche Land dar, welches islamkonforme Finanzdienstleistungen fördert. Deutschland hingegen gehört zu den Ländern, die sich langsam an das Islamic Finance heranwagen. Zwar war im Jahr 2004 das Land Sachsen-Anhalt der erste westliche Emittent einer islamkonformen Anleihe (Sukuk) 3, allerdings wurde es danach mit islamkonformen Produkten ruhig in Deutschland. Es sollte dennoch erwähnt werden, dass die Deutsche Bank AG seit 2005 islamkonforme Zertifikate (Islamic EquityBuilder Certificates™) an der Frankfurter Börse anbietet. 4 Doch nun bewegt sich der islamkonforme Markt auch in Deutschland. 5 So bietet seit Kurzem die Landesbank Berlin das Zertifikat “QES Islamic Finance” 6 an, dessen Preisentwicklung sich an zwei Aktienindizes des Indexanbieters Down Jones (Islamic) auf islamkonforme Unternehmen orientiert. Und auch die islamische Vermögensverwaltung CIMB Principal Islamic Asset Managment vertreibt neuerdings islamische Investmentfonds in Deutschland. Auch eine islamische Vollbank, die türkische Beteiligungsbank Kuveyt Türk Katılım Bankası A.Ş. (Kuveyt Türk), soll bald in Frankfurt am Main einen deutschen Hauptsitz eröffnen. 7 Dies wäre die erste islamische Bank in Deutschland.

Die deutsche Wissenschaft beschäftigt sich intensiv mit dem islamischen Finanzwesen. So betreut Prof. Dr. Matthias Casper von der WWU Münster einen Exzellenzcluster, das zu verschiedenen Themen des Islamic Finance forscht. Auch die Professoren Dr. Friedrich Thießen, Dr. Hans-Georg Ebert und Dr. Martin Heckel von der Universität Leipzig befassen sich seit mehreren Jahren mit Islamic Finance. 8 An der Philipps-Universität in Marburg wurde im Wintersemester 2011/2012 unter reger Beteiligung von vielen Jurastudenten eine Vorlesung zu den Grundlagen des Islamic Finance angeboten. 9

Dieser Aufsatz soll dem Leser die rechtlichen Fallstricke des Islamic Banking aufzeigen, damit diese nicht mehr als Hindernisse, sondern vielmehr als Herausforderung bei der juristischen Arbeit mit diesem Thema angesehen werden.

 

B. Das islamische Finanzwesen

Als islamisches Finanzwesen versteht man Finanzdienstleistungen, die in Übereinstimmung mit den Geboten und Verboten der Scharia erbracht werden. 10 Die Scharia 11 (wörtlich „der Weg“) bestimmt für Muslime, wie sie sich im Privatleben und auch öffentlich islamkonform zu verhalten haben. Anders als im deutschen Recht, wo die Trennung von kanonischem und säkularem Recht grundsätzlich vorgeschrieben ist (vgl. Art. 140 GG i.V. m. Art. 136 ff. der Weimarer Verfassung), hat der strenge Muslim nicht nur privat die Regeln seiner Religion zu beachten, sondern auch dann, wenn er sich wirtschaftlich betätigt.

 

I. Unterschiedliche Rechtsschulen

Dabei ist zu berücksichtigen, dass das islamische Recht nicht von allen Muslimen gleich verstanden wird. Bereits seit dem 8. Jahrhundert haben sich verschiedene Denk- und Rechtsschulen herausgebildet, die -bedingt durch unterschiedliche regionale und subjektive Einflussfaktoren- die Vorgaben des islamischen Rechts spezifisch interpretieren. Die größte Glaubensrichtung des Islam bilden hierbei die Sunniten, die sich abgrenzen von den Schiiten. Trotz einer Vielzahl von Glaubensrichtungen haben sich bei den Sunniten vier Rechtsschulen etabliert (vgl. nachfolgende Darstellung 12).

Rechtsschule Region Besonderheiten
Hanafitisch (sunnitisch) Türkei, Albanien, Irak, Pakistan,Indien, Zentralasien Zahlenmäßig größte Rechtsschule, durch osmanische Verbreitung mitbesonderer Bedeutung für dieGesetzgebung seit dem 19. Jh.(besonders für Ägypten), zahlreiche zivil- und handelsrechtliche

Regelungen.

Malikitisch (sunnitisch) Nordafrika, Westafrika, Golf Vermittelt Reformansätze über„Wertediskussion“ in der Scharia.
Shafiitisch (sunnitisch) Südostasien, insb. Indonesien,Ostafrika, Syrien, Libanon Besonders wichtig für diesystematische Quellenlehre.
Hanabilitisch (sunnitisch Saudi Arabien, Golf Konservative Interpretation.
Schiitisch Iran, Irak, Libanon Auf dem Gebiet des Zivil- undHandelsrecht mit geringenAbweichungen.

 

Die Rechtsschulen respektieren sich gegenseitig und erkennen spezifische Interpretationen als legitim an, da sie sich nicht auf göttliche Normen selbst, sondern auf Ableitungen daraus beziehen. 13 Dies wird mit dem Terminus Fiqgh (islamische Jurisprudenz) beschrieben. Schon hier stellt sich der erste Fallstrick für den deutschen Juristen. Der deutsche Jurist sollte nicht den Fehler begehen, indem er islamische Rechtsansichten analysiert und ohne Differenzierung nach Rechtsschulen einen Grundsatz ableitet. Daher kann ein Produkt für den hanafitisch orientierten Muslim erlaubt sein, wohingegen das gleiche Produkt für den hanabilitschen Muslim verboten sein könnte.

 

II. Rechtsquellen

Zu bedenken ist weiterhin, dass es im islamischen Recht andere Rechtsquellen gibt, die man im Ansatz kennen sollte. Als primäre Rechtsquellen gelten hierbei der Koran (das heilige Buch aller Muslime, das die von Mohammed niedergeschriebenen Botschaften Allahs enthält) und die Sunna (Summe aller Hadithe 14, die das überlieferte und beispielhafte Verhalten Mohammeds zum Inhalt haben). Weitere Rechtsquellen betreffen vor allem Methoden der Rechtsfindung, so Konsens der islamischen Gemeinde (Ijma) und (von großer praktischer Bedeutung) Analogieschluss (Qias). 15 Während der Koran zwischen den einzelnen Rechtsgelehrten als unbestritten gilt, gibt es bei den übrigen Rechtsquellen nicht immer Einigkeit. So werden nicht alle Überlieferungen als Hadithe akzeptiert, wenn die Überlieferung selbst oder der Überlieferer nicht als glaubwürdig akzeptiert werden. 16 Auch bei Ijma und Qiyas muss zwischen den einzelnen Rechtsschulen differenziert werden.

 

III. Schariah-Boards

Im islamischen Finanzwesen übernehmen sog. Schariah-Boards (vergleichbar mit Beiräten) die Zertifizierung von islamkonformen Produkten. 17 Ein Schariah-Board besteht aus mindestens 3 Mitgliedern, von denen zumindest zwei Schariahgelehrte sein müssen (das dritte Mitglied sollte fundierte Kenntnisse im Islamic Finance haben und ansonsten vertiefte Kenntnisse im Bereich Finance). Schariahgelehrte sind Experten im Bereich des islamischen Rechts, die neben einem mehrjährigen Studium der Islamwissenschaften auch vertiefte Kenntnisse der Wirtschaftswissenschaften aufweisen müssen. Islamische Banken haben in der Regel einen eigenen Schariah-Board, der für sie Produkte als islamkonform zertifiziert. Ein solches Zertifikat nennt sich Fatwa (islamrechtliches Gutachten). Dieses gilt zwar nicht als Rechtsquelle für sämtliche Muslime, es wird allerdings von den Muslimen, die derselben Rechtsschule wie die Rechtsgelehrten des Schariah-Boards angehören, anerkannt.

Hier ergeben sich gleich mehrere Fallstricke für den deutschen Juristen. Zum einen kann er solche Fatwas nicht uneingeschränkt als Subsumtionsgrundlage verwenden. Es muss immer beachtet werden, welcher Rechtsschule die Rechtsgelehrten zuzuordnen sind und ob andere Rechtsschulen andere Ansichten vertreten. Zudem ist zu beachten, dass viele Rechtsgelehrte trotz ihrer vorgeschriebenen Unabhängigkeit durchaus wohlwollende Zertifikate erstellen. Daher kann auch innerhalb einer Rechtsschule ein solches Zertifikat kritisiert werden.

 

IV. Einzelne Gebote und Verbote aus dem islamischen Recht

Im islamischen Recht gibt es gleich mehrere Gebote und Verbote, die der moderne Muslim auch im Wirtschaftsleben beachten sollte. Einige dieser Gebote und Verbote sollen hier in gebotener Kürze dargestellt werden. 18

Neben dem Riba-Verbot, sind vor allem das Spakulationsverbot (Gharar), das Glückspielverbot (Maysir), die Gewinn- und Verlustteilung und absolut verbotene Geschäfte (Alkohol-, Waffen-, Sex- und Schweinefleischgeschäfte) zu nennen. Das wichtigste Verbot ist Riba 19. Es wird fälschlicherweise von vielen deutschen Autoren als Zinsverbot oder Wucher bezeichnet, was allerdings so nicht richtig ist 20 und den deutschen Juristen unnötig in die nächste Falle tappen lässt. Riba könnte man als “Überschuss” übersetzen, was allerdings kein besseres Verständnis gibt. Ein absolutes Zinsverbot stellt Riba nicht dar, da viele Rechtsgelehrte Riba nicht als Zinsverbot verstehen 21 und eine Vielzahl islamisch geprägter Staaten das Zinsgeschäft (wenn auch prozentual eingeschränkt) erlauben. 22 Auch die Übersetzung als Wucher wird dem Riba nicht gerecht. Anders als der Wucher, wie er im deutschen Recht in § 138 BGB zu finden ist, kann ein Rechtsgeschäft nach islamischen Recht auch Riba sein, wenn keine Ausbeutung stattfindet. Richtig ist es daher, Riba nicht einfach übersetzt zu übernehmen. Riba ist das einzige Verbot im islamischen Finanzwesen, dass im Koran genannt wird. 23 Allerdings findet man im Koran keine Definition von Riba. Riba ist dennoch als Verbot zwischen den Muslimen unbestritten und gilt als schlimmste Sünde. Ein Rechtsgeschäft, das unter Riba fällt, ist nicht nur nichtig (sowohl das Verpflichtungs- als auch das Erfüllungsgeschäft sind unwirksam), sondern begründet auch die Voraussetzung für eine Straftat, dass in vielen islamischen Staaten sanktioniert wird. Islamische Banken berechnen daher im Privatkundenbereich keine Zinsen für ihre Bankgeschäfte. Der Ökonom dürfte sich fragen, wie dann islamische Banken wirtschaftlich handeln können. Dies soll durch ein Finanzierungsbeispiel näher erläutert werden. Dazu wird eine Fahrzeugfinanzierung der Kuveyt Türk herangezogen. Durch einen sog. Murabaha 24-Kredit (auch Cost-Plus-Finanzierung genannt) 25 können sich Bankkunden bei der Kuveyt Türk ihren Fahrzeugkauf finanzieren lassen. 26 Wichtig ist hierbei, dass auf den Kredit keine Zinsen anfallen dürfen. Die Bank berechnet stattdessen einen Aufschlag. Da ein solcher Aufschlag, dann allerdings nichts anderes als ein Zins wäre, muss die Bank für den Aufschlag auch eine Leistung erbringen und ein gewisses Risiko eingehen. Daher muss die Bank das Fahrzeug zunächst selbst erwerben (und auch zumindest für eine juristische Sekunde Eigentum am Fahrzeug erlangen), bevor es dieses mit einem Preisaufschlag an den Kunden weiterveräußern darf. Der Kunde erhält sein Wunschfahrzeug und darf dann den Kaufpreis plus Aufschlag in monatlichen Raten an die Bank zahlen. Es stellt somit einen Warenkredit dar, den man noch genauer betrachten kann.

Wir haben drei Parteien und mehrere Rechtsgeschäfte. Auf der einen Seite haben wir den Bankkunden (Käufer), als Zwischenpartei die Bank (Investor) und den eigentlichen Fahrzeugverkäufer (Verkäufer/Hersteller) auf der anderen Seite. Es gibt zwei Kaufverträge, zwei Übereignungsvorgänge und einen Geschäftsbesorgungsvertrag. Als ersten Schritt sucht sich der Käufer das Fahrzeug aus. Danach wendet er sich an seine Bank, die dann als Investor fungiert. Zu diesem Zeitpunkt kann der Kunde mit seiner Bank noch keine Finanzierung vereinbaren, da die Bank noch nicht Eigentümer des Fahrzeugs ist. Ansonsten wäre das Rechtsgeschäft zu ungewiss und es würde gegen Gharar verstoßen. 27 Die Bank muss in einem zweiten Schritt das Fahrzeug vom Hersteller erwerben und auch Eigentum am Fahrzeug erlangen. Erst in einem dritten Schritt, können dann Bank und Kunde die Fahrzeugfinanzierung und den eigentlichen Kauf vereinbaren.

Eine solche Finanzierung würde auch für andere Güter funktionieren und wäre sogar im Kreditkartenformat möglich (in diesem Fall würde der Kunde im Auftrag der Bank Waren kaufen und dann direkt an sich weiterverkaufen). Diese Murabaha-Finanzieurng wird von islamischen Banken vielfach ausgeübt und verstößt nicht gegen Riba. Es gibt eine Vielzahl anderer islamischer-Finanzierungsmodelle, deren Darstellung jedoch den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde.

Wichtig ist für den deutschen Juristen, dass er sich der islamischen Verbote und Gebote bewusst ist und weiß, dass es verschiedene Geschäftsmodelle gibt, mit denen diese berücksichtigt werden können.

 

C. Probleme im deutschen Recht

Im nächsten Schritt sollen kurz Probleme dargestellt werden, die sich aus dem deutschen Recht ergeben, wenn islamisches Recht Anwendung finden soll.

 

I. Rechtswahl islamisches Recht

Die Parteien sind dank der Privatautonomie, die im deutschen Recht grundsätzlich gilt, frei in der Gestaltung ihrer Rechtsgeschäfte. Problematisch wird es aber, wenn parteiliche Vereinbarungen auch gerichtlich standhalten sollen. Können die Parteien statt einer bestimmten staatlichen Rechtsordnung die Prinzipien der Schariah wählen? Ein deutsches Gericht würde eine solche Regelung wohl nicht akzeptieren, da nach Art. 3 Rom I-VO die Parteien in der Wahl des Rechtes frei sind. Wobei Recht im Sinne dieser Norm gleichbedeutend mit der Rechtsordnung eines bestimmten Staates sein soll. 28 Da die Schariah keinen Staat darstellt, werden deutsche Gerichte eine solche Rechtswahl nicht anerkennen. Anders ist es jedoch, wenn ein Schiedsgericht über eine solche Regelung entscheiden würde. 29 Denn nach § 1051 ZPO ist das anwendbare Recht nicht nur auf die Rechtsordnung eines bestimmten Staates beschränkt. Nach § 1051 Abs. 1 S. 2 ZPO wird eindeutig zwischen Rechtsordnung eines bestimmten Staates und Recht unterschieden, womit beides als Rechtswahl anwendbar ist. Daher würde ein Schiedsgericht statt einer bestimmten staatlichen Rechtsordnung die Prinzipien der Schariah als anwendbares Recht akzeptieren. So wurde im Jahr 2006 in Kanada (Ontario) ein institutionelles Schiedsgericht gegründet, das auf der Grundlage des islamischen Rechts entscheidet. 30 Als Jurist sollte man dennoch den Parteien abraten, eine solche Formulierung zu wählen. Cleverer ist es, die Rechtsordnung eines bestimmten Staates zu wählen und die Prinzipien der Schariah als Vertragsgrundlage zu bestimmen.

 

II. Steuerrecht

Als eines der größten Probleme dürfte die Vereinbarkeit von islamkonformen Finanzierungen mit dem deutschen Steuerrecht sein. Am Beispiel der Murabaha-Finanzierung haben wir gesehen, dass islamische Banken einen Finanzierungskredit ohne Zinsen geben. Statt der Zinsen wird ein Preis-Aufschlag berechnet. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die Bank das zu finanzierende Objekt erst erwirbt und daran auch Eigentum erlangt. Wenn man diese Murabaha-Finanzierung nun auch auf Immobilienfinanzierungen anwenden möchte, ist im deutschen Steuerrecht die Grunderwerbssteuer zu beachten. Nach §§ 1ff. GrEStG fällt beim Kauf eines Grundstücks die Grunderwerbssteuer an. Diese liegt zwischen 3,5 und 5 % 31 des Kaufpreises. Wenn nun bei der Murabaha-Finanzierung die Bank das Grundstück zunächst selbst erwerben muss, bevor sie das Grundstück finanzieren und an den Kunden verkaufen darf, werden zwei Grundstückskäufe vollzogen. Für jeden Kauf würde damit einmal die Grunderwerbssteuer anfallen. Eine Ausnahme sieht das GrEStG für religiös motivierte Geschäfte nicht vor. 32 Diese doppelte Grunderwerbssteuer würde den Kunden einer islamischen Bank gegenüber den Kunden einer klassischen Bank beim Hauskauf finanziell benachteiligen. Eine solche doppelte Steuer ist nicht sinn- und zweckgemäß und sollte vom deutschen Gesetzgeber für die vorliegende islamische Finanzierung beseitigt werden. 33 In England und Frankreich wurde dieses Problem frühzeitig erkannt und von den Gesetzgebern geregelt. Daher sollte Deutschland, um auch in Europa konkurrenzfähig und für arabische Investoren beliebter zu werden, eine entsprechende Gesetzesänderung vornehmen.

 

III. Verbrauchsgüterkauf

Am Beispiel der Murabaha-Finanzierung ergeben sich auch Probleme im Bereich des deutschen Verbrauchsgüterkaufrechts. Soweit der Kunde der Bank Verbraucher i.S.v. § 13 BGB ist und die Bank eine bewegliche Sache (wie z. B. ein Fahrzeug) finanziert, findet ein Verbrauchsgüterkauf gem. § 474 BGB statt. Dies bedeutet, dass die Bank nun als Verkäufer seinen Kunden bei der Finanzierung von beweglichen Sachen auch gewährleistungspflichtig ist. Ein Ausschluss der Mängelrechte ist nicht möglich (vgl. § 475 Abs. 1 BGB). Zudem greift dann auch die Beweislastumkehr des § 476 BGB. Damit hätte die Bank dieselben Pflichten wie ein gewerblicher Händler. Sie müsste jedes finanzierende Gut vor dem Gefahrübergang genauestens untersuchen und müsste im Rahmen der Gewährleistung nacherfüllen.

Auch bei der Immobilienfinanzierung sind die Gewährleistungsrechte zu beachten. Der Immobilienkauf fällt zwar nicht unter die Vorschriften der §§ 474 ff. BGB (da eine Immobilie unbeweglich ist), allerdings wäre dann ein Gewährleistungsausschluss einer AGB-Inhaltkontrolle zu unterziehen.

Bei dieser Überprüfung wäre dann insbesondere § 307 II Nr. 2 BGB interessant, da hiernach eine unangemessene Benachteiligung im Zweifel dann anzunehmen wäre, wenn eine Bestimmung wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrages ergeben, so einschränkt, dass die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet wird. Wenn man vorliegend unterstellt, dass sich aus der Natur der Murabaha-Finanzierung ergibt, dass die Bank nur einen Kaufpreis-Aufschlag berechnen darf, wenn er auch ein gewisses Risiko eingeht, dürfte es wohl nicht möglich sein, dass die Bank einen Aufschlag berechnet und sämtliche Gewährleistungsrechte ausschließt. Die Bank darf nach islamischen Grundsätzen gerade nur einen Aufpreis verlangen, wenn sie die Rechte und Pflichten des Verkäufers übernimmt. 34

Zu diesen Punkten gibt es in der Literatur jedoch keine erkennbare klare Auffassung. Daher bleibt abzuwarten, wie die Kuveyt Türk ihre Finanzierungen in Deutschland ausgestalten wird.

 

D. Zusammenfassung und Ausblick

Mit der Eröffnung der ersten islamischen Bank in Deutschland wird Islamic Finance bald auch in Deutschland mehr Beachtung erlangen. Bankgeschäfte können aber nur nach islamrechtlichen Vorgaben reibungsfrei ausgeübt werden, wenn hierfür die rechtlichen Grundlagen gegeben sind. Dazu sollten alle Teilnehmer und vor allem deutsche Juristen wissen, wie islamkonforme Geschäfte zu handhaben sind. Wie dieser Aufsatz gezeigt hat, gibt es mehrere interessante und wichtige Aspekte, die das islamische Finanzwesen bietet. Neben der fortgesetzten Forschung des islamischen Finanzwesens dürfte wohl auch bald eine gesetzgeberische Initiative unumgänglich werden.

Vor allem für Jurastudenten, Referendare und junge Anwälte ist es sehr nützlich, wenn sie sich jetzt schon mit Islamic Finance näher beschäftigen, damit sie für die kommenden islamrechtlichen Fälle vorbereitet sind.


Fußnoten:

  1. Der Autor ist seit August 2012 Rechtsanwalt, studierte in Gießen und Nottingham und schreibt derzeit in Freiburg seine Dissertation zu Islamic Finance.
  2. Siehe Islamic Finance Report März 2012, United Kingdom Islamic Finance Secretariat (uk ifs), abrufbar unter: http://www.londonstockexchange.com/specialist-issuers/islamic/downloads/city-uk-if-2012.pdf (letzer Abruf: 25.3.2013). Aktuelle Zahlen werden auf der Homepage von uk ifs Anfang April 2013 erwartet.
  3. Vgl. Stellungnahme des Wirtschaftsministeriums Baden-Württemberg “Islamic Finance”, Markt Scharia-konformer Finanzdienstleistungen vom 23.10.2009, Drucksache 14/5336, abrufbar unter: http://www.uni-marburg.de/fb01/lehrstuehle/zivilrecht/kling/islamicfinance/materialien/bwstellungnahmeadislamic.pdf (letzter Abruf 25.3.2013).
  4. Vgl. Michael Mahlknecht, Islamic Finance: Einführung in Theorie und Praxis, 2008, S. 265.
  5. Vgl. jüngsten  Zeitungsbericht “Islamic Finance soll deutsches Exportgut werden” in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 31.05.2012, S. 16.
  6. Vgl. Prospekt unter: http://www.zertifikate.lbb.de/Produktdatenbank/Anlageprodukte/Strategie/LBB07A/DE000LBB07A3_FL.pdf (letzter Abruf: 25.3.2013).
  7. Der Autor hatte dieses Mandat im Jahr 2011, bei seiner Tätigkeit für Norton Rose LLP, mitbegleitet. Nach Angaben der BaFin, soll der Antrag noch dieses Jahr entschieden werden.
  8. Letzterer forscht  zu der Integration der Mudaraba (einem islamkonformen Rechtsgeschäft) ins deutsche Recht. Der Autor konnte diese Personen bei einem Islamic Finance Workshop an der Universität Leipzig im Jahr 2011 treffen und hierbei aktuelle Entwicklungen besprechen.
  9. Vgl. Internetauftritt der Professur von Prof. Dr. Kling unter : http://www.uni-marburg.de/fb01/lehrstuehle/zivilrecht/kling/islamicfinance/ (letzter Abruf: 25.3.2013).
  10. Vgl. Alexander Schwenk/Fabian Berck, Islamic Finance – Eine Alternative im Wirtschaftsabschwung, juris PraxisReport Bank- und Kapitalmarktrecht, 5/2009, Anm. 4.
  11. Für eine Abgrenzung zwischen “islamisches Recht” und “Schariah” vgl. Rüdiger Lohlker, Islamisches Recht, 2011. Für einen Definitionsversuch der Schariah vgl. ders., S.102 ff.
  12. Darstellung stammt von  Hans-Georg Ebert/Friedrich Thießen/Nicole Thurner, Islamic Banking – Wege für deutsche Banken, Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen (ZfgK) 2008 Band 6, S. 261-266 (S. 262).
  13. Ders., S. 261.
  14. Vgl. Al-Buhari/Dieter Ferchl, Die Sammlung der Hadithe, 2010.
  15. Zu den Rechtsquellen, deren Rangverhältnis und der Akzeptanz innerhalb der Rechtschulen vgl.  Rüdiger Lohlker, Islamisches Recht, 2011, Kapitel 2 ff.
  16. Das Verfahren, nachdem Überlieferungen als Hadithe akzeptiert werden ist sehr komplex und führt nicht immer zu Einigkeit zwischen den einzelnen Rechtschulen. Zum Gesamten vgl. Burton Watson, An Introduction to the Hadith, 1995.
  17. Eine gute, aktuelle und rechtliche Darstellung der Schariah-Boards gibt Matthias Casper, Sharia Boards and Shariah Compliance in the Context of European Corporate Governance, 2012, abrufbar unter: http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2179412 (letzter Abruf: 25.3.2013); vgl. auch allgemein zu Schariah-Boards Yahia Abdul-Rahman, The Art of Islamic Finance, 2010, S. 61 ff.
  18. Für ausführliche Darstellungen vgl. u.a. Muhammad Ayub, Understanding Islamic Finance, 2007, S. 43 ff.; Michael Mahlknecht, Islamic Finance: Einführung in Theorie und Praxis, 2008, S. 17 ff.; Hatem Imran, Das islamische Wirtschaftssystem, 2. Aufl. 2008, S. 22 ff.
  19. Vgl. nur Florian Amereller, Hintergründe des Islamic Banking, 1995.
  20. Ders., der sich in seiner Arbeit sehr genau mit Riba beschäftigt und sich richtigerweise gegen eine Übersetzung ausspricht.
  21. Es ist zwischen den Rechtsgelehrten umstritten, ob jeglicher Zins verboten ist.
  22. Vgl. hierzu Kilian Bälz, Zinsverbote und Zinsbeschränkungen im internationalen Privatrecht, IPRax 2012. S. 306 ff.
  23. Vgl. Sure 2 Vers 275-280, Sure 3 Vers 140, Sure 4 Vers 161 und  Sure 30 Vers 39.
  24. Zur Murabaha vgl. nur Muhammad Ayub, Understanding Islamic Finance, 2007, S. 213 ff.
  25. Vgl. folgende Abbildung.
  26. Vgl. hierzu den Internetauftritt der Kuveyt Türk unter: http://www.kuveytturk.com.tr/pages/car_finance.aspx (letzter Abruf: 26.3.2013).
  27. Ansonsten hätten wir ein Termingeschäft, dass nur unter bestimmten und sehr restriktiven Voraussetzungen im islamischen Recht erlaubt ist (solche Future-Geschäfte nennt man im islamischen Recht Bai Salam, die historisch betrachtet in der Agrarwirtschaft erlaubt waren, wenn der Bauer vor der Produktion seine Ware an den Abnehmer verkauft hatte, um mit dem Geld die Rohstoffe zu kaufen).
  28. So die wohl herrschende Ansicht. Vgl. nur Kilian Bälz, Das islamische Recht als Vertragsstaut?, IPRax 2005, S. 44 ff. m.w.N. Dieser nennt Art. 27 EGBGB a.F., was nun Art. 3 Rom I-VO entspricht.
  29. Ders. S. 45 m.w.N.
  30. Vgl. hierzu Jens Adolphsen/Franziska Schmalenberg, Islamisches Recht als materielles Recht in der Schiedsgerichtsbarkeit, SchiedsVZ 2007, S. 57 ff.
  31. Die Prozentzahl hängt vom jeweiligen Bundesland ab und liegt in Baden-Württemberg seit 2013 bei 5 %.
  32. Vgl. aber Leila Momen, Vertragsmodelle Islamic Finance: Steuerliche Würdigung im internationalen Vergleich, 2010; Dies. in: Ausgewählte Islamic Finance Vertragsmodelle, Ernst & Young, 2010, dort auf S. 21, wo sie argumentiert, dass die Bank und der Kunde eine Gesellschaft gründen könnten, in der der Kunde weniger als 95 % erwirbt und erst nach 25 Jahren 100 % erwirbt und damit Alleineigentümerin des Grundstücks wird. Auf ein solches Modell könnte die Grunderwerbssteuer nur einmal anfallen. Allerdings ist ein solches Modell für den Privatkundenbereich nicht empfehelenswert, da der Kunde i.d.R. nicht eine Gesellschaft mit der Bank schließen möchte. Allgemein zur steuerrechtlichen Problematik vgl. dies., Steuerliche Herausforderungen und Chancen der grenzüberschreitenden Islamic Finace, RiW 2010, S. 536 ff.
  33. Der Gesetzgeber könnte unter § 3 GrStG eine weitere Ausnahme für religiös motivierte Grundstückskäufe regeln.
  34. Vgl. aber auch Friederike Wurst, Immobilienfinanzierung und Islamic Banking, 2011, S. 88 ff., die die Ansicht vertritt, dass die Bank ihre Rechte (die sie gegenüber den Hersteller hat) an den Kunden abtreten kann und dann die Mängelrechte des Kunden gegenüber sich ausschließen kann.

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